Christliches Manifest
Christliches Manifest

 

 

                                                          Der Volksstaat

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                                                                                                                                                                                                      155 W Lake Chicago (III.)

 

Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der internationalen     Gewerksgenossenschaften.

Nr. 1.                                                    Mittwoch, 1. Januar                                               1873

Die Gründer und die Staatshilfe.

In Bourgeoisieblättern liest man in letzter Zeit sehr viel von den neuesten Maßregeln der preußischen Bank, des unter Leitung der Regierung stehenden Geldinstituts des preußischen Staats, welche in einem – offenbar nur fingirten – Anfall von Gewissensregung dem üppig emporwuchernden Gründerthum, diesem Vampyr im Blute des arbeitenden Volkes, ihre weiter Unterstützung versagt. Sie hat selbst den „feinsten“ Bankfirmen ihren Wechselkredit bedeutend eingeschränkt, sie weigert sich auch die Aktien der unzähligen neuentstandenen Gesellschaften fernerhin so bedingungslos mit ihrem Gelde zu beleihen, wie sie es bisher gethan. Darob nun großer Jammer im Lager Israels – wollte sagen der Gründer; – man hatte in freudiger Erwartung der französischen Milliarden, die uns bekanntlich eine ganz neue Aera des Wohlstandes, einen ungeheuren Aufschwung der „Geschäfte“ bringen müssen, rastlos darauf los gegründet; der goldene Regen aus Westen sollte den mit kluger Hand gelegten Samen erst befruchten, damit er so zur nicht minder goldenen Ernte heranreife – und nun hält Jupiter = Camphausen den so sicher erhofften Regen in grausamer Weise zurück! Die armen Gründer zappeln und schnappen um sich, wie die Fische im Teiche, denen plötzlich das Wasser entzogen wird. An der Börse herrscht völlige „Panik“, die „Course“ weichen rapide, und eine ungeheure Finanzkrise scheint unausbleiblich, wenn es der Verwaltung der Bank gefallen sollte, ihre Rolle noch ein wenig weiter fortzuspielen. Die Erbitterung in den Reihen der Gründer ist denn natürlich auch enorm. (…)

Politische Uebersicht.

So ähnlich, dem Wesen nach ganz gleich, auch der Bismarck’sche Parlamentarismus dem Bonapartistischen des Zweiten Empire ist: dieselbe Ohnmacht und Servilität der „volksvertretenden“ Körperschaften, deren einziger Existenzzweck die Bemäntelung des in seiner nackten Gestalt etwas abstoßenden militaristischen Absolutismus – in einem Punkt

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herrscht doch ein charakteristischer Unterschied: während Bonaparte seine Lakaien im Senat und gesetzgebenden Körper mit ausgesuchter Höflichkeit zu behandeln pflegte, um ihnen ein Ansehen vor dem Volk zu geben, ist es im Bismarck’schen Reich ständige Sitte, der dienstfertigen Reichstagsmajorität bei jeder nur irgend sich bietenden Gelegenheit recht empfindlich ihr Untergeordnetheit ins Gedächtnis zu rufen, damit kein Zweifel darüber entstehen könne, daß Preußen (und was dran hängt) eine absolute Militär = und Polizeimonarchie ist, in der das Volk nichts, und die Bourgeoisie blos Ja zu sagen hat. (…)

Nr. 2.                                                 Sonnabend, 4. Januar                                                1873

Wie die Bourgeoisie die Wohnungsfrage löst.  Von Friedrich Engels  II.

Wenn wir unserem Dr. Sax glauben dürfen, so ist von Seiten der Herrn Kapitalisten schon jetzt höchst Bedeutendes zur Abhülfe der Wohnungsnoth geliefert worden, daß die Wohnungsfrage auf Grund der kapitalistischen Produktionsweise lösbar ist.

Vor allen Dingen führt uns Herr Sax an – das bonapartistische Frankreich! Louis Bonaparte ernannte bekanntlich zur Zeit der Pariser Weltausstellung eine Kommission, scheinbar um über die Lage der arbeitenden Klassen Frankreichs zu berichten, in der That, um zum größeren Ruhm des Kaiserreiches diese Lage als eine wahrhaft paradiesische zu schildern. Und auf den Bericht dieser,  aus den korruptesten Werkzeugen zusammengesetzten  Kommission beruft sich Herr Sax, besonders auch weil die Resultate ihrer Arbeit „nach dem eigenen Ausspruch des damit betrauten Komitees für Frankreich ziemlich vollständig“ sind! Und was sind diese Resultate? Von 89 Großindustriellen resp. Aktiengesellschaften, welche Auskunft ertheilten, haben 31 keine Arbeiterwohnungen errichtet; die errichteten Wohnungen beherbergen nach Sax’s eigener Schätzung höchstens 50 – 60000 Köpfe, und die Wohnungen bestehen ausschließlich nur aus zwei Zimmern für jede Familie. (…)

Aber die Arbeiterstadt in Mühlhausen im Elsaß – das ist doch ein Erfolg?

Die Arbeiterstadt in Mühlhausen ist das große Paradepferd der kontinentalen Bourgeois, gerade wie die weiland blühenden Kolonien von Ashton, Ashworth, Greg und Konsorten das der englischen. Leider ist sie kein Produkt der „latenten“ Assoziation, sondern der offenen Assoziation zwischen dem zweiten französischen Kaiserthum und den Elsässer Kapitalisten. Sie war eins von Louis Bonapartes sozialistischen Experimenten, zu dem der Staat 1/3 des Kapitals vorschoß. Sie hat in den 14 Jahren (bis 1867) 800 kleine Häuschen  nach einem mangelhaften, in England, wo man dies versteht, unmöglichem System gebaut, und überläßt diese den Arbeitern gegen monatliche Bezahlung eines erhöhten Mietbetrages nach 13 bis 15 Jahren als Eigenthum. Diese Art von Eigenthumserwerbung, in den englischen Baugesellschaften, wie wir sehen werden, längst eingeführt, brauchte von den Elsässer Bonapartisten nicht erst eingeführt zu werden. (…)

Nr. 3.                                                    Mittwoch, 8. Januar                                               1873

Politische Uebersicht.

Eine Doppelkomödie, welche so recht charakteristisch ist für unsere heutigen Zustände, spielt sich einigen Tagen in der politischen Welt ab. Bei Gelegenheit des Weihnachtsfestes ließ Papst Pius der Neunte in Rom eine sogenannte „Allokution“ – Ansprache  an die Gläubigen – vom Stapel, in der er sich bitterlich und, in polternd heftigen Worten über die „grausamen Verfolgungen“ beschwerte, „deren Gegenstand die Kirche in anderen Ländern ist, zumal in dem neuen Reiche von Deutschland.“ Kaum hatte der Telegraph diese Allokution nach Berlin getragen, so entstand dort in den Kreisen, welche die öffentliche Meinung anfertigen, eine große Bewegung. (…)

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Nr. 4.                                                 Sonnabend, 11. Januar.                                             1873

Wie der heutige Staat die soziale Frage löst.

Die Bourgeoisie setzt alle Hebel an, die Ausbreitung des ihr verhaßten Sozialismus zu bekämpfen. Sie thut es durch Schrift und Wort, wie durch die That. Wohl wissend, daß Redensarten allein nicht helfen, wenn die That nicht dahinter steht, sucht sie der Arbeitermasse kleine Vortheile zu gewähren, damit diese von ernsthaften Bestrebungen zur Verbesserung ihrer Lage ablasse.

Beliebte Mittel zu diesem Zweck sind bekanntlich die Spar = und Konsumvereine. In dem Einen soll der Arbeiter sein „Erspartes“ sammeln, um in Fällen der Noth einen Zehrpfennig zu besitzen, und der „humane“ Bourgeois hat oft sogar die Güte, diese Arbeiterersparnisse in seinem eigenen Geschäfte anzulegen und mit einem halben Prozent höher als die Kommune = Sparkasse zu verzinsen. Er preßt dafür aber 20 und mehr Prozent durch Erweiterung seines Geschäfts aus dem Arbeiter heraus.

Im Konsumverein soll der Arbeiter seine Waare billiger beziehen, ihm ein Vortheil geboten werden, der den Bourgeois nichts kostet. Er hofft, der Arbeiter werde zufriedener, im Dienst des Arbeitsherrn williger und geneigter, das alte Joch zu ertragen. Das Gelüste nach Lohnerhöhung und Befreiung soll verhindert werden. (…)

Nr. 5.                                                  Mittwoch, 15. Januar.                                               1873

Die „Krisis“ in Preußen.

In der That, die „große Nation“ Frankreich ist durch die „große Nation“ Deutschland mit Recht verdrängt worden, In Versailles entsteht eine politische Krisis, weil die französischen Krautjunker sich verschwören, die Monarchie an die Stelle der bestehenden Republik zu setzen; in Berlin bricht gleichzeitig eine Krisis aus, weil die preußischen Krautjunker die ihnen, achtzig Jahre nach der französischen Revolution, noch immer zustehende, altfeudale gutsherrliche Polizei nicht opfern wollen. Kann man noch einen Augenblick zweifeln an der Ueberlegenheit der deutschen „Kultur“ über die französische Zivilisation? Die Franzosen zanken sich mit gewohnter Oberflächlichkeit, über bloße Formen wie Republik oder Monarchie. Die gründlichen Preußen gehen der Sache auf den Grund, indem sie endlich, endlich, 1873, die Letzten in Europa außer Mecklenburg und Rußland, die Grundlage der Gesellschaft, das Sitzfleisch der Bauern, vor gutsherrlichen Stockprügeln in Sicherheit bringen – oder auch nicht. (…)

Nr. 8.                                                   Sonnabend, 25. Januar.                                           1873

Ein Preußischer Staatsmann.

In dem „Nachlaß des Fürsten Pückler = Muskau“ befinden sich höchst Interessant Notizen über den Fürsten Hardenberg, einem der „Gründer“ des modernen Preußen und würdigen Vorgänger des Fürsten Bismarck in Punkt der politischen „Ehrlichkeit“. Hardenberg war der Schwiegervater Pückler’s, der seine von ihrem ersten Mann geschiedene Tochter, Gräfin Lucie, die ihm schon eine erwachsene bildhübsche Tochter und eine ebenso hübsche Pflegetochter zubrachte, geheirathet hatte, und zwar geheirathet in der Doppelspekulation, mit der Mutter die zwei Töchter in Kauf zu bekommen und vom Schwiegerpapa wohl dotirt zu werden. Die Notizen sind von Varnhagen nach den mündlichen Mittheilungen der Gräfin Lucie, also der Tochter über den Vater, aufgezeichnet und von der „Frankfurter Zeitung“ zu folgendem Lebensbild zusammengestellt worden (die mit Anführungszeichen versehenen Stellen sind wirkliche Aeußerungen Varnhagens): (…)

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(Fürst Hardenberg hatte sie Biarritz in Basel. Nachdem am 6. Februar 1795 erfolgten Tod des preußischen Bevollmächtigten in Basel von der Goltz, übernahm Hardenberg die Leitung der schon im vorhergehenden Jahr mit Frankreich angeknüpften Friedensverhandlungen, und gelangte am 5. April 1795 „erfolgreich“ zum Abschluß des Baseler Friedens, welcher stipulirte, 1) daß Preußen das Deutsche Reich seinem Schicksal überließ, 2) daß Preußen das linke Rheinufer an Frankreich abtrat, und 3) daß Preußen im Innern Deutschlands „entschädigt“ werden sollte. Durch Abschluß dieses Vertrags, – dessen unsägliche Infamie die preußischen Geschichtsbücher  seit Jahrzehnten vergeblich wegzureiben oder zu überschminken bemüth sind – hatte Fürst Hardenberg sein Verständnis für den „Deutschen Beruf“ Preußens in so eklatanter Weise bekundet, daß er noch dem Bankrout von Jena damit betraut wurde, den beim ersten „Anlauf“ verunglückten „Großstaat“ wieder aus dem Schmutz aufzurichten und für einen zweiten „Anlauf“ zu stärken. Wie er seine Aufgabe erfüllt, wie er das Volk nasführen half, wie er vor Napoleon kroch und seinen Kollegen Stein feige verrieth – kurz die zahlosen Niederträchtigkeiten dieses „Kanzlers“ können wir hier nicht aufzählen, so gern wir es thäten, da unsere modischen Geschichtsbücher – von den Schulbüchern gar nicht zu reden, wohlweislich ein diskretes Schweigen darüber beobachten. Die obige Skizze zeigt uns den Mann im Privatleben – sein öffentliches Wirken war seines Privatlebens würdig.)

Nr. 9.                                                    Mittwoch, 29. Januar                                            1873

Der Kapitalismus und seine Folgen.*)

Bewunderer der heutigen Welt reden von den „Schlachtfeldern“ der Industrie, auf denen es keine Leichen gibt“. O der Selbsttäuschung oder des Betrugs! Keine Leichen! Wenn wir die Leichen der Arbeiter, ihrer Frauen, ihrer Kinder, kurz aller Derer, die in vergifteten Werkstätten und Fabrikräumen den Tod eingeathmet, in Folge übermäßiger Arbeit vor Abaluf des von der Natur ihnen zugemessenen Lebens, ja nur vor Ablauf der Hälfte, die Lebenskraft schon erschöpft haben – wenn wir die Leichen Aller, unmittelbar oder mittelbar dem heutigen Produktionssystem zum Opfer fallen, nur während eines Jahres sammeln, und in eine Reihe neben einander legen – und wenn wir daneben die Leichen sämmtlicher Soldaten legen, die in sämmtlichen „heiligen“ und unheiligen Kriegen der letzten 20 Jahre getödtet worden sind – Deutsche, Franzosen, Italiener, Dänen, Engländer, Amerikaner – Alle brüderlich im Tode vereint, – so wird die erste Reihe mit ihren im Bett, nach dem ärztlichen Zeugnis, eines „natürlichen Todes gestorbenen weit hinausreichen über die blutige Reihe der zerfetzten, durchlöcherten, von klaffenden Wunden entstellten Cadaver, die einst Soldaten waren. (…)

*Ein Auszug aus der kürzlich erschienenen Broschüre „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“, Vortrag gehalten zum Stiftungsfest des Dresdener Arbeiterbildungsvereins am 5. Februar 1872 und zum Stiftungsfest des Leipziger Arbeiterbildungsvereins am 24. Februar 1872 von W. Liebknecht. Den Parteigenossen empfehlen wir diese Broschüre angelegentlichst.

Nr. 10.                                             Sonnabend, 1. Februar                                             1873

Klassenkampf.

„Der Klassenkampf ist eine Erfindung der Sozialisten, – so lautet eine Lieblingsphrase unserer Gegner. Und weist man auf die Unterdrückung der Arbeiter durch die Kapitalisten, auf die Erbitterung der Arbeiter, auf die Strikes und Lockouts hin, so heißt es: „Die Unterdrückung, von der ihr redet, besteht nur in Eurer Phantasie, verschiedene Stände hat es immer gegeben und die Menschen haben sich dabei wohl gefühlt; daß es höhere und niedere Stände gibt, ist in der Ordnung und gehört zur Weltordnung, und Ihr habt Unrecht, es mit dem „aufreizenden“ Namen „Unterdrückung“ zu benennen; die Erbitterung der Arbeiter ist Euer Werk, und ebenso sind Euer Werk – direkt oder indirekt – alle Strikes und Lockouts.“

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Nr. 11.                                                   Mittwoch, 5. Februar                                          1873

Politische Uebersicht.

Die konstitutionelle Lage Deutschlands ist: keine wirkliche Freiheit, weder der Presse, noch der Rede, noch der Person. Eine  der Regierung mißliebige Zeitung wird ohne weiteres konfizirt; eine mißliebige Person eingesperrt. Die ganze Jugend des Landes, gezwungen die drei besten Jahre ihres Lebens dem Kriegsdienst zu opfern, wird zu knechtischem Gehorsam auferzogen, und entschädigt sich für ihr unwürdiges Loos nur zu häufig durch schamloseste und roheste Liederlichkeit. Es ist dies die Folge der allgemeinen Wehrpflicht, welche noch nicht genügende Beachtung gefunden hat. Hier liegt wahrscheinlich der Grund für die außerordentliche Zahl der außerehelichen Geburten in Deutschland. In Berlin giebt nach amtlicher Statistik 25 Porzent mehr uneheliche Kinder als in Paris. Die Kammern und der Reichstag zittern wie hülflose Kinder, wenn der Kanzler seine Entlassung androht. Trotz der ungeheuren Summen, die aus Frankreich hereingeströmt sind, ächst das Land unter der Last der Steuern. Die Künste des Krieges blühen, während die des Friedens im Verfall sind. Die größte und gedrillteste Armee der Welt hat als ihr nothwendiges Gegengewicht eine feige, servile, vor großen Unternehmungen zurückbebende Bourgeoisie. (…)

Nr. 13.                                                 Mittwoch, 12. Februar.                                           1873

Nachtrag über Proudhon und die Wohnungsfrage.

Von Friedrich Engels.  II.

Wir kommen jetzt auf einen Hauptpunkt. Ich warf den Mülberger’schen Artikeln vor, daß sie nach Proudhon’scher Manier ökonomische Verhältnisse verfälschen. Durch Uebersetzung in juristische Ausdrucksweise. Als Beispiel hob ich folgenden Mülberger’schen Satz heraus:

„Das einmal gebaute Haus dient als ewiger Rechtstitel auf einen bestimmten Bruchtheil der gesellschaftlichen Arbeit, wenn auch der wirkliche Werth des Hauses längst schon mehr als genügend in der Form des Mietzinses an den Besitzer gezahlt wurde. So kommt es, daß ein Haus, welches z. B. vor 50 Jahren gebaut wurde, während dieser Zeit in dem Betrag seines Mietzinses zwei=, drei=, fünf, zehnmal u. s. w. den ursprünglichen Kostenpreis deckte.“

Mülberger beschwert sich nun:

„Diese einfache, nüchterne Konstatirung einer Thatsache veranlaßt Engels, mir zu gemüthe zu führen, daß ich hätte erklären sollen, wie das Haus „Rechtstitel“ wird – eine Sache, die ganz außerhalb des Bereiche meiner Aufgabe lag…Ein anderes ist eine Schilderung, ein anderes eine Erklärung. Wenn ich nach Proudhon sage, das ökonomische Leben der Gesellschaft solle von einer Rechtsidee durchdrungen sein, so schildere ich hiermit die heutige Gesellschaft als eine solche, in der zwar nicht jede Rechtsidee, aber die Rechtsidee der Revolution fehlt, eine Thatsache, die Engels selbst zugeben wird.“

Bleiben wir zunächst bei dem einmal gebauten Hause. Das Haus, wenn vermiethet, bringt seinem Erbauer Grundrente, Reparaturkosten und Profit auf sein angelegtes Baukapital in der Gestalt der von Miethe ein, und je nach den Verhältnissen kann der nach und nach gezahlte Miethbetrag zwei=, drei=, fünf, zehnmal den ursprünglichen Kostenpreis ausmachen. Dies, Freund Mülberger, ist die „einfache nüchterne Konstatirung“ der „Thatsache“, die eine ökonomische ist; und wenn wir wissen wollen, wieso „es so kommt“ daß sie existirt, so müssen wir die Untersuchung auf ökonomischen Gebiet führen. (…)

Was die „Rechtsidee der Revolution“ für ein Ding ist, kann ich absolut nicht errathen. Proudhon allerdings macht sich aus „der Revolution“ eine Art Göttin, die Trägerin und Vollstreckerin seiner „Gerechtigkeit“; wobei er dann in den sonderbaren Irrthum verfällt, die bürgerliche Revolution

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von 1789 – 94 und die künftige proletarische Revolution durcheinander zu werfen. Dies thut er in fast allen seinen Werken, besonders seit 1848; als Beispiel führe ich nun an: Idée générale de la Révolution, ed. 1868, p. 39 & 40. Da aber Mülberger alle und jede Verantwortlichkeit für Proudhon ablehnt, so bleibt mir verboten, „die Rechtsidee der Revolution“ aus Proudhon zu erklären, und ich verharre in ägyptischer Finsterniß.

Weiter sagt Mülberger:

„Aber weder Proudhon noch ich appeliren an eine „ewige Gerechtigkeit“, um dadurch die bestehenden ungerechten Zustände zu erklären oder gar, wie dies Engels mir imputirt, die Besserung dieser Zustände von dem Appell an diese Gerechtigkeit zu erwarten.“

Mülberger muß darauf bauen, daß „Proudhon überhaupt in Deutschland so gut wie gar nicht bekannt“ ist. In allen seinen Schriften mißt Proudhon alle gesellschaftlichen, rechtlichen, politischen,  Zustände, alle theoretischen, philosophischen, religiösen Sätze an dem Maßstab der „Gerechtigkeit“, verwirft sie oder erkennt sie an, je nachdem sie stimmen oder nicht stimmen mit dem, was er „Gerechtigkeit“ nennt. (…)

Nr. 15.                                                   Mittwoch, 19. Februar                                         1873 

Nachtrag über Proudhon und die Wohnungsfrage. III.

Von Friedrich Engels.

Mülberger beschwert sich ferner, ich nenne seine „emphatische“ Auslassung darüber, „daß es keinen furchtbareren Hohn auf die ganze Kultur unseres gerühmten Jahrhunderts gibt als die Thatsache, daß in den großen Städten 90% und darüber der Bevölkerung keine Stätte haben, die sie ihr Eigen nennen können“ – eine  reaktionäre Jeremiade. Allerdings. Hätte Mülberger sich darauf beschränkt, wie er vorgibt, die „Greuel“ der Gegenwart  zu schildern, ich hätte „ihm und seinen bescheidenen Worten“ sicher kein böses Wort nachgesagt. Er thut aber etwas ganz Anderes. Er schildert diese „Greuel“ als Wirkung davon, daß die Arbeiter „keine Stätte haben, die sie ihr Eigen nennen können.“ Ob man die „die Greuel der Gegenwart“ aus der Ursache beklagt, daß das Hauseigenthum der Arbeiter abgeschafft ist, oder wie die Junker thun, aus der, daß der Feudalismus und die Zünfte abgeschafft sind – in beiden Fällen kann nichts herauskommen als eine reaktionäre Jeremiade, ein Klagelied über das Hereinbrechen des Unvermeidlichen, des geschichtlich Nothwendigen. (…)

Dann beschwert sich Mülberger, daß ich ihn für „die ungeheuerlichen Anschauungen Proudhon’s über Kapital und Zins“ gewissermaßen mitverantwortlich mache, und sagt:

„Ich setze die Aenderung der Produktionsverhältnisse als gegeben voraus, und das den Zinsfuß regelnde Uebergangsgesetz hat nicht die Produktionsverhältnisse, sondern die gesellschaftlichen Umsetzungen, die Cirkulationsverhältnisse zum Gegenstand…die Aenderung der Produktionsverhältnisse, oder wie die deutsche Schule genauer sagt, die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, ergibt sich freilich nicht, wie mir Engels andichtet, aus einem den Zins aufhebenden Uebergangsgesetz, sondern aus der faktischen  Besitzergreifung sämmtlicher Arbeitsinstrumente, aus der Inbesitznahme der gesamten Industrie von Seiten des arbeitenden Volks. Ob das arbeitende Volk hierbei mehr der Ablösung oder mehr der sofortigen Expropriation huldigen (!) wird, hat weder Engels noch ich zu entscheiden.“

Ich reibe mir erstaunt die Augen. Ich lese Mülberger’s Abhandlungen nochmals von Anfang bis zu Ende durch, um die Stelle zu finden, wo er erklärt, daß seine Ablösung der Mietwohnung „die faktische Besitzergreifung sämmtlicher Arbeitsinstrumente, die Inbesitznahme der gesamten Industrie von Seiten des arbeitenden Volks“ als fertig voraussetze. Ich finde die Stelle

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nicht. Sie existirt nicht. Von „faktischer Besitzergreifung“ u. s. w. ist nirgends die Rede. Wohl aber heißt es S. 17:

„Wir nehmen nun an, die Produktivität des Kapitals werde wirklich  bei den Hörnern gefaßt, wie das früher oder später geschehen muß, z. B. durch ein Uebergangsgesetz, welches den Zins aller Kapitalien auf Ein Prozent festsetzt, wohl gemerkt mit der Tendenz, auch diesen Prozentsatz immer mehr dem Nullpunkt zu nähern…Wie alle anderen Produkte, ist natürlich auch Haus und Wohnung in den Rahmen dieses Gesetzes gefaßt….Wir sehen also von dieser Seite her, daß sich die Ablösung der Mietwohnung mit Nothwendigkeit ergibt als eine Folge der Abschaffung der Produktivität des Kapitals überhaupt.“

Hier also, ganz im Gegensatz zu Mülberger’s neuester Wendung, mit dürren Worten gesagt, daß die Produktivität des Kapitals, unter welchen konfusen Phrasen er eingestandener Maßen die kapitalistische  Produktionsweise versteht, durch das Zinsabschaffungsgesetz allerdings „bei den Hörnern gefaßt werde“, und daß gerade in Folge dieses Gesetzes „die Ablösung der Miethwohnung sich mit Nothwendigkeit ergibt als eine Folge der Abschaffung der Produktivität des Kapitals überhaupt.“ Keineswegs, sagt Mülberger jetzt Jenes Uebergangsgesetz hat „nicht die Produktionsverhältnisse, sondern die Cirkulationsverhältnisse zum Gegenstand.“  Es bleibt in diesem vollkommenen Widerspruch nach Goethe „gleich geheimnisvoll für Weise und für Thoren,“ nur übrig anzunehmen, daß ich es mit zwei ganz verschiedenen Mülbergern zu thun habe, von denen der Eine sich mit Recht beschwert, ich habe ihm das „angedichtet“, was der Andere hat drucken lassen. (…)

Nr. 16.                                                Sonnabend, 22. Februar.                                        1873. 

Nachtrag über Proudhon und die Wohnungsfrage. IV.

Von Friedrich Engels.

Soviel Schreiberei war nöthig, um durch die mannigfachen Ausflüchte und Windungen Mülberger’s hindurch endlich auf die Sache selbst zu kommen, die M. in seiner Antwort sorgfältig zu berühren vermeidet.

Was hatte Mülberger in seiner Abhandlung Positives gesagt?

Erstens, „der Unterschied zwischen dem ursprünglichen Kostenpreis des Hauses, Bauplatzes u. s. w. und seinem heutigen Werth“ gehöre von Rechtwegen der Gesellschaft. Dieser Unterschied heißt in ökonomischer Sprache Grundrente. Diese will Proudhon ebenfalls der Gesellschaft zueignen, wie man in Idée générale de la Révolution, Ausgabe 1868, S. 219 nachlesen kann.

Zweitens, die Lösung der Wohnungsfrage besteht darin, daß Jeder, statt Miether, Eingenthümer seiner Wohnung wird.

Drittens, diese Lösung vollzieht sich, indem man die Miethzahlungen durch ein Gesetz in Abzahlungen auf den Kaufpreis der Wohnung verwandelt. – Diese Punkte 2 und 3 sind beide aus Proudhon entlehnt, wie Jedermann in Idée générale dela Révolution, S, 199 u. folgende ersehen kann und wo sich sogar S. 203 der betreffende Gesetzentwurf fertig redigirt vorfindet.

Viertens, daß die Produktivität des Kapitals bei den Hörnern gefaßt wird durch ein Uebergangsgesetz, wodurch der Zinsfuß vorläufig auf 1 pCt., vorbehaltlich späterer weiterer Erniedrigung, herabgesetzt wird. Dies ist ebenfalls Proudhon entlehnt, wie in Idée générale S. 182 – 186 ausführlich zu lesen. (…)

Was habe ich nun auf diesen proudhonistischen Plan entgegnet?

Erstens, daß die Uebertragung der Grundrente an den Staat gleichbedeutend ist mit Abschaffung des individuellen Grundeigenthums.

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Zweitens, daß die Ablösung der Miethwohnung und die Uebertragung des Eigenthums der Wohnung an den bisherigen Miether die kapitalistische Produktionsweise gar nicht berührt.

Drittens, daß dieser Vorschlag bei der jetzigen Entwicklung der großen Industrie und der Städte ebenso abgeschmackt wie reaktionär ist, und daß die Wiedereinführung des individuellen Eigenthums jedes Einzelnen an seiner Wohnung ein Rückschritt wäre.

Viertens, daß die zwangsmäßige Heransetzung des Kapitalzinses die kapitalistische Produktion keineswegs angreift, im Gegentheil, wie die Wuchergesetze beweisen, ebenso uralt wie unmöglich ist.

Fünftens, daß die Abschaffung des Kapitalzinses das Miethgeld für Häuser keineswegs abgeschafft ist. (…)

Aber Mülberger’s Antwort ist keine Widerlegung; sie umgeht sorgfältig alle ökonomischen Punkte, welche doch die entscheidenden sind; sie ist eine persönliche Beschwerdeschrift, weiter nichts. So beklagt es sich, wenn ich seine angekündigte Lösung anderer Fragen, z. B. Staatsschulden, Privatschulden, Kredit vorwegnehme und sage, die Lösung sei überall die, daß wie bei der Wohnungsfrage, der Zins abgeschafft, die Zinszahlungen in Abzahlungen auf den Kapitalbetrag verwandelt und der Kredit kostenfrei gemacht wird. Trotzdem möchte ich noch heute wetten, daß, wenn diese Mülberger’schen Artikel das Licht der Welt erblicken, ihr wesentlicher Inhalt mit Proudhin’s Idée générale: Kredit S. 182, Staatsschulden S. 186, Privsatschulden S. 196, ebenso stimmen wird, wie diejenige über die Wohnungsfrage mit den citirten Stellen desselben Buchs. (…)

Nr. 17.                                                  Mittwoch, 26. Februar                                           1873

An die Mitglieder der Internationalen Arbeiter = Assoziation, an die Arbeiter aller Länder.

Mitarbeiter!

Die moderne bürgerliche Gesellschaft schreitet rasch los auf ihr Ziel, der Conzentration der Mittel und Früchte eurer Arbeit, der Arbeit der Millionen in den Händen Weniger. Während den nur zu bescheidenden Forderungen der Arbeit zäher Widerstand geleistet wird, durchforscht das Kapital den Erdball nach neuen Feldern der Ausbeutung und die herrschenden besitzenden Klassen der großen sogenannten civilisirten Länder jagen um die Palme in der Anhäufung eurer Arbeitsfrucht.

Jener gähnende Abgrund zwischen Reichthum und Armuth in England ist zu wohl bekannt, um hier näher erwähnt zu werden. In Frankreich feiern die Bourgeois aller Schattirungen Orgien auf den Gräbern der Arbeiter, welche im Kampfe gegen den Eindringling auf dem heiligen Boden der Revolution fielen; die Boulevards sind besät mit Haufen von einheimischen und fremden Prassern und Müßiggängern, während Zehntausende der Witwen und Waisen der heldenmüthigen Vertheidiger der Kommune darben und der alte Sünder Thiers hält Empfang in Versailles, der Wiege des deutschen Kaiserreichs. In Deutschland schrauben die Milliarde des „Erbfeindes“ die Preise aller Lebensmittel und verschlimmern diese schon elende Lage des Arbeiters; und die deutsche Bourgeoisie tanzt einen „Gründungs“ = und Speculations = Cancan, welche die stolzesten Karnevals der französischen Bourgeoisie unter Louis Philippe  und dem Mann von Sedan, und der österreichischen Bourgeoisie nach 1866 in den Schatten stellt. (…)

Zur Auswanderung:

In einem Artikel betitelt „die Auswanderung“. sagt die feudalsozialistische „Berliner Revue“ in ihrem Heft vom 4. Januar: „Unmöglich kann es zu einem dauernden Zustande werden, daß Deutschland alljährlich einige hunderttausend junge Leute, die in Deutschland auf unsere (!)

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Kosten erzogen sind, auswandern, und Amerika ihr Kapital und ihre Arbeits = und Wehrkraft zuführen läßt, während sie uns ihre Eltern und vielleicht unterstützungsbedürftige Verwandte zurücklassen. Aber mit Verbot und Polizeimaßregeln ist da nichts zu machen. Es handelt sich darum, für die Arbeiter hier ebenso gute Arbeits = und Existenzbedingungen zu schaffen, daß der Reiz zum Auswandern wegfällt. (…)

Nr. 19.                                                 Mittwoch, 15. März                                                  1873

Ein ehrlicher „Kathedersozialist.“

In der Leipziger „Gemeinnützigen Gesellschaft – einem dem reinsten Nationalliberalismus huldigenden Bourgeoisieverein, an dessen Spitze Professor Biedermann, Bürgermeister Stephany und Leute ähnlichen Schlages stehen – hielt am 13. Januar Professor Knapp, Direktor des Leipziger statistischen Bureau’s, einen Vortrag, der nähere Berücksichtigung unserer Seits verdient. Nach dem Bericht des „Leipziger Tageblatt“ vom 15. Januar, den wir vollständig und unverändert wiedergeben, sprach Professor Knapp über den Freihandelsbund von Manchester oder vielmehr über den Kampf, den die englische Bourgeoisie seit dem Ende der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts gegen die Aristokratie geführt und siegreich durchgefochten. Dieser Kampf knüpfte an die damals immer drückender gewordene Korngesetzgebung, die aus rein aristokratischen Interessen hervorgegangen, zu Gunsten der adeligen Grundbesitzer die Einfuhr ausländischen Getreides durch hohe Zölle hemmte, die Getreidepreise in England selbst aber unnatürlich in die Höhe trieb. Diese eigennützige Politik war insofern doppelt verwerflich und verderblich, als England schon seit Mitte des vorigen Jahrhunderts nicht mehr im Stande war, so viel Getreide zu bauen, als es nach seiner Bevölkerungszahl nöthig hatte, sich also offenbar darauf angewiesen sah, gegen seine Industrieprodukte Getreide einzutauschen. Der Redner schildert nun sehr klar und anschaulich das allmähliche Anschwellen der Bewegung, die sich von Manchester aus in den Kreisen der Bourgeoisie gegen die Korngesetzgebung erhob, und gab einen genauen Einblick in die Agitation der Anti = Cornlaw = League (Ligue gegen die Korngesetze), jenes großen Freihandelsbundes, der unter der Leitung von Cobden, Bright und Wilson zuerst  den besitzenden Mittelstand gegen die Aristokratie organisirte, zur Partei stempelte und dieser den Weg ins Parlament bahnte.

Es wurde an dem Entstehen und Verlauf der Bewegung gezeigt, wie durchaus kein Kampf um Volksrechte, sondern vielmehr ein Klassen = und Interessenskampf, ein Kampf um die politische Macht vorliege. Darum habe der Arbeiterstand in England Anfangs gegen diese von den besitzenden Klassen ausgehende Bewegung große Zurückhaltung beobachtet. Um ihn zu gewinnen, habe man ihm vorgespiegelt, daß die Manchesterpartei, wenn sie erst im Parlament sitze, auch die Interessen der unteren Stände vertreten wird und soziale Reformgesetze, z. B. eine Bill, betreffend die Verkürzung der Arbeitszeit in den Fabriken einbringen werde. Dies wirkte; der Arbeiterstand schloß sich der Bewegung an und jetzt wurde der Manchesterbund unwiderstehlich. Sir Robert Peel, der damals das englische Staatsruder lenkte und lange Zeit die Anti = Corn = League bekämpft hatte, machte aus politischer Klugheit die Sache derselben zu der seinigen, und der Parlamentssession von 1846 – sieben Jahre nach Gründung des Bundes – ging ein Gesetz durch, nach welchem die Kornzölle aufgehoben werden und fortan die Prinzipien des Freihandels in England herrschen sollten.

Erfüllte nun aber die Bourgeoisie die Versprechungen, durch welche sie die Bundesgenossenschaft der Arbeiterklasse gewonnen? Das Gegentheil trat ein. Bright und die ganze Schaar der Fabrikanten stimmten gegen die Minderung der Arbeitszeit. Die Gesetze, die in England zum Schutze der Arbeiter gegen die Ausbeutung durch die besitzenden Klassen, sind meist von der Aristokratie ausgegangen, als Gegenzüge gegen die Siege der Manchesterpartei. Zum Schluß warf der Redner einen vergleichenden Blick auf die deutsche Manchesterpartei, die Partei des bekannten „Volkswirthschaftlichen Kongresses“. Er hob

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rühmend die Verdienste derselben um Aufhebung des Zunftzwanges, Münzreform und internationale Handelspolitik hervor, tadelte aber scharf die Lässigkeit und Bequemlichkeit, mit der man von dieser Seite der Arbeiterbewegung zugesehen habe. In dieser handle es sich gewiß nicht blos um Erhöhung der Löhne, zur Vermeidung einer materiellen Noth, die in vielen von der Agitation ergriffenen Kreise gar nicht vorhanden sei; vielmehr sei die Stellung des Arbeiters zum Fabrikanten überhaupt Gegenstand des Kampfes. In der despotischen Verfassung der gewerblichen Anstalten, in dem Verhältnis des Vorstandes zu den Arbeitern soll eine Aenderung herbeigeführt werden. (…)

Professor Knapp ist Mitglied des in Eisenach niedergesetzten „Ständischen Ausschusses“ und hat, laut Berliner Blättern, sich neulich in einer Sitzung des Ausschusses so unverblümt und rückhaltlos mit Bezug auf den Gründungsschwindel ausgesprochen, daß Hr. Geheimrath Engel, Chef des Berliner statistischen Bureaus und mehrfacher Gründer (u. A. des Eisenacher Congresses) sich in Folge dessen veranlaßt gesehen hat, sein Amt als Ausschßmitglied niederzulegen. Jedenfalls beweist der obige Vortrag des Hrn. Professor Knapp, daß die Wahrheit sich allmählich durchbohrt, und zwar nicht der Kathedersozialismus unter die Arbeiter, wohl aber der Arbeitersozialismus auf die Katheder dringt.

Nr. 23.                                                Mittwoch, 19. März.                                               1873

Ein schwarz umrandeter Bericht steht unter der Überschrift:

Gedenktage des Proletariats.

18. März 1871.

„Die Besiegten haben keine Geschichte“, lautet ein altes Wort, denn was die Sieger für Geschichte ausgeben, ist die eigene Verherrlichung und die Beschimpfung der Ueberwundenen. Zum Glück ist das Wort nicht mehr ganz richtig, denn die modernen politischen wie sozialen Kämpfe werden in einem so großartigen Maßstab geführt, daß einerseits die gänzliche Vernichtung des Besiegten nicht möglich, andererseits, trotz aller Vorsichtsmaßregel eine vollständige Absperrung der Wahrheit nicht zu bewerkstelligen ist.

Nie haben die Sieger größere Anstrengungen gemacht, den Besiegten ihre Geschichte zu rauben, nie haben die Sieger dabei über so große Mittel mit so großer Rücksichtslosigkeit verfügt, als während und nach der Erhebung des französischen Proletariats; aber trotz alledem hat die Wahrheit das Lügengewölke durchbrochen; und gibt es auch noch manchen unerhellten Punkt, – in ihren Grundzügen liegt jene gewaltigste  und erschütterndste Tragödie der Neuzeit klar, und dem Auge eines Jeden, der sehen will, erkennbar vor uns.

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Ereignisse, welche dem Ausbruch des 18. März 1871 vorausgegangen und ihn unmittelbar hervorriefen. Am 2. September 1870 platzt bei Sedan die Eiterbeule des französischen Empire;  der meineidige Mörder und Dieb des 2. Dezember*) wirft sich, vor der Rache des so schmachvoll von ihm betrogenen französischen Volkes flüchtend, seinem „guten Bruder“ und Gastfreund Wilhelm von Preußen in die Arme; Frankreich ist wehrlos und verrathen; ein Heer von 500,000 Feinden zieht gegen Paris heran. Die besitzenden und „gebildeten“ Klassen des Landes und der Hauptstadt sind niedergedonnert, unfähig, sich zu einem Entschluß, sich zu einer That aufzuraffen. Das Volk, die Arbeiter von Paris, die Einzigen, die vor der wahnsinnigen Kriegserklärung Protest gegen den Krieg erhoben hatten, – jetzt, da es zu wählen gilt zwischen verzweifeltem Widerstand und feiger Unterwerfung unter die Befehle eines preußischen Junkers, der die Zerstörung der „großen Städte“ für eine monarchische Nothwendigkeit erklärt hat, und der deswegen den Frieden verweigert, weil das preußische Junkerinteresse die Restauration Bonaparte’s erheischte – jetzt, dieser Gefahr, und diesem Feind gegenüber entscheiden sich die Pariser Arbeiter für den Krieg bis zum Aeußerten. Umsonst machen die bürgerlichen Demokraten und Republikaner alle möglichen und unmöglichen Einwendungen:

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Das Pariser Proletariat erzwingt am 4. September die Proklamierung der Republik und die Vertheidigung. Das Proletariat, um nicht dem in Eilmärschen nahenden Feind das Schauspiel der Zersplitterung zu geben, hat die fast unbegreifliche Mäßigung, das Staatsruder in den Händen der Männer zu lassen, von denen es weiß, daß sie seine tödlichen Feinde sind. – Die Belagerung von Paris beginnt.

That die Regierung der Nationalvertheidigung ihre Schuldigkeit, organisirte und benutzte sie, wie es hätte sein sollen und können, die verfügbaren Kräfte der Hauptstadt und der Provinzen – so unterliegt es kaum einem Zweifel, daß die französische Republik sich ihrer auswärtigen Feinde erwehrt hätte. Allein die Regierung der Nationavertheidigung wollte nicht siegen, weil ihr der Preis des Sieges zu hoch war, Um den Krieg mit Erfolg zu führen, mußte Regierung das ganze Volk bewaffnen, und das ganze Kapital Frankreichs einsetzen. Sie wollte weder das Eine noch das Andere. Das ganze Volk bewaffnen, die Gewalt den besitzenden Klassen nehmen und den nichtbesitzenden zu geben; und das ganze Kapital einsetzen, daß hieß, Alles einsetzen, was für die besitzenden Klassen Werth hatte, und was nur durch Einsatz in Frage gestellt ward. Die fremden Truppen vergriffen sich im Großen nicht an dem Eigenthum. Was ist aber den besitzenden Klassen Freiheit, Vaterland, nationale Ehre, wenn das „Eigenthum“ nicht bedrohgt ist? Lieber die Preußen im Land und das Eigenthum unversehrt, als die Preußen aus dem Land getrieben und das Eigenthum dabei zu Schaden gebracht.

Wohl rief man die Erinnerungen von 1792 und 1793 wach, wo das französische Volk, die Fesseln der Sklaverei abstreifend, das anstürmende Ausland über die Grenzen zurückjagte – allein die Zeiten hatten sich gänzlich geändert. Damals kämpfte das Bürgerthum für die neu errungene politische Herrschaft, durch seine ökonomische Herrschaft besiegelt ward;  und die von der Revolution in’s Leben gerufene Klasse der freien Kleinbauern kämpfte für ihre Parzelle, die ihr, mit dem Erliegen der Revolution unrettbar verloren ging. Jetzt hatte weder das Bürgerthum für seine politische Macht und das Recht der schrankenlosen Ausbeutung zu kämpfen, noch der Bauernstand für seinen Besitz. Die politische und ökonomische Herrschaft des Bürgerthums und der Besitz des Bauern konnte erst durch den revolutionären Widerstand und dessen Consequenzen in Gefahr kommen.

Die Sache lag also für die besitzenden Klassen genau umgekehrt wie 1792 und 1793. Damals heischte ihr Sonderinteresse den revolutionären Krieg; der Sieg des Auslandes richtete sie politisch und materiell zu Grunde. Jetzt heischte ihr Sonderinteresse die Vermeidung des revolutionären Kriegs; sie konnten nur siegen, indem sie ihr wirkliches oder (bei den Bauern fast ausschließlich) eingebildetes Klasseninteresse tödlich verletzten. Kurz 1792 und 93 war für die besitzenden Klassen der Sieg, 1870 war für sie die Unterwerfung eine ökonomisch = politische Existenzbedingung.

Diese aus den Verhältnissen sich ergebende Wahrheit bildet den Ariadnefaden im Wirrwarr der nachfolgenden Ereignisse. (…)

Mitte März ertheilt die royalistische Regierung den Befehl, dem Pariser Proletariat seine Kanonen zu nehmen. Es ist der Anfang der Entwaffnung. Die Arbeiter widersetzten sich. Ein blutiger Zusammenstoß wird aber vermieden bis zum 18. März. An diesem denkwürdigen Tag werden die Truppen zu einem ernsthaften Ueberrumpelungsversuch benutzt. Er mißlingt: die Soldaten schlagen sich zum Theil auf die Seite des Volks, zwei Generale, wiederholt zum Brudermord aufgehetzt, Lacomte und Thomas, werden von den eigenen Soldaten getötet, das Volk ist siegreich. –  Die Würfel sind gefallen. Das Pariser Proletariat hat mit der monarchischen Regierung gebrochen und seinen Willen kundgethan: die Republik. Welche am 4. September gegründet, zu vertheidigen.

Draußen vor den Thoren die rasch anschwellende Armee des Hrn: Thiers, rings um die Stadt eine halbe Million deutscher Soldaten, bereit, mit den Truppen des Hrn, Thiers zusammen zu

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wirken, sobald dieser es verlangt, das Land niedergeschmettert, nirgends Aussicht auf Hülfe! Fürwahr, es war ein großherziger Entschluß, unter solchen Umständen den Kampf aufzunehmen für die Republik. Aber

La République nous appelle,             Die Republik ruft uns,

Sachons vaincre, sachons périr!        Es gilt zu siegen oder zu sterben!

Un Francais doit vivre pour elle,       Für die Republik muß der Franzose leben,

Pour elle un Francais doit mourir.*) Für sie muß er sein Blut geben.

*Refrain des berühmten Chant de dèpart (Lied beim Ausmarsch von 1793)

Nr. 32.                                                 Sonnabend, 19. April                                               1873 

Der „moderne Sozialismus“ und das veraltete Vorurtheil.

II. (siehe Nr. 22) (Sozialismus, „Materialismus“ und Atheismus. Zukunft des Sozialismus. Antikritik der „Kritik“.)

Der Verf.  hat seiner geschichtlichen Darstellung einen Abschnitt folgen lassen, der unter dem Titel „Schlußfolgerungen“ (S. 403 bis 474) eine Kritik des „modernen Sozialismus“ enthalten soll. Zahlreiche Wiederholungen der verschiedensten Gedanken an den verschiedenen Stellen beweisen schon äußerlich, daß der Verf. es zu keinem System des Antisozialismus gebracht hat, und bei näherer Betrachtung  der „Schlußfolgerungen“ (in Verbindung mit dem Hauptheile des Buches zerstreut liegenden Einzelbemerkungen) gewahrt man sogar, daß der Verfasser selbst sich der Hohlheit seiner Opposition, selbst sich seines Bankrotts bewußt ist.

„Die Hauptursache, warum der Sozialismus keine Zukunft hat, ist der materialistische Geist, welcher ihn durchdringt.“ („Materialistisch nennt nämlich der Verf. den Sozialismus nur deshalb, weil dieser das „Naturrecht“ der „höheren sittlichen Ordnung“  und der althergebrachten „Autorität“ entgegenstellt: „Weil der Sozialismus dem Materialismus entspringt, so ist der Streit um das Privateigenthum in letzter Instanz ein Kampf des Materialismus mit der überlieferten Anschauung, welche über der irdischen noch eine höhere sittliche Ordnung annimmt. Wer diese leugnet, muß zuletzt, solange ihm das Mitgefühl für die Menschheit lebendig bleibt zum Sozialismus kommen.“ S. 467. –  Zum Mindesten geht aus diesen zwei Sätzen hervor, daß der Verf. der zwischen unserer „irdischen“ und einer „höheren, sittlichen Ordnung“ unterscheidet, jene heutige „irdische“ nicht für „sittlich“ hält. Grund genug also dieser „Ordnung“ umzustoßen.) In Wirklichkeit treibt der Verf.  in seinem ganzen Buch mit dem Wort Materialismus puren Unfug. Es giebt keinen „Materialismus“ ohne Idealismus und keinen „Idealismus“ ohne Materialismus. Und was speziell den „Sozialismus“ anbelangt, so vereinigt er diese beiden (fälschlich als Gegensätze verschrieenen**) Geistesrichtungen in eminent harmonischer Weise: er will das Glück des Einzelnen und der Gesammtheit begründen und zwar das Eine durch das Andere. Ja, man könnte sagen, daß die scheinbaren Gegensätze von Materialismus und Idealismus noch nie einen so herrlichen Vereinigungs = Triumph gefeiert haben, wie der sie beide versöhnenden und dauernd verbindenden sozialistischen Idee, in welcher das Besondere, der Materialismus, aufsteigt zur Höhe des Allgemeinen, zum Idealismus. – Doch hören wir, wie der Verf. des (weil „materialistischen) Sozialismus „Zukunftslosigkeit“ begründet: Daher (durch einen materialistischen Geist) hat der Sozialismus seinen gefährlichen Gegner in sich selbst, denn es ist mit der Herrschaft des Materialismus nothwendig (!) die innere Auflösung und innere Zersetzung gegeben. Ja diese wird schon eintreten, ehe das Ziel erreicht und die alte Gesellschaft gestürzt ist. Ein Blick auf die Erscheinungen in den Kreisen der Sozialisten belehrt uns zur Genüge hierüber. Der Trieb zu Spaltungen ist dem modernen Sozialismus immanent. (?) und bildet eins seiner wesentlichen

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Kennzeichen. Der Materialismus kann ja blos eine vorübergehende (!) Einigung der Geister herbeiführen; sobald es sich darum handelt, die gemeinsamen Pläne in die Wirklichkeit überzuführen, muß (!) die Coalition der Sozialisten durch die Ueberwucherung der persönlichen Leidenschaften unheilbar (!) geschädigt werden. An derselben Ursache wird auch jede sozialistische Organisation der Gesellschaft nothwendig scheitern müssen. Wie die Republik Republikaner verlangt, so bedarf eine sozialistische Gesellschaft in noch viel höherem Grade der freiwilligen Disziplin, diese fehlt aber auf dem materialistischen Boden noch weit mehr als in der normal zusammengesetzten Gesellschaft und deßwegen muß (!) das Privateingenthum sein. Schon die einfache Frage nach der Führerschaft bringt Egoismus und Herrschaft mit allen häßlichen Leidenschaften zu Tage. Daher (!) kann der Sozialismus wegen seines durchaus (!) materialistischen Charakters nur zerstören aber nicht aufbauen. Das vollendete Chaos (!) würde eintreten, sobald den Sozialisten die Möglichkeit gegeben wäre, ihre Theorien praktisch zu machen und die Gesellschaft nach ihren Plänen neu zu gestalten. Eine Zeitlang könnte der sozialistische Staat noch halten, aber bloß dadurch, daß seine Gliederung, die theoretisch auf weitestgehender Autonomie beruhen sollte, in despotisch zusammengehaltene verwandelt würde. Bald müßte (!) auch diese unter den Schlägen eines herrschsüchtigen Imperators zusammenbrechen, und so unnatürlich der Cäsarismus auch ist, so wäre er doch in diesem Falle noch eine Wohltat für die Gesellschaft; sie hätte die Freiheit nicht wieder erlangt, wohl aber wenigstens eine sichere Ordnung. (!) Daher müßte (!) ein Sieg des Sozialismus naturgemäßer (!) Weise zugleich der Wendepunkt zu seinem Untergang hin sein, denn die Auflösung der sozialistischen Gesellschaft im entsetzlichsten Bürgerkriege ist eine in ihrem innerste Wesen begründete (!) Nothwendigkeit. (!) Freilich lassen sich darauf noch keine Hoffnungen für die Anhänger der natürlichen Sozialordnung bauen……Die sozialistische Irrlehre muß auf geistigem und besonders auf moralischem (!!) Gebiete erst überwunden werden; erst dann kann man von einem wirklichen Siege der Ordnung und Freiheit sprechen, erst dann verschwindet die Gefahr für die Gesellschaft.“ (…)

Nr. 33.                                                 Mittwoch 23. April.                                                1873

Das allgemeine gleiche Wahlrecht und seine Gegner.

(III. Recensionsartikel in der Serie: Der „moderne Sozialismus“ und das veraltete Vorurtheil.)

Eines der Hauptmomente, das dem Verf.  so argen Grusel vor dem „modernen Sozialismus einflößt, ist das allgemeine gleiche Wahlrecht. „Der Götze des modernen Sozialismus ist das souveräne allgemeine Stimmrecht und der darauf beruhende Staat. Was ist aber dieser Staat des absoluten allgemeinen Stimmrechts anders als die organisirte Sklaverei der Minderheit, die despotische Herrschaft der Mehrheit, ja in der Regel nicht einmal der Mehrheit, sondern irgend einiger Volksführer? Es läuft bei derartigen Abstimmungen auch meist eine großartige Selbsttäuschung mitunter. Denn wenn nicht alle Berechtigten zur Urne gehen, so kann die Volksstimme nicht einmal formell vollkommen zum Ausdruck kommen. Nun aber sind die Wahlenthaltungen meist sehr zahlreich und in der Regel sind es die conservativen Elemente im Volk, die sich von der Agitation und den Wahlen fern halten. Eine Minderheit stimmt ab, ersetzt, was ihr an Zahl abgeht, durch Lärm und gebärdet sich als das „Volk“ und preist die eigene Stimme als die „Volksstimme“.

Diese ganze Deklamation ist wieder so unlogisch wie nur möglich! Weil das allgemeine Wahlrecht gewisse Nachtheile im Gefolge haben kann, darum soll es – obschon es besser ist als alle anderen Wahlsysteme – dennoch verschwinden. Das ist ungefähr so, wie wenn man sagen wollte: Weil bei einer schlecht verwalteten Eisenbahn viel Unglück passiren kann, darum darf man überhaupt nicht auf der Eisenbahn, auch auf der gut verwalteten fahren. (…)

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Nr. 34.                                               Sonnabend, 26. April.                                               1873.

Politische Uebersicht.

Die Kaiseridee der Hohenzollern. Der alte Historiker von Ranke in Berlin hat zur Erinnerung an das 25jährige Jubiläum der Berliner Märztage den Briefwechsel zwischen dem „romantischen“ König Friedrich Wilhelm und seinen Gesandten von Bunsen veröffentlicht. Von diesen Briefen (die „Demokr. Ztg.“ hat die zwei interessantesten abgedruckt) behandelt einer die deutsche Kaiserkrone, welche von dem „Romantischen“ bekanntlich seinerzeit abgelehnt worden ist. Das denkwürdige Aktenstück, das zweifelsohne nicht nach Schnaps riecht, lautet folgendermaßen:

Potsdam, 13. Dezember 1848.

Mein theuerster Bunsen! Ihre letzten Briefe bestätigen mir, was ich schon zu Brühl merkte und möglichst bekämpfte, daß wir uns in Germania (in Angelegenheiten Deutschlands) nicht verstehen oder vielmehr, daß Sie mich nicht begreifen können. Es ist dies ein schweres Wort, ich fühle es, aber der Freund muß sich’s vom Freunde gefallen lassen. Ich verstehe Sie und Ihre Raisonnements (Urtheile); Sie aber nicht die meinigen, sonst hätten Sie nicht so schreiben können, das heißt, Sie hätten dann nicht (was Sie gethan haben) den absoluten Hindernissen, die zwischen mir und der Kaiserkrone !!! stehen, einen leichten und leicht zu beseitigenden Namen gegeben. Sie sagen (wörtlich wie der Herr Gagern mir sagte am 26. Und 27.  v. M.): „Sie wollen die Zustimmung der Fürsten; gut und recht, die sollen Sie haben.“

Aber, mein theuerster Freund, da liegt der Hund begraben: ich will weder der Fürsten Zustimmung zu der Wahl, noch die Krone. Verstehen Sie die markirten Worte?

Ich will Ihnen das Licht darüber so kurz und hell wie möglich schaffen. Die Krone ist erstlich keine Krone. Die Krone, die ein Hohenzollern nehmen dürfte, wenn die Umstände es möglich machen könnten, ist keine, die eine, wenn auch mit fürstlicher Zustimmung eingesetzte, aber in die revolutionäre Saat geschossene Versammlung macht (dans le genre de la couronne des pavés de Louis Philippe*), sondern eine, die den Stempel Gottes trägt, die den, dem sie aufgesetzt wird nach der heiligen Oelung, „von Gottes Gnaden“ macht, weil und wie sie mehr denn 34 Fürsten zu Königen der Deutschen von Gottes Gnaden gemacht und den Letzten immer der alten Reihe gesellt. Die Krone, die die Ottonen, die Hohenstaufen, die Habsburger getragen, kann natürlich ein Hohenzollern tragen, sie ehrt ihn überschwänglich mit tausendjährigem Glanze. Die aber, die Sie – leider meinen, verunehrt überschwänglich mit ihrem Ludergeruch der Revolution von 1848, der albernsten, dümmsten, schlechtesten – wenn auch, gottlob, bösesten dieses Jahrhunderts. Einen solchen imaginären Reif, aus Dreck und Latten gebacken, soll ein legitimer König von Gottes Gnaden und nun gar der König von Preußen sich geben lassen, der den Segen hat, wenn auch nicht die älteste, doch die edelste Krone, die Niemand gestohlen worden ist (Qui s’excuse, s’accuse! R. d. V.) zu tragen? (…)

So urtheilte der vorige König von Preußen über das deutsche Kaiserthum und die deutsche Kaiserkrone. Verglichen mit dem jetzigen König war er bekanntermaßen noch freisinnig; er brauchte nicht am 18. März 1848 aus Berlin flüchten, er leitete nicht den Standrechtsfeldzug gegen die Badisch = Pfälzischen Reichsverfassungskämpfer; er nahm nicht die Krone direkt vom „Tische des Herrn“. Allerdings, seine Verachtung für einen „aus Dreck und Latten gebackenen Reif“, dargereicht von Vertretern des Volks, konnte nicht übertroffen werden. Wenn aber einer der exdemokratischen Speichelecker des Junkers Bismarck sich noch einmal zu behaupten erfrecht, das „neue Reich“ des Herrn Wagener und Stieber sei die „herrliche Erfüllung“ des 1848er Kaiserthums, dann reibe man den schaal = und ehrlosen Gesellen unter die Nase den „Ludergeruch der Revolution von 1848. (…)

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Nr. 35.                                                   Mittwoch 30. April                                               1873

Zur  Naturgeschichte unserer Tagespresse.

In einem Artikel über das „Gründerthum in der Tagespresse“ sprach vor nicht langer Zeit die „Augsburger Allgemeine Zeitung“ von der „schweren Gefahr“, welche „der gesammelten ehrlichen Preßindustrie“, dem Publikum und dem öffentlichen Gewissen erwachsen müsse, wenn das Zeitungsgeschäft in die Hände von Börsenmännern, Bankinsituten und Gründerkonsortien gerathe. „Nicht blos auf das wirthschaftliche, sondern auch auf das soziale und politische Leben“ werde „das öffentliche Gewissen bestochen, verwirrt und vergiftet werden“. (…)

Nr. 38.                                                   Sonnabend, 10. Mai.                                               1873

Eigentum und Arbeit. Gewaltstaat. Ehe und Erbrecht.

(Schlußartikel der Serie: „der moderne Sozialismus und das veraltete Vorurtheil“.)

Es ist das „Privateinenthum“, welches nächst dem allgemeinen Stimmrecht dem Verf. sehr viel Kopfzerbrechen verursacht. Zwar bezeugt er aus Marx, Lasalle, „Volksstaat“ und „Neuer Sozialdemokrat“, daß der moderne Sozialismus nicht das Privateigenthum schlechthin, sondern nur das durch Nichtarbeit und Ausbeutung Anderer (wie Speculation, Monopol, Kapitalismus, Erbschaft u. s. w.) angeeignete „Privateingenthum“ abschaffen und statt dessen das auf (physischer oder geistiger) persönlicher Selbstarbeit beruhende „Privateigenthum“ einführen will. Allein er geht von dem Vorurtheil aus, daß das Eine nothwendig das andere nach sich zieht und daß, wenn erst einmal das kapitalistische Eigenthum abgeschafft wäre. Auch das nachherige individuelle Eigenthum aufgehoben werden würde; das sei eine Folge des Materialismus. (…)

Und namentlich in Bezug auf „Ehe und Familie“. In diesem Punkte ist der Verf.  der reine Pfaffe. Er geht von der willkürlichen Prämisse aus, daß „Atheismus und Materialismus zu keinen anderen Consquenzen (als zur Weibergemeinschafft) führen kann“, und deutelt danach alle auf Ehe und Familie bezüglichen, selbst unzweideutigsten Aeußerungen der Sozialisten, hinterher diese noch verdächtigend: „man hat sich bis jetzt mit anerkennenswerther Klugheit der Behandlung dieser Frage ferngehalten.“ Resümiren wir daher kurz die übereinstimmenden Ansichten aller heutigen Sozialisten über dieses Thema:

Wir wollen zunächst die soziale Gleichstellung der Frau mit dem Mann. Sie ist damit natürlich nicht gezwungen, Cigarren zu rauchen und Anatomie zu studiren, sondern es steht ihr kein Hinderniß entgegen, das zu thun. Es werden ihr dieselben Erziehungs = und Bildungsmittel zur Verfügung gestellt wie dem Mann; sie wir diesem gleich an Leistungsfähigkeit. Das verstehen wir unter „Frauenemanzipation“. (…)

Und damit hängt das Thema vom Erbrecht zusammen.

Es ist durch das Vorstehende überflüssig, des Näheren auseinanderzusetzen, wieso diese Frage des Erbrechts mit der des sozialistischen Rechts auf Arbeit u. s. w. fällt und steht. Sobald jeder weiß, daß seine wohlerzogenen Kinder nicht dem Elend preisgegeben sind, auch wenn die Eltern verstorben, braucht er nicht seine Fähigkeiten zeitlebens in den Dienst der Erwerbssucht zu stellen, und er kann leichten Herzens am Lebensabend ausruhen, anstatt sich abzurackern und zu knausern für die „Erben“. Andererseits erhält durch den Wegfall des Erbrechts das Verhältnis der Kinder zu den Eltern – mit Verlaub, Herr Verfasser! – einen reineren Charakter. Es ist nicht mehr das schmutzige Geldinteresse, das winkende Erbtheil, welches die Kinder an die Eltern bindet, sondern die ungetrübte Pietät. „Wenn mein Vater stirbt bekomme ich’s Haus“ – diese echt bürgerliche

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Rohheit, die man heutzutage fortwährend anzuhören hat, verschwindet im Zukunftsstaat. (…)

Nr. 45.                                                    Mittwoch, 4. Juni.                                                1873.

Bericht des Generalraths an die Mitglieder der Internationalen Arbeiter = Assoziation.

Mitarbeiter!

Die Arbeiter Englands begreifen mehr und mehr die Nothwendigkeit politischer Thätigkeit und handeln danach. In nicht zu ferner Zeit werden sie durchdrungen sein von der Wahrheit, „daß die Eroberung der politischen Macht die oberste Pflicht der Arbeiterklasse ist“ und „daß sie eine besondere Partei bilden müssen im Gegensatz zu allen alten bürgerlichen Parteien“. Die Perfidie der bürgerlichen Parteien wird den nur zu vertrauensseligen Arbeitern die Augen öffnen und ein Ungewitter erregen, welches alle freiwilligen und bezahlten Gegner einer ausschließlichen Arbeiterpolitik hinwegfegen wird.

In Spanien lernen die Arbeiter soeben die Hohlheit einer anderen parlamentarischen Republik, dieses Ideals der Bourgeois = Wünsche und Bestrebungen, kennen. Die Nebelkünstler an der Spitze der Regierung in Madrid beweisen aufs Neue die Wahrheit jenes Spruchs, „daß die Worte nur gut sind um die Gedanken zu verbergen“ und daß all‘ die gepriesene Beredsamkeit die elende Lage der Arbeiter nicht im Mindesten erleichtert. Ohne länger auf die Herablassung und Gnade ihrer neuen Herrscher zu warten, gehen die spanischen Arbeiter jetzt vorwärts und verlangen Erfüllung ihrer dringendsten Forderungen, besonders Herabsetzung der Arbeitszeit.

Die Vereinigung und Centralisation der verschiedenen Gewerksgenossenschaften in Portugal macht große Fortschritte.

Eine wahnsinnige Verfolgungsnoth gegen die Internationalen tobt im offiziellen Frankreich. Verfolgungen und Prozesse von Arbeitern sind an der Tagesordnung, während alte und neue Prätendenten offen ihre Pläne schmieden, um die Regierungsgewalt an sich zu reißen.

Die Internationalen in Holland organsiren eine thätige Propaganda für die Sache der Arbeit und der Assoziation auf dem Lande und den kleinen Städten.

Die Arbeiter in Dänemark sind betrogen worden von den bürgerlichen Demokraten und Radicalen, denen sie zu Amt und Stellung verholfen hatten, – eine neue Bestätigung der Erklärung unserer Statuten: „Die Befreiung der Arbeiterklasse muß durch die Arbeiter selbst erobert werden.“ (…)

Nr. 46.                                                  Sonnabend, 7. Juni.                                               1873.

Dschaggernant.*) *Indische Gottheit, der Menschenopfer gebracht wurden

In englischen Blättern finden wir folgenden Auszug aus einer Rede, die der bekannte Harmonie = Bourgeois Mundella neulich im Unterhaus über die Nothwendigkeit der Durchführung des Werkstättengesetzes (Bestimmung der Arbeitszeit wie für die Fabriken) hielt. Um die Folgen der übermäßigen Arbeit an einem Beispiel klar hervortreten zu lassen, sagte er:

Ein kürzlich veröffentlichter statistischer Bericht hat die erschreckende Wahrheit an den Tag gebracht, daß in den Landbezirken Frankreichs 14,000, in den Industriebezirken aber nicht weniger als 24,600 zur Rekrutenstellung herangezogen werden mußten, um 10,000 diensttaugliche Soldaten zu erhalten. Im ersteren Falle mußten 4000 und im anderen 14,600 zurückgewiesen werden,  weil sie überhaupt entweder zu schwächlich, oder doch unfähig waren, die Anstrengungen des Exerzierplatzes und des Lagers zu ertragen. Eine solche Thatsache würde nicht Erschreckendes haben, wenn die französische Armee nur Leute von der Statur unserer Grenadiere in ihre Reihen aufnähme, aber in Wahrheit begnügt sie sich mit einer

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Kleinheit des Körperbaues, welche ihren Truppen für das Auge eines Engländers oder Deutschen ein fast knabenhaftes Aussehen giebt. Thatsache ist, daß das Körpermaß  in Frankreich im Allgemeinen sehr niedrig ist, daß die Durchschnitts = Körperstärke für dieses Land als beunruhigend gering zu erachten ist, und daß man mit gutem Grunde annehmen darf, es werde sich die physische Entartung dieses Volkes sich in hohem Maße steigern. Wir haben es gar nicht nöthig, die eine der Hauptursachen weit zu suchen. Sie liegt – wir sprechen es unbedenklich aus – in der geradezu rücksichtslosen (reckless) Weise, in welcher die Franzosen die Franzosen ihren Gewerbefleiß bethätigen.  Gewerbefleiß ist unter ihnen ebenso entschieden ein Laster geworden, wie die Verschwendung unter uns. Das ganze Bestreben eines französischen Bauern ist: Arbeiten, Zusammenscharren und Sparen. Verführt durch die Thatsache, daß der von ihm bestellte Grund und Boden sein eigen ist,  plackt er sich von Morgen bis in die Nacht, sich nur an den Sonn = und Feiertagen eine kurze Ruhe gönnend. Sein Weib schindet sich mit ihm; seine Töchter und Söhne gehen auf das Feld, sobald sie nur die geringste Hülfe leisten können. Und dieselbe Leidenschaft für das Erwerben sieht man in den Industriebezirken, wo der gesundheitsschädliche Charakter der Arbeit die Sache noch viel schlimmer macht. Vom Morgen bis zum Abend hält hier das Placken beider Geschlechter, alter und junger Leute an, und dies verwüstet ihre Körperconstitution in einer sehr betrübenden Weise. Diese Thatsache war von schweren politischen Folgen, als die leichten Bataillone der Franzosen gegen die massigen Colonnen der Deutschen geführt wurden. Solch eine rücksichtslose Vergeudung der Kraft der Jugend ist die kurzsichtigste Habsucht; denn sie untergräbt die wahre Grundlage der nationalen Stärke.

So weit Herr Mundella. Er braucht sich nicht die Mühe zu machen, wegen eines abschreckenden Exempels nach Frankreich zu gehen. Sein heimisches England hatte ihm den Stoff für sein Thema in Hülle und Fülle geboten. Trotz der Zehnstundenbill ist die englische Fabrikbevölkerung in körperlicher Beziehung entsetzlich heruntergekommen; und daß es um das englische Landproletariat nicht viel besser steht, ist neuerdings in eklatanter Weise konstatirt und wahrhaft haarsträubende Details sind an’s Licht gezogen worden. (…)

Nr. 55.                                                 Sonntag, 6. Juli                                                       1873

Eine kleine Lektion. oder Tölcke als Geschichtsschreiber.

„Wer lacht herzlich mit?“ Ja, Tölcke ist unter die Geschichtsschreiber gegangen und gibt und im vorletzten „Neuen“ eine Geschichtslektion, worin wir „aufgeblasene Frösche“, die „aus bloßer Schmähsucht gegen einen wahrhaft großen Mann überall die „Kleinen“ zu glorifiziren suchen“, belehrt werden, daß der „Riese“ Robespierre (über den wir nebenbei die Neuigkeit erfahren, daß er auf dem „Berg“ saß, während wir unglücklichen „Frösche“ – warum nicht Kröten? Crapauds du marais? Du verstehst doch, Tölcke? – im „Sumpf“ herumquaken) – daß der „gewaltige Tribun“ Robespierre das „Schimpfwort“ „bürgerlicher Demokrat“ nicht verdient, sondern daß er im Gegentheil in seinem „Verfassungsentwurf den Versuch gemacht habe, möglichst große materielle Gleichheit unter den bürgerlich gleichen Franzosen herzustellen“, und daß man daraus ersehen könne, „wie sozialistisch Robespierre dachte“.

Zunächst sei dem Geschichtsschreiber Tölcke (der vielleicht Hasselmann heißt, vielleicht sogar – Hasenclever, doch immer – Tölcke) bemerkt, daß wir den Ausdruck: „bürgerlicher Demokrat“ keineswegs als „Schimpfwort“ gebraucht haben, sondern in der „ehrlichen“ Absicht, die Parteistellung Robespierre’s zu bezeichnen. (…)

Nr. 56.                                                 Mittwoch, 9. Juli                                                     1873

Eine kleine Lektion. (Fortsetzung)

Die Hébertisten erstrebten, wenn auch in unsystematischer Weise, Umgestaltung der Gesellschaft, die Jakobiner waren Doktrinäre, die in politischen Formen und Gesetzesformeln das Heil

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erblickten, und, trotz einiger auf Unklarheit beruhender, schon bei Rousseau zu findenden Gleichheitsphrasen in Wirklichkeit nur die Gleichheit vor dem Gesetz wollten, an den ökonomischen Gesellschaftsgrundlagen aber festhielten. Die Hébertisten sind daher die Väter der Juniinsurgenten, die Großväter der Kommunekämpfer, die Jakobiner die Ahnen der „honneten Republikaner“ von 1848, und der bürgerlichen Demokraten von heute. Und Robespierre nahm gegenüber den Hébertisten genau dieselbe Stellung ein wie Cavaignac gegenüber den Juniinsurgenten, und wie den Kommunekämpfern gegenüber Thiers, der au fond ein bürgerlicher Demokrat ist (wenn er auch sich nicht so betitelt), und von unseren „bürgerlichen Demokraten“ verschämt oder auch offen mit Recht angebetet wird. (…)

Merkt Geschichtsschreiber Tölcke nicht (Hasselman, Hasenclever) bald, welchen Geniestreich er gemacht hat? Es ist wahr, die Robespierre, Cavaignac, Thiers sprechen eine sehr verschiedene Sprache, tragen eine sehr verschiedene Tracht, aber des zufälligen Augenmerks, der Zierrathen, der Schnörkeleien und des Flitterkrams entkleidet, produziren sie sich als Wesen von gleichem Stoff, als Verkörperungen der nämlichen Idee, als Männer der bürgerlichen „Ordnung“, „Familie“, „Religion“, „Ruhe“ – in diesen Schlagworten einander sogar gleich. (…)

Nr. 58.                                                   Sonntag, 13. Juli.                                                   1873.

Eine kleine Lektion. (Fortsetzung)

Die „Kommune von 1793“ so genannt von dem Jahr ihrer vollsten Entfaltung und revolutionären Machtvollkommenheit, wurde geboren in der Nacht vom 9. Zum 10. August 1793. Sie leitete den 10. August, der die Bourbonenmonarchie hinwegfegte, und Frankreich die Republik gab. Die 6 Wochen später durch den Nationalkonvent  erfolgte Proklamirung der Republik war nur die nachträgliche Sanktion einer bereits vollendeten Thatsache – gleich allen revolutionären Beschlüssen der drei parlamentarischen Körper, die während der französischen Revolution getagt haben.

In der Kommune hatte die Revolution ihren Kopf, ihr Herz und ihren Arm. Die Kommune war die unwiderstehlich vordrängte, jeden Widerstand vor sich niederwerfende Springfluth der der Revolution. Ihr Fall ist gleichzeitig und gleichbedeutend mit dem Rückstrom der revolutionären Wogen.

Die „Kommune von 1793“ heißt aber, nach ihren Hauptvertretern bezeichnet: Marat und die Hébertisten. Unter Letzteren sind die hervorragendsten: Hébert, Substitut des Prokurators der Kommune und Redakteur des „Père Duchesne“, neben dem „Ami du Peuple“ (Volksfreund) Marats, das einflußreichste Blatt der Revolution, Chaumette, Prokurator der Kommune, Rousin, General der Revolutionsarmee und Momoro, Mitglied der Kommune.

Die wichtigsten Thaten der Kommune sind:

Der Sturz der Monarchie;

Der Sturz der Girondisten, dieser gefährlichen Schönredner, welche die Revolution entmannen wollten;

Die Gesetze gegen den Kornwucher;

Die Einführung des Maximums, eines Zwangspreises für die wichtigsten Nahrungsmittel, der nicht überschritten werden durfte;

Die Einführung der Progressivsteuer;

Die Bildung des Revolutionsheeres;

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Die Verwandlung der Kirchen in Bildungsanstalten für das Volk;

Die Anerkennung des Rechts auf Arbeit, und der Pflicht der Gesellschaft, für die menschenwürdige Existenz jedes ihrer Mitglieder zu sorgen;

Die Einführung unentgeltlichen Schulunterrichts;

Die Abschaffung der öffentlichen Prostitution und Erziehung und Versorgung der gefallenen Mädchen auf Gemeindekosten;

Die Abschaffung aller religiösen Kulten und Ersetzung derselben durch den Kultus der Vernunft.

Nach der Ermordung Marat’s durch Charlotte Corday, am 13. Juli 1793, war die Leitung der Kommune ausschließlich in den Händen der Hébertisten, deren Werk die meisten der oben aufgezählten Maßregeln sind. Das Recht auf Arbeit und die Pflicht der Gesellschaft, für die menschenwürdige Existenz ihrer Mitglieder zu sorgen, waren den Herbertisten nicht leere Worte, es war ihr Programm, das sie mit eben so viel Hingebung als Energie durchführten, daß trotz der furchtbaren Theuerung Paris von den Schrecknissen einer Hungersnoth verschont blieb. Vorläufer des internationalen Sozialismus, handelten die Herbertisten nach der von ihnen geahnten großen Devis: Tod der Noth, dem Müßiggang und der Unwissenheit! Nur die krasseste Ignoranz kann dies bestreiten.

Ehe wir zu dem Konflikt materialistisch = sozialistischen Hébertisten  mit dem spiritualistisch = kleinbürgerlichen Robespierre übergehen, wollen wir aus der Schrift Tridon’s noch die nachfolgende Stelle über die Kommune von 1793 und die Hébertisten ausheben (Seite 40 f.):

(…)

Nr. 61.                                                   Sonntag, 20. Juli.                                                1873.

Eine kleine Lektion. (Fortsetzung)

Er hatte sein Ziel erreicht, „der fanatische Kleinbürger“ – er hatte mit dem scharfen Guillotinenmesser weggeschnitten, was ihm rechts und links hinderlich war, und triumphirte auf seiner „richtigen Mitte“.

„Er triumphirte“ schreibt in heiligem Ingrimm Tridon, der Kämpfer der Commune, der Rächer der gemeuchelten Hébertisten, er triumphirte nach Herzenslust, der Nachfolger (continuateur – eigentlich noch schärfer) des heiligen Dominikus du Loyola’s*), drapirt in seinem gebürsteten Leibrock, vergöttlicht in dem höchsten Wesen, nach rechts und links seine Streiche führend. Herbert starb, Camille Desmoulins, Chaumette riß Danton mit. Adelige und Priester athmeten auf unter dem Schutz des Oberpriesters*). Entmannt durch die Tugend des Unbestechlichen*), katchisirt durch die Moral Saint Just’s, für die Zukunft den Freuden des Azetismus geweiht röchelte der Genius der Revolution, und Katharina Theot, Buchez vorauseinlend, verkündete der Welt den neuen Messias*).

So Tridon. „Er triumphirte, der Schlächter der Hébertisten und der Commune, „er triumphirte“, – und sein Triumph brachte ihm den Untergang und schmachvollen Tod. Wohl ist „der Gekreuzigte wieder auferstanden“, künstlich in’s Leben erweckt durch die Epigonen (Nachwuchs) der Revolution; wohl sind seine Opfer bis auf die neueste Zeit, nach allgemeinem Uebereinkommen, der Schande und Verachtung, doch allmählich „bohrt sich die Wahrheit durch“, und, wie den Märtyrern der Junischlacht und der Commune, so wird die Geschichte den Hébertisten Gerechtigkeit wiederfahren lassen. Noch haben die Feinde des unterdrückten Volkes das Wort, noch ist die Geschichte die faible continue (das verabredete Lügenmärchen)

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der herrschenden Klassen, allein die Zeit naht, wo die Ausgebeuteten, die mit Füßen getretenen, die Enterbten die Geschichte machen und schreiben werden. (…)

„Er triumphirte“ – die Hébertisten guillotinirt, die Dantonisten guillotinirt, hatte Robespierre die Richtigkeit seiner „richtigen Mitte“ in der überzeugendsten, eindringlichsten, sieghaftesten Weise demonstrirt. Er war der unbestrittene Herr der Situation, das heißt der „richtigen Mitte“. Das revolutionäre Paris hatte den Strick um den Hals, die Revolutionsarmee war aufgelöst; und der Berliner Reichstag apportirte nicht gefügiger dem „genialen“ Bismarck, als der Convent dem „unbestechlichen“ Dictator von Tugend = Gnaden apportirte. Die „Kröten des Sumpfs“ folgten jeden seiner Winke mit der affenartigen Geschwindigkeit deutscher Nationalliberalen. Doch leider haben die Thatsachen ihre Logik, die sich einmal oder mehrere Male zur Thüre hinauswerfen läßt, aber durch’s Fenster wieder hereinkommt, und diese Prozedur hartnäckig so lange fortsetzt, bis der Gegner ermattet und lebendig oder todt vom Platze entfernt ist. – (…)

Vier Wochen nachdem Chaumette’s Kopf gefallen, am 7. Mai 1794, erschien Robespierre in feierlichem Anzug und Ernst in dem Convent und hielt seine famose Rede über das „höchste Wesen“. Der Brei des Rousseau’schen „Vicaire Savoyard“ mit Tugendwasser verdünnt, in Anspielungen auf die Guillotine gepfeffert und als spartanische Suppe aufgetischt – das ist die Rede! Dieselbe Tribüne, von welcher herab drei Jahre vorher der Royalist Mirabeau sein berühmtes: Die Revolution muß entchristlicht werden! – il faut déchristianiser la Révolution! – den erschreckten Pfaffen in die Ohren gedonnert hatte – wird von dem „gewaltigen Volkstribun“ zur Kanzel herabgewürdigt, und muß zu einer Predigt herhalten, die – unwesentlichen Abänderungen – der konfuseste unserer Deutschkatholiken oder freigemeindlichen Confusionsräthe seinen gefühlsseligen Zuhörerinnen und Spießbürgerlichen Zuhörern zu gegenseitigen Behagen vordeklamiren konnte.

Und als die Predigt heruntergelesen war – denn Robespierre sprach selten frei, wie übrigens die meisten Redner der französischen Revolution – und die „Kröten des Sumpfes“ sich vor Weinen nicht fassen konnten, da packte der Tugendhafte die Gelegenheit beim Schopf, und des Grundsatzes eingedenk: Schmiede das Eisen, so lange es heiß ist, zog er folgenden Antrag aus der Tasche und setzte ihn dem verblüfften Convent auf die Brust:

Artikel I: Das französische Volk erkennt die Existenz des höchsten Wesens und die Unsterblichkeit der Seele an. (Le peuple francais réconnait l’existence de l’Être suprême et l‘immortalité de l’âme.)

Artikel II: Das französische Volk erkennt an (reconnait – stellt als Grundsatz auf), daß der würdigste Gottesdienst (culte) des höchsten Wesens die Verwirklichung  (la pratique) der Menschrechte ist.

Dieser Antrag wurde vom Convent „mit Acclamation“ angenommen, und also die Existenz Gottes parlamentarisch festgesetzt – sicherlich wohl der größte Narren = und Hanswurstenstreich, dessen der Parlamentarismus, so reich an Narren = und Hanswurstenstreichen, sich jemals hat schuldig gemacht. (…)

 

Nr. 59.                                                    Mittwoch, 16. Juli.                                                  1873

Eine kleine Lektion. (Fortsetzung)

Mitte Oktober 1793 krönte auf der ganzen Kampflinie vollständiger Sieg die Riesenanstrengungen, welche die Revolution seit dem 10. August 1792 gegen die inneren und äußeren Feinde gemacht. Den 9. Oktober viel Lyon, die Hauptstadt des im Süden versuchten girondistischen = royalistischen Sonderbundes, den 16. Oktober wurde die Macht der Vendéer bei Chollet gebrochen, und an dem

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gleichen Tag bei Wattignies die Coalition des Auslandes aufs Haupt geschlagen. Die Revolutionsregierung, gegen welche in fast drei Vierteln der Departments die Fahne des Aufruhrs und Widerstands erhoben worden war, hatte ihre Autorität zur Geltung gebracht; die Kräfte von ganz Frankreich standen ihr zur Verfügung, – nur in Toulon, das sich zwei Monate länger hielt (bis 17. Dezember), wurde von dem landesverrätherischen Adel, der den Engländer Frankreichs Flotte und vornehmsten Kriegshafen mit Arsenal ausgeliefert hatte, noch verzweifelt hoffnungslos Trotz geboten Sie hatte ihr „Recht des Daseins“ in titanischem Kampf bewiesen; sie hatte freie Bahn und freien Bauplatz. Es galt nun zu entscheiden:

War die Aufgabe der Revolution eine negative, oder eine positive?

Handelte es blos darum den Feudalismus zu zertrümmern und die moderne bürgerliche Welt der Fesseln und Bleigewichte des ancien regime zu entledigen?

Oder sollte die große Devise der Revolution: Freiheit und Gleichheit zur Grundlage einer systematisch durchzuführenden Gesellschaftsorganisation werden, in welcher die Freiheit und Gleichheit etwas anderes sind als schimmernde höhnende Phrasen?

Mit einem Wort: politische Revolution? Oder : Soziale Revolution? Die politische Revolution war im Wesentlichen erfüllt und zu Ende.

Die soziale Revolution hatte erst zu beginnen. Robespierre, der politische Doktrinär, war der Ansicht, die Revolution habe im Wesentlichen ihre Aufgabe erfüllt. Die Hébertisten, von der Nothwendigkeit durchdrungen, den aus der Vermögensungleichheit hervorgehenden Uebeln zu steuern, erstrebten eines auf Arbeit beruhenden, die geistige und körperliche Entwicklung jedes Individuums gewährleistenden Staats = und Gesellschaftsorganismus.

Die logische Folge dieser abweichenden Auffassung (die wenn auch von keiner Seite programmatisch definirt, doch in scharfen Umrissen hervortritt) war, daß Robespierre der Revolution ein; Bis hierher und nicht weiter! Zurufen wollte, und die vorwärts stürmenden Hébertisten aufzuhalten suchte.

Den revolutionär = sozialistischen Hébertisten gegenüber wurde der fanatische Kleinbürger zum fanatischen Conterrevolutionär. Der Gegensatz spitze sich rasch zum tragischen Conflikt zu.

Im Oktober 1793 schafft die Commune den öffentlichen Cultus der katholischen Religion ab. Marats Buße wird anstatt der „Muttergottes“ = Bilder aufgestellt.

Im November Einführung des „Cultes der Vernunft“.

Am 10. November 1793: Erstes „Fest der Vernunft“. Die Notre = Dame = Kathedrale wird zum Tempel der Vernunft geweiht, in welchem dazu befähigte Männer das Volk über Menschenrecht und Bürgertugend aufzuklären haben. Die „Feste der Vernunft“, über welche die Pfaffen und sonstigen Reaktionäre eine Masse schamloser Lügen in Umlauf gesetzt haben, waren in Wirklichkeit, von der Vernunft ganz abgesehen, mindestens ebenso „anständig“ als der anständigste christliche Gottesdienst, – die skandalösen Orgien, welche die christlichen Wallfahrten – bis  in die Gegenwart hinein und im „Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte“ so gut als anderswo – auszeichnen, wurden freilich zum Ärger der Pfaffen bei den Festen der Vernunft nicht geduldet.

Robespierre wählte die antireligiöse Politik der Herbertisten zum Angriffspunkt;  auf diesem Gebiet hatte er die mächtigsten Vorurtheile zu Verbündeten, und konnte, ohne die Maske der Demokratie fallen zu lassen, sich auf die Unterstützung der Pfaffen und sonstigen Reaktionäre verlassen.

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Am 17. November denunzirte er im Convent die Parteien, welche entweder durch Ueberstürzung die Revolution gefährdeten, oder durch Abwiegelung sie entwaffnen wollten. Auch vom Sold des Auslandes wurde geredet. Die Abwiegler, oder „Modernisten“ waren Danton, Camille Desmoulins und Anhang.

Am 21, November deklamirt der religiöse Spiritualist Robespierre im Jakobinerklub gegen den atheistischen Materialismus der Hébertisten: „Der Atheismus ist aristokratisch, sagt er u. A.: der Gedanke eines höchsten Wesens, das über der unterdrückten Unschuld wacht, und das triumphirende Verbrechen bestraft, ist durchaus volksthümlicher (est tout populaire). Wenn Gott nicht existirte, müßte man ihn erfinden“. (…)

Nr. 64.                                                    Sonntag, 27. Juli.                                                 1873

Eine kleine Lektion. (Schluss)

Der Himmel that kein Wunder für die „Wiederhersteller der Religion“. Auch die himmlische Gensdarmerie lächelte zwar ironisch = freundlichen Beifall, hütete sich aber, die „richtige Mitte“ des „Unbestechlichen“ in einen bequemen Sattel zu verwandeln, oder wenigstens damit auszustaffiren. Da half kein Wenden und Drehen – die irdische Gensdarmerie mußte wieder herhalten mit ihrem gemeinen Zubehör von Staatsanwälten, Revolutionstribunal und der ultimo ratio des Guillotinemessers. Der Ertrinkende greift nach einem Strohhalm – oder auch einem Stückchen Papier. (…)

Am 8. Thermidor (26. Juli) des Jahres 1794, präsentirt sich Robespierre in dem Convent, wo er ganz fremd geworden war; er trägt den himmelblauen Rock und hat seine Rede unter dem Arm.

Wehe den Feinden!

Er liest die Rede ab – er hat gelernt seine Reden gut zu lesen. Es sind versteckte Drohungen darin, eingewickelt in Phrasen aus Rousseau und kleinbürgerliche Gemeinplätze (Schwärmereien für die „fortune modique“ – mäßige Vermögen – ;  Zärtlichkeiten  für die „citoyens peu fortuné“ – der Bürger mit kleinem Vermögen – und für die „Rentiers“!*) Die „Tugend“ soll herrschen, die „unreinen Elemente“ entfernt werden.

Die verdeckten Drohungen reizten um so mehr, weil verdeckt – mit den unreinen Elementen konnte Jeder gemeint sein, und was unter „entfernen“ zu verstehen, das besagten die gefüllten Henkerkarren, die man Tag für Tag vorbeirumpeln hörte. Durch ihre Unbestimmtheit wurden die Drohungen allgemein, – sie mußten dem Redner neue Feinde erwecken, anstatt die alten einzuschüchtern; – ein Kind hätte das dem tüfftelnden , grübelnden Mann der „richtigen Mitte“ sagen können. (…)

*) Zur Notiznahme für Geschichtsschreiber Tölcke (Hasselmann – Hasenclever)

Nr. 69.                                                       Freitag, 8. August.                                                  1873

„Das Kapital“. Kritik der politischen Oekonomie von Karl Marx.

Stoffandrang verhinderte uns seit zwei Monaten das „Nachwort“ zur mehrfach verbesserten zweiten Auflage des obigen Werkes zur Kenntniß der Leser d. Bl. – die zugleich im Besitz der ersten Auflage sind – zu bringen. Das Versäumte wird dadurch nachgeholt mit dem Bemerken, daß die Bourgeoisiegelehrsamkeit  auf die ihr am Schluß ertheilte Belehrung über die viel berufene „Hegeldialektik“ noch nicht geantwortet hat. – Das „Nachwort“ lautet:

„Das Verständniß, welches „Das Kapital“ rasch in weiten Kreisen der deutschen Arbeiterklasse fand, ist der beste Lohn meiner Arbeit. Ein Mann, ökonomisch auf dem Bourgeoisiestandpunkt, Herr Meyer, Wiener Fabrikant, that in einer während des deutsch = französischen Krieges veröffentlichten Broschüre treffend dar, das der große theoretische Sinn, der als deutsches Erbgut

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galt, den sog. gebildeten Klassen Deutschlands durchaus abhandengekommen ist, dagegen in seiner Arbeiterklasse neu auflebt. (…)

„Die continentale Revolution von 1848 – 49 schlug auch auf England zurück. Männer, die noch wissenschaftlichen Anspruch beanspruchten, und mehr sein wollten als bloße Sophisten und Skykophanten des Kapitals, suchten die politische Oekonomie mit dem jetzt nicht länger zu ignorirenden Ansprüchen des Proletariats. Daher ein geistloser Synkretismus (Ausgleichende Vermittlung durch Aufstellung unklarer Sätze, die nach allen Seiten hin deutungsfähig sind), wie ihn John Stuard Mill am besten repräsentirt. . Es ist eine Bankrotterklärung der „bürgerlichen“ Oekonomie, welche der große russische Gelehrte und Kritiker Dr. Tschernischewsky in seinem Werk „Umrisse der politischen Oekonomie nach Mill“ bereits meisterhaft beleuchtet hat.

„In Deutschland kam die kapitalistische Produktionsweise zur Reife, nachdem ihr antagonistischer Charakter sich in Frankreich und England schon durch geschichtliche Kämpfe geräuschvoll, offenbart hatte, während das deutsche Proletariat bereits ein viel entschiedeneres theoretisches Klassenbewußtsein besaß als die als die deutsche Bourgeoisie. Sobald eine bürgerliche Wissenschaft der politischen Oekonomie hier möglich zu werden schien, war sie daher wieder unmöglich geworden.

„Unter diesen Umständen theilten sich ihre Wortführer in zwei Reihen. Die einen, kluge, erwerbslustige, praktische Leute, schaarten sich um die Fahne Bastiat’s, des flachsten und daher gelungensten Vertreter vulgärökonomischer Apologetik; die andern, stolz auf die Professorenwürde ihrer Wissenschaft, folgten J. St. Mill in dem Versuch Unversöhnliches zu versöhnen. Wie zur klassischen Zeit der bürgerlichen Oekonomie blieben die Deutschen auch zur Zeit ihres Verfalls bloße Schüler, Nachbeter und Nachtreter, Kleinhausirer das ausländischen Geschäfts.

„Die eigenthümliche historische Entwicklung der deutschen Gesellschaft schloß hier also jede originelle Fortbildung  der „bürgerlichen“ Oekonomie aus, aber nicht deren Kritik. Soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt, kann sie nur die Klasse vertreten, deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und schließliche Abschaffung der Klassen ist – das Proletariat.   (Schluß folgt)

Nr. 70.                                                     Sonntag, 10. August.                                                  1873

„Das Kapital“. Kritik der politischen Oekonomie von Karl Marx.  (Schluß)

„Die gelehrten und ungelehrten Wortführer der deutschen Bourgeoisie haben „Das Kapital“ zunächst todtzuschweigen versucht, wie ihnen das mit meinen früheren Schriften gelungen war. (…)

„Eine vortreffliche russische Uebersetzung des „Kapital“ erschien im Frühling 1872 in Petersburg. Die Auflage von 3000 Exemplaren ist jetzt schon beinahe vergriffen. Bereits 1871 hatte Herr A. Sieber, Professor der politischen Oekonomie an der Universität in Kiew, in seiner Schrift „Dr. Ricardo’s Theorie des Werths und des Kapitals etc.“ meine Theorie des Werths, des Geldes und des Kapitals und des Kapitals in ihren Grundzügen als nothwendige Fortbildung der Smith = Ricardo’schen Lehre nachgewiesen. Was den Osteuropäer seines gediegenen Buches überrascht, ist das consequente Festhalten des rein theoretischen Standpunkts. –

„Die im „Kapital“ angewandte Methode ist wenig verstanden worden, wie schon die einander widersprechenden Auffassungen desselben beweisen. (…)

„nach einem Citat aus meiner Vorrede zur „Kritik der Pol. Oek.“ Berlin 1859, p. IV – VII, wo ich die materielle Grundlage meiner Methode erörtert habe, fährt der Herr Verfasser fort:

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„Für Marx ist nur eins wichtig: das Gesetz der Phänomene (Erscheinungen) zu finden, mit deren Untersuchung er sich beschäftigt. Und ihm ist nicht nur das Gesetz wichtig, das sie beherrscht, so weit  sie eine fertige Form haben und in einem Zusammenhang stehen, wie er in einer gegebenen Zeitperiode beobachtet wird. Für ihn ist noch vor allem wichtig das Gesetz ihrer Veränderung, ihrer Entwicklung, d. h. der Uebergang aus einer Form in die andere, aus einer Ordnung des Zusammenhangs in die andere. Sobald er nun einmal dieses Gesetz entdeckt hat, untersucht er im Detail die Folgen, worin es sich im gesellschaftlichen Leben kundgibt….Demzufolge bemüth sich Marx nur um eins: durch genaue wissenschaftliche Untersuchung die Nothwendigkeit bestimmter Ordnungen der gesellschaftlichen Verhältnisse nachzuweisen und so viel als möglich untadelhaft die Thatsachen zu constatiren, die ihm zum Ausgangs = und Stützpunkte dienen. Hierzu ist vollständig hinreichend, wenn er mit der Nothwendigkeit der gegenwärtigen Ordnung zugleich die Nothwendigkeit einer anderen Ordnung nachweist, worin die erste unvermeidlich übergehen muß, ganz gleichgültig, ob die Menschen das Glauben oder nicht glauben, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht bewußt sind. Marx betrachtet die gesellschaftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen Prozeß, den Gesetze lenken, die nicht nur von dem Willen, dem Bewußtsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr umgekehrt deren Wollen, Bewußtsein und Absichten bestimmen…. (…)

„Indem der Verfasser das, was er meine wirkliche Methode nennt, so treffend und; soweit meine persönliche Anwendung derselben in Betracht kommt, so wohlwollend schildert, was anders hat er geschildert, als die dialektische Methode?

„Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysiren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Construktion a priori*) zu thun.

„Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegel’schen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegentheil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbstständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist  umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle. (…)

„Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft macht sich den praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Cyklus, den die moderne Industrie durchläuft, und deren Gipfelpunkt – die allgemeine Krise. Sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensivität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preußisch = deutschen Reichs Dialektik einpauken.

London, 24. Januar 1873                                                          Karl Marx.“

*Mit einer Gedankenaufstellung ohne Zugrundelegung thatsächlicher Erfahrungen – das Gegentheil zu a posteriori, d. h. diejenige Denkweise, welche auf Grund thatsächlicher Erfahrungen verfährt.

Nr. 71.                                                 Mittwoch, 13. August.                                                1873

Daß der Sozialist kein Monarchist sein kann,

sondern demokratischer Republikaner sein muß, deduzirt der Begriff; d. h. sobald uns klar ist, was wir unter einem Sozialisten vertstehen, findet sich darin der republikanische Feind der Monarchie

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Die Arbeiter in Spanien. (Schluß)

Zwanzig Stunden lang dauerten diese Zustände. Mehrere Arbeiter fanden den Tod bei der Vertheidigung ihrer von den Föderativrepublikanern schnöde mit Füßen getretenen Rechte, und verschiedene andere sind so schwer verwundet worden, daß sie für ihr Leben lang zur Arbeit unfähig sind. Ist es auch noch nicht möglich die Zahl der Todten und Verwundeten genau anzugeben, so läßt sich doch mit Bestimmheit sagen, daß die Zahl auf Seiten der Arbeiter zehn nicht übersteigt.

Auf Seiten der Angreifer beträgt die Zahl der Todten und Verwundeten nicht mehr als fünfzehn, die sämmtlich im Kampf ihre Wunden empfingen;, denn nachdem sie aus ihren Stellungen hinausgeworfen waren, wurde keiner derer, die gegen das Volk die Waffen ergriffen, auch nur ein Härchen gekrümmt. (…)

Nr. 72.                                                  Freitag, 15. August.                                                  1875

Daß der Sozialist kein Monarchist sein kann. (Schluß)

Die sozialistische Unterscheidung einer Arbeiterklasse von der übrigen Gesellschaft mißfällt dem Gegner besonders. Er fragt: sind denn wir, die Industriefürsten, die Gründer, Kaufleute und Bureauchefs, die Projektmacher, Geschäftsführer, Spekulanten und Staatsdiener, darum auch keine Arbeiter? Ganz Recht wohlgeborene Herren, das Zugeständniß soll auch gemacht sein. Auch ihr arbeitet. Aber wesentlich unterscheidet sich eure Arbeit dadurch, daß sie auf Ausbeutung der Volksarbeit gerichtet ist. Diese Ausbeute wollt ihr als schuldigen Tribut für eure intelligente Führung der politischen Oekonomie gebucht wissen. Wir kommen zu der Einsicht, diese kostspielige Intelligenz füglich entbehren zu können. (…)

Kommen wir nun, nachdem von der bestehenden Wirthschaft Kenntniß genommen ist, auf unser monarchisches Thema zurück. Nehmen wir an, der Potentat habe die Bedeutung, die Berechtigung und Wahrheit des Sozialismus erkannt. Nehmen wir an, Saulus Bismarck wird Paulus. Mit seinem Kürassier = Säbel wirft er den Militärstaat in die Rumpelkammer und leiht sein „Genie“ der neuen Idee. Wie für die Dynastie und ihr hoffnungsfähiges Gefolge bisher, so verwendet die Staatsmacht sich jetzt für die Interessen des arbeitenden Volks. In dieser Situation käme das Heer  und die allgemeine Dienstpflicht höchst opportun. Eingesackte französische Milliarden nicht minder. Was fehlt wird die Omnipotenz der Polizei und gewaltmäßige Requisition ohne Schwierigkeit beschaffen. Das Waffengerassel verwandelt sich in Hämmern. Pochen und Weben. Linie und Landwehr  wird mobil gemacht wider den wahren Erbfeind, wider Mangel, Noth und Sorge. (…)

Politische Uebersicht.

Die „Frankfurter Zeitung“, ein Blatt, welches die Interessen der „kleinbürgerlichen Demokratie“,  macht über das Verbot unseres Congesses in Nürnberg einige zutreffende Bemerkungen, die wir hier zum Abdruck bringen. „Das Verbot des Nürnberger Congresses der Eisenacher Arbeiterpartei“, schreibt das Hauptorgan der „Volkspartei“, „ist eine durch die bayerischen Gesetze in keiner Weise zu rechtfertigende Maßregel; in dieser Ueberzeugung kann und die Motivirung nur bestärken, welche die gestern mitgetheilte Verfügung des königlichen Staatskommissariats Nürnberg dem Verbote giebt. (…)

                                                                              290

Nr. 73.                                                      Sonntag, 17. August.                                             1873

Zum 2. September.

In einem Augenblick, wo die gegnerische Presse aller Schattirungen sich anschickt, das deutsche Volk zur Feier eines Schlachtentages zu begeistern, den Nationalstolz zu kitzeln und den Völkerhaß zu schüren, in einem Augenblick, wo die größten Anstrengungen von Regierung und Bourgeoisie gemacht werden, das Volk durch alle Ruhmesfanfaren zu berauschen, um seine Blicke von seiner Noth und seinem Elend abzuziehen, dürfte es an der Zeit sein, nicht nur gegen dieses scheußliche Gebahren Protest zu erheben, sondern auch auf Grund klar zu Tage liegender geschichtlicher Thatsachen zu beweisen, daß die Entstehungsgeschichte des deutsch – französischen Krieges, wie sie bisher erzählt und am 2. September dem gläubigem Volke in allen Tonarten wiederholt werden wird, eine kolossale Fälschung ist und nur dazu benutzt wird, um die Förderung niedriger Klasseninteressen und fürstliche Hausmachtpolitik zu verdecken.

Wir geben in dem nachfolgenden Aufsatz eine geschichtliche und wahrheitsgetreue Darstellung der wahren Ursachen und der wahren Urheber des deutsch = französischen Krieges und bemerken dabei, daß dieser Aufsatz, wie schon der Eingang zeigt, bereits seit länger als einem Jahr geschrieben war, damals aber wegen Mangel an Platz zurückgesetzt, heute seine rechten Platz finden dürfte, um bei der bevorstehenden Feier des 2. September dem arbeitendem Volke aufs Neue zu zeigen, wie es betrogen und hintergangen, wie mit seinem Gut und Blut gespielt wird.

Die Schrift des preußischen Generalstabs über den deutsch = französischen Krieg.

In diesen Tagen ist das erste Heft des „deutsch = französischen Krieges 1870 – 71“, von der kriegsgeschichtlichen Abteilung des großen Generalstabes redigirt, erschienen. Die gesammte deutsche „liberale“ Presse ist außer sich vor Bewunderung der „Großartigkeit“  dieses Werkes, und auf’s Neue beginnen die Lobgesänge auf den „großen Schweiger“, den „Heldenkaiser“ und die übrigen Herren des heiligen Krieges. In gewohnter oberflächlicher Weise wird auf Grund der Ausstellungen jenes ersten Heftes gelobt, was von deutscher Seite geschehen, dabei aber übersieht man ganz und gar die wichtigen Geständnisse, welche der große Generalstab über die Vorgeschichte des Krieges macht – Geständnisse, die bei jedem Unbefangenen starke Zweifel darüber wecken müssen, ob der Ausbruch des Krieges wirklich jener Seite zur Last zu legen sei, die nach deutsche Dar = und Vorstellung nun die ganze Schuld tragen soll, nämlich Frankreich. (…)

Der „ewige“ Nachruhm, den das „Frankf. Journ.“ für den Grafen Moltke erhofft, wird nicht lange dauern; schon die nächste Generation wird über den deutsch = französischen Krieg ganz anders urtheilen wie die feilen, feigen und oberflächlichen Scribenten der Bourgeoisiepresse; und der Herr Graf Moltke hat selber am besten gesorgt dafür, daß sein Ruhm nicht ewig dauere. Denn was ersehen wir aus seiner Schrift?

Das Frankreich nicht im Geringsten auf einen Krieg vorbereitet war; daß bei Ausbruch des Krieges sich die ganze französische Armee so zu sagen in Desorganisation befand. Daß andererseits die deutsche Armee nicht nur vollständig kriegsbereit war, sondern daß auch der Mobilmachungs = und Feldzugsplan seit anderthalb Jahren fix und fertig im Pult des Grafen Moltke gelegen hatte. (…)

Nun entsteht allerdings die Frage: Wenn Frankreich auf den Krieg nicht vorbereitet war, wie konnte es dann denselben provociren? Hier liegt der Hase im Pfeffer. Wir fragen hat den Frankreich den Krieg provocirt? Der preußische Generalstab ist schnell fertig mit der Antwort. Er wirft die ganze Schuld auf das französische Volk, das den Kaiser fortgerissen. Er sagt: „Nicht vergessen hatte die französische Nation, daß sie noch unlängst halb Europa beherrschte. Die wichtigsten Plätze Cöln und Antwerpen hatten ihr anghört (unlängst? Es ist dies 60 Jahre her.

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D. Red.) und der Gedanke an die Wiedereroberung des Rheins lebte im Herzen der ganzen Nation, gepflegt von ihren Geschichtsschreibern und Dichtern“. Napoleon III. scheint (das „scheint“ ist köstlich. D. Red.) in der ganzen Angelegenheit eine passive (oh! oh!), man möchte sagen eine willenlose (ei wie freundlich für den guten Bruder. D. Red.) Rolle gespielt zu haben“. (…)

Am 17. Juli erklärte Napoleon den Krieg, am 20. Juli eröffnete der König von Preußen den Norddeutschen Reichstag mit einer Thronrede, welche folgende charakteristische Stellen enthielt. "Die spanische Throncandidatur eines deutschen Prinzen hat dem Gouvernement des Kaisers der Franzosen den Vorwand geboten, in einer von dem diplomatischen Verkehr seit langer Zeit unbekannter Weise den Kriegsfall zu stellen“ u. s. w. Ferner: „Das deutsche wie das französische Volk, beide die Segnungen christlicher Gesittung und steigenden Wohlstandes gleichmäßig genießend und begehrend, sind zu einem heilsameren Wettkampfe berufen, als zu dem blutigen „der Waffen.“ Doch die Machthaber Frankreichs“, heißt es weiter, „haben es verstanden, das wohl berechtigte aber reizbare Ehrgefühl unseres großen Nachbarvolkes durch berechnende Mißleitung für persönliche Interessen und Leidenschaften auszubeuten.“

Kann man klarer, schärfer, bündiger sich gegen den französischen Kaiser und für das französische Volk aussprechen? Und das geschah aus „allerhöchstem“ Munde bei der feierlichsten Gelegenheit, in einer Rede, deren Inhalt Reichskanzler Graf Bismarck festgestellt, und die der Norddeutsche Reichstag, dessen Mitglied Graf Molke war, enthusiastisch beklatschte.

Das ist das zweite Dementi, welches der preußische Generalstab erhält.  (Schluß folgt)

Nr. 76.                                                 Sonntag, 24. August.                                                 1873

Ueber den Idealismus der Sozialdemokratie zu einigem Troste der Bourgeoisie.

Von Joh. Ph. Becker.

Die Bourgeoisie, die sich nicht blos zur Erwerbung von Bildung ein Vorrecht aneignet, sondern auch des Dünkels voll ist, die Bildung allein zu besitzen, macht fortwährend der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung den Vorwurf, rohen Materialismus verfallen zu sein und sich ohne höhere geistige und sittliche Interessen blos mit der Magenfrage zu befassen. Nun ja, es ist kein Wunder, daß eine Klasse, die im Ueberfluß zu schwelgen gewöhnt, noch keine Leib und Seele erschütternden Interpellationen und Demonstrationen eines leeren Magens erlitten hat, sich schließlich bequem auch an die Meinung gewöhnt, als lebe der Mensch nur um zu essen und zu trinken und daher durchaus nicht begreifen kann, daß es Menschen, ja eine große Klasse von Menschen giebt, die erst essen und trinken wollen um zu leben. (…)

Es gilt also zur Herstellung einer harmonischen Wechselwirkung zwischen Idealismus und Realismus, Theorie und Praxis, Wissenschaft, Kunst und werkthätigem Leben; es gilt Geist und Gemüth, Leib und Seele den Menschen ganz zu erfüllen, ihn an seinen Leistungsfähikeiten entsprechenden Platz zu bringen, etwa wie die Klavierseite an den ihrer Oktave.

Und diese Harmonie des Lebens ist die Schönheit und Glückseligkeit, die Religion und Moral das höchste Ideal des Lebens.

Nr. 82.                                                  Sonntag, 7. September                                               1873

Zum Menschenhandel.

Die corrumpirte deutsche Presse hat neuerdings dem blindgläubigen Michel dadurch Sand in die Augen zu streuen gesucht, daß sie auf Grund statistischer Angaben ihm vorplauderte, die Einwanderungen von Deutschen nach Nordamerika hätten abgenommen und die Europamüden

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fühlten sich wieder wohl im Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte. Sorgsam wurde natürlich verschwiegen, daß der Strom der Auswanderung sich zum großen Theile nach Südamerika und dort hauptsächlich nach Brasilien gelenkt hat. Die Zahl der Auswanderungen aus Deutschland hat durchaus nicht abgenommen, eher ist das Gegentheil der Fall. (…)

Nr. 84.                                                   Freitag, 12. September.                                           1873

Ein Fortschritt in den Reihen des Kathedersozialismus, nebst Hinweis auf die Beziehungen desselben zum Lassalleanismus, sowie zum Sozialismus und Communismus. (Schluß.)

Der Verfasser erläutert nun seine Formel der sozialen Frage: Es ist darin enthalten jene allgemeine Frage, die jeder unbefangene Beobachter der sozialen Zustände staunend stellt: Warum in unserem Zeitalter, wo man so gern mit Freiheits – und Gleichheitsphrasen prahlt, der Kampf um’s wirthschaftliche Dasein immer schwieriger zu werden scheint; während der leichte Erwerb, die rasche Bereicherung nur bei einer kleinen Minderzahl sich findet, die so frei ist, von allen Mitteln der modernen Technik und Gründung den rücksichtslosesten Gebrauch machen? Warum die Freiheit der Kapitalverwendung gerade jetzt zur Kapitalverschwendung von Aktienunternehmen gemißbraucht wird, die ihrer Natur nach für eine solche Form des Betriebs ganz ungeeignet sind; und zudem das Kapital immer mehr zu einer unpersönlichen Macht konzentriren, das der Arbeit schroff gegenüber tritt?

„Es ist darin enthalten die Klage des Mittelstandes, daß der Großbetrieb so viele Industriezweige aufsaugt, das kleine Handwerk in’s Schlepptau nimmt und den Raum zu selbstständiger wohlhabender Entwicklung immer mehr einengt.

„Es ist weiter darin enthalten die Klage der Arbeiter, daß die Macht der Unternehmer sich ihnen gegenüber so drückend und beschränkend fühlbar macht, und daß die zunehmende Spezialisirung der Arbeitsverrichtungen und die zunehmende Maschinenanwendung sie immer mehr zu todten, unfreien Produktionswerkzeugen herabwürdigen; und es scheint gleichfalls darin enthalten die ganze Klage über jenen ungesunden. Der Gesellschaft unwürdigen Kampf, den wir „Arbeiterbewegung“ nennen. (…)

„Der dritte Weg ist der, daß die Staatsgewalt neue rechtliche Ordnungen schafft, zur Verhütung des Mißbrauchs der Freiheit und zum Schutze und zur Stärkung der Gefährdeten; und zwar ist natürlich hier nicht von Rechtsordnungen die Rede, welche, nach Art der früheren, Abhängigkeits = und Unterordnungsverhältnisse neu schaffen und dadurch die errungene Freiheit wieder vernichten, sondern nur von Schutzmaßregeln im Interesse der thatsächlich freien Entwicklung der Gefährdeten. Dieser Weg ist bereits mit Erfolg betreten, (der Redner hat die Schweiz im Auge) besonders in den Fabrikgesetzgebungen und der gesetzlichen Erleichterung genossenschaftlicher Bildung der Kleinbürger und Arbeiter. (…)

Man weiß, daß Marx auf dem Haager Congreß der intern. Arbeiterassoziation die Führer der englischen Gewerkschaften als im Solde des Ministeriums Gladstone mit der Bourgeoisie stehend bezeichnete. Dies Urtheil warf natürlich viel Staub auf, und wurde auch von nicht wenigen Freunden unserer Sache unbegründet oder doch zu weitgehend gehalten. Ein Jeder, der den Vorgängen in der englischen Arbeiterwelt mit Sachkenntniß und Kritik folgt, muß aber zugeben, daß es weder das eine noch das andere war. Wer sich von den Unehrlichkeiten der englischen Gewerkschaftsführer überzeugen will, braucht bloß die letzten Nummern des „Beehive“, des Organs derselben, aufmerksam durchzulesen. Nachdem dieses Blatt, durch das ebenso schamlose als systematisch = feindliche Verfahren des Ministeriums Gladstone gegen die Arbeiter gezwungen, seit einiger Zeit zum Schein eine unabhängige Haltung angenommen und die Nothwendigkeit des selbstständigen Vorgehens der Arbeiter bei den nahenden Wahlen befürwortet hatte; ergriff es vor drei Wochen den Eintritt des invaliden Reformers und

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Lockvogels Bright in’s Ministerium als willkommenen Vorwand, um plötzlich umzuschwenken und für Hrn. Gladstone Propaganda zu machen. (…)

 

„Der Lassalle’sche Vorschlag“.

Unter diesem Titel hat Brake jüngst eine Broschüre herausgegeben, in welcher er seinen Congreß = Antrag, betreffend der Aufhebung des Punkt 10 des Eisenacher Programms (Produktivassoziationen mit Staatshilfe) begründet. Ein Vergleich dieser Arbeit mit der Gegenkritik des „Neuen Sozialdemokrat“ beweist nur zu deutlich, daß man aus Lassalle’s Schriften Alles und Jedes Herauslesen kann. Die bekannte Ronsdorfer Rede, wo er (Lassalle) den König von Preußen als einen überzeugten Sozialisten hinstellt, der „die Wahrheit unserer Lehren und die Gerechtigkeit unserer Forderungen anerkennend, eine Regelung der Arbeiterfrage und Abhilfe der Arbeiternoth durch die Gesetzgebung versprochen, wie wir dies in unseren Schriften begehrt haben“, – diese Ronsdorfer Rede wird wieder anderweitig dementirt, durch die Worte: „Aber habe ich Euch denn auf den heutigen Staat verwiesen?“ – und dergleichen mehr. Die „Revue“ hat ebensogut Recht, wenn sie sagt, Lassalle dachte sich eine Lösung der sozialen Frage im monarchischen Staat, wie der „Neue“, wenn er dies läugnet.

Gerade so ist es mit Lassalle’s Produktivassoziationen; einerseits hält sie Lassalle für ein „bahnbrechendes Mittel“, andererseits für weit entfernt von der Lösung der sozialen Frage. (…)

Nr. 91.                                                  Sonntag, 28. September.                                              1873

Die sozialen Lehren des Christenthums.

Unter dem Titel: „Studie über die sozialen Lehren des Christenthums“ (Etude sur les doctrines sociales du chritanisme) haben zwei junge französische Schriftsteller: Yves Guyot und Sigismund Lacroir eine Schrift veröffentlicht, die als die Antwort des revolutionären Frankreich auf die frechen Herausforderungen des pfäffischen Frankreich, das jetzt im Schatten des Mac Mahon,schen Säbels seine mitternächtlichen Saturnalien aufführt, betrachtet werden kann. Geist und Inhalt des Werkchens erhellen aus den Schlußsätzen der „Einleitung“, welche in deutscher Uebersetzung hier folgen mögen:

„Die Gesetze, hören wir nicht auf zu wiederholen, sind der Ausdruck der nothwendigen Beziehungen, welche aus der Natur der Dinge entspringen. Das sind die Gesetze, welche die Wissenschaft sucht, das sind die Gesetze, welche die Religion nicht kennt; und verachtet, welche die Metaphysik sucht und zu errathen bemüth ist, aber ohne sich die Mühe zu geben, die Thatsachen zu studiren, durch welche allein diese festgestellt werden können.

Daher zwischen Wissenschaft und jeder Religion, was für eine es sei absolute Unverträglichkeit. Die Religion sagt: Wunder; die Wissenschaft sagt: Gesetz. Die Religion bedeutet Glaube, Autorität, Ueberlieferung, Ehrfurcht vor den Vorurtheilen nach Maßgabe ihres Alters; Wissenschaft bedeutet Beobachtung, Erörterung, Freiheit, unaufhaltsamer Fortschritt. (…)

Nr. 103.                                                 Sonntag, 26. Oktober                                               1873

Der Stand der englischen Reformfrage.  I.

Es gibt gewisse Sätze, gewisse Behauptungen, denen die öffentliche Meinung einen Zwangskurs verliehen hat, und die, gleich mit dem Staatsgepräge versehenen Münzen, unbeargwohnt aus einer Hand in die andere gehen, ohne daß Jemand daran dächte, den wahren Gehalt dieses „moralischen Geldes“ zu untersuchen. Kommt einmal zufällig ein zweifelsüchtiges Individuum auf die Idee, Scheidewasser herbeizuholen und sich durch

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nüchterne Prüfung zu überzeugen, ob das, was glänzt, in der That auch Gold oder Silber ist, so stellt sich dann sehr oft heraus, daß sich das gute Publikum Jahre, Jahrzehnte, ja zuweilen Jahrhunderte lang Talmi und Nickel für Gold und Silber hat aufhängen lassen.

Ein solches glänzendes Geldstück ist der Satz, daß England die beste Verfassung, das normalste politische Leben und die vollendetste Volksherrschaft durch und mit vollendetsten Parlamentarismus habe. Unbeanstandet circulirt diese Münze nun seit 125 Jahren – seit 1748 Montesquieu in seinem Esprit des Lois (Geist der Gesetze) jenes halbmythische  und zur anderen Hälfte ungeheuerliche Ding: „die englische Verfassung“  für die bestmögliche praktische Erfüllung des politischen Ideals erklärt und damit speziell seinen Landsleuten einen Floh in die Ohren gesetzt hat, der 40 Jahre später gar sonderbare Kreuz = und Quersprünge verschuldete. Die Montesquieu’sche Empfehlung wurde zu einer begeisterten Malzextrakt = Reklame ausgearbeitet von dem französischen Abenteurer  und Lump Delolme, dessen „berühmte“ Münchhausiade  über die englische Constitution noch heute für ein klassisches Muster ernster politischer Literatur gilt, für eine Bibel der Wahrheit und staatsmännischer Weisheit, obgleich die englische Constitution Delolme’s der englischen Constitution des englischen Staats gerade so ähnlich ist, wie der genial = edelsinnige Held des neutestamentlichen Reptilienfonds Propheten Hesekiel dem schnapsbrennenden, papierfabrizirenden Wagener protegirenden, in „delatorischen“ Verhandlungen und Dotationen machenden, das „Pferd“ über den Graben spornenden Junker, von Varzin und Biarritz.

Von den Männern, die den englischen Parlamentarismus an der Quelle studirt, ist ihm zwar – namentlich in den letzten 25 Jahren – wiederholt die Maske heruntergerissen worden, allein die journalistischen Falschmünzer, welche die öffentliche Meinung anfertigen, haben kraft ihrer Organisation die Kritik entweder erfolgreich todtgeschwiegen, oder durch systematische Lügen neutralisirt (vereitelt), so daß die Phantastereien Montesquieu’s und die Schwindeleien Delolme’s bis auf den heutigen Tag fast unbestritten Kurs haben.

Abgesehen von dem Interesse, daß eine Beleuchtung der englischen Parlamentsreform = Bewegung speziell für unsere Partei hat, helfen wir demnach auch eine allgemein kulturhistorische Pflicht erfüllen, indem wir enthüllen, was der englische Parlamentarismus ist.

Vollendet in seiner Art ist er unzweifelhaft, aber nicht, wie uns vorgeredet wird, der vollendetste Ausdruck der Volksherrschaft, sondern der vollendetste Ausdruck der Klassenherrschaft, die schamloseste Beleidigung des gesunden Menschenverstandes und der Gerechtigkeit. (…)

Das gegenwärtige Parlamentswahlsystem (Wahlgesetz, Wahlkreiseinteilung etc.) fußt auf der „großen Reformbill“  von 1832, „groß“ durch den kolossalen Lärm, der geflissentlich mit ihr geschlagen wurde, und durch die noch kolossalere Enttäuschung, welche ihr folgte. Die 1832er Reformbill erweiterte das Monopol der Vertretung im Parlament, indem die Grundbesitzer = Aristokratie zwang, es mit der Geld = Handels = und Industrie Aristokratie zu theilen. Das arbeitende Volk, welches sich bei der Agitation für jene Reformbill zur Einschüchterung des Landadels benutzen ließ, hat seit 1832 gerade so viel Vertreter in‘s Unterhaus geschickt, wie vor 1832: nämlich keinen, Wir sagen das Unterhaus, denn gehört  auch das Oberhaus (Haus der Pairs – House of Peers)  zum Parlament, so liegt alle  Staatsmacht in England doch einzig uns ausschließlich in dem Unterhaus ( Haus der Gemeinen – House of Common); das Oberhaus nebst der Krone ist nur ornamentales Schnörkelwerk, und würde, wenn durch eine plötzliche Katastrophe von der Erde gefegt, keine bemerkbare Lücke zurücklassen.

Nachdem seit 1832 verschiedentlich an dem Wahlgesetz herumgepfuscht worden war, kam im Sommer 1867 die jetzt in Kraft befindliche, charakteristischer Weise von den Tories („Conservativen“) eingebrachte Reformbill zur Annahme, Dieselbe hat die alte Eintheilung der Wahlbezirke und Vertheilung des Wahlrechts beibehalten, und dem Prinzip der Vertretung nach

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Kopfzahl nur täuschende Scheinkonzessionen gemacht. Der Unterschied zwischen Grafschafts = und Stadt = Wahlrecht besteht fort, und das Recht der Vertretung im Parlament haftet nach wie vor an dem Ort, anstatt an der Person. Doch davon später des Näheren.

Der durch die Tory = Reformbill herbeigeführte „Fortschritt“ beschränkt sich auf eine Ermäßigung des Census, der in den Grafschaften (counties) des vereinigten Königreichs Großbritannien (wie der offizielle Titel lautet, d. h. England mit Wales, Irland und Schottland) von 50 Pfd. Sterl. auf 20 Pfd. Sterl. (= 133 Thlr.) jährlichen Pacht = und Hauszinses herabgesetzt worden ist, während in den Städten (boroughs) der Census  der 10 Pfd. Sterl- = Hausmiethe (Inhaberschaft eines zur Armentaxe für 10 Pfd. St. jährlich besteuerten Hauses)  beseitigt, und jedem Inhaber (Eigenthümer oder Miether) eines Wohnhauses, das zur Armensteuer herangezogen wird, sowie auch Miethern von Theilen eines Hauses das Wahlrecht gewährt worden ist. Solchen Miethern jedoch nur unter Bedingungen und mit Verklausulirungen, welche die Lodger = Franchise (das Wahlrecht der Miether)  jeder ernstlichen Bedeutung entkleiden und den Stempel des Humbugs aufdrücken. Erwähnt sei hier, daß in England die Wohnhäuser der Regel nach nicht Eigenthum der Inhaber, sondern der Besitzer des Grund und Bodens sind, auf dem sie stehen.; daß die Wohnhäuser in den Städten durchschnittlich kleiner sind als in Deutschland (meist blos für eine, zwei oder drei Familien bestimmt), und das die Zahl der Wohnhäuser, für welche ein jährlicher Miethzins von unter 10 Pfd. Sterl. entrichtet wird, mehrere Hunderttausend beträgt. (…)

Nr. 105.                                                      Freitag, 13. Oktober.                                              1873

Die Bakuinisten an der Arbeit.

Denkschrift über den letzten Aufstand in Spanien von Friedrich Engels. I.

Der soeben veröffentlichte Haager Commissionsbericht über die geheime Allianz Michael Bakunin’s (siehe Artikel: Cagliostro Bakunin in Nr. 67 und folgende des „Volksstaat“) hat der Arbeiterwelt das geheime Treiben, die Schurkereien und das hohle Phrasengeklingel dargelegt, vermittels dessen die proletarische Bewegung dem aufgeblähten Ehrgeiz und den selbstischen Zwecken einiger verkannter Genies dienstbar gemacht werden sollte. Inzwischen haben diese Gernegroßmänner uns in Spanien Gelegenheit gegeben, auch die praktische Revolutionsthätigkeit kennen zu lernen. Sehen wir, wie sie ihre ultra = revolutionären Phrasen von Anarchie und Selbstherrlichkeit, von Abschaffung aller Autorität, besonders der staatlichen, von sofortiger und vollständiger Emancipation der Arbeiter verwirklichen. Wir sind dazu jetzt endlich im Stande, da und außer den Zeitungsberichten über die Ereignisse in Spanien jetzt auch der von der Neuen Madrider Föderation der Internationalen der Internationalen an den Genfer Kongreß vorliegt. (…)

Nr. 110.                                                     Mittwoch, 12. November.                                           1873

Reichstagswahl

Wie wir hören, sollen die Reichstagswahlen noch im Dezember 1873 zwischen Weihnachten und Neujahr vorgenommen werden. Dies Manöver hat zweifellos den Zweck, uns die Zeit für die Wahlagitation zu verkürzen. Um so rühriger und energischer muß diese jetzt in die Hand genommen werden. Wo noch keine Wahlkomité’s gebildet, keine Sammlungen für den Wahlstand eröffnet sind, da muß dies schleunigst geschehen. Die es so eilig mit den Reichstagswahlen haben, müssen erfahren, daß die Arbeiter sich nicht überrumpeln lassen.

Parteigenossen! Es ist die Pflicht aller wie des Einzelnen, unablässig und mit Anstrengung aller Kräfte dafür zu wirken, daß die Arbeiter ihre Vertretung im Reichstag bekommen.

Thue ein jeder seine Schuldigkeit!

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Der Stand der Englischen Reformfrage.  II.

Wie schon bemerkt, sind für die Wahlen Land und Stadt getrennt – eine Bestimmung, die wir ähnlich z. B. auch in dem sächsischen Landtagswahlrecht finden. In Deutschland gilt sinst umgekehrt die Regel – namentlich in Preußen hat man es darin zu einer großen Virtuosität gebracht – die Städte mit dem Land zu Wahlbezirken zusammen zu werfen, und zwar derart, daß das städtische Element durch das ländliche entdemokratisirt wird. Indeß, wie im Mittelalter alle Wege nach Rom, so führen bei den modernen „Kulturländern“ herrschenden Repräsentations = und Wahlsystemen alle Wege zur Fälschung des Volkswillens oder der Volksstimme, oder mit welchen Namen man das Ding sonst benamsen will.                 Während überall auf dem europäischen Continent die „Volksvertretung“, ihrem revolutionären Ursprung entsprechend auf dem Prinzip der Kopfzahl fußt, und die Wählerschaften demgemäß der Zahl nach annähernd gleich sind, so daß zehn, hundert oder tausend je einen Abgeordneten wählen, hängt in Großbritannien das Wahlrecht, ohne jegliche Rücksicht auf die Bevölkerungszahl, an dem Ort. Im Laufe der „historischen Entwicklung“ hat dieses oder jenes Borough für diesen oder jenen der Regierung, einem Minister, einem König, der Maitresse eines Königs etc. geleisteten Dienst das Privilegium erhalten, ein oder zwei Vertreter ins Unterhaus zu schicken. Das Borough, welches zur Zeit, da es dieses Privilegium erlangte, vielleicht eine relativ bedeutende Stadt war, mag im Laufe der „historischen Entwicklung“ zu einem verottetem Nest herabgesunken sein – thut nichts, die „historische Entwicklung“ erheischt, daß es im Unterhaus vertreten sei. Ein anderer Ort, der Laufe der „historischen Entwicklung“ nicht das Glück hatte, der Regierung, einem Minister, einem König, der Maitresse eines Königs etc, einen Dienst zu leisten, hat keine Vertretung im Unterhaus, obgleich er im Laufe der Entwicklung, die zwar auch eine „historische“ ist, aber nicht die richtige vor dem „historischem Recht“, vielleicht zehn Mal so viel Bedeutung und Einwohner erlangt hat, als eins jener privilegirten Boroughs. Die Reformbill von 1832 hat allerdings einige der groteskesten, blödsinnigsten Auswüchse der „historischen Entwicklung“ gekippt, ein Paar der verrottetsten der „verrotteten Boroughs“ (rotten boroughs) von der Vertretungsliste gestrichen, ein Paar der richtigen „historischen Entwicklung“  zum Trotz und Tort groß gewordenen Städte darauf gesetzt, aber wohlweislich sich gehütet, den Kern der Frage zu berühren. (…)

Und doch wäre dies nur die Darlegung des besehenden Zustandes. Nicht im Wesentlichen richtig – nur schärfer zugespitzt als es  in Wirklichkeit sich darbietet – nicht schwarzgefärbt, bei Leibe nicht, eher schöngefärbt, denn in Wirklichkeit hat das englische Volk nicht einen einzigen Sitz im Unterhaus.

Und Jahrhunderte lang hat das englische Volk es sich gefallen lassen; mit Ausnahme einiger Perioden der Aufregung ist kein ernstlicher Versuch gemacht worden, diesen widersinnigen Zustand zu ändern; John Bull bildet sich ein, der freieste Mann unter der Sonne zu sein; die englischen Staatsmänner sind die ersten Welt; die Philister Englands und aller übrigen Länder schwärmen von der englischen Verfassung – und das Alles, weil der reaktionäre Aberwitz „historische Entwicklung“ ist! Bismarck wußte, was er sagte, als er den fortschrittlichen Schreihälsen zurief: „Geben sie mir die englische Verfassung und ich gebe Ihnen ein parlamentarisches Regiment.“ Sein politischer Hausknecht Bucher, der den englischen Verfassungsschwindel genau kennt, hatte ihn gut instruirt.

Ja die „historischen Entwicklung!“ Der reaktionäre Aberwitz wird durch sie politische Weisheit; der skandalöse Mißbrauch eine „geheiligte Einrichtung“ (time honoured institution).

Betrachten wir uns diesen reaktionären Aberwitz. Es ist Methode darin; und die pfiffigsten Staatsmänner des Continents haben kein System erfunden, das so vortrefflich einen Zweck erfüllt: eine Volksvertretung zu liefern, in der das Volk nicht vertreten ist.

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Nr. 111.                                                   Freitag, 14. November.                                            1873

Der Stand der Englischen Reformfrage.  III.

Am 7. Mai dieses Jahres stellte Sir Charles Dilke im Unterhaus den Antrag, „daß es wünschenswerth sei, die Ungleichheiten in der Vertheilung der Wahlkraft in England, Schottland und Irland aufzuheben.“ Unter „Wahlkraft“ – voting power ist das Gewicht, die Bedeutung der einzelnen Wahlstimmen zu verstehen. Wenn z. B. 100 Mann in irgend einem Wahlkörper einen Vertreter zu wählen haben, in einem anderen Körper aber 1000 Mann, so hat die Stimme eines der 100 zehn Mal so viel Wahlkraft voting power – als die eines der 1000. (…)

Der Antrag Sir Charles Dilke’s hatte das Schicksal, welches er in diesem Unterhaus haben mußte. Hr. Gladstone gestand die „Anomalien“ zu, aber es sei schon zu spät in der Session; ein so großer Mißstand sei nur durch eine große Maßregel zu beseitigen, die im Anfang der Session eingebracht werden müsse, damit beide Häuser Zeit zu reiflicher Ueberlegung hätten. Natürlich wurde der Dilke’sche Antrag verworfen, und zwar mit 268 gegen 77; hätten die 77 Jasagenden Grund gehabt, zu glauben, daß von ihrem Votum das Schicksal der Motion abhänge, sie hätten wie ein Mann dagegen gestimmt, Sir Charles Dilke selber nicht ausgenommen. Natürlich fällt es auch Hrn. Gladstone nicht ein, zu Anfang der nächsten Session eine „große Maßregel“ einzubringen. (…)

Nr. 113.                                                 Mittwoch, 19. November.                                          1873

Wer die Revolutionen „macht“.  I.

„Angekränkelt von den Ideen der Enzyklopädisten*) überlieferte er (Ludwig XVI. von Frankreich)  selbst die auf so unterwühltem Grund ruhende königliche Herrschaft der Revolution, welche bekanntlich wie jedesmal von oben begann.“ So schrieb jüngst anläßlich des Non possumus – Briefes der verunglückten Froschdorfer Majestät die „Kreuzzeitung“ (vom 4. d. Mts.). Als  „die Revolution beginnt jedesmal von oben“, wird nicht etwa von unten, d. h. nicht von bösen, Demagogen, Sozialdemokraten und sonstigen Staats = und Gesellschaftsfeinden „gemacht“, wie es stehender Satz der Herren Staatsanwälte ist, sondern von oben, d. h. von den Regierungen, von den Fürsten. Und das sagt nicht ein böser Demagoge, Sozialdemokrat oder sonstiger Staats = und Gesellschaftsfeind in irgend einem Hochverratsprozeß, um die Anklage des Hrn. Staatsanwalt zu pariren, nein, das sagt ein rein zweifelsohne Anhänger des Königthums in dem rein und zweifelsohnsten deutschen Organe des Königthums, des „starken Königthums, des Königthums von Gottes Gnaden“. Es ist wahr, die „Kreuzzeitung sieht die Sache anders als wir. Was sie sagen will, ist, daß das Königthum die bisherigen Revolutionen verschuldet habe, nicht durch Opposition gegen die fortschreitende Entwicklung, sondern durch Conzessionen an dieselbe. Damit stellt sie die Wahrheit auf den Kopf. Nehmen wir das Beispiel Ludwig XVI., an welches die „Kreuzzeitung“ anknüpft. Als dieser König auf den Thron kam, war das monarchische Regierungssystem in Frankreich bankrout – politisch, moralisch, finanziell. Alle denkenden Beobachter sahen, und sagten zum Theil, eine furchtbare Katastrophe voraus, wenn nicht Mittels durchgreifender Reformmaßregeln von oben den Bedürfnissen des Volkes schleunigst, noch ehe der sonst unvermeidliche Ausbruch von unten erfolge, in befriedigender Weise Rechnung getragen würde. Was that aber die neue Regierung? Der junge König Ludwig XVI., mag er, was man so nennt, ganz gute Vorsätze gehabt haben; allein wir kennen das Sprichwort: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsetzen gepflastert. Für Ludwig XVI. war es der Weg zur Revolution – nämlich mit guten Vorsätzen, die nicht erfüllt wurden. (…)

*eine Anzahl französischer Philosophen, welchen in der von ihnen veröffentlichten „Enzyklopädie“ (daher der Name) die revolutionären Ideen zum Ausdruck brachten. Die vornehmsten Enzyklopädisten sind Diderot, d’Alembert, Helotius, Malty, Holbach.

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