Christliches Manifest
Christliches Manifest

Wenn das Weizenkorn nicht in die Erdc fällt und erstirbt, bleibt es allein, wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.

(Evangelium nach Johannes Kapitel 12, Vers 24)

Der Herr Jesus in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach's und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis. (Brief des Apostels Paulus die Gemeinde in Korinth, 1. Korinther Kapitel 11, Vers 23 und 24)

Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Denn ein Brot ist's, so sind wir viele ein Leib, weil wir alle eines Brotes teilhaftig geworden sind. (Brief des Apostels Paulus an die Gemeine in Korinth, 1. Korinther, Kapitel 10, Vers 16 und 17)

Dies ist das Brot, das vom Himmel herabkommt, auf dass, wer davon isset, nicht sterbe. (Nach Evangelium Johannes, Kapitel 6, Vers 50)

 

Christliches Manifest


Grundsätzliches

Die nachfolgenden Texte haben zwei grundverschiedene Themenbereiche zum Inhalt, aus historischer Sicht und inhaltlich. Es geht um christliche Kirchen-und Dogmengeschichte mit dem Titel „Christliches Manifest“ und um die Geschichte der Sozialdemokratie, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann. Die Geschichte der christlichen Kirchen erstreckt sich über einen Zeitraum von mehr als zweitausend Jahren, die der Sozialdemokratie über wenig mehr als einhundertfünfzig Jahre. Die Zielsetzungen beider sind unterschiedlich, oft auch gegensätzlich verlaufen. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergeben haben, genauer, währende der NS-Herrschaft mit Beginn 1933. Teile der Kirchen der beiden großen Konfessionen waren Verfolgungen ausgesetzt. Die SPD schon vor den Wahlen zum Deutschen Reichstag am 5. März 1933, nach dem Machtantritt Hitlers am 30. Januar 1933, besonders aber nach der Verweigerung der SPD am 23. März 1933, Hitler die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz zu geben. Die Verfolgungsmaßnahmen gegen die protestantischen Kirchen, den Lutheranern und der Reformierten, begannen vermehrt seit der „Barmer Erklärung“, die Ende Mai 1934 erfolgte, und weitgehend von dem reformierten Theologen Karl Barth verfasst worden war, der aufgrund seines umfangreichen theologischen Werkes „Kirchliche Dogmatik“ einen weltweiten Ruf unter den christlichen Theologen erlangt hatte. Karl Barth ist 1931 in die SPD eingetereten. Die katholische Kirche setzte sich gegen den nationalsozialistischen Machtanspruch mit der Enzyklika des Papstes Pius XI. „Mit brennender Sorge“ zur Wehr. Sie hatte mit der NS-Regierung im Juli 1933 ein Konkordat abgeschlossen und musste erkennen, dass die darin gemachten Zusagen von den Machthabern der NSDAP nicht eingehalten wurden. Um die „Barmer Erklärung“ gruppiert sie die „Bekennende Kirche“. SPD und protestantischer Widerstand hatten eines gemeinsam: Beide wurden in ihrem Ringen gegen den Machtanspruch der NS-Regierung von internationaler Ebene aus im Stich gelassen. Dietrich Bonhoeffer hatte beim „Rat der ökumenischen Kirchen“ in Genf vergeblich versucht, die „Bekennender Kirche“ aufgrund ihres klaren Bekenntnisses als wahre protestantische Kirche in Deutschland anzuerkennen. Ebenso hat auch die SPD von außerhalb Deutschlands keinen Rückhalt und Solidarität erfahren.

                                                                                                      

Inhaltsverzeichnis (BK) Band I

Inhaltsverzeichnis                                                                                                       I                                                                                                  

Vorwort                                                                                                                       II-VII

Einführung und Zielsetzung                                                                                        1

Artikel 1 Eckpfeiler des christlichen Glaubens                                                           2

Artikel 2 Voraussetzungen für das Leben in christlicher  Gemeinschaft                    4

Artikel 3 Historische Wurzeln des Christentums                                                        5

Artikel 4 Verschiedene christliche Konfessionen und Denominationen                     6

Artikel 5 Der europäische Raum als christlicher Raum                                              8

Artikel 6 Kreationismus                                                                                              11

Artikel 7 Christentum und deutsche Geschichte in ihrem Kontext                             14

               a) Sozialpolitische und sozialethische Sicht                                                 14

               b) Der christliche Glaube in der deutschen Geschichte in ihrem                  47

                   Kontext

               c) Die Erneuerung des Römischen Reiches. (Renovatio imperii

                   Romanorum)                                                                                              70

                d) Das Heilige Römische Reich von 814 bis 1254 unter Einschluss

                    der theologischen Geistesströmung der Scholastik                                   116

                 e) Die Kirche des Ostens

                 f) Das 14. Jahrhundert: Schisma und Babylonische Gefangenschaft

                 Band II

                 g) Das 15. Jahrhundert:  Hinwendung zum Humanismus. Savonarola

                                                        als Gegenbewegung

                 h) Das 16. Jahrhundert: Das Jahrhundert der Bekenntnisse

                                                        und Reformationen

                 i) Das 17. Jahrhundert: Das Jahrhundert des Krieges und des Schreckens

                 j) Das 18. Jahrhundert: Aufklärung mit Pietismus als Gegenbewegung

                 k) Das 19. Jahrhundert: Vom Idealismus zum Materialismus

                 l) Das 20. Jahrhundert und der große Abfall

                 m) Das 21. Jahrhundert: Das Jahrhundert der Entscheidung

Artikel 8  Jesus Christus als menschliche Person in menschlicher Beziehung                 

                                                                    Vorwort                                                              II

 

                                 Ecclesia semper reformanda est

Die (christliche) Kirche befindet sich in einen immerwährenden Prozess der Reformation.

Der Theologe Karl Barth (1886-1968) hat in einer Abhandlung im Jahre 1947 sich dieses Grundsatzes bedient, der vom Kirchenvater Augustin (354-430) tausendfünfhundert Jahre zuvor aufgestellt worden war. Es hat in der Menschheitsgeschichte noch keine Organisation gegeben die über einen so langen Zeitraum von mehr als zweitausend Jahren ohne Unterbrechung bestand gehabt hat wie die katholische Kirche, aus der schließlich andere christliche Kirchen hervorgegangen sind, die aber ohne die Geschichte Israels, genauer Judas, zur Zeit des Altertums einen Vorläufer hatte, der als Ausgang für das Werden der christlichen Kirche angesehen werden muss, außerdem wurde das Fundament zur Ausbreitung des christlichen Glaubens in alle Welt von jüdischen Menschen gelegt.

Zeiten eines christlich kirchlichen Bekenntnisses waren immer auch Krisenzeiten. Das gilt schon von Anbeginn der christlich katholischen Kirche im 4. Und 5. Jahrhundert, die Zeit der Konzile von Nicäa, Konstantinopel und Chalcedon. Auf dem Konzil von Nicäa (325) wurde als erstes umfassendes Glaubensbekenntnis, das Apostolikum, formuliert, das anerkannt ist von der römisch-katholischen Kirche, den orthodoxen Kirchen, der anglikanischen Kirche, den lutherischen Kirchen, und der evangelisch-methodistischen Kirche. Auf dem Konzil in Nicäa (325) wurde der theologische Streit um die von Arius (260-336) vertretene  Lehre entschieden zugunsten der von Athanasius (298-373) vertretenen theologischen Richtung, was aber nicht bedeutete, dass die Kontroversen damit ein Ende gefunden hätten. Auf dem ersten Konzil in Konstantinopel (381) wurde das auf dem Konzil von Nicäa verfasste Bekenntnis bestätigt und durch ein weitergehend formuliertes Bekenntnis bekräftigt. Auf dem Konzil von Chalcedon (451) fand die Auseinandersetzung ihre Fortsetzung im Streit um das Verhältnis zwischen göttlicher und menschlicher Natur von Jesus Christus. Es wurde festgelegt, Jesus Christus sei wahrer Gott und wahrer Mensch. Die Lehre von der Dreieinigkeit wurde zum Dogma erhoben. Im zweiten Konzil von Konstantinopel (553) wurde weiter um die Fragen gerungen, die auch bestimmend gewesen waren auf dem Konzil von Chalcedon, bestimmend für die nachfolgende Kirchengeschichte als Grundlage blieb das Bekenntnis von Nicäa.

Eine nächste große Reformbewegung ging aus vom Kloster Cluny (882-962), im Gebiet des heutigen Frankreich gelegen, die ausgelöst wurde durch den Niedergang der Kirche im „Dunklen Jahrhundert“. Die Cluniazensische Reform betonte die Vergänglichkeit alles Irdischen, verbunden mit der Mahnung: „Bedenke, dass du sterben muss“.

Ein weiteres einschneidendes Datum findet sich im Jahre 1054, wo die endgültige Trennung zwischen Rom und Byzanz (Konstantinopel) das ganz große Schisma (Spaltung) vollzogen wurde, eine Spaltung zugleich zwischen Ost und West, zwischen griechisch und lateinisch.

Einen schwereren Schlag erhielt die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses in den Kreuzzügen, die Ende des 11. Jahrhunderts ihren Anfang nahmen. Als die Kreuzritter 1099 Jerusalem erreichten und die Stadt eroberten, richteten sie ein Blutbad an, in dem schonungslos gemordet wurde. 1204 plünderte ein Kreuzfahrerheer Byzanz, damals noch christlicher Mittelpunkt der Ostkirche.

                                                                                                                                                III

Um weiteren Verfall der Kirche entgegenzuwirken wurde das Konzil von Konstanz (1414-1418) einberufen. Die Beseitigung des großen „Abendländischen Schismas“ war das Ziel, um die Einheit der Kirche wiederherzustellen. Drei Päpste hatten um die Vorherrschaft in der Kirche gestritten. Sie wurden abgesetzt, und das Schisma 1429 durch die Wahl eines einzigen Papstes, Martin V., beendet. Es war die einzige Papstwahl in der Kirchengeschichte auf deutschem Boden. In Konstanz kam es nicht zu durchgreifenden Reformen der Kirche „an Haupt und Gliedern“, was erwartet worden war. In dieses Versäumnis stieß einhundert Jahre später die Reformation Martin Luthers (1483-1546).

Ein Vorläufer dieser Reformation war Johann Hus (1369-1415), so wurde er auch von Luther eingeschätzt, genauso wie Savonarola (1452-1498) in Florenz, der dem ungewöhnlichen sittlichen Verfall der Renaissance den Kampf angesagt hatte. Hus und Savonarola wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Reformatorische Impulse waren zuvor schon von John Wyclif (1320-1384) in England ausgegangen. Im 16. Jahrhundert, nach dem Thesenanschlag Martin Luthers 1517, bildeten sich reformatorische Bekenntnisse wie die Augsburger Konfession 1530, Luthers Schmalkaldische Artikel 1537 und die Konkordienformel 1577. Zuvor wurde auf dem Trienter Konzil (1545-1563) eine Bekenntnisgrundlage für die katholische Kirche geschaffen, aus dem die Gegenreformation entstand, als Antwort auf die reformatorischen Bekenntnisse. Johannes Calvin (1509-1564) verfasste die „Konstitutionen der Christlichen Religion“ mit der Prädestinationslehre als herausragendes Dogma.

Im 17. und 18. Jahrhundert gewannen im protestantischen Bereich vor allem in Preußen durch Nikolaus Graf Zinzendorf (1700-1760) und in England und Amerika durch die Evangelisationen von Jan Wesley an Boden, die sich auch als Reformbewegung verstanden gegen die als Erstarrung empfundene Orthodoxie der lutherischen und anglikanischen Kirche. Auf Zinzendorf und Jan Wesley (1703-1791) können spätere evangelikale Erweckungsbewegungen in Deutschland, England und Amerika zurückgeführt werden. Die verschiedenen Bekenntnisbewegungen im Verlauf der Kirchengeschichte hatten in der Hauptsache theologische formulierte Dogmen zum Inhalt, die nicht auf politische und gesellschaftliche Veränderungen abzielten, sie sollten Rechtgläubigkeit erhalten, und  einem sittlichen Verfall entgegenwirken. Dieser Mangel hat sich nachteilig für die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses ausgewirkt, dennoch gab es auf allen Seiten sozialethische Bestrebungen. Der Pietismus in Preußen beeinflusste die Entstehung der „Halleschen Waisenhäuser“ durch August H. Francke (1663-1727), eine Bildungseinrichtung, die sich ausweitete, und über die Grenzen Preußens hinaus Aufmerksamkeit auf sich zog. Jan Wesley führte neben seiner Verkündigung des Evangeliums auch einen Kampf gegen die Sklaverei, und seine Verkündigung erstreckte sich auch auf die Ureinwohner Nordamerikas, die ein Leben in ständiger Bedrohung führten. In Südamerika entstanden die Jesuitenreduktionen, später auch als „Jesuitenstaat“ bezeichnet. Es waren Siedlungen für die einheimische Bevölkerung, gegründet mit dem Ziel, sie vor Willkür und Ausbeutung durch die Kolonialmächte Spanien und Portugal zu schützen, um ihnen ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen und Bildung zu vermitteln. Das im 17. und 18. Jahrhundert zunächst mit großem Erfolg betriebene Projekt stieß bei den genannten Kolonialmächten auf Ablehnung und wurde schließlich zu Fall gebracht.

 

 

                                                                                                                                                  IV

Besondere historische Aufmerksamkeit verdient die Evangelisationsarbeit des amerikanischen Evangelisten Billy Graham in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer kraftvollen Verkündigung, die ganze Sportstadien füllte. Es war das größte Ereignis im evangelisch-protestantischen Raum seit der Reformation Marin Luthers.

                                                                                                                                                 Grundlage für die folgende aus acht Artikeln bestehende christliche Bekenntnisschrift sind die „Barmer Erklärung“ vom Mai 1934, Bekenntnisgrundlage der „Bekennenden Kirche“ auf evangelischer Seite und die Enzyklika von 1937 „Mit brennender Sorge“ von Papst Pius XI. auf katholischer Seite. In der „Barmer Erklärung“ , die wesentlich von Karl Barth verfasst worden war, ging es vordergründig um das ausschließliche Bekenntnis zu Jesus Christus, weitergehende politische und soziale Forderungen waren darin nicht enthalten, während in der genannten Enzyklika auch die Menschenrechte angesprochen wurden.

                                                                                                                                                 Wenn es den beiden großen christlichen Konfessionen nicht gelungen ist, den Nationalsozialismus und seine Ideologie zu überwinden, so können sie doch für sich in Anspruch nehmen, dass es Hitler und seinen Anhängern  verwehrt blieb, die Kirchen gleichzuschalten, wie es ihm gegenüber  politischen Einrichtungen und Institutionen gelungen war. Der Widerstand in Deutschland gegen Hitler und seinem ideologischen Anhang, ganz gleich auf welcher Ebene und von welcher Seite er stattgefunden hat, ist von außerhalb Deutschlands bis zum Ende des zweiten Weltkrieges schweigend übergangen worden. Einen Rückhalt auf internationaler Ebene gab es nicht. Das gilt auch für die vom Nationalsozialismus durchgeführte Judenverfolgung.

Heute geht es darum, dem allgemeinen immer weitergehenden Abfall vom christlichen Glauben, der einem Höhepunkt entgegen geht, wirksam zu begegnen.

Für Deutschland ergeben sich zwei Wege, die notwendig beschritten werden müssen, um den gänzlichen Verlust seiner Identität zu verhindern. Eine Neuorientierung muss vom Evangelium, wie es Jesus Christus verkündigt hat, ausgehen, weil der christliche Glaube die deutsche Geschichte entscheidend mitgeprägt hat. Mit dem Verlust der Identität drohen Gefahren, denn mit dem Erlöschen der geistigen Substanz wird auch die materielle Substanz, das geographische Feld, das der deutschen Geschichte zugerechnet werden kann, jegliche Bedeutung verlieren. Es muss daher als abwegig angesehen werden, die deutsche Geschichte auf die nationalsozialistische Ideologie zu reduzieren, und seine gesamte Geschichte darauf zurückzuführen. Für diese einseitige Sicht gibt es keine Rechtfertigung. Die deutsche Geschichte bietet eine Fülle von Anhaltspunkten zur Identitätsfindung, die im Gegensatz stehen zu reiner Machtpolitik und zum Nationalsozialismus. Eine Politik, die es verhindert, einen solchen Weg zu beschreiten, muss sich Fragen gefallen lassen über ihre geistige Herkunft, die in einem ausschließlichen Denken in machtpolitischen Kategorien zu suchen ist. Kategorien des Rechts und der Gerechtigkeit haben darin keinen Platz, darum ist es notwendig, einem Geschichtsbild Geltung zu verschaffen, damit die Völker sich in versöhnlichem Geist  begegnen können, gemäß einem Wort des Philosophen Hegel (1770-1831): „Wer die Geschichte vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an“.

 

 

                                                                                                                                                  V

In der gegenwärtigen Politik haben die Völker Europas den Versuch unternommen, die aus seiner Geschichte herrührenden Gegensätze zu überwinden, die im vorigen Jahrhundert zu zwei Weltkriegen geführt haben mit dem Ergebnis, dass 1945 europäische Staaten, die wenige Jahrzehnte zuvor noch Weltgeltung besessen hatten, nur noch eine Zuschauerrolle einnehmen konnten. Heute trachten die Völker Europas nach Einheit, aber das Projekt droht zu scheitern, und ein dritter Waffengang kann nicht mehr ausgeschlossen werden, diesmal mit Waffen von noch größerer Grausamkeit und noch größerem Vernichtungspotential, daher wäre es besser gewesen, den eingeleiteten Versöhnungsprozess fortzusetzen. Hier muss ein Unterschied gemacht werden zwischen einer politischen Versöhnung und einer Versöhnung aus der Sicht christlicher Theologie. Der Versöhnungsbegriff in seiner theologischen Bedeutung, der darauf gründet, dass Jesus Christus durch seinem Opfertod am Kreuz die gefallene Schöpfung und die Menschheit erlöst hat, gehört nicht in die Politik. Diese Versöhnung hat einen dogmatischen und einen ethischen Grund, die politische Versöhnung hat nur einen ethischen Grund. Lessings Ringparabel ist das beste Beispiel dazu. Die Versöhnung zwischen Gott und Mensch und der Menschen untereinander, die Jesus Christus erworben hat, beginnt beim Individuum, nicht beim Kollektiv.

Die deutsche Geschichte hat in ihrer Gesamtbetrachtung zu einer Einteilung in drei Reichsgründungen geführt, die den Eindruck einer Kontinuität erwecken könnten, was sich aber nicht auf den wirklichen historischen Verlauf begründen ließe. Es ist gemeinhin von einem Ersten Reich, von einem Zweiten Reich und schließlich von einem „Dritten Reich“ die Rede gewesen. Alle drei Reiche sind in ihrer Gesamtkonzeption so unterschiedlich, dass von einem jeweiligen Bruch gesprochen werden muss. Das Erste Reich, mit einer Dauer von weit gefasst tausend Jahren, begann mit der Kaiserkrönung Karls des Großen am Weihnachtstag des Jahres 800 und dauerte formell bis 1806, bis es durch Kaiser Napoleon seine endgültige Erledigung fand, der an einer Fortsetzung dieser staatlichen Grundkonzeption kein Interesse hatte. Das Zweite Reich war von wesentlich kürzerer Dauer, es hat nicht einmal ein halbes Jahrhundert, von 1871 bis 1918, überlebt. Bismarck hatte gegenüber einem französischen Schriftsteller, der ihn in Friedrichsruh besucht hatte, sinngemäß erklärt, ein Rückgriff auf den Staatsgedanken des Heiligen Römischen Reiches hätte den Frieden in Europa gefährdet. Das Dritte Reich hat nur zwölf Jahre gedauert, obwohl sein Gründungsmythos es auf tausend Jahre angelegt hatte. Alle drei Reiche waren zum Zeitpunkt ihrer Gründung ein Bruch mit dem vorhergehenden.

Die theologischen Gegensätze zur Zeit Karls des Großen, dem Begründer des Ersten Reiches, und die damit verbundenen Lösungsansätze, nehmen im vorliegenden Manifest breiten Raum ein, da in der Christenheit als Ganzes zu den unterschiedlichen dogmatischen Positionen, die sich in der Zeit aufgetan hatten, bis heute keine einheitliche Auffassung erlangt werden konnte. Das gilt auch für den Staatsentwurf der Zeit, der zugleich als Anfang der europäischen Geschichte angesehen werden kann. Nun kann der Einwurf erhoben werden, dass dieser Staatsaufbau nicht für moderne Konzeptionen passend gemacht werden kann. Was Karl dem Großen mit der Schaffung eines westeuropäischen Großreiches gelang, war auf kriegerischem Wege durch das Schwert erreicht worden. Dieses Reich gründete auf zwei Stützpfeiler: die weltliche Macht in den Händen des Kaisers, die kirchliche Macht in den Händen des Papstes, symbolisiert durch zwei Schwerter, das weltliche und das geistliche. Der christliche Glaube sollte als Klammer dienen, um dieses Reich mit seinen verschiedenen Ethnien und auseinanderstrebenden Kräften zusammenzuhalten. Karl hatte seinen Nachfolgern ein, einheitliches Reich hinterlassen, die aber nicht in der Lage waren, das Erbe zu bewahren, und

                                                                                                                                                 VI                                                                                                                                                                        

weiterzuentwickeln im Sinne, wie es von Karl angestrebt worden war. Sein Sohn und unmittelbarer Nachfolger, Ludwig der Fromme, wollte es auf dem Wege von christlich ausgerichteten Reformvorhaben weiter festigen und erhalten. Er scheiterte, und das Reich fiel 843 in drei Teile auseinander. Es drohte ein völliger Verfall, der einhundert Jahre später durch Kaiser Otto dem Großen aus sächsischem Hause und Dynastie aufgehalten wurde, ihm gelang die Erneuerung und Festigung des Heiligen Römischen Reiches, und sein Bestand war für die nächsten dreihundert Jahre gesichert. Das Volk der Sachsen war hier federführend gewesen, das Volk, dem Karl der Große noch die Vernichtung angedroht hatte. Die Einheit, wie sie von Karl begründet worden war, konnte nicht wiederhergestellt werden. Am Hofe Karls gab es keine ethnisch und national begründeten Vorlieben und Privilegien. Persönlichkeiten mit Einfluss an seinem Hofe kamen aus allen Winkeln seines Reiches, tonangebend war der Gelehrte Alkuin, ein Engländer. Nationalstaatliches Denken war hier völlig fremd und ausgeschlossen, es entwickelte sich erst in Verlauf von Jahrhunderten. Einzig die römisch-katholische Kirche überlebte den Niedergang des Heiligen Römischen Reiches durch die Jahrhunderte europäischer Geschichte. Kaiser und Könige überdauerten nicht, Ideologien und Geistesströmungen unterschiedlichster Art überdauerten nicht, der Papst und die von ihm geführte Kirche überdauerten seit über zweitausend Jahren bis in die Gegenwart. Bei aller Unzulänglichkeit dieser Kirche im Verlauf ihrer Geschichte, ihr kommt das Verdienst zu, dass christlicher Glaube und christliche Kirche erhalten blieben, einschließlich der Kirchen, die aus ihr hervorgegangen sind, und oft im Gegensatz zu ihr standen. Die christlichen Kirchen wiederum verdanken ihre Existenz der Geschichte Israels und Judas mit all ihren Unzulänglichkeiten, dennoch bleibt die historische Tatsache bestehen, ohne die Geschichte Israels und Judas in den Zeiten des Altertums, keine christlichen Kirchen und kein christlicher Glaube.

Was soll in der Gegenwart mit Europa geschehen? Soll es zurück zum Anfang, wo eine Einheit bestand? Es war ein Reich, das auf den universalen Staatsgedanken begründet war, aus dem im Verlauf der Jahrhunderte sich Nationalstaaten entwickelten. Der Nationalstaatsgedanke, der seinen Höhepunkt am Ende des 18. Jahrhunderts, besonders aber im 19. Jahrhundert erreichte, bis die auseinanderstrebenden Kräfte Europa an den Rand des Untergangs und der Bedeutungslosigkeit brachten, und diese Entwicklung strebt ihrem Höhepunkt entgegen.

Universalstaat und Nationalstaat stehen im Gegensatz zu einander, und es bleibt die Aufgabe aus These und Antithese eine Synthese zu entwickeln, nicht als Kompromisslösung, sondern als uneingeschränkter Neuanfang. Es wächst Europa die Aufgabe zu, sich eine Verfassung zu geben, die bestehende Gegensätze überwindet. Ethnisches und nationales Hegemoniestreben stehen einer solchen Entwicklung entgegen. Europas Einheit muss wiederhergestellt werden durch ein glaubwürdiges christliches Zeugnis, auf  diesem Wege können auch die nationalen Eigenheiten und Identitäten bestehen bleiben. Der größte Teil europäischer Geschichte in seinem historischen Zeitraum und seiner geographischen Ausdehnung war vom Christentum geprägt

Was durch Karl dem Großen mit Krieg und militärischer Gewalt erreicht worden war, sollte durch Reformen auf friedlichem Wege konsolidiert werden. Die europäische Geschichte ist eine Geschichte von Kriegen, die nach außen wie nach innen auf Unterdrückung und Unterwerfung angelegt waren. Kriege mit diesem Ziel gingen politisch verloren, bevor sie militärisch gewonnen wurden. Deutschland hat beide Weltkriege politisch verloren, weil das Ziel dieser Kriege auf Unrecht und Unterdrückung angelegt war. Das Gleiche gilt auch von

                                                                                                                                               VII

Deutschlands Kriegsgegnern. Die Sowjet-Union ging aus dem Zweiten Weltkrieg als Sieger hervor, verlor aber dennoch, weil das Versprechen und die Verheißung, eine sozialistisch gerechte Welt zu schaffen, nicht eingelöst worden war. Amerika hat den Krieg in Vietnam nicht militärisch, sondern politisch verloren, weil seine Vorgehensweise weltweiten Protest ausgelöst hatte. Eine internationale Welt als Gegner kann sich auch die Supermacht Amerika nicht erlauben. Napoleon hat seine Kriege nicht militärisch, sondern politisch verloren, weil seine Politik auf nationalstaatliche Hegemonie und Unterdrückung ausgerichtet war. Für den europäischen Gedanken gibt es nur einen Ausweg aus der Misere: Ein glaubwürdiges christliches Zeugnis, es hat in seiner Geschichte eine Politik betrieben und sich dabei zu Unrecht auf Jesus Christus berufen, darum hat Europa verloren. Europa kann in einem weitesten Sinne gefasst werden. Russland ist mit allen Wurzeln und Fasern seiner Geschichte eine europäische Nation, und Amerika ist aus der europäischen Geschichte hervorgegangen.

Zurück zum Anfang wäre zu einfach. Entscheidendes ist nach nahezu tausendzweihundert Jahren geschehen. Der Humanismus und die Renaissance mit ihren Hinwendungen zur antiken Geisteswelt waren gleichzeitig eine Abkehr vom christlichen Glauben und Kirche, was auch auf das Versagen der Kirche zurückgeführt werden muss, indem sie sich wissenschaftlichen Entdeckungen und Erkenntnissen verschloss, einhergehend mit einem  Verzicht auf die ethischen Grundsätze des Evangeliums, wie es durch Jesus Christus verkündet worden ist. Eine weitere radikalere Abkehr von Glauben und Kirche bildeten Aufklärung und Französische Revolution. Hier ebenfalls muss ein Versagen von Glauben und Kirche festgestellt werden. Die drei fundamentalen Begriffe der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hätten in ihrem Gehalt auch der Bergpredigt entnommen werden können, das ethische Fundament der christlichen Welt. Nun versuchte die Welt diese Ideale außerhalb der christlichen Welt zu verwirklichen. Die Französische Revolution hat bei aller Unzulänglichkeit einen wichtigen Anstoß gegeben zur Hinwendung zum demokratischen Verfassungsstaat, eine große Errungenschaft für den modernen Staatsaufbau. Hier ist der Schlüssel zu suchen zur Errichtung einer Verfassung, eines Geschichts-und Staatsverständnisses, um dieses Ziel zu erreichen müssen Hegemonie und damit verbundene Herrschaftsansprüche ausgeschlossen werden.

Ein dritter großer Anlauf, die Menschheit von allem Ungemach zu befreien, unternahm der Sozialismus mit seinen unterschiedlichen Ausprägungen. Den größten durchschlagendsten Erfolg erzielte das „Kommunistische Manifest“, das von Marx und Engels im Februar 1848 in London veröffentlicht wurde. Es habe nach der Bibel weltweit die größte Auflage erzielt, ist dazu festgestellt worden. Seine Verheißung gilt allerdings nur für ein menschliches Erdenleben, von dem der Psalmist sagt: „Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, dann sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, dann ist es Arbeit und Mühe gewesen, denn es eilt schnell dahin, als flögen wir davon. (Psalm 90, Vers 10)

Das Evangelium, das der Menschheit die Erlösung durch Jesus Christus verkündet und verheißt, bietet mehr. In einem Brief an seinen geistlichen Sohn Timotheus schreibt der Apostel Paulus: „…denn die Gottesfurcht ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens“. (1. Timotheus, Kapitel 4, Vers 8)

                                                                                                       1

Einführung und Zielsetzung

Die Schaffung einer Bekenntnisgrundlage zur Organisation einer Bekennenden Kirche kann ermöglicht werden durch das Zusammenwirken der beiden großen Konfessionen, der katholischen und der zwei evangelischen Konfessionen, der lutherischen und reformierten und  der evangelischen Freikirchen, die auch in der Deutschen Evangelischen Allianz einen Zusammenschluss bilden, unter Einschluss der in der Ökumene zusammengefassten Kirchen, wozu auch die griechisch-orthodoxe Kirche gehört, aus der die russische-orthodoxe Kirche hervorgegangen ist, die dritte große christliche Konfession unter den christlichen Kirchen, die in Russland eine dominierende Stellung einnimmt und die größte der orthodoxen Kirchen bildet. Zu den weiteren großen Volkskirchen wird die anglikanische Kirche gerechnet mit der britischen Monarchie als Oberhaupt. Der amerikanische Protestantismus hat in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen durch die Verkündigung des Evangeliums durch Billy Graham, die ganze Sportstadien füllte, bis diese Erfolgsgeschichte zum Erliegen kam, weil die amerikanische Politik die Erfolge dieser Evangelisationen, politisch zu nutzen versuchte, aber die Botschaft des Evangeliums ist keine politische Botschaft, sie ist nicht auf die materiellen Reiche dieser Welt gerichtet. Die Verkündigung Billy Grahams war das größte Ereignis im evangelisch-protestantischen Raum seit der Reformation Martin Luthers.

1950 waren in Deutschland 95% der Bevölkerung Mitglied einer der beiden großen christlichen Kirchen und Konfessionen, heute ist dieser Anteil auf unter 60% gesunken, Tendenz weiter fallend. Angesichts dieser Entwicklung erweist es sich als unerlässlich, die Begründung und Aufrichtung einer in einem christlichen Bekenntnis zusammengefassten Organisation, in der sich Christen, jeder an seinem Platz in Kirchen, Orden oder Freien Gemeinden, einbringen können. Es ist jedem Menschen freigestellt, sich seine geistliche Heimat zu suchen und seine entsprechende Aufgabe zu finden.

Vorbilder sind die „Barmer Erklärung“ vom Mai 1934 auf evangelischer Seite und die Enzyklika von Papst Pius XI. „Mit brennender Sorge“, veröffentlicht 1937, auf katholischer Seite. In beiden wird dem politischen und geistigen Machtanspruch der NS-Ideologie entgegengetreten, was nicht ohne Risiko geschehen konnte.

Zunächst einige Auszüge aus der „Barmer Erklärung“:

Aus der Erklärung der Reichsbekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche in Barmen im Mai 1934.

Der folgende Text ist der Beschluss der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche, (DEK) die vom 29. Bis 31. Mai 1934 in der reformierten Kirche von Barmen – Gemarke tagte. Die Erklärung wurde veranlasst durch die zunehmenden Versuche des nationalsozialistischen Staates, auf das kirchliche Leben einzuwirken; sie wurde Grundlage der Bekennenden Kirche (BK) im evangelischen Raum:

Wir bekennen uns angesichts der die Kirche verwüstenden und damit auch die Einheit der Deutschen Evangelischen Kirche sprengenden Irrtümer der „Deutschen Christen“ und der gegenwärtigen Reichskirchenregierung zu folgenden evangelischen Wahrheiten:

1. „Ich (Jesus Christus) bin der Weg die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Joh. 14, 6).

                                                                                    2

„Amen, amen, das sage ich (Jesus Christus) euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und Räuber. Ich bin die Tür, wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden“ (Joh. 10, 1 und 9)

 

1. Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes,   das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu gehorchen und zu vertrauen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.

 

2. „Jesus Christus, den Gott für uns zur Weisheit gemacht hat, zur Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung“ (1. Kor. 1, 30).

Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.

Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu Eigen wären, in denen wir nicht der Rechtfertigung und der Heiligung durch ihn bedürfen.

 

4. „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht

     missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll

     euer Diener sein“ (Mt. 20, 25 – 26). Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen

     keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der Gemeinde

     anvertrauten und befohlenen Dienstes.

Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben oder geben lassen.

 

Die Formulierung dieser Bekenntnisschrift geht weitgehend auf den reformierten Theologen Karl Barth zurück.

Aus der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ Papst Pius‘ XI. , 1937

Pius XI. (1922-1939) bezog in einem Rundschreiben, das in fast allen katholischen Kirchen Deutschlands verlesen wurde, erstmals öffentliche Stellung gegen den Nationalsozialismus:

Ein besonders inniger Gruß ergeht an die katholischen Eltern. Ihre gottgegebenen Erzieherrechte und Erzieherpflichten stehen gerade im gegenwärtigen Augenblick im Mittelpunkt eines Kampfes, wie er schicksalsvoller kaum gedacht werden kann. Die Kirche Christi kann nicht erst anfangen, zu trauern und zu klagen, wenn die Altäre verwüstet werden, wenn sakrilegische Hände die Gotteshäuser in Rauch und Flammen aufgehen lassen. Wenn man versucht, den Tabernakel der durch die Taufe geweihten Kinderseele durch eine christusfeindliche Erziehung zu entweihen, wenn aus diesem lebendigen Tempel Gottes die ewige Lampe des Christusglaubens herausgerissen und an ihrer statt das Irrlicht eines Ersatzglaubens gesetzt werden soll, der mit dem Glauben des Kreuzes nichts mehr zu tun hat – dann ist die geistige Tempelschändung nahe, dann wird es für jeden bekennenden Christen Pflicht, seine Verantwortung von der der Gegenseite klar zu scheiden, sein Gewissen von jeder schuldhaften Mitwirkung an solchem Verhältnis und Verderbnis frei zu halten.

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Und je mehr die Gegner sich bemühen, ihre dunklen Ansichten abzustreiten und zu beschönigen, umso mehr ist wachsames Misstrauen am Platze und misstrauische, durch bittere Erfahrung aufgerüttelte Wachsamkeit.

Die Enzyklika enthält eine prophetische Vorausschau. Im darauffolgenden Jahr, im November 1938 gingen tatsächlich Gotteshäuser in Rauch und Flammen auf.

Die gesamte internationale Staatengemeinschaft hat geschwiegen, trotzdem sind gegen die katholische Kirche sehr einseitig Anklagen und Vorwürfe erhoben worden.

Das gilt besonders für Seine Heiligkeit Papst Pius XII. Er habe geschwiegen, wird oft bis in die unmittelbare Gegenwart, hervorgehoben. Verschwiegen wird ein ganz anderer Gesichtspunkt: Er hat in einem Zeitraum von vier Monaten in geheimen Verhandlungen zwischen Deutschlands Kriegsgegnern und der deutschen Widerstandsbewegung versucht zu vermitteln mit dem Ziel, dem deutschen Widerstand gegen Hitler Rückhalt von außen zu verschaffen.

Die Bemühungen sind gescheitert, weil die späteren Siegermächte gegen Deutschland von Anbeginn nie ein Interesse daran hatten, dem Widerstand in Deutschland gegen die NS-Herrschaft eine Basis zu verschaffen, so dass Sir Winston Churchill nach dem Zweiten Weltkrieg sagen konnte, der deutsche Widerstand habe von internationaler Ebene aus keinerlei Unterstützung erfahren, er sei immer auf sich allein gestellt gewesen.

Aus dem Hirtenwort der deutschen Bischöfe zur Lage der katholischen Kirche in Deutschland, 1942:

Der katholischen Kirche gab die Reichsregierung im Konkordat 1933 die Zusicherung staatlichen Schutzes zur freien Entfaltung ihres Lebens. Tatsächlich aber wurden diese Zusicherungen nicht gehalten…Die öffentliche Ausübung der katholischen Religion ist durch zahlreiche Verbote eingeschränkt. Es ist, als wenn das Zeichen Christi, das im Jahre 312 aus den Katakomben glorreich an die Öffentlichkeit treten durfte, in die Katakomben wieder zurückgedrängt werden solle…Ein Bischof hat aber nicht nur für die religiösen kirchlichen Rechte in der Volksgemeinschaft einzutreten, sondern auch für die von Gott verliehenen Menschenrechte. Ohne Achtung für diese Menschenrechte muss die ganze Kultur zusammenbrechen.

Christliche Bekenntnisgrundlagen für die Gegenwart

Die politische Situation zur Zeit der NS-Herrschaft kann für Christen nicht einfach auf die Gegenwart übertragen werden, es herrschen hier grundlegend andere Voraussetzungen, wir leben in einem demokratischen Verfassungsstaat, der für das christliche Bekenntnis eine Gefahr in sich birgt: Die Begriffe „Demokratie“ und „Toleranz“ werden dazu genutzt, um das Bekenntnis zu Jesus Christus zu verwässern und zu verstümmeln. Die Zehn Gebote gelten als ethische Grundlage des jüdischen und christlichen Glaubens, diese Gebote stehen in keinem Widerspruch zum deutschen Grundgesetz oder anderer demokratischer Verfassungen. Dennoch wird aus der Politik heraus oft der Versuch unternommen, christliche Kirchen und Gemeinden zu bewegen, Abstriche zu machen von einem eindeutigen Bekenntnis zu ethischen und dogmatischen Grundlagen des christlichen Glaubens. Eine christliche Bekennende Kirche darf und soll auch kein Feindbild gegen den Islam oder andere Religionen aufbauen. Die moslemische Seite - gewaltbereite moslemische Organisationen sind hier ausgeschlossen - vertritt ethische christliche Werte oft besser, als sie vielfach von den Christen selbst ausgeübt

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werden. Andererseits muss in einem christlichen Bekenntnis jeder Synkretismus ausgeschlossen sein. Keine Religion sollte die andere zwingen vom Bekenntnis abzuweichen; dazu dient auch der demokratische Verfassungsstaat, damit Religionen, Weltanschauungen und politische Überzeugungen sich ohne Gewaltanwendung begegnen und austauschen können. Es geht nicht darum mit einem Bekenntnis Grenzen zu setzen, es müssen aber ebenso Standards gesetzt werden, da sonst alles in Beliebigkeit endet. Verletzung dieser Standards kann nur durch die im Evangelium von Jesus Christus verheißene Gnade und Barmherzigkeit ausgeräumt werden, zu der jedes menschliche Individuum Gewissheit anstreben  sollte, da sonst ein auf Jesus Christus ausgerichtetes Leben nicht verwirklicht werden kann.

 

Folgende Artikel müssen als unabdingbar zur Erneuerung für das christliche Bekenntnis angesehen werden:

Artikel 1: Eckpfeiler des christlichen Glaubens.

Am Anfang jeder christlichen Botschaft steht die erlösende Tat, die Jesus Christus durch seinen Tod am Kreuz vollbracht hat, um die Menschheit und die gefallene Schöpfung zu erlösen und wieder aufzurichten, wie es im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom zum Ausdruck kommt im Hinblick auf Abraham, der als Gründungsvater der drei monotheistischen Religionen, der jüdischen, der christlichen und der moslemischen angesehen wird, dem darin das weitreichende Zeugnis zuteil ward: Abraham glaubte Gott, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit. Das Zeugnis wurde ihm  im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift in Genesis Kapitel 15, in den Versen 5 und 6 bestätigt, wo ihm Gott begegnet: (5) Und er ließ ihn hinausgehen und sagte: „Siehe zum Himmel und zähle die Sterne, kannst du sie zählen?“; und sagte zu ihm: „So soll deine Nachkommenschaft sein.“ (6) Und er glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit. Mit Abraham beginnt die Heilsgeschichte, zu der ein Unterschied zur allgemeinen Weltgeschichte besteht.

Eine weitere solche  Bestätigung  findet sich im christlichen Kanon der Heiligen Schrift im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom, Kapitel 4, in den Versen 23-25: (23) Das ist aber nicht allein geschrieben um seinetwillen, dass es ihm angerechnet wurde, (24) sondern auch um unsertwillen, denen es angerechnet werden soll, wenn wir an den glauben, der Jesus unseren Herrn von den Toten auferweckt hat, (25) der wegen unserer Übertretungen dahingegeben wurde und zu unserer Rechtfertigung auferweckt worden ist.[1]

Im 1. Brief des Apostels Johannes Kapitel 2 Vers 2 heißt es dazu: (2) Er ist die Versöhnung für unsere Sünden; doch nicht nur für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt.

Weiter heißt es im 1. Brief des Apostels Johannes Kapitel 4 Vers 2 und 3  dazu: (2) Daran sollt ihr den Geist Gottes erkennen: Jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus im Fleische gekommen  ist, der ist aus Gott; (3) und jeder Geist aber,  der Jesus nicht bekennt,  ist nicht aus Gott. Und das ist der Geist des Antichrist, von dem ihr gehört habt, dass er kommt; nun aber ist er schon in der Welt.[2]

[1] Nach der revidierten Übersetzung Martin Luthers, Wollerau 2009

[2] Nach der Übersetzung  von  Josef Kürzinger. (kath.) Aschaffenburg 1957

    

Artikel 2: Voraussetzung für ein Leben in christlicher Gemeinschaft.

Das Kernanliegen der Botschaft des Evangeliums ist formuliert. Darin besteht Konsens über die Konfessionsgrenzen und Denominationsgrenzen hinweg, und er muss auch bestehen, eine

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Abweichung davon beraubt dieser Botschaft jeglichen Sinn und hebt alles auf, was daraus folgen muss. Alle theologischen dogmatischen Festlegungen haben hier ihren Ursprung und müssen darauf zurückgeführt werden können. Alles, was hier nicht seinen Ursprung hat, gehört nicht in die Verkündigung dieser Botschaft. In dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom Kapitel 10 in den Versen 9 – 13 heißt es: (9) Wenn du also mit deinem Mund bekennst: Jesus ist der Herr, und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet werden. (10) Denn mit dem Herzen glaubt man, um gerecht zu werden; doch mit dem Munde bekennt man, um Rettung zu erlangen. (11) So sagt ja auch die Schrift: „Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden“. (12) Da gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden; der gleiche Herr ist der Herr aller, der reichlich allen gibt, die zu ihm rufen. (13) „Wird doch jeder, der den Namen des Herren anruft, gerettet werden“.[3]

Artikel 3: Historische Wurzeln und Grundlagen christlichen Glaubens.

Die Gesamtheit der Heiligen Schrift wird aus christlicher Sicht unterschieden in Altes Testament und Neues Testament, in einen hebräischen Kanon und einen christlichen Kanon.

Die Heilige Schrift bildet als Ganzes dennoch eine Einheit. In der christlichen Theologie wird unterschieden zwischen Weltgeschichte und Heilsgeschichte.

In der christlichen Kirchengeschichte hat es eine Theologie gegeben, die Juden und den jüdischen Glauben von der Heilsgeschichte ausschließt. Im Hinblick auf Martin Luthers Credo „solas scripturas“ (allein die Schrift) ist es eine verkehrte Interpretation, denn der Apostel Paulus schreibt in einem Brief an die Gemeinde in Rom in Kapitel 11, in den Versen 16 – 18, wo gleichnishaft von einem Ölbaum, der Israel als Wurzel und Stamm repräsentiert, gesprochen wird: (16) …ist der Anbruch heilig, so ist auch der Teig heilig; und so die Wurzel heilig ist, so sind auch die Zweige heilig. (17) Ob nun etliche von den Zweigen ausgebrochen sind, und du, der du ein wilder Ölbaum warst, bist unter sie gepfropfet und teilhaftig worden der Wurzel und des Saftes im Ölbaum, (18) so rühme dich nicht wider die Zweige. Rühmest du dich aber wider sie, so sollst du wissen, dass du die Wurzel nicht trägest, sondern die Wurzel trägt dich.[4]

Ohne die Geschichte Israels im Zeitraum der Antike, ist christlicher Glaube nicht vorstellbar und auch nicht darstellbar, und das Fundament zur Ausbreitung des christlichen Glaubens in alle Welt wurde im ersten Jahrhundert nach Christus von jüdischen Menschen gelegt. Diese historische Tatsache ist unumstößlich, diese Tatsache wird vom Apostel Paulus, der den größten Anteil zur Ausbreitung des Evangeliums für sich in Anspruch nehmen kann, gestützt und Eingangs des Briefes an die Gemeinde in Rom bekräftigt in Kapitel 1, Verse 1 – 4: (1) Ich, Paulus, Knecht (= Diener) Christi Jesu, bin durch Berufung zum Apostel ausgesondert (eigens dazu bestellt), die Heilsbotschaft Gottes zu verkündigen, (2) die Er (d. h. Gott) durch seine Propheten in (den) Heiligen Schriften im Voraus verheißen hat, (3) nämlich (die Heilsbotschaft) von seinem Sohne. Dieser ist nach dem Fleische[5] aus dem Samen Davids (= Nachkommenschaft) hervorgegangen, (4) aber als Sohn Gottes in Macht erwiesen nach dem Geist der Heiligkeit auf Grund seiner Auferstehung aus den Toten….[6]

Wenn hier vom Sohne Gottes die Rede ist, dann ist die Dreieinigkeit Vater, Sohn und Heiliger Geist angesprochen, dogmatischer Grundpfeiler christlicher Lehre. Es hat zu diesem Dogma

             

[3] Nach der Übersetzung  von Paul Riessler und Rupert Storr  (kath.) Limburg an der Lahn. 1956

[4] In der Übersetzung nach Martin Luther, Stuttgart 1954.

[5] d. h. nach seiner leiblichen Natur und menschlichen Herkunft.

[6] Übersetzung nach Hermann Menge (ev.).

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viele Missverständnisse gegeben. Es wurde darin die Wiedereinführung des Polytheismus gesehen, selbst in der christlichen Kirchengeschichte hat es dazu leidvolle Kontroversen gegeben.

Ein Bild dazu kann den Weg zu einem besseren Verständnis ebnen mit einer Erläuterung am Bild der Sonne, sie erfüllt drei wichtige Funktionen: Durch einen Kernverschmelzungsprozess, in dem Wasserstoffatome zu einem Heliumkern verschmelzen. Durch diesen Prozess der Kernfusion wird Energie erzeugt, die in Licht und Wärme ihren Ausdruck findet. Ein Prozess, der die Atomforschung zur Nachahmung antreibt, um dann einfach aus Wasser Energie zu gewinnen. In der Sonne vollzieht sich ein physikalischer Vorgang, der zugleich Licht und Wärme erzeugt. Alle drei Bereiche können einen gesonderten Zweig physikalischer Forschung bilden: Die Lehre vom Licht, der Optik, die zu großer und besonderer Bedeutung in der Weltraumforschung geworden ist und die Wärmelehre, die in der metallverarbeitenden Industrie durch die Ermittlung des Wärmekoeffizienten für die verschiedenen Metalle und Legierungen von Bedeutung ist.

Obwohl diese drei Wissenschaftszweige der Physik jeweils einer gesonderten Forschung unterzogen werden können, sind sie in der Sonne dennoch untrennbar miteinander verknüpft, das eine ist ohne das andere nicht denkbar, eben eine Dreieinigkeit.

Es ist nicht abwegig, von den jüdisch-christlichen Grundlagen der europäischen Kultur-und Geistesgeschichte zu sprechen. Abwegig ist es aber, wenn Menschen, die sich auf jüdisch-christliche Grundlagen berufen, sich zusammenfinden und gemeinsam demonstrieren mit Menschen, die mit der NS-Ideologie sympathisieren. Roland Freisler, der mit viel Geschrei am „Volksgerichtshof“ diejenigen abgeurteilt hat, die sich dem Widerstand vom 20. Juli 1944 gegen die NS-Herrschaft angeschlossen hatten, hat es auf den Punkt gebracht. Von ihm ist die Aussage überliefert, Nationalsozialismus und Christentum schlössen einander aus, aber beide verlangten den ganzen Menschen.

Artikel 4. Verschiedene christliche Konfessionen und Denominationen.

Die bisher formulierten Bekenntnisgrundlagen schließen ein breites Spektrum christlicher Konfessionen und Freier Gemeinden ein. Immer hat es Absetzbewegungen gegeben, sich von der Masse der Volkskirchen und großen Konfessionen zu lösen. Im Bereich der katholischen Kirche geschah dies durch Ordensgründungen, im evangelischen Bereich durch die Gründungen von Freikirchen und charismatischen Gemeinden, die in Deutschland in der Deutschen Evangelischen Allianz einen losen Zusammenschluss bilden. Besonders augenfällig ist das im angelsächsischen Raum. Dazu gehört die Gründung der Methodistenkirche durch Jan Wesley (1703 – 1791), Vorbild für viele evangelikale Ausrichtungen im Bereich innerhalb und außerhalb der anglikanischen Kirche. In Preußen hatte der Pietismus Ausbreitung gefunden, wofür der Name Nikolaus Graf Zinzendorf steht.

Die Puritaner, die sich in Gegensatz zur anglikanischen Staatskirche gesetzt hatten und in die Neue Welt entflohen, um in Freiheit ihre Glaubensrichtung zu verwirklichen. Die „Mayflower“, die 1620 mit den „Pilgervätern“ so nach Amerika gelangte, bildet ein Identität stiftendes Merkmal in der amerikanischen Geschichte, insbesondere des amerikanischen Protestantismus. Die Bezeichnung WAPS (White Anglosaxon Protestant Sociaty) ist dafür kennzeichnend. Die Puritaner erfochten am Ende der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts unter Führung von Oliver Cromwell (1649 – 1658) den Sieg des Parlamentarismus über den absolutistischen

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Machtanspruch der Monarchie, die sich zuvor auf ein Gottesgnadentum berufen hatte. 1649 wurde König Karl I. (1625 – 1649) enthauptet.

Die Entwicklung endete 1688 mit der „Glorious Revolution“, eine Entwicklung der Zweigleisigkeit einer geistlichen, glaubensmäßigen und einer politischen Linie. Anders die Reformation Martin Luthers. Die Bauern hatten, bevor die  Auseinandersetzungen 1525 in kriegerische Gewaltexzesse mündeten, in „Zwölf Artikeln“ politische Forderungen erhoben, deren Berechtigung Martin Luther nicht in Abrede stellte, er verwahrte sich aber dagegen, diese Forderungen mit der Verkündung des Evangeliums gleichzusetzen. Erst als die Bauern ihre Forderungen mit exzessiver kriegerischer Gewalt durchsetzen wollten, was auch auf eine unmenschliche Unterdrückung zurückzuführen war, stellte sich Martin Luther gegen sie in einer Weise, die bis heute umstritten ist.

Herausgehoben werden müssen die Baptistengemeinden und die charismatischen Christengemeinden, die der Kindertaufe, wie sie in den großen christlichen Konfessionen ausgeübt wird, mit Ablehnung gegenüberstehen. Die Taufe durch völliges Untertauchen, steht für das Begraben sein des vorherigen alten Lebens und durch Auftauchen den Wiederaufstieg in ein neues Leben, wie es im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom in Kapitel 6, Verse 1 – 4 anschaulich gemacht wird: (1) Was folgt daraus? Sollen wir in der Sünde etwa verharren, damit die Gnade umso reichlicher werde? (2)  Keineswegs! Wie sollten wir, nachdem wir der Sünde abgestorben sind, noch in ihr leben? (3) Solltet ihr das wirklich nicht wissen, dass wir alle, die wir auf Jesus Christus getauft sind, auf Seinen Tod getauft sind? (4) Wir sind also durch die Taufe auf den Tod mit ihm begraben, damit auch wir in einem durchaus neuen Leben wandeln, wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt ward.[7] Die Kindertaufe darf damit aber nicht herabgemindert werden, ihr kann ebenso heilswirksame Bedeutung beigemessen werden, wenn sie von Eltern und Paten mit Ernst und Verantwortung vollzogen wird.

Was besondere Beachtung verdient, ist das Sakrament der Beichte in der katholischen Kirche, weil hier durch das Beichtgeheimnis ein Vertrauen geschaffen wird, das sonst nur schwer zu erreichen ist.

Die katholische Kirche macht die Heilswirksamkeit der gespendeten Sakramente von den dafür bestellten Amtsträgern abhängig. Diese Grundbedingung wurde durch die Reformation Martin Luthers aufgehoben, der das allgemeine Priestertum aller Gläubigen verkündete.

Die Umkehr von einem fehlgeleiteten Weg in der Abkehr von den Geboten Gottes, der durch Gnade und Barmherzigkeit in der Hinwendung zu diesen Geboten eine Erneuerung bewirken kann in einer ernst gemeinten Umkehr, die im inneren des Menschen und auch in einer nach außen bekannten Umkehr bestehen muss. Diese Botschaft und Möglichkeit der Umkehr durchzieht den hebräischen und christlichen Kanon der Heiligen Schrift.

In dem 1. Brief des Apostels Johannes im 1. Kapitel, in den Versen 5 – 10 heißt es dazu: (5) Und dies ist die Botschaft die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: „Gott ist Licht und keinerlei Finsternis ist in ihm (oder an ihm).“ (6) Wenn wir behaupten, Gemeinschaft mit ihm zu haben, und dabei doch in der Finsternis wandeln, so lügen wir und halten uns nicht an die Wahrheit. (7) Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft miteinander, und das Blut seines Sohnes Jesus macht uns von aller Sünde rein. (8) Wenn wir behaupten, keine Sünde zu haben, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns; (9) wenn wir (aber) unsere Sünden bekennen (= eingestehen), so ist er getreu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns von aller Ungerechtigkeit reinigt. (10)

                      

[7] Übersetzung Riessler/Storr (kath.)

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Wenn wir aber behaupten, nicht gesündigt zu haben, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.[8]

In diesen Worten zieht noch einmal das zentrale Anliegen der Botschaft, wie sie im hebräischen  christlichen Kanon der Heiligen Schrift ihren Ausdruck findet, an den Menschen vorüber. Alle anderen dogmatischen und organisatorischen Unterschiede sollten dahinter zurücktreten und nicht zum Streitgegenstand mit ausschließender Wirkung gemacht werden.

In Südamerika, besonders in Brasilien, haben charismatische Gemeinden großen Zulauf. Unter Papst Johannes Paul II. öffnete sich die katholische Kirche, die sich in der Geschichte durch zentralistische, straff geführte Hierarchie eine Einheit bewahrt hat, dieser Glaubensbewegung, eine Haltung, die auch unter Papst Benedikt XVI. fortgesetzt wurde. Die charismatischen Gemeinden, auch als Pfingstbewegung bezeichnet, verkünden, Gott sei unwandelbar und offenbare sich in der Gegenwart, wie es im hebräischen und christlichen Kanon zur Darstellung gelangt, das bezieht sich auch auf das Pfingsterlebnis, wie es in der Apostelgeschichte im 2. Kapitel geschildert wird, wo Menschen plötzlich in einer ihnen unbekannten Sprache reden.

Artikel 5: Der europäische Raum als christlicher Raum.

Europa gründet sich auf zwei Eckpfeiler, die bestimmend waren für seinen historischen Verlauf: Die jüdisch-christliche Welt und die griechisch-römische Antike. Das erste wird gebildet durch ein ethisches Fundament und eine dogmatische Glaubenswelt, das zweite durch ein wissenschaftliches Fundament. Der christliche Glaube ist aus der Geschichte Israels zur Zeit der Antike hervorgegangen, während alle Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis und Forschung, soweit sie bestimmend waren für die europäische Geschichte,  ihren Ursprung in der griechischen Antike haben, wie Philosophie, Physik, Geographie, Historiographie, Mathematik und Medizin. Im Griechenland der Antike hat auch die Botschaft des Evangeliums im 1. Jahrhundert nach Christus zuerst Fuß gefasst.

Das weströmische Reich mit Rom als Mittelpunkt erlag 476 dem Ansturm der Germanenstämme, die sich in den nachfolgenden Jahrhunderten dem Christentum zuwandten, bis eine Erneuerung des römischen Staatsgedankens am Weihnachten 800 durch die Kaiserkrönung Karls des Großen vollzogen wurde, gegründet auf  Christentum und Kirche, wie es von Kaiser Konstantin (306-337) in die Wege geleitet, und von Kaiser Theodosius am Ende des 4. Jahrhunderts vollendet wurde. Diese Krönung war der Gründungsakt des Heiligen Römischen Reiches, das sich auf den universalen Staatsgedanken gründete und bestimmend war für die Geschichte des Mittelalters, das in seiner zweiten Hälfte geprägt war vom dem Gegensatz zwischen Kaiser und Papst. Rassische und nationalstaatliche Konzeptionen standen in diesem Reich nicht im Vordergrund.

Das oströmische Reich mit Byzanz als Mittelpunkt überdauerte das weströmische Reich um fast tausend Jahre, bis es 1453 dem Ansturm der Türken erlag. Zuvor war es 1054 zur großen Kirchenspaltung gekommen, und die Christenheit in einen katholisch-lateinischen und einen griechisch-orthodoxen Teil  spaltete mit dem Ergebnis, dass daraus die russisch-orthodoxe

              

 

[8] Übersetzung nach Menge. (ev.)

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Kirche hervorging, und das zaristische Russland sich als Fortsetzung des byzantinischen Kaiserreiches sah.   

Im Mittelalter, bis zur Zeit der Reformation durch Martin Luther und Johannes Calvin, waren Mönche und Nonnen ein prägendes Merkmal der Kirche, sie waren Träger kultureller und wirtschaftlicher Entwicklung und der Bildung. Zu den Mönchsorden hat es im Laufe der Kirchengeschichte kritische Distanz gegeben, es sollte aber ihre historische Bedeutung nicht ausschließlich aus einem negativen Gesichtspunkt gesehen werden. Namen von Bedeutung und Auswirkung können hier genannt werden. Der gegenwärtige Papst hat seinen Namen Franziskus auf Franz von Assisi (1181-1226) zurückgeführt. Die Reformbewegung der Abtei von Cluny, zu Beginn des 10. Jahrhunderts im heutigen Frankreich gelegen, war der Ausgangspunkt bedeutender Klosterreformen. Hildegart von Bingen (1098-1179) war eine Universalgelehrte ihrer Zeit, sie wurde am 7. Oktober 2012 von Papst Benedikt XVI. zur Kirchenlehrerin erhoben. Martin Luther war Mönch des Augustinerordens, der seinen Namen auf Augustinus (354-430) einem der Kirchenväter zurückgeführt hatte.

Luther hat entscheidende Impulse für sein Glaubensleben von Johannes Tauler (1300-1361) empfangen, durch den er  mit den Schriften des Meister Eckhart (1260-1328) in Berührung kam,  die in dem Satz gipfelten: „Man soll Gott nicht außerhalb von sich selbst erfassen wollen“. Tauler und Eckart waren Dominikanermönche.

Schon vor der Reformation Martin Luthers hatte das Zeugnis des christlichen Glaubens in den Gesellschaften der Zeit starke Einbußen erlitten, zunächst durch die Machtkämpfe zwischen den Institutionen Kaiser und Papst, gegründet auf die Frage, ob die weltliche Macht sich der geistlichen Macht unterzuordnen habe. Nachhaltig geschädigt wurde das christliche Glaubenszeugnis durch die Kreuzzüge, die Ende des 11. Jahrhunderts ihren Ausgang nahmen.

Die Gegensätze wurden noch verschärft durch das Schisma im 14. Jahrhundert, das drei Päpste hervorbrachte, die sich gegenseitig mit dem Bann belegten, der Ruf nach Reformen wurde oft erhoben, führte aber zu keinem durchschlagenden Erfolg. Es begann eine Abkehr und im 15. Jahrhundert eine vermehrte Hinwendung und Rückbesinnung auf die Zeit der Antike und zum Humanismus. Naturwissenschaften entfalteten sich und stießen auf den Widerstand der Kirche.

Nikolaus Kopernikus (1473-1543) wagte es nicht seine wissenschaftlichen Erkenntnisse bei Lebzeiten zu veröffentlichen. Galileo Galilei (1564-1642) musste in einem 1616 beginnenden Prozess der katholischen Kirche gegen ihn die Ergebnisse seiner Forschungen widerrufen und wurde für die letzten Jahre seines Lebens von 1633 bis 1642 unter Hausarrest gestellt. 1979 beauftragte Papst Johannes Paul II. die Katholische Akademie der Wissenschaften, den Fall Galileo Galilei aufzuarbeiten. 1992 wurde er rehabilitiert. 

In das Verlangen nach einer Kirchenreform, die ausgeblieben war, stieß Martin Luther mit dem Thesenanschlag am 31. Oktober 1517, der sich demnächst zum fünfhundertsten Mal jährt. Dem folgte das Konzil von Trient, das sich in drei Sitzungsperioden von 1545 bis 1563 erstreckte. Es war eine Reformbewegung als Reaktion auf die Lehren der Reformation.

Im 16. Und 17. Jahrhundert wurde der Westen Europas von Glaubenskriegen und Verfolgungen heimgesucht, eine Entwicklung, wie sie den Kirchen des Ostens erspart blieb. Seit Ende des 17. Jahrhunderts gewann die protestantische Bewegung des Pietismus besonders in Preußen Einfluss, nachdem sie aus dem Westen Deutschlands vertrieben worden war. Aufmerksamkeit über die Grenzen Preußens hinaus erregten die von August Hermann Francke gegründeten

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„Halleschen Waisenhäuser“, eine Bildungseinrichtung, die unabhängig vom gesellschaftlichen Stand, Schülern offen war. Zar Peter der Große (1672-1725) hatte eigens eine Abordnung nach Halle entsandt, um Informationen über diese Bildungseinrichtungen zu erlangen.

Mit der Entdeckung Amerikas 1492 begann die von Europa ausgehende Kolonialherrschaft, die unter christlichen Vorzeichen betrieben wurde in einer Weise, die mit den ethischen und dogmatischen Grundsätzen des Evangeliums von Jesus Christus keine Gemeinsamkeiten aufwies, was den Dichter Theodor Fontane (1819-1898) zu der Aussage veranlasste: „Sie sagen Christus und meinen Kattun.“ Der Satz könnte für die politische Gegenwart umgewandelt werden und heißen: Sie sagen Demokratie und Freiheit und meinen Öl und Rohstoffe.

Eine andere Entwicklung in Europa ist gekennzeichnet durch die absolutistische Monarchie, die sich auf ein Gottesgnadentum berief, und damit die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft ein weiteres Mal in Zweifel zog. Die Folge war eine Abkehr und Hinwendung zur Aufklärung, die in der Französischen Revolution ihren Ausdruck fand, und in der Forderung nach einem demokratischen Verfassungsstaat gipfelte.

Im 19. Jahrhundert kam die „Soziale Frage“ hinzu, die 1848 zu einem Höhepunkt gelangte in der Veröffentlichung des „Kommunistischen Manifestes“ im Februar 1848 durch Marx und Engels.

Hinrich Wichern (1808-1881) hatte hierzu die „Innere Mission“ gegründet aus der Erkenntnis heraus, dass die christliche Mission im Innern beginnen müsse, bevor sie nach außen getragen werde. Demokratischer Verfassungsstaat und das Aufwerfen der sozialen Frage, so hatte Hinrich Wichern gemeint, hätte aus den Reihen der christlichen Kirchen kommen müssen und nicht von den Gegnern des Christentums.

Auf katholischer Seite muss hier besonders Adolph Kolping (1813-1865) hervorgehoben werden, der sich der sozialen Frage zuwandte, nachdem er als Schuhmachergeselle auf der Wanderschaft die menschenunwürdigen Lebensbedingungen der meisten Handwerksgesellen kennengelernt hatte. Im Alter von 24 Jahren begann er einen neuen Lebensweg, besuchte ein Gymnasium, studierte Theologie und wurde im April 1845 zum Priester geweiht. Als Domvikar in Köln gründete er den ersten Gesellenverein, der schnell anwuchs auch über die rheinischen Grenzen hinaus, um durch Gründung von Gesellenhospizen, das Leben der Handwerksgesellen zu erleichtern und ihre sozialen Lebensumstände zu verbessern.

Die Abkehr verstärkte sich im 20. Jahrhundert. Im Ersten Weltkrieg wurde auf beiden Seiten mit theologischen Argumenten gekämpft, um herauszufinden, wer den allmächtigen Gott auf seiner Seite hätte. Das zentrale Anliegen der christlichen Botschaft, die Versöhnung zwischen Gott und Mensch und die Versöhnung der Menschen untereinander, hatte darin keinen Platz. Das Ergebnis war ein rasanter Säkularisierungsprozess nach dem Krieg, bei Siegern und Verlierern gleichermaßen.

Die Abkehr erreichte ihren nie dagewesenen Höhepunkt in der nationalsozialistischen Ideologie, die sich durch und durch mit heidnischen Symbolen umgab, wie es in der Geschichte, besonders im europäischen Raum, als ein Novum angesehen werden musste. Der christliche Widerstand dagegen erwies sich als zu schwach, um das daraus folgende Unheil zu verhindern.

Der europäische Raum im weitesten Sinne hat sich in seinem unterschiedlichen Verlauf als christlich verstanden, aber mit seinem Herrschaftsanspruch dem christlichen Glaubenszeugnis

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schweren Schaden zugefügt. Es handelt sich um ein weitgespanntes Europa: Russland ist mit allen Wurzeln und Fasern seiner Geschichte eine europäische Nation, und auch Amerika ist aus der europäischen Geschichte hervorgegangen.

Dieses Europa auf der Grundlage der christlichen Botschaft zu erneuern muss mit einem Bekenntnis des Versagens in der europäischen Geschichte einhergehen, wenn der Maßstab, den das ethische Fundament des Evangeliums voraussetzt, Erfüllung finden soll.

Am Beispiel der gegenwärtigen Situation in Afrika lässt sich das erläutern. Afrika war immer einem Ausbeutungsprozess unterworfen, es sei nur an den Sklavenhandel erinnert, ein besonders grausames Unterfangen in der Menschheitsgeschichte. Dieser Ausbeutungsprozess findet seine Fortsetzung in einem Raubzug, den die großen Industrienationen gegenwärtig auf dem afrikanischen Kontinent betreiben, da wird den ärmsten der Armen das letzte Hemd ausgezogen. Bundespräsident Horst Köhler hat als Präsident des IWF diesbezüglich einige Erfahrungen sammeln können, was ihn zu der Aussage veranlasste: „Die Menschlichkeit dieser Welt entscheidet sich am Schicksal Afrikas.“

Europa ist Afrika verpflichtet, vergleichbar der deutschen Verpflichtung gegenüber Israel und der jüdischen Gemeinde vor einem historischen Hintergrund.

Die gesamte europäische Geschichte ist von einem Selbstzerfleischungsprozess durchzogen, der schließlich im 20. Jahrhundert zu zwei weltumspannenden Kriegen geführt hat, die das „alte“ Europa in die Bedeutungslosigkeit geführt hat. Eine Entwicklung, die sich fortsetzt in Bedrohungsszenarien. Wer sich nach 1990 der Überzeugung hingab, die Blockbildung des Kalten Krieges sei überwunden, sieht sich getäuscht. Atomare Bewaffnung wird bereitgestellt und offen damit gedroht. Ein dritter Waffengang der europäischen Völker untereinander bedeutete den endgültigen Absturz in einen Abgrund ohne Wiederkehr.

6. Artikel: Kreationismus

Die Auseinandersetzung zwischen christlichem Glauben und naturwissenschaftlichen Denken und Forschen hat die christlichen Kirchen, weil sich im Laufe der Zeit wissenschaftliche Erkenntnisse als unumstößlich erwiesen hatten, in die Defensive gedrängt, auch Luther hatte sich verächtlich über Nikolaus Kopernikus geäußert. Der Streit ist noch nicht beigelegt, der besonders von Amerika ausgehende Kreationismus, der Eingang gefunden hat in kirchliche und freikirchliche evangelikale Kreise im evangelischen Raum in Deutschland, lehnt die Evolutionslehre ab, zu deren führender Vertreter Charles Darwin (1809-1882) zählt. Schöpfungsgeschichte und Evolution stehen nicht im Gegensatz zueinander, was die Reihenfolge betrifft, was aber beide trennt, ist der Glaube an Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, wie es der erste Satz der Heiligen Schrift bezeugt. Der Schöpfungsbericht der Heiligen Schrift steht in der Reihenfolge: Zuerst die Pflanzen, dann die Fische des Meeres, dann die Tierwelt und schließlich der Mensch als eine gesonderte Schöpfung nach dem Bilde Gottes, der gesondert eine evolutionäre Entwicklung vollzogen hat, vom Faustkeil der Steinzeit bis zur internationalen Raumstation der Gegenwart.

Dagegen behauptet der Kreationismus, es habe in dem Zeitraum vor sechstausend Jahren keine Menschen auf diesem Planeten gegeben, oder gar die gewaltige Schöpfung des unendlichen Universums sei im Vierundzwanzigstundentakt geschehen. Alle wissenschaftliche Erkenntnis und Forschung und einschlägige Fossilienfunde mit der Möglichkeit einer Datierung sprechen dagegen. Eine Feststellung kann aber mit Sicherheit getroffen werden: Es gibt keine

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Hochkultur, die älter ist als sechstausend Jahre. Die Cheopspyramide datiert viertausendsechshundert Jahre vor Christus. Hochkulturen nahmen ihren Anfang, als dem Menschen der Odem Gottes eingegeben wurde. Wer eine jüdische Zeitung zur Hand nimmt, wird dort das Jahresdatum 5776 finden. Die jüdische Zeitrechnung wird auf Adam zurückgeführt, der aus Erde geformt und geschaffen wurde, wie geschrieben steht. Der Mensch hatte bis dahin eine Entwicklung vom Homo erectus zum Homo sapiens durchlaufen, was Höhlenfunde mit Wandmahlereinen und Werkzeugfunde beweisen.

Zwischen Adam, dem ersten Menschen, und Jesus Christus gibt es einen Unterschied, wie er im christlichen Kanon der Heiligen Schrift im 1. Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth Kapitel 15 in den Versen 44-50 beschrieben wird. (44) Es wird ein natürlicher Leib gesät, und ein geistlicher Leib wird auferstehen. Gibt es einen natürlichen Leib, dann gibt es auch einen geistlichen Leib; (45) wie auch geschrieben steht: Der erste Mensch, Adam, wurde zu einer lebendigen Seele, und der letzte Adam zum Geist der lebendig macht. (46) Aber das geistliche ist nicht das erste, sondern das Natürliche, danach das Geistliche. (47) Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch; der zweite Mensch ist der Herr vom Himmel. (48) Wie der irdische ist, so sind auch die irdischen; und wie der himmlische ist, so sind auch die himmlischen. (49) Und wie wir das Bild des irdischen getragen haben, so werden wir auch das Bild des himmlischen tragen. (50) Das sage ich aber, Brüder, dass Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererben können; auch ererbt das Verwesliche nicht das Unverwesliche.[9]

Mit großem Aufwand wird die Erforschung nach dem Ursprung des Universums und der Schöpfung betrieben. Die Suche nach dem Anfang des Universums und allen Lebens, die Suche nach dem „Urknall“. Ein Beispiel, was die Forschung auf diesem Gebiete erreicht hat und noch zu erreichen gedenkt, ist das Cern (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire) in Genf. Es ist das weltgrößte Forschungszentrum auf dem Gebiet der Teilchenphysik.

Am Cern werden der Aufbau der Materie und die fundamentalen Wechselwirkungen zwischen den Elementarteilchen erforscht, also die grundlegende Frage, woraus das Universum besteht, und wie es funktioniert. In großen Teilchenbeschleunigern werden die atomaren Teilchen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und zur Kollision gebracht, um, wie es in Goethes Faust heißt: „Zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält.“ 

Stephen Hawking ist britischer theoretischer Physiker und Astrophysiker. Er ist bekannt geworden durch populärwissenschaftliche Werke, die Millionenauflagen erzielten. Aufsehen hat sein Buch erregt: „Gibt es Gott?“

Er ist der Überzeugung, die Wissenschaft habe bessere und überzeugendere Erklärungen anzubieten, als den Glauben an einen Schöpfergott, und damit ist auch und gerade der Schöpfergott gemeint, wie er uns in dem hebräischen und christlichen Kanon der Heiligen Schrift vorgestellt wird oder sich vorstellt. Stephen Hawking erläutert am Aberglauben der Wikinger die Überlegenheit und Deutungshoheit der Naturwissenschaft über Religion und Glauben. Bevor Mond-und Sonnenfinsternis durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse einer rationalen Erklärung zugänglich waren, wurde dieses Ereignis bei den Wikingern als ein Streit unter den Göttern gesehen.

Es wäre aber verfehlt, die Wunder, über die in beiden Büchern der Heiligen Schrift berichtet wird, als Aberglauben abzutun. Sie sind eine Frage des Glaubens und können durch Gesetze der Naturwissenschaft nur insoweit widerlegt werden, als sie mit diesen Gesetzen nicht im Einklang stehen, sie lassen sich aber auch nicht auf naturwissenschaftlicher Basis erklären. Diese Tatsache verleitet Menschen dazu, einen Glauben auf Wunder zu begründen. Ein Glaube,

                   

[9] Nach Luthers revidierter Übersetzung, Wollerau 2009

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der auf Wunder gründet, kann keinen Bestand haben, denn ein solcher Glaube könnte erlöschen, wenn die Wunder ausbleiben.

Anders als die Gesetze, wie die zehn Gebote, gegen die der Mensch verstoßen kann, ist ein Verstoß gegen die Gesetze der Natur dem Menschen nicht möglich, es sei denn der Schöpfer dieser Gesetze befähigte ihn dazu. Die Naturgesetze der Physik oder der Mathematik kann der Mensch nur entdecken, nicht schaffen, sie waren schon vorhanden, bevor er sie entdeckte. Diese Gesetze nahmen ihren Anfang mit dem Augenblick der Schöpfung. Der erste Satz der Heiligen Schrift lautet: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde…Dieser Augenblick ist auch zugleich der Beginn von Raum und Zeit, während Gott als der Schöpfer keinem Denken in Raum und Zeit unterworfen ist. Er ist ohne Raum und Zeit und hat auch keine Ursache, anders das Geschehen in der Welt von Raum und Zeit, hier hat jedes Geschehen eine vorhergehende Ursache.

Das Alter des Universums, des Weltalls, wird von der Wissenschaft auf 13,8 Milliarden Jahre veranschlagt, darum können nur Objekte wahrgenommen werden, von denen das Licht vor 13,8 Milliarden Jahren ausgesandt wurde. Um sich die Größenordnungen der Schöpfung bewusst zu machen, werden Maße für Ausdehnungen im Universum in Lichtjahren angegeben, wobei die Lichtgeschwindigkeit 300.000 Km/h in der Sekunde beträgt. Bausteine des Universums sind die Galaxien, spiralförmig angeordnete Sternhaufen. In der Zahl und Anordnung der Galaxien wird von 100 Milliarden ausgegangen, bei einem jeweiligen Durchmesser von 3000 bis über 100.000 Lichtjahre. Die Anzahl der Sterne in einer Galaxie bewegt sich zwischen 100-300 Milliarden Sterne. Die Milchstraße ist die Galaxie, in der sich auch das Planetensystem mit der Erde und der Sonne befindet. Die Milchstraße, in besonderen Nächten mit dem menschlichen Auge sichtbar, durchzieht als weißes Band den Nachthimmel. Als Spiralnebel hat sie einen Durchmesser von 100-120 Lichtjahren. Die Dicke bewegt sich als flache Scheibe seitlich betrachtet an den Enden bei 3000 und in der Mitte bei 16000 Lichtjahren. Der nächste Nachbar zur Milchstraßengalaxie ist die Andromedagalaxie mit einem Durchmesser von 140.000 Lichtjahren und einer Entfernung von 2,6 Millionen Lichtjahren von der Milchstraßengalaxie. Die Andromedagalaxie ist bei entsprechenden Lichtverhältnissen mit dem menschlichen Auge sichtbar. Es ist zugleich die weiteste Entfernung, die für das menschliche Auge ohne optische Hilfsmittel wahrgenommen werden kann. Das Licht, das so sichtbar wird, ist vor 2,6 Millionen Jahren abgesandt worden zu einem Zeitpunkt, als der Mensch in seiner evolutionären Entwicklung sich anschickte, den aufrechten Gang zu erlernen. Die größte Entfernung im Universum beträgt 13,8 Milliarden Lichtjahre. Es gibt für dieses Universum keinen „Rand“ und auch keinen Mittelpunkt. Dem Menschen ist es inzwischen gelungen, einen Blick zu werfen in die makrokosmische Welt der Planetensysteme und Galaxien und die mikrokosmische Welt der Moleküle, atomaren und subatomaren Teilchen. Seit Albert Einstein liegt die Erkenntnis vor, dass Zeit relativ ist. In Genesis Kapitel 29 Vers 20 wird berichtet wie Jakob dem Laban um dessen jüngste Tochter Rahel sieben Jahre diente. (20) Und so diente Jakob sieben Jahre um Rahel, und es kam ihm vor, als wären es einzelne Tage, so lieb hatte er sie. Es gibt auch die andere Seite: Ein Erdbeben, mit oft verheerenden Folgen, dauert nur wenige Minuten und manchmal nicht einmal eine Minute. Menschen, die im Zentrum eines solchen Bebens überlebt haben, berichten übereinstimmend, die Zeit sei ihnen wie mehrere Stunden vorgekommen.

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Gibt es einen Gott? So fragt Stephen Hawking. Er hält den Gedanken an einen Schöpfer des Universums und allen Lebens für überflüssig und sieht in der Wissenschaft eine ausreichende Erklärung über Sinn und Ziel des Lebens, das dann auch nach diesem kläglichen Erdendasein endet. Was ist eingängiger? Der Glaube an einen Schöpfer, der das von ihm geschaffene lenkt oder eine Weltsicht, die letztlich in allem ein Zufallsprodukt sieht, denn es gibt nur diese andere Möglichkeit, wenn der Gedanke an einen lenkenden Schöpfergott ausgeklammert werden soll.

Der griechische Philosoph Epikur (341-271 v. Chr.) führte alles auf Atome zurück, die im Weltall herumschwirren, sich fanden und passend ineinander hakten, wobei die Herkunft dieser Atome weiter ungeklärt blieb. Um diesen Fragenkomplex aufzulösen, sind Glaube und Offenbarung nicht erforderlich, es kann alles auf die Ebene menschlicher Vernunft zurückgeführt werden, was sich auch wesentlich einleuchtender darstellt.

Papst Benedikt XVI. hat sich mit der Äußerung zu diesem Fragenkomplex vernehmen lassen und festgestellt, ohne Gott funktioniert das System nicht. Hier wäre ein Weg aufgezeigt, die Deutungshoheit von der Wissenschaft auf die Theologie zu übertragen, wobei Voraussetzung sein muss, dass ein jeweiliger Eingriff in den Bereich des anderen von der nötigen Kompetenz begleitet wird.

In der Heiligen Schrift selbst nimmt der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Rom Stellung im 1. Kapitel von den Versen 18-23. (18) Wird doch enthüllt, wie Gott vom Himmel her zürnte über alle frevelhaften und ungerechten Menschen, die die Wahrheit niederhalten mit ihrer Ungerechtigkeit. (19) Denn was an Gott erkennbar ist, ist ihnen wohlbekannt, Gott selber hat es ihnen offenbart. (20) Denn was an Ihm unsichtbar ist, wird von den Geschöpfen durch Nachdenken seit Erschaffung der Welt erkannt: Seine ewige Allmacht und Göttlichkeit. Darum sind sie unentschuldbar. (21) Denn sie erkannten zwar Gott, verherrlichten ihn aber nicht als Gott und dankten Ihm auch nicht. Vielmehr gerieten sie in ihrem Denken auf Torheiten, und ihr unverständiges Herz ward verfinstert. (22) Sie gaben sich als Weise aus und waren doch Toren geworden: (23) sie vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit dem Abbild der Gestalt eines vergänglichen Menschen, von Vögeln, vierfüßigen und kriechenden Tieren.[10]

Alles was der Mensch als Ebenbild Gottes schafft ist geistigen Ursprungs wie das Formen eines Stoffes. Um einen Stoff zu formen, ist der Mensch befähigt auf geistigem Wege die entsprechenden Werkzeuge herzustellen. Den Stoff selber kann er nicht schaffen, er ist gegeben und vorhanden. Darüber hinaus ist der Mensch befähigt rein geistige Produkte zu erzeugen.

[10] Nach der Übersetzung von Riessler/Storr (kath)


Artikel 7 Christentum und deutsche Geschichte in ihrem Kontext

 

a) Sozialpolitische und sozialehtische Sicht

Der christliche Glaube in seinen vielfältigen Ausprägungen hat tiefe Wurzeln in der deutschen Geschichte in Gnade und Gericht. Der letzte Einschnitt hierzu in weltgeschichtlichem Ausmaß war die Reformation Marin Luthers (1483 -1546), die besonders darin bestand, die Ausbreitung des Wortes Gottes durch seine Bibelübersetzungen in bis dahin nie gekanntem Ausmaß zu vollbringen. Aber es gab in der deutschen Geschichte auch Gegenbewegungen.

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Dem Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900) wird in seinen Schriften ein brillanter Stil, vergleichbar dem Stil Martin Luthers, nachgesagt. Von ihm stammt auch der ziemlich verwegene Satz: „Gott ist tot.“

Die Reformation Martin Luthers wäre beinahe an der sozialen Frage gescheitert, viel hatte nicht gefehlt und die Bauernkriege um 1525, wenige Jahre nach dem Thesenanschlag am 31. Oktober 1517, hätten alles zum Einsturz gebracht. Der Thesenanschlag, der eigentliche Auslöser der Reformation, enthielt keine auf gesellschaftliche und soziale Veränderungen abzielende Forderungen. Die Bauern hatten entsprechende Forderungen in „Zwölf Artikeln“ formuliert, von denen sich Luther insoweit distanzierte, als er es ablehnte, soziale und politische Bestrebungen mit der Verkündung des Evangeliums gleich zu setzen.

In seiner „Zwei-Reiche-Lehre“ unterscheidet Luther das Reich des Glaubens von den politischen Reichen dieser Welt. Luther ging es ausschließlich um eine Reform des Glaubens, was nicht mit völliger politischer Abstinenz gleichzusetzen ist. Luther hat auch nicht einseitig das Vorgehen der Bauern, das sich oft in besonders bestialischen Racheakten vollzog, verurteilt. Er hat auch die Obrigkeiten der Zeit auf das Schärfste ermahnt, was gerne, je nach politischem Standpunkt, übersehen wird.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trat im Zuge der industriellen Entwicklung die Soziale Frage drängend und unübersehbar in das gesellschaftliche Leben der Zeit. Zuvor hatte ein weiteres historisches Ereignis von weltgeschichtlichen Dimensionen, ausgelöst durch die Französische Revolution 1789, seinen Verlauf genommen, die in der Forderung nach einem Staatsaufbau auf verfassungsrechtlichen Grundlagen bestand. Aus der Christenheit kam kein nennenswerter Beitrag zur notwendigen Reform des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Die Revolution selbst war zeitweise sogar bemüht, das Christentum überhaupt zu beseitigen. Die christlichen Kirchen hatten zuvor dem Missbrauch absolutistischer Herrscher, die sich auf ein von Gott begnadetes Herrscherrecht beriefen, wenig entgegengesetzt. Die drei markanten Begriffe „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ hätten auch der Botschaft des christlichen Evangeliums entnommen werden können. Die Französische Revolution erwies sich als politisches Experimentierfeld verschiedener gesellschaftlicher und verfassungsrechtlicher Entwürfe, begleitet von exzessiver Gewalt, die schließlich in die napoleonische Herrschaft mündete. Es vergingen mehr als hundert Jahre, bis sich demokratische Verfassungsstrukturen festigten.

Ein erster ernst zu nehmender Versuch wurde in Deutschland 1848/49 mit der Gründung der Frankfurter Nationalversammlung unternommen. Es war der Versuch ein einiges Deutschland auf demokratischer und verfassungsrechtlicher Grundlage zu schaffen, nachdem solche Hoffnungen auf dem Wiener Kongress 1815 zunichte gemacht worden waren, wo nach Revolution und Krieg Frankreich niedergerungen worden war und eine europäische Neuordnung ausgehandelt wurde. Deutschland erreichte seine Einheit erst nach drei Kriegen durch die Politik des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck (1815-1898): 1864 gegen Dänemark, 1866 zwischen Preußen und Österreich und schließlich 1870/71 gegen Frankreich. Um diese drei Kriege hat es Darstellungen und Interpretationen gegeben, die in ihrem Ergebnis besonders nach dem Zweiten Weltkrieg einen Ausgang nahmen, die einem auf Versöhnung ausgerichteten Geschichtsverständnis nicht dienlich waren. Eine Geschichtsbetrachtung, die das Prinzip von Schuld und Vergeltung in den Vordergrund stellt, daran hat sich in Jahrzehnten wenig geändert, obgleich  historische Fakten eine andere Betrachtungsweise  erlauben und ermöglichen, andere Wege zu beschreiten.

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Es beginnt mit der irreführenden Darstellung, Bismarck habe zielstrebig die Einheit Deutschlands durch die genannten drei Kriege herbeigeführt. Nicht einer dieser drei Kriege ist von Bismarck begonnen worden, eben so wenig stimmt die Behauptung, dem 1871 gegründetem Reich habe die demokratische Legitimation gefehlt. Das Wahlrecht zum Reichstag der Kaiserzeit war ausgesprochen fortschrittlich im Kontext der Zeit, es war frei, gleich, geheim und direkt, und der föderalistische Staatsaufbau hat sich fortgesetzt in der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg und in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, so wie er mit der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 begonnen hatte. Der Reichstag hatte das Budgetrecht und das Gesetzgebungsrecht, und kein anderes Verfassungsorgan konnte am Reichstag vorbeiregieren.

Die deutsche Geschichte ist in ihrer Gesamtbetrachtung eingeteilt worden in Erstes, Zweites und „Drittes Reich“. Alle die genannten Zeitabschnitte und Reichsgründungen hatten keine Gemeinsamkeit, auch wenn die Bezeichnungen eine auf Kontinuität ausgerichtete Entwicklung schließen lassen.

Das Erste Reich gründete auf den universalen Staatsgedanken, wenngleich die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches zumeist deutschen Herrscherhäusern entstammten, so war das nicht zwingend, jedes andere Herrscherhaus im Bereich des weströmischen Staatsverständnisses hätte diesen Platz einnehmen können. Die Bezeichnung „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“ ist erst mit dem Beginn der Neuzeit mit diesem Zusatz „deutscher Nation“ bedacht worden, als es in seinem Ursprung nicht mehr bestand. Kein Herrscher seit Karl dem Großen hatte in Europa eine solche Machtfülle in sich vereinigt wie Kaiser Napoleon I., der sich am 2. Dezember 1804 in Notre Dame im Beisein des Papstes zum Kaiser krönte.

Er hatte es aber abgelehnt, den universalen Staatsgedanken, wie er von Karl dem Großen begründet worden war, wo nationale oder gar rassische Gegebenheiten nicht im Vordergrund standen, zu erneuern. Ihm hatte sich die Möglichkeit geboten, die ungenutzt blieb, Tradition und Moderne miteinander zu verknüpfen.

Das Zweite Reich war ein Nationalstaat im Sinne der Zeit und wollte sich auch so verstanden wissen. Ein Nationalstaat in der Mitte Europas war mit einer besonderen Herausforderung behaftet. Wie sollte dieser Staat mit seinen nationalen Minderheiten umgehen, mit Franzosen im Westen, Dänen im Norden und besonders Polen im Osten. Ein Rückgriff auf den universalen Staatsgedanken mittelalterlicher Prägung war undenkbar.

Es wäre aber auch ungerecht, den Deutschen das Recht abzusprechen, einen Nationalstaat zu begründen. Preußen, dessen Machtstellung schließlich die deutsche Einheit herbeiführte, hatte sich zuvor nicht als Nationalstaat verstanden, es hat gegenüber seinen polnischen Bevölkerungsteilen keine rücksichtslosen Eindeutschungsversuche unternommen.

Das Zweite Reich hatte zwei innenpolitische Erschütterungen zu überwinden: Die soziale Frage, die mit der aufkommenden Sozialdemokratie drängend in den Vordergrund rückte und dem Kulturkampf, der in einem Ringen mit der katholischen Kirche bestand, und das Reich noch einmal in ferne Zeiten entrückte, was in dem markigem Satz Bismarcks im Reichstag seinen Niederschlag fand: „Nach Canossa gehen wir nicht.“ Der Kulturkampf fand ein Ende und der Streit wurde beigelegt. In Glaubensfragen stand Bismarck sehr unter dem Einfluss seiner Frau Johanna von Puttkamer, die pommerschen Pietistenkreisen entstammte. Bismarcks dezidiert protestantische Haltung hat hier ihren Ursprung.

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In der sozialen Frage verliefen die Gegensätze nicht so glimpflich. Der Kampf mit der Sozialdemokratie erreichte 1878 mit dem Sozialistengesetz seinen Höhepunkt. Die Sozialdemokratie, die sich 1875 auf dem Kongress in Gotha zu einer Einheit fand, wurde in ihrer Tätigkeit empfindlichen Einschränkungen unterworfen, durfte aber weiter an Reichstagswahlen teilnehmen, und steigerte ihren Stimmenanteil von 7,6% im Jahre 1878 auf 19,8% im Jahre 1890 dem Ende des Sozialistengesetzes, weil es vom Reichstag entgegen der Absicht Bismarcks nicht erneuert wurde.

Die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts markieren die Einführung der Sozialgesetzgebung in der Krankenversicherung, Unfallversicherung und Rentenversicherung. Es ist oft behauptet worden, Bismarck habe diese Gesetzgebung auf Druck der wachsenden Sozialdemokratie eingeführt. Sollte er tatsächlich diese Absicht verfolgt haben, so erwies sich dieser Versuch als ein Fehlschlag. Bismarck hatte sich aber schon viel früher der sozialen Frage zugewandt. Er hatte sich mehrfach mit Ferdinand Lassalle getroffen, bevor dieser im Mai 1863 den ADAV (Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein) gründete. In der Reichstagsdebatte am 17. September 1878 zur Vorlage des Sozialistengesetzes fand Bismarck lobende Worte für Ferdinand Lassalle.

Im Juni 1863 folgte dann die Gründung des VDAV (Vereinigung Deutscher Arbeitervereine), der marxistisch ausgerichtet war, mit Wilhelm Liebknecht und August Bebel an der Spitze. Beide Parteien standen zunächst im Gegensatz zueinander, bis 1875 der Zusammenschluss erfolgte. 1890, mit dem Ende des Sozialistengesetzes, endete auch die Ära Otto von Bismarcks.

1891 formierte sich die Sozialdemokratie auf dem Kongress in Erfurt neu und gab sich den Namen SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands). Programmatisch überwog die marxistische Richtung. Ein Ereignis ließ in gravierendem Ausmaß soziale Spannungen steigen und aufrechterhalten: Der „Gründerkrach“ 1873. Erschütterungen an der Börse hinterließen einen wirtschaftlichen Niedergang, der mehr als zwanzig Jahre andauerte. Erst mit dem Ende des 19. Jahrhunderts erholte sich die Wirtschaft im Deutschen Reich spürbar, was sich auch in verbesserter Lebensqualität für die Arbeiter niederschlug, und innerhalb der SPD nicht ohne Auswirkungen blieb. Die Revolution, die den völligen Zusammenbruch des Systems nach historischen Gesetzmäßigkeiten herbeiführen sollte, war ausgeblieben, was zu einem Umdenken führte. Die „Revisionisten“ in der SPD gewannen an Einfluss, hinzu kam das Werben um die SPD, die ihren Stimmenanteil bei Wahlen kontinuierlich gesteigert hatte, bis sie 1912 zur stärksten Fraktion im Reichstag anwuchs. Von außerhalb der Partei wurde unentwegt versucht, sie für den Staat zu gewinnen, dem sie immer ablehnend gegenüber gestanden hatte.

Die katholische Kirche begegnete der sozialen Herausforderung im Mai 1891 mit der Enzyklika „Rerum Novarum“ (wörtlich: Neue Sachen) durch Papst Leo XIII., dem Arbeiterpapst, die 45 Thesen dieser Enzyklika werden durch Zitate aus dem hebräischen und christlichen Kanon der Heiligen Schrift untermauert. These 1 beginnt mit dem Satz: „Der Geist der Neuerung, welcher seit Langem durch die Völker geht, mußte, nachdem er auf politischem Gebiete seine verderbliche Wirkung entfaltet hatte, folgerichtig auch das volkswirtschaftliche Gebiet ergreifen. Viele Umstände begünstigten diese Entwicklung; die Industrie hat durch Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel und seine Produktionsweisen mächtigen Ausschwung genommen; das gegenseitige Verhältnis der besitzenden Klasse und der Arbeiter hat sich wesentlich umgestaltet; das Kapital ist in den Händen einer geringen Zahl angehäuft, während die große Menge verarmt; es wächst in den Arbeitern das Selbstbewußtsein, ihre Organisation erstarkt, dazu gesellt sich der Niedergang der Sitten“.

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Wer denkt bei diesen Sätzen nicht an die Theorie von Karl Marx von der Akkumulation des Kapitals, indem sich das Kapital ständig vermehrt und sich in immer weniger werdende Hände konzentriert, einer Entwicklung, der Marx die Verelendungstheorie gegenüberstellt mit der Folge einer steigenden Verelendung breiter Bevölkerungsschichten.

In der These 17 heißt es weiter: „Vor allem ist es die Pflicht der Arbeitsherrn, dem Grundsatz: Jedem das Seine, stets vor Augen zu behalten. Dieser Grundsatz sollte auch unparteiisch auf die Höhe des Lohnes Anwendung finden, ohne daß die verschiedenen für die Billigkeit mit zu berücksichtigenden Momente übersehen werden. Im Allgemeinen ist in Bezug auf den Lohn wohl zu beachten, daß es wider göttliches und menschliches Gesetz geht, Notleidende zu drücken und auszubeuten um des eigenen Vorteils willen. Dem Arbeiter den gebührenden Lohn vorzuenthalten, ist eine Sünde, die zum Himmel schreit. „Siehe“ sagt der Heilige Geist, „der Lohn der Arbeiter, den ihr unterschlagen habt, schreit zu Gott, und ihre Stimmen dringen zum Herrn Sabaoth“. (Aus dem Brief des Apostels Jakobus Kapitel 5, Vers 4) Die Reichen dürfen endlich unter keinen Umständen die Besitzlosen in ihrem Erworbenen schädigen, sei es durch Gewalt oder Trug oder Wucherkünste: und das um so weniger, als ihr Stand minder gegen Unrecht und Übervorteilung geschützt ist. Ihr Eigentum, weil gering, beansprucht eben deshalb um so mehr Unverletzlichkeit. Wer will in Abrede stellen, daß die Befolgung dieser Vorschriften allein imstande sein würde, den bestehenden Zwiespalt samt seinen Ursachen zu beseitigen?“

Der Gegensatz zwischen national und sozial und der damit verbundenen Begriffswelt war damit nicht beseitigt. In zwei gegenläufigen Richtungen hatten sich national und sozial aufeinander zu und aneinander vorbeibewegt, was in der Folgezeit im 20. Jahrhundert nicht ohne Auswirkungen blieb. Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 warf alles aus der Bahn, was in geordnete Bahnen hätte gelenkt werden können. Friedrich Naumann (1860-1919) hatte einen Weg gewiesen und von einem nationalen Sozialismus und einem „Volkskaiser“ als obersten Monarchen gesprochen. Er war evangelischer Theologe und christlich sozialer Politiker; gründete 1896 den „Nationalsozialen Verein“ mit einem Programm, um die Arbeiterschaft für den Staat zu gewinnen, zudem die Sozialdemokratie sich seit ihrer Gründungsphase auf Distanz gehalten hatte.

Mit der Veröffentlichung des „Kommunistischen Manifestes“ im Februar 1848 durch Marx und Engels wurde im Rahmen eines historischen unabänderlich sich vollziehenden Prozesses das Erreichen einer klassenlosen Gesellschaft beschrieben und damit die Beseitigung aller Klassenherrschaft in einer Gesellschaft, wo die Freiheit der Entwicklung des einzelnen, die Gewähr ist die freie Entwicklung aller. Als Hindernis zu diesem Ziel wurde der Privatbesitz an Produktionsmitteln gesehen, die es in die Hände des Proletariats zu überführen galt, dem gesellschaftlichen Gegenstück zur bürgerlichen Gesellschaft. Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit hatten demzufolge also ihren Ursprung in der Produktionssphäre und der Zirkulation der Arbeitserzeugnisse, während Wirtschaftskrisen und soziale Verwerfungen auch  im Bereich der Zirkulationssphäre des Geldes zu suchen und zu finden sind.

Friedrich Engels schrieb dazu in seinem „Anti-Dühring“, veröffentlicht 1877 im „Vorwärts“ in mehreren Folgen:

In der That, seit 1825, wo die erste allgemeine Krise ausbrach, geht die ganze industrielle und kommerzielle Welt, die Produktion und der Austausch sämtlicher zivilisirten Güter und ihrer mehr oder weniger barbarischen Anhängsel so ziemlich alle zehn Jahre einmal aus den Fugen.

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Der Verkehr stockt, die Märkte sind überfüllt, die Produkte liegen da, ebenso massenhaft wie unabsetzbar, das baare Geld wird unsichtbar, der Kredit verschwindet, die Fabriken stehen still, die arbeitenden Massen ermangeln der Lebensmittel, weil sie zu viel Lebensmittel produzirt haben, Bankrott folgt auf Bankrott, Zwangsverkauf auf Zwangsverkauf. Jahrelang dauert die Stockung, Produktivkräfte werden massenhaft vergeudet und zerstört, bis die aufgehäuften Waarenmassen unter größerer oder geringerer Entwerthung endlich abfließen, bis Produktion und Austausch allmählich wieder in Gang kommen. Nach und nach beschleunigt sich die Gangart, fällt in Trab, der industrielle Trab geht über in Galopp, und dieser steigert sich wieder bis zur zügellosen Karriere einer vollständigen industriellen, kreditlichen und spekulativen Steeple-chase, um endlich nach den halsbrecherischen Sprüngen wieder anzulangen – im Graben des Krachs. Und so immer von neuem. Das haben wir nun seit 1825 volle fünfmal erlebt und erleben es in diesem Augenblick (1877) zum sechsten Mal. Und der Charakter dieser Krisen ist so scharf ausgeprägt, daß Fourier sie alle traf, als er die erste bezeichnete als: crise plétorique, Krise aus Überfluß.

Was Engels hier niederschrieb, hat sich fortgesetzt, und die Welt steht solchen Erscheinungen offensichtlich hilflos gegenüber, obgleich die Widersprüche, die hier aufgezeigt werden, unübersehbar sind.

Ein Ausweg könnte in der Gegenüberstellung eines reibungslosen Austausches zwischen Sachkapital und Geldkapital bestehen, dargestellt am Zahnradmodell der Wirtschaftskreisläufe:

Die Zahnradmodelle der Wirtschaftskreisläufe

Besitzansprüche werden unterschiedlich formuliert und sind oft abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung. Besitzansprüche werden in Sachwerten oder Geldwerten ausgedrückt.

Sach- und Geldwerte sind abhängig von der Arbeitsleistung, die dafür erbracht werden muss, und sie sind abhängig von der reibungslosen Zirkulation des Geldkreislaufes und des Kreislaufes der Arbeitserzeugnisse.

Durch ein Bild mit den zwei Zahnrädern kann das anschaulich gemacht werden.

1. Zahnrad- Warenzirkulation                        2. Zahnrad- Geldzirkulation

Geistige und materielle Güter, die durch       Das Zahnrad der Geldzirkulation ist mit der

Arbeitsleistung erzeugt werden.                     Antriebswelle verbunden, und bewegt so die

                                                                               gesamten Wirtschaftskreisläufe.

Dort, wo beide Zahnräder drehend ineinander greifen, entsteht der Austausch von Geld- und Sachwerten.

Geld- und Warenzirkulation müssen aufeinander abgestimmt sein, wenn ein reibungsloser Güteraustausch und eine gerechte Verteilung der Arbeitserzeugnisse gewährleistet sein soll.

Vier Möglichkeiten gibt es, dargestellt an Zahnrädern, die sich bewegen und ineinander greifen.

1Möglichkeit: Beide Zahnräder sind gleich groß. Das Zahnrad der Geldzirkulation befindet

sich auf der Antriebswelle. Beide Zahnräder sind so in Größe und Geschwindigkeit aufeinander abgestimmt. Ein reibungsloser Güteraustausch ist die Folge.

2. Möglichkeit: Das Antriebszahnrad der Geldzirkulation ist größer als das Zahnrad der    Warenzirkulation. Es entsteht durch Geldüberhang eine Entwertung des Geldes und eine Flucht in die

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Sachwerte. Die Verteilung der vorhandenen Güter erfolgt mit steigender Geschwindigkeit bis alles aus den Fugen gerät, was im Extremfall die Rückkehr zur Naturalwirtschaft bedeuten kann.

(Inflation in Deutschland 1923 und 1948)

3. Möglichkeit: Das Antriebszahnrad der Geldzirkulation ist kleiner als das Zahnrad der Warenzirkulation. Es entsteht ein Überhang der erzeugten Güter und eine Flucht in den ständig steigenden Geldwert. Die Verteilung der erzeugten Güter verlangsamt sich, die Produktion gerät ins Stocken, bis Heere von Arbeitslosen die Straßen bevölkern. (Deflation zwischen 1929 und 1933)

4Möglichkeit: Das Antriebszahnrad der Geldzirkulation wird von dem Zahnrad der Warenzirkulation losgelöst. In dem Maße, wie sich die Geldzirkulation von der Warenzirkulation entfernt, wird der Geldwert nicht mehr auf Sachwerte bezogen. Die bunt bedruckten Geldscheine werden schließlich zu einem wertlosen Fetzen Papier. Es entstehen Geldwerte nur innerhalb einer Geldzirkulation, was schließlich dazu führt, dass selbst Milliardäre sich vor den fahrenden Zug werfen. Das Zahnrad der Geldzirkulation ist so seiner eigentlichen Funktion beraubt, dann müssen, um den gänzlichen Zusammenbruch der Wirtschaftskreisläufe zu umgehen, Ersatzzahnräder mit Ersatzantriebswellen bereit gestellt werden, als da sind: Konjunkturprogramme, Staatshilfen und Staatskredite, Ausfallbürgschaften, Schuldenschnitt und schließlich Geldschöpfung durch die Notenpresse. Geholfen haben solche Antriebsmechanismen noch nie richtig. (Heinz Drews)

Eine wesentliche Ursache wirtschaftlichen Ungleichgewichts und sozialer Verwerfung ist zumeist in einer steigenden Staatsverschuldung zu suchen. Sie stand ursächlich vor dem Ausbruch der Französischen Revolution, als die Staatsverschuldung vor 1789 in ihrem Höhepunkt den Stand der Staatseinnahmen erreichte. Adel und Geistlichkeit, die herrschenden Stände, verweigerten sich nötigen Reformen. Es war nicht das erste Mal in der Geschichte, dass Reformverweigerung sich in revolutionären Gewaltausbrüchen Bahn brach.

Ein weiteres Beispiel zu einer solchen Entwicklung bildet das russische Zarenreich. Die Verweigerung nötiger Reformen zur notwendigen Veränderung von Gesellschaft und Staatsaufbau führte 1917 zur marxistisch – leninistischen Oktoberrevolution.

Kennzeichnend für die Entwicklung der Weltwirtschaft zwischen den beiden Weltkriegen im vorigen Jahrhundert war die Staatsverschuldung, denn alle maßgeblich am Ersten Weltkrieg beteiligten Mächte waren mit einer hohen Staatsverschuldung aus dem Krieg hervorgegangen, einschließlich der Vereinigten Staaten von Amerika, die schließlich den Ausgang des Krieges entschieden hatten. Die Vereinigten Staaten waren Hauptgläubiger der interalliierten Kriegsschulden durch die Aufnahme von Schulden durch Frankreich und Großbritannien in Amerika. Dazu einige Zahlen, um sich mit den Größenordnungen vertraut zu machen. Das deutsche Kaiserreich hatte durch Anleihezeichnungen eine Kriegsschuld von 154 Milliarden Goldmark aufgehäuft. Dem stand eine Reparationsforderung der Siegermächte des Ersten Weltkrieges, vor allem Frankreichs und Großbritanniens durch das Londoner Schuldenultimatum vom Mai 1921 gegenüber mit einer Forderung von 132 Milliarden Goldmark. Die innere Schuld wurde beseitigt durch eine Inflation, Gläubiger, Sparer und Anleihezeichner wurden durch unentwegtes Drucken von Banknoten enteignet. Am Tage der Währungsumstellung von Mark auf Rentenmark, dem 20. November 1923, kostete 1$ 4,2 Billionen Mark und die gesamte deutsche Kriegsschuld von 154 Milliarden Goldmark hatte einen Wert von 15,4 Pfennig in der Kaufkraft des Jahres 1913. Zuvor hatten belgische und französische Armeeeinheiten das Ruhrgebiet besetzt, das industrielle Herz Deutschlands mit der Begründung, Deutschland habe die auferlegten Reparationsverpflichtungen nicht pünktlich erfüllt, wodurch die deutsche Wirtschaftsleistung erheblich geschwächt wurde. Es ergab sich die Notwendigkeit einer Neuregelung, sie wurde 1924 vorgenommen durch den Dawes-Plan, benannt nach dem amerikanischen Finanzexperten Charles Dawes. Dieser Plan sah eine

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Ratenzahlung vor von einer Milliarde Goldmark jährlich ab 1924 und ab 1928 2,5 Milliarden Goldmark, was einen Anteil an den Staatsausgaben von 12,4% ausmachte. Eine endgültige Höhe der Summe und ein Zeitplan wurden nicht festgelegt. Dazu wurde eine internationale Anleihe von 800 Millionen Goldmark aufgelegt mit entsprechenden Rückzahlungsverpflichtungen. Die Wirtschaft entwickelte sich zunächst zufriedenstellend, so dass zum Ende hin von den „Goldenen Zwanzigern“ gesprochen wurde, die mit dem „Schwarzen Freitag“ an der Wallstreet in New York im Oktober 1929 ein plötzliches Ende fanden. Die Weltwirtschaft geriet in Turbulenzen, ausgelöst durch Börsenspekulation an der Wallstreet, dem internationalen Finanzzentrum. Die deutsche Wirtschaft wurde davon besonders hart getroffen, woraus sich die Notwendigkeit einer weiteren Regelung der Reparationsforderungen ergab. Sie wurde gefunden durch den Young-Plan, der im Januar 1930 den Dawes-Plan abgelöste. Eine Volksabstimmung dagegen, besonders durch die aufkommende NSDAP gefördert, scheiterte. Die Verhandlungen führte der amerikanische Wirtschaftspolitiker Owen Young. Der Young-Plan sah Reparationen in Höhe von 121 Milliarde Reichsmark vor, zahlbar in 59 Jahresraten bis 1988. Die Annuitäten sollten von 1,7 Milliarden auf 2,1 Milliarden steigen und ab 1965 auf 1,65 Milliarden zurückgeführt werden. Die Wirtschaftskrise, die 1929 eingesetzt hatte, führte zum Zusammenbruch der nach dem Young-Plan ausgehandelten Zahlungen, die 1931 im Rahmen des nach dem amerikanischen Präsidenten Hoover bezeichneten „Hoover-Moratoriums“ aufgeschoben, und 1932 auf der Konferenz von Lausanne gänzlich ausgesetzt wurden, nachdem eine Einmalzahlung von 3 Milliarden Reichsmark vorgesehen war. Im Gegensatz dazu weigerten sich die Vereinigten Staaten auf die Rückzahlung der interalliierten Kriegsschulden zu verzichten. Frankreich und Großbritannien weigern sich bis heute diese Schulden zu begleichen. Der Kapitaldienst für aufgenommene Kredite, besonders in Zusammenhang mit dem Dawes-Plan, musste von Deutschen Reich weiter geleistet werden, bis die nationalsozialistische Regierung im Juni 1934 die Zahlungen ersatzlos einstellte, was auf außenpolitischer Ebene ohne Folgen blieb. Die Zahlungen wurden 1990 wieder aufgenommen, die Zahlung der letzten Rate erfolgte im Oktober 2010, womit auch eine Anerkennung des Kriegsschuldparagraphen 231 des Versailler Friedensvertrages verbunden ist.  

Nachdem Zweiten Weltkrieg wurde die Politik der Reparationszahlungen, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg betrieben worden war, nicht fortgesetzt. Auf der Londoner Schuldenkonferenz 1952 wurde eine Einmalzahlung von 14 Milliarden festgesetzt, und eine weitere Regelung auf einen noch zu schließenden Friedensvertrag verschoben. Deutschland leistete dennoch beträchtliche Zahlungen, dazu gehören Währungsspekulationen gegen die Deutsche Mark, durch die jeweils Milliardenbeträge abflossen, die durch Stützungskäufe für andere Währungen durch die Deutsche Bundesbank geleistet wurden. Gegenwärtig entsteht der deutschen Wirtschaft durch Cyber-Angriffe eine jährlicher Schaden von mehr als 50 Milliarden Euro.

Was 1923 durch die Währungsreform nur in unzureichendem Maße gelang, weil die deutsche Wirtschaft durch Reparationsforderungen Belastungen ausgesetzt war, die kaum zu verkraften waren, das wurde durch die Währungsreform vom Juni 1948 erreicht, ihr folgte ein wirtschaftlicher Aufschwung, der in aller Welt Staunen aber auch Achtung auslöste. Bereits 1964, noch nicht einmal zwanzig Jahre nach dem Zeiten Weltkrieg, galt die Deutsche Mark neben dem US $ und dem Schweizer Franken als eine der härtesten Währungen der Welt. Der Wiederaufbau der Trümmerlandschaft vollzog sich ohne Staatsverschuldung, bis 1969 wiesen die deutschen Bundeshaushalte einen Überschuss aus. Eine Verschuldenspolitik begann erst in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, sie wurde massiv fortgesetzt nach der Wiedervereinigung 1990. Der „Aufbau Ost“ wurde über die Staatsverschuldung organisiert, ein Wirtschaftswunder, wie in den zwanzig Jahren nach der Währungsreform, auf das viele Menschen innerhalb und außerhalb Deutschlands gehofft hatten, ereignete sich nicht. Bis heute

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hat sich kein DAX-Unternehmen in den „neuen Bundesländern“ niedergelassen. Seit „Freizügigkeit“ herrscht, sind mehr als zwei Millionen in den Westen übergesiedelt.

Ein Beitrag vom November 2004:

Die Einführung des Euro, der europäischen Gemeinschaftswährung im Jahre 2002, sei der Preis gewesen für die Wiedervereinigung, ist manchmal geäußert worden. Das Argument ist ebenso oft dementiert worden. Der Euro werde so hart sein wie die DM wurde beschwichtigend versichert. Der Euro ist in jüngster Vergangenheit sehr hart geworden, er hat den Dollar überflügelt. Aber die so gezeigte Stärke täuscht über seine Schwächen hinweg, die tief verborgen liegen und auch im Verborgenen gehalten werden. Der Präsident des Federal Reserve Board (Fed) der amerikanischen Notenbank, Allen Greenspan, war skeptisch, der Euro werde kommen, prognostizierte er, aber keinen Bestand haben. Ob der Dollar besser dasteht, darüber ist keine solche Einschätzung überliefert. Die Entwicklung der Weltwirtschaft mit der Begriffsdefinition „Globalisierung“, die alles überlagert, suggeriert internationale Harmonie. Die wirtschaftspolitische Realität lässt das Gegenteil erkennen.

Nach dem Ersten Weltkrieg ließ ein Wirtschaftskrieg das Wirtschaftsgefüge auseinanderbrechen. Es gibt gegenwärtig bedrohliche Anzeichen für eine Entwicklung gleichen Ausmaßes. Die historische Erfahrung sollte gelehrt haben, solche Entwicklungen zu verhindern, und wenn der politische Wille dazu vorhanden wäre, dann ließe sich das auch verwirklichen. Davon wird die Zukunft abhängen. (Heinz Drews)

Zu den Zukunftsaussichten des Euro ist in einem Schreiben vom 8. März 1997 der Französischen Botschaft eine Einschätzung übermittelt worden. Der nachfolgende Inhalt dieses Schreibens steht in einem gewissen Zusammenhang mit dem Schreiben vom 20. August 1990 an die Ständige Vertretung der DDR. Ein begleitender Kommentar wird dazu angefügt.

 

Französische Botschaft                                                                 Hamburg, 8. März 1997

Kapellenweg 1a

53179 Bonn

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

 

Grundlage, um gegenüber der Französischen Botschaft eine Stellungnahme abzugeben, ist ein Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen“ in der Ausgabe vom 20. Februar 1997, den ich als Ablichtung beigefügt habe.

Zur geplanten Einführung des „Euro“ als gemeinsame europäische Währung, beabsichtige ich ein System zur Diskussion zu stellen, und ich wende mich damit an die Französische Botschaft, weil ich der Überzeugung bin, daß Frankreich das nötige politische Gewicht besitzt, um Reformvorschlägen zu den Maastricht-Verträgen Geltung zu verschaffen.

Dazu möchte ich vorschlagen, die gemeinsame Währung den „Euro“ bestehen zu lassen, und ihm die Funktion zu übertragen, die der Goldmechanismus vor dem Ersten Weltkrieg gehabt hat. Der Goldmechanismus trat bei Währungsschwankungen in Kraft. Gläubiger ließen sich bei erheblichen Währungsschwankungen ihre Forderungen in Gold auszahlen, um so Verluste zu vermeiden, weil der Goldstandart gegenüber den verschiedenen Währungen festgesetzt war, Floß aus einem Schuldnerland Gold ab, so mußte die umlaufende Menge der Banknoten nach einem festgesetzten Schlüssel verringert werden. Das führte dann bei drohender inflationärer Entwicklung zu einer Rückläufigkeit des Preisgefüges. Dieses System hatte zum Ziel, das Preisstandgefüge im Gleichgewicht zu halten. Es hat funktioniert nicht aufgrund des

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Stoffwertes, den das Gold hatte, oder der ihm beigemessen wurde, sondern ausschließlich wegen der Funktion des Goldes, die heute durch den „Euro“ ersetzt werden könnte. Dieses System, das in seinen Grundzügen nicht von mir entwickelt worden ist, möchte ich in Zukunft weiter präzisieren.

Auf der gleichen Grundlage wie der Goldmechanismus beruhte auch der „Lateinische Münzvertrag“, der zwischen den Ländern Frankreich, Italien, Belgien, der Schweiz und Griechenland geschlossen worden war, der bis 1921 bestanden hat, in dem ein Fünffrankenstück als gleichberechtigtes Zahlungsmittel neben den nationalen Zahlungsmitteln umlief.

Die Einführung des „Euro“ auf dieser Grundlage brächte viele Vorteile: Die Verfechter der europäischen Einheitswährung wären ebenso zufriedengestellt wie die Vertreter, die sich für den Erhalt der nationalen Währungen einsetzen. Die verschiedenen Volkswirtschaften mit ihren unterschiedlichen Strukturen hätten die Möglichkeit zu einer freiheitlicheren und unabhängigeren Entwicklung, die jetzt nicht gewährleistet ist.

Die Einführung des „Euro“ nach dem gegenwärtigen Stand birgt erhebliche Risiken mit sozialem Zündstoff, der zur Explosion führen kann, und Europa eher zu spalten als zu einen droht.

 

Im August 1990 hatte ich einen Briefwechsel mit einem Botschaftsrat der damals noch bestehenden Ständigen Vertretung der DDR. Darin habe ich darauf hingewiesen, daß die Einführung der Währungsunion, die zwischen den beiden deutschen Staaten damals gerade vollzogen worden war, Deutschland in eine Wirtschaftskrise stürzen werde. Meine damaligen Ausführungen haben sich ohne Einschränkung bewahrheitet.

Ich möchte hier keine prophetische Begabung vortäuschen. Alles kann auf der Grundlage volkswirtschaftlicher Kriterien vernunftgemäß begründet werden.

 

Mit freundlichen Grüßen  gez. Heinz Drews

 

Nicht nur die Eurozone mit der europäischen Gemeinschaftswährung ist reformbedürftig, sondern auch das Dollarimperium steht auf unsicheren Füßen. Die amerikanische Staatsverschuldung hat die astronomische Summe von 19 Trillionen Dollar erklommen und erhöht sich seit Langem ständig im Jahrestakt. Die gegenwärtige Lage der internationalen Finanz-und Währungswelt weist allzu deutlich Symptome auf, vergleichbar denen zwischen den beiden Weltkriegen im vorigen Jahrhundert: Mit Inflation, Deflation und der Gelddruckmaschine wird versucht, alles im Gleichgewicht zu halten, was nicht ohne Unsicherheiten und soziale Verwerfungen gelingt. Die Gefahr eines weiteren „Schwarzen Freitags“ wie im Oktober 1929 ist täglich gegeben mit allen wirtschaftlichen und politischen Folgen, einschließlich eines weltweiten sozialen Massenelends. Ein politischer Wille zur notwendigen Reform des Systems mit Regelungen die für alle verbindlich sind, ist nirgendwo erkennbar. Helmut Schmidt hat mehrfach darauf hingewiesen und dazu ein Bild gebraucht: Als Charles Lindbergh 1927 allein mit der „Spirit of St. Louis“ die einsamen Weiten des atlantischen Ozeans überquerte gab es keine für alle verbindlichen Luftverkehrsregeln, heute gibt es sie, sonst könnte ein internationaler Luftverkehr nicht staatfinden.

Mit dem gegenwärtigen System, dem das wirtschaftliche Geschehen weltweit unterworfen ist, hätte Ludwig Erhard als Wirtschaftsminister unter Bundeskanzler Konrad Adenauer das Wirtschaftswunder nicht vollbringen können. Der Rheinische Kapitalismus gründete auf

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Arbeitsleistung und nicht auf Börsenspekulation. Auf eine Trümmerlandschaft, wie sie sich 1945 in Deutschland darbot, lässt sich keine Börsenspekulation begründen. Die Geldmenge, die so in Umlauf gebracht wird, kann nicht gänzlich ohne durch Arbeitsleistung erbrachte Sachwerte auskommen. Abraham Lincoln, Präsident der Vereinigten Staaten von 1861 bis 1865 hat diese Tatsache in die Sätze zusammengefasst: „Arbeit war zuerst und ist unabhängig vom Kapital. Kapital könnte nicht existieren, wenn es nicht vorher Arbeit gegeben hätte. Arbeit steht über dem Kapital und bedarf weit höherer Wertschätzung“. Ein weiterer Faktor der Ausbeutung und Ursprung sozialer Ungerechtigkeit sind die Währungsparitäten der Währungen unterschiedlicher Volkswirtschaften untereinander. Es hat geheißen, in der Volksrepublik China betrügen die Löhne ein zwanzigstel der in Deutschland gezahlten Löhne; das hieße, wenn ein deutscher Lohnempfänger 1500 Euro netto monatlich verdiente, dann bekäme sein Gegenüber in China 75 Euro. Für 75 Euro reicht es in Deutschland nicht einmal zu einem Leben unter der Brücke.

Extremfälle von Inflation und Deflation zeigen sich in ihren Auswirkungen in der Inflation von 1923 und in der Phase der Deflation von 1929 bis 1933, wo Reichsbankpräsident Luther den Umlauf der Banknoten an die in der Reichsbank befindlichen Goldreserven koppelte und entsprechend die umlaufende Geldmenge verringerte mit der Bedeutung, wie sie weiter oben beispielhaft an dem Zahnradmodel der Wirtschaftskreisläufe dargestellt ist. Die umlaufende Geldmenge ist nicht allein ausschlaggebend, hinzu kommt die Umlaufgeschwindigkeit der im Wirtschaftskreislauf befindlichen Geldmenge, was an einem einfachen Beispiel Erklärung findet: Der Besitzer einer Banknote von zehn Euro verlässt des Morgens seine Wohnung, um zum Arbeitsplatz zu gelangen. Er könnte den nächsten Kiosk ansteuern, um eine Zeitung zu erwerben. Der Kioskbesitzer nimmt das so erworbene Zahlungsmittel, um seine Vorratsbestände aufzufüllen. Theoretisch könnte die Banknote an einem Tage mehrfach den Kauf oder Tausch einer Ware vermitteln; sie könnte aber auch in der Geldbörse seines ursprünglichen Besitzers verbleiben, der sie abends nach vollbrachter Arbeit wieder mitbringt, ohne Einfluss auf den Wirtschaftskreislauf genommen zu haben.

Ein System zur Steuerung der Umlaufgeschwindigkeit der in Umlauf gebrachten Banknoten hat Silvio Gesell (1862-1930) als argentinischer Geschäftsmann entwickelt, der nach Argentinien ausgewandert war, und dort das Auf und Ab der Währungsturbulenzen im praktischen Geschäftsleben kennen gelernt hatte. 1916 veröffentlichte er seine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen in seinem Hauptwerk „Die natürliche Wirtschaftsordnung“.[11] Er hielt sich im Laufe seines Lebens an unterschiedlichen Orten in Argentinien, Deutschland und der Schweiz auf. Geboren wurde er in St. Vith, das zum Zeitpunkt seiner Geburt preußisches Staatsgebiet war. In der Volkswirtschaft wird sein Name nicht genannt, obwohl sein Werk Anerkennung gefunden hatte bei namhaften Persönlichkeiten der Wissenschaft wie John Maynard Keynes oder Albert Einstein, mit dem Silvio Gesell gut bekannt war.

Ein System zur Sicherung und Steuerung der Umlaufgeschwindigkeit hatte es bereits im Mittelalter gegeben. 1152 erhob der Erzbischof Wichmann von Magdeburg eine Prägesteuer. Einmal im Jahr wurde durch einen Münzverruf eine Prägesteuer erhoben. Jeder musste seine Münzen (Papiergeld gab es nicht) gegen eine Steuer umtauschen und bekam dafür neue Münzen mit anderer Prägung. Die zum Umtausch gebrachten Münzen waren zum Zeitpunkt des Umtausches ungültig. Um dieser Steuer zu entgehen, brachte jeder den größten Teil seines Münzbesitzes in Umlauf, was zu einem wirtschaftlichen Wohlstand führte. Das System kam zum Erliegen, weil damit Missbrauch getrieben wurde. Es hatte ja auch nicht die Absicht bestanden, soziale Ziele zu verfolgen, es sollte nur der Erhöhung der Steuereinnahmen dienen.

[11] Silvio Gesell: Die natürliche Wirtschaftsordnung. Nürberg 1984

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Haben Marx und Engels die Bedeutung des Geldes im Wirtschaftsleben unterschätzt und darum vernachlässigt? Marx hat die Bedeutung des Geldes im Wirtschaftskreislauf ganz klar erkannt, wie eine Aussage, untermauert mit einem Goethe-Text, erkennen lässt:

Das Geld, indem es die Eigenschaft besitzt, alles zu kaufen, indem es die Eigenschafft besitzt, alle Gegenstände sich anzueignen, ist also der Gegenstand im eminenten Besitz. Die Universalität seiner Eigenschaft ist die Allmacht seines Wesens; es gilt daher als allmächtiges Wesen…Das Geld ist der Kuppler zwischen dem Bedürfnis und dem Gegenstand, zwischen dem Leben und dem Lebensmittel des Menschen. Was mir aber mein Leben vermittelt, das vermittelt mir auch das Dasein des anderen Menschen für mich. Das ist für mich der andere Mensch.[12]

„Was Henker! Freilich Händ‘ und Füße  

Und Kopf und Hintre, die sind dein!        

Doch alles, was ich frisch genieße,

Ist das darum nicht weniger mein?

Wenn ich sechs Hengste zahlen kann,

sind ihre Kräfte nicht die meinen?

Ich renne zu und bin ein rechter Mann,

Als hätt‘ ich vierundzwanzig Beine.“[13]

Karl Marx schreitet zur Auslegung dieses Zitates aus Goethes Faust:

Was durch das Geld für mich ist, was ich zahlen, d. h., was das Geld kaufen kann, das bin ich der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschafften des Geldes sind meine-seines Besitzers-Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt. (…) Ich, der durch das Geld alles, wonach das menschliche Herz sich sehnt, vermag, besitze ich nicht alle menschlichen Vermögen? Verwandelt also mein Geld nicht alle meine Unvermögen in ihr Gegenteil?[14]

Obwohl Marx die Bedeutung des Geldes im Wirtschaftsleben absolut setzt und umfassend erkannt hat, setzen Marx und Engels hier nicht den Hebel an. Im Kommunistischen Manifest ist als Ziel die klassenlose Gesellschaft definiert. Auf diesem Wege sollte die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt werden. Die Ursache dieser Ausbeutung wird im Privatbesitz der Produktionsmittel gesehen, also in der Produktionssphäre und nicht in der Zirkulationssphäre des Geldes. Das dieser Grundgedanke nicht ganz abwegig ist, zeigt eine Entwicklung: Wenn fleißige Hände und Köpfe ein Unternehmen zum Erfolg geführt haben, folgen Phasen der „Rationalisierung“, Arbeiter, die zuvor unentbehrlich waren, werden nicht mehr benötigt und somit „freigesetzt“.

Marx und Engels wollten dieser Entwicklung durch die Expropriation der Expropriateure (Enteignung der Enteigner) begegnen, ohne die Geldpolitik zu berücksichtigen, die alles ermöglicht, denn mit der Erledigung des freien Unternehmertums übernimmt die Börse mit der damit verbundenen Spekulation. Die Spekulation führt auch zugleich zur Einschränkung des freien Wettbewerbs. Berichte über Elefantenhochzeiten, der Fusion großer Konzerne, machen oft die Runde, eine Bestätigung der von Marx entwickelten Theorie von der „Akkumulation des Kapitals“.[15] Ein wirksames Gegengewicht ist durch einen wirtschaftlich starken Mittelstand gegeben.

Um eine gut gehende Wirtschaft, die soziale Missstände beseitigt und allgemeinen steigenden Wohlstand bewirkt, ist der Aufbau des Staates und dem Umbau der Gesellschaft nicht ausschlaggebend. Eine Währungs-und Finazpolitik, die materiellen Wohlstand schafft, kann

[12] Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Geschrieben von April bis August 1844. Nach einer Handschrift. Leipzig 1970

[13] Goethe "Faust" (Mephisto) Erster Teil 4. Szene

[14] Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manskrpte. S. 223

[15] Theimer, Walter: Der Marxismus Lehre-Wirkung-Kritik. Bern München S. 17

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auch in einer Diktatur herbeigeführt werden. Der Nationalsozialismus hat in der ersten Jahren seiner Herrschaft  einen wirtschaftlichen Aufschwung bewirkt, womit breite Bevölkerungsschichten getäuscht wurden. Es war ein durch Währungsspekulation erzeugtes Blendwerk, verunden mit der Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hat eine solche Entwicklung verschleiert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es in zwei Jahrzehnten nach der Währungsreform im Juni 1948 die gewaltigen Kriegsschäden zu beseitigen auf der Grundlage einer entsprechenden Währungs-und Finanzpolitik.

Die gegenwärtige Wirtschaftspolitik ist täglich von Gefahren umgeben. Drei Billionenblöcke stehen sich gegenüber, der Billionenblock der Staatsverschuldung, der Billionenblock der Spekulationsgelder, die irgenwo unerkannt geparkt werden und die Billionenbeträge, die von den Notenbanken wie die Europäische Zentralbank (EZB) und dem amerikanischen Federal Reserve (FED) in Umlauf gebracht werden durch das Drucken von Banknoten. Die Notenbanken mit dem Monopol der Geldschöpfung sitzen am längeren wirtschaftlich-machtpolitischen Hebel.

Wenn von "Kapitalismus" die Rede ist, so verbinden sich damit oft verschwommene Vorstellungen, die einer genaueren Definition bedürfen. eine Dreiteilung ist notwendig und gegeben: Der Kapitalist ist kein Unternehmer seine Aufgabe besteht darin, die Wirtschaft mit Kapital zu versorgen, und zwar ausschließlich mit Geldkapital gegen eine entsprechende Gegenleistung, die aus Zins und Dividende besteht. Der Unternehmer ist kein Kapitalist, er versorgt die Wirtschaft mit durch Arbeitsleistung erzeugten Sachkapital, um dahinzu gelangen besteht die Abhängigkeit vom Kapitalisten, der als Individuum oder als Kollektiv einer Bank auftritt. Schließlich kommen breite Bevölkerungsschichten, die auf unterschiedliche Weise durch Lohn, Gehalt oder Honorare am Produktionsprozess teilnehmen.

Karl Marx unterscheidet an einer Stelle seines umfangreichen Werkes zwischen Unternehmergewinn und einkünften aus Kapitaldienstleistungen.[16] Dort heißt es: Für den produktiven Kapitalisten, der mit geliehenem Kaptital arbeitet, zerfällt der Bruttoprofit in zwei Teile: Den Zins, den er dem Verleiher zu zahlen hat und den Überschuss über den Zins, der seinen eigenen Anteil am Profit bildet. [17]

Eine Frage hat besonders Theologen und Wissenschaftler anderer Disziplinen beschäftigt: Wie geht Reichtum und Anhäufung von Reichtum mit ethischen Grundsätzen zusammen, wie sie uns in den Schriften des heräischen und christlichen Kanons der Heiligen Schrift entgegentreten. Die Propheten in Israel zur Zeit der Antike haben nicht nur ihre Angriffe gegen Glaubensungehorsam gerichtet, sondern auch soziale Missstände mit Schärfe verueteilt. Das Gleiche gilt auch für den christlichen Kanon.

[16] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie im Zusammhang ausgewählt und eingeleitet von Benedikt Kautsky. Stuttgart 1957 S. 668 f

[17] ebd. S. 669

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Max Weber (1864-1920) hat hier als Soziologe einen bedetusamen Beitrag geleistet mit der Aufsatzsammlung unter dem Titel: "Die protestantische Ethik. [18] Die Theologie des Genfer Reformators Johannes Calvin (1509-1564) nimmte darin einen breiten Raum ein, aber auch die entwicklung protestatischer Kirchen in ihrer ganzen Breite auch im Vergleich zur katholischen Kirche. Max Weber zeigt eine beachtliche Kenntnis der historischen Entwicklung protstantischer Theologie und Kirchen in ihren verschiedenen Ausprägungen. Sein Werk und die Interpretationen befassen sich mit den Auswirkungen der protestantischen Reformation auf das Wirtschaftsleben in den folgenden Jahrhunderten, die im Kapitalismus ihren Ausdruck fand, worauf die Frage aufbaute der Vereinbarkeit mit den ethischen Normen protestantischer Theologie. Im Mittelalter waren Mönche und Nonnen Träger kultureller und wirtschaftlicher Entwicklung in einer Welt, die agrarisch geprägt war. Das änderte sich mit dem Ausgang des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit. Der Frühkapitalismus hielt Einzug. Mit dem Beginn der Kolonialherrschaft entstanden die großen Handelskompanien, und im Zentrum Europas, in Augsburg, erlangte das Kaufhaus der Fugger eine dominierende Stellung auch als Bankhaus und Kreditgeber. Mit der Ausweitung des Handels auf die Ozeane verloren die Hanse im Nord-und Ostseeraum und Florenz und Venedig im Mittelmeerraum ihre zuvor beherrschende Stellung. Protestantismus und Katholizismus sahen sich einem Wettbewerb ausgesetzt, in dem die protestantische Welt die Oberhand gewann, insbesondere der vom Calvinismus beherrschte Raum. Hier setzt Max Webers Untersuchung nach den Gründen ein, verbunden mit der Frage: Wie können protestantische Ethik und Kapitalismus zusammengehen?[19]

Eine genaue Definition, was Kapitalismus ist und bedeutet, ist auch bei Max Weber nicht zu finden. Er sieht darin eine schicksalsvolle Macht des modernen Lebens.[20] Ob damit eine hinreichende Umschreibung gegeben ist im Hinblick auf die sozial-ethische Komponente, darf bezweifelt werden. Weiter wird ausgeführt: Kapitalismus sei nicht gleichzusetzen mit schrankenloser Erwerbsgier. Kapitalismus kann identisch sein mit Bändigung und rationaler Temperierung dieses irrationalen Triebes.[21] Gleich nach dieser Feststellung wird eingeräumt, Kapitalismus sei identisch mit Streben nach Gewinn und nach immer neuen Gewinn, in einem kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb stünde die Rentabilität des eingesetzten Kapitals im Vordergrund. Ein Betrieb, der sich nicht an diese unumgänglichen Gegebenheiten hält, ist zum Untergang verurteilt.[22] Diese Umschreibung unterscheidet nicht Geldkapital und Sachkapital, sprich Produktionsmittel und Arbeitserzeugnisse, ein Unterschied, der wesentlich ist und nicht vernachlässigt werden sollte. Geldkapital muss mit dem Sachkapital in Beziehung stehen, und auf dem Absatzmarkt denselben dynamischen Bedingungen unterworfen sein, damit alles reibungslos zirkulieren und seinen Zweck erfüllen kann.  

Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts, vornehmlich Luther und Calvin, sahen den Mangel in einer zu geringen Möglichkeit, in den fortschrittlichsten Ländern Einfluss zu nehmen auf die ökonomischen Gegebenheiten.[23]

In einem Aufsatz mit der Überschrift: Der „Geist des Kapitalismus“ werden Schwierigkeiten eingeräumt, eine Definition zu geben.[24]

Karl Marx unterscheidet den „produktiven Kapitalismus“, womit ohne Zweifel die unternehmerische Tätigkeit gemeint ist, die darauf abzielt, den Markt mit Produkten

                                                                                    

[18] Weber, Max: Protestantische Ethik. Band I Schleswig 1969

19] Eine Aufsatzreihe unter dem Titel: die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. S. 27 ff

20] Weber, Max Protestantische Ethik S. 12

[21] ebd. S. 12

[22] ebd. S.12 f

[23] ebd. S. 31

[24] ebd. 39


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unterschiedlichster Art zu beliefern, vom eigentlichen Kapitalismus, der ausschließlich darauf ausgerichtet ist, den Markt gegen Zins und Dividende mit Geldkapital zu versorgen.[25]

Max Weber bemüht mehrfach in dem oben genannten Aufsatz Benjamin Franklin (1706-1790), einem der Gründungsväter der Vereinigten Staaten, mit einem Zitat: Bedenke, daß Geld von einer zeugungskräftigen und fruchtbarer Natur ist, und die Sprößlinge können noch mehr erzeugen und so fort….[26] Es lässt sich leicht nachweisen, dass diese Art Kapitalbildung, losgelöst ist vom Sachkapital, das nur durch Arbeitsleistung gebildet werden kann, nicht fruchtbarer Natur ist, sondern eher eine zerstörerische  Wirkung entfaltet, weil diese Art Kapitalbildung nicht der Arbeit dient, was Voraussetzung  für eine ausgewogene sozial gerechte Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft ist.

Es soll insgesamt vom westeuropäisch-amerikanischen Kapitalismus gesprochen werden. Kapitalismus hat es in China, Indien, Babylon, der Antike und im Mittelalter gegeben, aber ihm fehlte ein eigentümliches Ethos,[27] ob dieses Ethos mit der Botschaft des Evangeliums von Jesus Christus in Einklang gebracht werden kann, ist die alles entscheidende Frage. Die heutige kapitalistische Wirtschaftsform ist ein ungeheurer Kosmos, in den der Einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als Einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse gegeben ist, in dem er zu leben hat.[28] Der Kapitalismus kann keine auf Unabhängigkeit drängende Arbeitnehmer als nützlich empfinden, eben so wenig, wie Benjamin Franklin es lehrt, den skrupellosen Geschäftsmann.[29]

Im Protestantismus gelangt der „Beruf“ im Sinne von „Berufung“ zu einer besonderen Bedeutung, anders als in der Welt des katholischen Glaubens. Sie führt zur Unterscheidung zwischen mönchischer Askese und der „innerweltlichen Askese“ im Protestantismus über alle Denominationen hinweg.[30]

Herausragend können auf katholischer Seite die tridentinischen Reformen genannt werden, die ab 1546 zur Gegenreformation führten, für die der Name Ignatius von Loyola steht, der in der Fortsetzung mönchischer Tradition und Askese die Erneuerung der Kirche erblickte. Es kann in dieser Erneuerung von einer „außerweltlichen Askese“ gesprochen werden, weil sie außerhalb des weltlichen Getriebes von statten ging. Anders die „innerweltliche Askese“, die ihre Bewährung und Bewahrung ethischer Grundsätze innerhalb des weltlichen Getriebes auch im Wirtschaftsleben sucht. Hierin ist auch die Ursache zu suchen, warum die katholische Welt vergleichsweise zurückblieb, weil die Mönchstradition weniger geeignet war in der Welt großer Handelsgesellschaften, dem Manufakturwesen, das schließlich im 18. Jahrhundert mit der Erfindung der Dampfmaschine in der industriellen Revolution ihre Fortsetzung fand, zu bestehen.

Eine Ausprägung besonderer Art zeigt die französische Geschichte, die unter König Ludwig XIV. (1652-1715) wirtschaftlich, politisch und kulturell auf dem europäischen Kontinent eine beherrschende Stellung einnahm, die aber in der Prunkentfaltung des „Sonnenkönigs“ und dem damit verbundenen sittlichen Verfall zu einem Niedergang führte. Die calvinistisch orientierten Hugenotten verloren durch das Edikt von Nantes, erlassen durch Ludwig XIV, ihre zuvor garantierte Glaubensfreiheit und flohen, um Verfolgungsmaßnahmen zu entgehen, in die europäischen Nachbarländer, wo sie einen wichtigen Beitrag zum wirtschaftlichen Fortschritt leisteten, während dieser Verlust für Frankreich sich nachteilig auswirkte. Kurfürst Friedrich Wilhelm I. (1640-1688)

[25] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. S. 669

[26] Weber, Max: Protestantische Ethik S. 40

[27] ebd. S. 43

[28] ebd. S. 45

[29] ebd. S. 47

[30] ebd. S. 67

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setzte 1685 das Edikt von Potsdam dagegen, das verfolgten Hugenotten Aufnahme in Brandenburg-Preußen gewährte.

Der Stil Ludwig XIV. fand Nachahmer besonders unter Fürsten in Deutschland, so auch bei Preußens König Friedrich I. (1688-1713). Dieser prunkhaften Verschwendung machte sein Nachfolger Friedrich Wilhelm I. (1713-1740), der als „Soldatenkönig“ in die Geschichte einging, abrupt und rigoros ein Ende. Er stand unter dem Einfluss der pietistischen Ausbreitung in Preußen, hatte besonderen Kontakt zu ihren führenden Vertretern wie August H. Francke und Nikolaus Graf von Zinzendorf und Jakob Spener. 1717 wurde in Preußen die Einführung der allgemeinen Schulpflicht verfügt. In seinem politischen Testament von 1722 schärfte er seinem designierten Nachfolger Friedrich II (1740-1786) ein, dem die Geschichte später Größe bescheinigte, nie einen ungerechten Krieg zu beginnen, das führe zu einem Strafgericht Gottes.

Diesem König widmete Jochen Klepper (1903-1942) den Roman „Der Vater“, der 1937 in zwei Bänden erschien, der als Gegenbild zum Führerkult angesehen,  ein Verkaufsschlager wurde und besondere Verbreitung fand in preußisch gesinnten Offizierskreisen, aber auch sonst für Offiziere als Pflichtlektüre  angesehen wurde. 1931 heiratete er die jüdische Rechtsanwaltswitwe Stein, die sich 1938 taufen ließ. 1941 wurde er wegen dieser „nichtarischen“ Ehe aus der Wehrmacht entlassen. Die ältere Stieftochter konnte kurz vor Ausbruch des Krieges 1939 über Schweden nach England ausreisen, 1942 scheiterte die Ausreise der zweiten Stieftochter. Frau und Kind drohte die Deportation. Am 11. Dezember 1942 schied die Familie gemeinsam aus dem Leben. (Aus Wikipedia)

Luther verurteilte die mönchische Tradition, weil sie sich den Weltpflichten entzog, ohne die gesellschaftlichen Veränderungen und Produktionsweisen im Verlauf der Geschichte zu berücksichtigen, in der mönchische Lebens-und Produktionsweise nicht mehr gefragt war.

Karl Marx hätte von einer Veränderung der Produktivkräfte gesprochen, die der technische Fortschritt und damit auch den gesellschaftlichen Umbau mit sich brachte. Der mittelalterliche Ritterstand verlor seine die Gesellschaft beherrschende Stellung, und mit der Erfindung der Buchdruckerkunst verloren Mönche und Klöster das Bildungsmonopol. Im Kontrast dazu erscheint die weltliche Berufsarbeit als äußerer Ausdruck der Nächstenliebe, die aber zu Zeiten von Adam Smith (1723-1790) einen weltfremden Charakter annimmt, der als Moralphilosoph und Volkswirt eine andere Sicht vermittelte, dass in der zunehmenden Arbeitsteilung der Einzelne gezwungen werde für andere zu arbeiten.[31] „Nicht vom Wohlwollen des Fleischers, Bäckers oder Bauern erwarten wir unser Mittagessen, sondern von ihrer Rücksicht auf ihren eigenen Vorteil; wir wenden uns nicht an ihre Nächstenliebe, sondern an ihre Selbstsucht, und sprechen ihnen nie von unseren Bedürfnissen, sondern stets nur von ihrem Vorteil.“[32]

Die sittliche Qualifizierung des weltlichen Berufslebens gehört zu den folgenschwersten Leistungen der Reformation,  ist eine unabänderliche historische Gegebenheit, an der besonders Luther seinen Anteil hat.[33] Der Begriff Kapitalismus, und was später und heute damit in Verbindung gebracht wird, war Luther sicher fremd. Luthers Bibelauslegung als Gewissensunterweisung betrifft auch die Frage der Wirtschaftsethik in einer Zeit des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus. Luther bejahte die Funktion des Geldes als Zirkulationsmittel, er bekämpfte dagegen die Verselbständigung des Geldes als Kapital.[34] Luther konnte auch die Entwicklung zu Formen des Industriekapitalismus nicht vorhersehen, die erst mehr als zwei Jahrhunderte später einsetzte. 1540 erließ Luther eine Vermahnung an die Pfarrherren wider den Wucher zu predigen. Luther hätte die Formen des Kapitalismus, wie

[31] Weber, Max: Protestantische Ethik. S. 68

[32] ebd. S. 197 zitiert aus Adam Smith: The Wealth of Nations

[33] ebd. S. 68

[34] Luthers Werke (Hrsg. Karin Bornkamp, Gerhard Ebeling) Band IV Frankrfurt a. M. S. 9

 

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sie sich nach der Reformation im Verlauf der Geschichte darboten, verworfen, die sich aber schon zu seinen Lebzeiten und davor in ihren Anfängen zeigten. Die Lombarden, genannt nach der norditalienischen Region Lombardei, hatten dort bereits im 12. Jahrhundert das Bankwesen und das darauf gegründete Wechselgeschäft  zum festen Bestandteil des Handels gestaltet, dass sich dann von Norditalien ausgehend, über die ganze Welt ausbreitete. Der auf Calvin gegründete Protestantismus sah in den Auswüchsen dieses Systems, die von Anbeginn nie überwunden wurden, bis in die unmittelbare Gegenwart, gestützt auf große Handelsgesellschaften und Großbanken eine Gefahr, gegen welche die Hugenotten und später die Puritaner in England einen erbitterten Kampf führten.[35]Cromwell (1649-1658), der in England den Sieg des Parlaments gegen den absolutistischen Machtanspruch der Monarchie erfocht, schrieb nach der Schlacht bei Dunbar im September 1650, als König Karl I. (1625-1649) bereits hingerichtet worden war, an das Lange Parlament: „Bitte stellt die Missbräuche aller Berufe ab, und gibt es einen, der viele arm macht, um wenige reich zu machen, das frommt einem Gemeinwesen nicht.“[36]

Die geistigen Nachfahren Luthers erkannten im Calvinismus einen anderen Geist, was sich dann auf die Beziehungen zwischen Lutheranern und Reformierten auswirkte. Max Weber vertrat den Standpunkt, Luthers Reformation sei verknüpft mit seinem religiösen erleben, sein Werk wäre aber ohne den Calvinismus nicht von äußerer Dauer gewesen. Katholiken und Lutheraner hätten den gleichen Grund zur Abneigung gegen den Calvinismus, der in seiner ethischen Eigenart begründet sei, die in einer andersartigen Beziehung zwischen religiösen Leben und irdischen Handeln begründet sei.[37] Er wendet sich aber besonders gegen die Auffassung, Kapitalismus sei ein Erzeugnis der Reformation gewesen.[38]

Vier Vorrausetzungen können als Träger des asketischen Protestantismus angesehen werden: Der Calvinismus in der Gestalt, wie er ihn in den westeuropäischen Hauptgebieten im 17. Jahrhundert annahm, der Pietismus, der Methodismus und den Gemeinschaften der  Bewegung der Täufer, den Baptisten.[39]

Der Pietismus, hatte besonders in Preußen Ausbreitung gefunden und Einfluss auf die Geschicke des Landes erlangt, gefördert wurde diese Entwicklung von König Friedrich Wilhelm I., an dessen Hof August Hermann Francke Andachten hielt. Friedrich II., sein Nachfolger hatte keine Neigungen in diese Richtung. Dennoch, in einem Punkt hatte er sich seinen Vater zum Vorbild genommen, der in einer rastlosen Tätigkeit für den Staat bestand, dessen erster Diener er sein wollte. Auf ihn geht auch der Begriff vom aufgeklärten Absolutismus zurück. Einiges zu seinen finanz-und wirtschafspolitischen Vorstellungen findet sich in seinem Politischen Testament von 1752:

Wenn ein Land glücklich sein soll, und der Fürst geachtet sein will, ist es nötig, Ordnung in den Finanzen zu halten; niemals hat eine arme Regierung sich Ansehen verschafft. Europa hat gelacht über die Unternehmungen Kaiser Maximilian I. (1493-1519), weil dieser Kaiser gierig war, Einnahmen zu sammeln, um sie verschwenderisch auszugeben, und daher niemals Geld hatte, wenn er etwas unternehmen wollte; die Italiener, die ihn kannten, nannten ihn Massimiliano senza denari (Maximilian ohne Geld). Weiter heißt es darin: …wir besitzen weder ein Peru noch reiche Handelskompanien noch eine Bank noch so viel andere Hilfsquellen wie Frankreich, England und Spanien, aber durch Gewerbefleiß können wir dahin gelangen, neben ihnen eine Rolle zu spielen.

[35]  Weber, Max: Proteatantische Ethik

[36]  ebd. zitiert S. 69

[37]  ebd. S. 73

[38]  ebd. S. 77

[39]  ebd. S. 115

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Mit der zunehmenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert gewann die „Soziale Frage“ an Bedeutung, bis sie in den Mittelpunkt des Geschehens rückte. Eine neue Gesellschaftsschicht hatte sich gebildet: Das Industrieproletariat, das in allen aufstrebenden Industrienationen den gleichen Lebensbedingungen unterworfen war. Die Entstehung des Proletariats war eine der herausragenden Auswirkungen der industriellen Revolution. Aus Bauern und Handwerkern war eine neue, andere Gesellschaftsschicht entstanden. Es gab soziale Not in Deutschland schon vor Beginn der industriellen Revolution in einem Ausmaß, die das Leben in der Industrieproduktion als erstrebenswert erscheinen ließ.[40] Die ersten zwei oder drei Generationen bescherten den Fabrikarbeitern mit Frauen und Kindern ein Leben mit außergewöhnlichen Härten. Die Arbeitszeit betrug um die Mitte des 19. Jahrhunderts in den günstigsten Fällen zwölf Stunden. Hinzu kam die Zeit der Hin-und Rückwege zum Arbeitsplatz, denn die Verkehrsanbindungen waren zu der Zeit unzureichend. Frauen und Kinder mussten im selben Umfang mitarbeiten, um das Existenzminimum für die Familie zu sichern. Kinder arbeiteten in der schlesischen Leinenindustrie ab dem vierten Lebensjahr. Kinder wurden auch zu arbeiten in Bergwerken herangezogen, um in besonders niedrigen Schächten zu arbeiten. Ab dem 13. Lebensjahr galt eine Arbeitskraft als Erwachsen. In der staatlichen Fabrikgesetzgebung in Preußen wurde zuerst die Nachtarbeit für Frauen und Kindern verboten, und 1839 ein Gesetz erlassen, das Kinderarbeit erst nach Vollendung des 9. Lebensjahres erlaubte. 1853 wurde das Mindestalter auf zwölf Jahre festgesetzt.[41] Fabrikordnungen aus der Zeit gewähren einen Einblick in die Arbeitsverhältnisse: „Der gewaschene und gekämmte Arbeiter macht sich in reinlicher Kleidung ehrerbietig grüßend auf den Weg zur Fabrik und geht pünktlich durch das Tor. Er verrichtet fleißig an seinem Arbeitsplatz seine Arbeit, raucht nicht, trinkt keinen Alkohol. In der Mittagspause kommen weder Frau noch Kinder noch Freunde. Und nach dreizehn Stunden putzt er seinen Arbeitsplatz und geht ehrerbietig grüßen nach Hause“.[42]

Der obrigkeitsstaatliche Charakter dieser Vorschrift lässt erkennen, dass es nicht nur um Vorschriften zur Arbeitsverrichtung ging, denn die gebrachten Opfer, die in dieser Vorschrift erkennbar sind, finden keine Anerkennung. Die Lebensverhältnisse des Industrieproletariats waren durch Wohnungsnot, Unterernährung und Krankheiten gekennzeichnet. In den meisten Fällen waren die Familien dicht zusammengedrängt in Mietskasernen, Keller-und Dachgeschosswohnungen untergebracht, was die Ausbreitung von Infektionskrankheiten aller Art förderte. Besonders verbreitet war die Tuberkulose.[43] Um der finanziellen Not zu steuern wurden, trotz beengter Wohnverhältnisse, Betten an „Schlafgänger“ vermietet. Betten wurden Schichtweise gemeinsam benutzt. Die Lebensverhältnisse wurden zusätzlich durch unzulängliche Wasserversorgung erschwert. Erst um 1875 besaßen fast alle deutschen Großstädte eine zentrale Wasserversorgung.[44] Die Antwort war das Anwachsen sozialistischer und sozialdemokratischer Bestrebungen. Den größten Einfluss übten Marx und Engels aus mit dem Erscheinen des Kommunistischen Manifestes 1848, aber schon in dem Zeitraum davor hatten sich die Frühsozialisten zu Wort gemeldet, die auf  Marx nicht ohne Einfluss geblieben waren. Der Marxismus sah in ihnen die Utopisten, was durch Engels zu einer Veröffentlichung führte mit dem Titel „Der Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, zur ersten Auflage schrieb Engels 1882 das Vorwort. Zu den markantesten Frühsozialisten gehören Henri Saint-Simon (1760-1825), Charles Fourier (1772-1837) oder Robert Owen (1771-1858). Genau wie  die Französische Revolution hatte  auch der Sozialismus seine geistigen Wegbereiter, was sich in Literatur und Geistesströmungen niederschlug. Die Französische Revolution ergab sich aus dem Gegensatz zwischen Adel und Bürgertum, der Sozialismus aus dem Gegensatz zwischen Bürgertum und dem wachsendem Industrieproletariat, was der marxistischen These vom Klassenkampf besonderen Auftrieb verlieh. Für das wachsende Aufkommen sozialistischer und sozialdemokratischer Bestrebungen suchte Bismarck ein Gegengewicht zu schaffen. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts begann die Errichtung eines Sozialversicherungssystems, 1883 wurde die Krankenversicherung eingeführt, 1884 die Unfallversicherung und 1889 die Rentenversicherung. Bismarck wollte die Arbeiterschaft für den von ihm konzipierten Staat gewinnen.

Beachtung unter den Frühsozialisten verdient Saint-Simon. Mit seiner Schrift „Das neue Christentum“ wurde er einer der Väter der katholischen Soziallehre, die darauf abzielte eine

[40]  Kuhn, Axel: Die deutsche Arbeiterbewegung. S. 62

[41]  ebd. S. 62                                                                                                     

[42] Kuhn, Axel: Die deutsche Arbeiterbewegung. S 64 zitiert nach Rainer Wirtz

[43]  ebd. S. 67 ff

[44] ebd. S. 69

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Alternative zum atheistischen Sozialismus zu entwickeln. (Aus Wikipedia) Der materialistische Sozialismus gewann bei weitem die Oberhand, die christlichen Kirchen hatten nicht die Kraft zu einem wirksamen Gegengewicht, weshalb auch die Verkündigung des Evangeliums in den breiteren ärmeren Bevölkerungsschichten keine Wirkung erzielte, davon wurden vorwiegend die sozialen Mittelschichten erfasst. Die vielen theologischen Streitigkeiten hatten nur eine kleine Schicht von Akademikern berührt. Dogmatische Kontroversen zeigen in den meisten Fällen wenig Bezug zur konkreten Lebenssituation.

Der Glaube, der in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Kulturländern: Den Niederlanden, England und Frankreich, wo im 16. Und 17. Jahrhundert Glaubenskriege geführt wurden, war in der Lehre Calvins von der Gnadenwahl begründet, wobei strittig war und ist, ob sich diese Gnadenwahl auf das irdische Wohlergehen, dem Leben nach dem Tode in der zukünftigen ewigen Welt oder auf beides bezieht.[45] Die Differenzen erstrecken sich auf die Frage, inwieweit der Mensch zu einer freien Entscheidung fähig ist, und sich die von Gott gewährte Gnade verdienen kann, was Calvin strikt verneint in einer polemischen Entgegnung zu seinen theologischen Gegnern.[46] Es ist unmöglich, dass die Ratschlüsse Gottes, die vor Beginn aller Zeit beschlossen worden sind und feststehen, durch menschliche Einwirkung eine Änderung erfahren könnten. Gottes Ratschlüsse stehen unwandelbar fest für die Erwählten, wie für die Verworfenen, sie sind einer menschlichen Einflussnahme und Entscheidung nicht zugänglich.[47] Die Interpretation geht soweit, der Opfertod Christi gelte nur für die Erwählten.[48] Hier zeigt sich bereits ein Gegensatz zu Aussagen der Heiligen Schrift auf. Das Wort, das Gott an die Menschen richtet, findet sich in dem Brief des Apostels Paulus im 1. Timotheus Kapitel 2, Verse 1-4 (1) …so ermahne ich nun, daß man vor allen Dingen zuerst thue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und alle Obrigkeit, auf daß wir ein geruhig und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarbarkeit. (3) Denn solches ist gut und angenehm vor Gott, unserm Heiland, (4) welcher will, daß allen Menschen geholfen werde, und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.[49] Diese Zusage müsste als eine Täuschung angesehen werden, denn es heißt allen Menschen, dann wäre es eine Irreführung, wenn in Wahrheit die Nichterwählten nach Verständnis der Prädestinationslehre vom Heil ausgeschlossen wären. In einer seiner theologischen Aussagen geht Calvin soweit, zu behaupten, Gott hätte die Menschen auch als Hunde erschaffen können, als er sie nach seinem Bild erschuf. Ein Dogma, das nicht nur jeder Vernunft widerstrebt, sondern bei genauer Betrachtung als eine Unmöglichkeit erscheint.[50] Philipp Melanchthon (1497-1560), der die Reformation Martin Luthers in intellektuelle Formen gegossen hat, ganz im Gegensatz zu Luthers volkstümlichen Auftritten, nannte Calvins Lehre dunkel und gefährlich[51] und war nicht bereit diese Lehre in die „Augsburger Konfession“, seit 1530 Bekenntnisgrundlage der lutherischen Kirche und Konfession, einzubeziehen. Für das Luthertum stand es dogmatisch fest, dass die von Gott gewährte Gnade verloren gehen, und durch Umkehr und gläubiges Vertrauen auf Gottes Wort und die Sakramente neu gewonnen werden kann. Bei Luther wird die Gnade erlebt, bei Calvin erdacht. Max Weber spricht von der Überlegenheit des Calvinismus, dessen Wesen und Inhalt es ist, ein Leben zum Ruhme Gottes zu führen.[52] Diesen Charakter trägt auch die Berufsarbeit, welche im diesseitigen Leben im Dienste der Allgemeinheit steht. Schon bei Luther findet sich die Ableitung der arbeitsteiligen Berufsarbeit

[45]  Weber, Max: Protestantische Ethik S. 118

[46]  Calvin, John: Institutes of the Christian Religion. Londen 1962, Band II S. 212 f

[47]  Weber, Max: Protestantische Ethik. S. 122 f

[48]  ebd. S. 123

[49] Revidierte Überstzung nach Martin Luther. Stuttgart 1954

[50] Calvin, John: Institutes of the Christian Religion. S. 213

[51]  Weber, Max: Protestantische Ethik. S. 120 f

[52]  ebd. S. 125

 

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aus der Nächstenliebe. Was aber bei Luther nicht ausschlaggebend war, geriet im Calvinismus zu einem wesentlichen Bestandteil des ethischen Systems. Der Calvinist sieht seine berufliche Leistung im Rahmen dieses Systems als eine Verehrung Gottes. Dieser Dienst soll dem Nutzen der ihn umgebenden Gesellschaft gelten, und zugleich dem Ruhme Gottes dienlich sein.[53]

Zwischendurch wird die Frage entstehen, warum nicht nur Max Weber dem Calvinismus eine umfangreiche Studie gewidmet und in Zusammenhang gestellt hat mit dem Kapitalismusbegriff. Die Resonanz findet sich in einer Anzahl von Kritiken und Antikritiken.[54]

Wer von der Theologie spricht, die auf Johannes Calvin zurückgeführt werden kann, dem wird die Lehre von der Prädestination, die Erwählung, als zentrales Anliegen calvinistischer Theologie begegnen, in der die unabänderliche Erwählung zum Heil oder zur Verdammnis festgelegt ist. Gottes Gnade ist, da seine Ratschlüsse unwandelbar feststehen, ebenso unverlierbar für die, welchen er sie zuwendet, wie unerreichbar für die, welchen er sie versagt.[55] Richtig gefährlich wird es, wenn diese Gnade und Erwählung auch dann erhalten bleibt, wenn ein Verstoß gegen die Gebote Gottes vorliegt, und dieses theologische Dogma Einfluss auf politische Entscheidungen gewinnt, die auf machtpolitischer Willkür gründen. Mit einem solchen Einfluss auf die Politik gewinnt der Calvinismus eine besondere Bedeutung, die über Konfessionsgrenzen und politische Grenzen hinausreicht.

Wie kann ein Mensch dieser Erwählung sicher sein? Calvin verwirft grundsätzlich die Annahme, es sei möglich am äußeren Verhalten, die Erwählung zu erkennen. Er sieht darin einen unzulässigen vermessenen Versuch in die Geheimnisse Gottes und seines Handelns einzudringen. Eine ähnliche Ehrfurcht ist in Friedrich von Schillers Gedicht „Der Taucher“ zu finden: …Der Mensch versuche die Götter nicht

                Und begehre nimmer und nimmer zu schauen,

                Was gnädig sie bedecken mit Nacht und Grauen.

Die Erwählten unterscheiden sich in diesem Leben in nichts von den Verworfenen, denn alle subjektiven Erfahrungen seien auch bei den Verworfenen erkennbar, mit Ausnahme des  gläubigen Festhaltens an die Erlösungstat Jesu Christi. Im christlichen Kanon der Heiligen Schrift ist dazu eine gegenteilige Aussage und Forderung zu finden, in dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom, Kapitel 12, Vers 2: Macht euch nicht die Art dieser Welt zu eigen, sondern wandelt euch um durch die Erneuerung eures Denkens, um zu erforschen, was der Wille Gottes ist, was gut, wohlgefällig und vollkommen.[56]

An Stelle der demütigen Sünder, denen Luther, wenn sie in Einsicht im Glauben sich Gott anvertrauen, die Gnade verheißt, werden in Calvins Reich selbstgewisse „Heilige“ herangebildet, die wir in stahlharten, puritanischen Kaufleuten jenes heroischen Zeitalters des Kapitalismus und in einzelnen Exemplaren bis in die Gegenwart wiederfinden. Andererseits wurde, um jene Selbstgewissheit zu erlangen, als hervorragendstes Mittel rastlose Berufsarbeit eingeschärft. Sie allein verscheuche den religiösen Zweifel und gebe Sicherheit des Gnadenstandes.

Nachdem solchermaßen das Arbeits-und Berufsethos zum zentralen Anliegen des christlichen, insbesondere des protestantischen christlichen Glaubens erhoben wurde, muss gefragt werden, wie diese Haltung der Arbeiterschaft des beginnenden Industriezeitalters beigebracht werden sollte?

[53]  Weber, Max: Protestantische Ethik. S. 126

[54]  Weber, Max: Protestantische Ethik. Kritiken und Antikritiken. Band II. Gütersloh 1978

[55]  Weber, Max: Protestantische Ethik. Band I S. 122

{56]  Überstzung nach Josef Kürzinger (kath)

 

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Wie dichtete doch Heinrich Heine:

1. Im düsteren Auge keine Träne,                           2. Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten

Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:   In Winterskälte und Hungersnöten;

Deutschland, wir weben dein Leichentuch,             Wir haben vergebens gehofft und geharrt,

Wir weben hinein den dreifachen Fluch –                Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt –

Wir weben, wir weben!                                            Wir weben, wir weben!

 

3. Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, 4. Ein Fluch dem falschen Vaterlande,

Den unser Elend nicht konnte erweichen,              Wo nur gedeihen Schmach und Schande,

Der den letzten Groschen von uns erpresst             Wo jede Blume früh geknickt,

Und uns wie Hunde erschießen lässt –                    Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt

Wir weben, wir weben!                                            Wir weben, wir weben!

 

5. Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,

Wir weben emsig Tag und Nacht –

Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,

Wir weben hinein den dreifachen Fluch,

Wir weben, wir weben!

 

Zu den Bewunderern Heinrich Heines gehörte auch Otto von Bismarck.[57] 

Die Unterhandlungen Ferdinand Lassalles mit Bismarck, bevor er im Mai 1863 den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gründete, trugen ihm den Zorn von Marx und Engels ein, weil er gegen die Gewährung des Stimmrechtes dem Kanzler die Unterstützung der Arbeiter angeboten hatte. „Ein ganz kommuner Schuft…ein Verrat der ganzen Arbeiterbewegung an die Preußen“, kommentierte Friedrich Engels.[58] Als Heinrich Heine Deutschland verlassen hatte und nach Paris übersiedelte, erhoben sich Stimmen, die ihn als „Landesverräter“ brandmarkten. Bismarck urteilte: „Ich hätte, wäre ich an seiner Stelle gewesen, kaum anders gehandelt. Hätte es mir, wenn ich wie Heine als Jude geboren wäre, gefallen können, dass man um 8 Uhr abends die Tore der Judenstadt zusperrt, überhaupt die Juden unter die schwersten Ausnahmegesetze gestellt hat? Ein Heine muss naturgemäß in dem Manne, der die französische Gesetzgebung in die Rheinlande brachte, die Ausnahmegesetze insgesamt aufhob, einen Erlöser vom martervollem Drucke preisen…und vergessen die Herren denn ganz, dass Heine ein Liederdichter ist, neben dem nur noch Goethe genannt werden darf, und dass das Lied gerade eine spezifisch deutsche Dichtungsform ist?“[59]

Am 3. September 1867 erhielten die Juden im Rahmen der Verfassung des Norddeutschen Bundes, die auch für das Deutsche Reich nach 1871 beibehalten wurde, mit der Gewährung der Religionsfreiheit die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung. Von da ab begann ein rasanter Aufstieg des deutschen Judentums, wie es das zuvor nie gegeben hatte, ohne die Deutschlands Weltgeltung vor und nach dem Ersten Weltkrieg nicht gedacht werden kann, und sie waren überwiegend patriotisch gesonnen, die nationalsozialistische Geschichtsfälschung wird an

[57] T. Gidal: Die Juden in Deutschland. Von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik. Gütersloh. 1988. S. 216

[58] ebd. S. 225

[59] zitiert ebd. S. 296

 

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dieser historischen Tatsache nichts ändern. Der Einfluss jüdischer Wissenschaftler an deutschen Universitäten wuchs, und selbst nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg war die Wissenschaftssprache weltweit Deutsch. Es wurde von einer deutsch-jüdischen Symbiose gesprochen, es sei an große Namen erinnert, wie Albert Einstein und Max Planck.

Sir Christopher Clark, Professor für Geschichte an der Universität Cambridge, bekannt geworden durch sein Buch „Die Schlafwandler“ in dem er sich zur Schuldfrage am Ausbruch des Ersten Weltkrieges äußerte, leitete kürzlich eine Fernsehserie unter dem Titel: „Deutschland Saga“ und erläuterte darin, Wissenschaftler außerhalb Deutschlands hätten zu dem Zeitpunkt eigens die deutsche Sprache erlernt, um teilhaben zu können an Forschungsergebnissen in Deutschland. Hitler habe die besten von Deutschlands Elite außer Landes gejagt. Heute, so erklärte er weiter, publizieren deutsche Wissenschaftler gleich in englischer Sprache. Historische Wahrheiten und Gegebenheiten, die nicht vernachlässigt werden sollten.

Ferdinand Lassalles Forderung nach Einführung des allgemeinen Stimmrechts fand Erfüllung im Wahlrecht des Norddeutschen Bundes und des Reichstages des Kaiserreiches. Lassalle starb in Folge eines Duells im August 1864, eine seiner vielen Taktlosigkeiten, die er in seinem Leben begangen hat, urteilte Karl Marx.[60] Lassalles Einfluss auf die Geschichte der Sozialdemokratie blieb unauslöschlich erhalten, trotzdem ihm nur eine kurze Zeit seines Wirkens beschieden war.

1895 verweigerte der Reichstag Bismarck die Gratulation zum 80. Geburtstag, der Reichstag, dem Bismarck im Kontext der Zeit ein ausgesprochen fortschrittliches Wahlrecht beschert hatte. Der französische Botschafter, der keinen Anlass hatte im historischen Rückblick, Bismarck irgendwelche Sympathien entgegen zu bringen, äußerte dazu: „Die Deutschen können sagen und tun, was sie wollen, sie werden nie ein großes Volk werden.“[61] Eine wahrhaft prophetische Aussage.

Friedrich Engels entstammte einer Familie, die dem Pietismus nahe stand. Im Frühjahr 1839 begann Engels in Zeitschriftenbeiträgen mit dem radikalen Pietismus seiner Geburtsstadt Elberfeld, heute Wuppertal, abzurechnen. Er schilderte, wie der religiöse Mystizismus alle Lebensbereiche durchdrang, und machte, aus seiner Sicht, auf den Zusammenhang zwischen der pietistischen Lebenshaltung und dem sozialem Elend aufmerksam. (Aus Wikipedia) Höhepunkt seiner lebenslangen publizistischen Tätigkeit bildete die Veröffentlichung des „Kommunistischen Manifestes“ im Februar 1848 zusammen mit Karl Marx. Frühsozialisten und der Einfluss von Marx und Engels auf die einsetzende sozialistische und sozialdemokratische Arbeiterbewegung haben eine Wirkung vollzogen, sie haben den breiten Gesellschaftsschichten der industriellen Arbeiterschaft ein Selbstbewusstsein vermittelt, das es zuvor nicht gab, gegründet auf ein diesseits gerichtetes materialistisches Weltbild und Geschichtsverständnis, sie haben Arbeitern eingeschärft, sie seien nichts weniger als die entscheidenden Stützen der Gesellschaft.

Grundlage des Marxismus ist der Dialektische Materialismus. Wenn bei Marx von Materialismus gesprochen wird, ist nicht Stofflichkeit gemeint, sondern es wird Bezug genommen auf die wirtschaftlichen Verhältnisse einer Gesellschaft. Das System, das Marx hierzu entwickelt hat, ist dem Denken des Philosophen Georg Wilhelm Hegel (1770-1831) entlehnt. Der Hegelsche Dreischritt beschreibt eine dialektische Entwicklung, die sich aus Widersprüchen ergibt nach Art eines Dialogs. Zuerst wird eine These aufgestellt, die Antwort dazu ist eine Gegenthese, denn die Diskussion verfolgt das Ziel, bestehende Widersprüche in

[60] T. Gidal, Nahum: Juden in Deutschland. S. 225

[61] Massie, Robert K. Die Schalen des Zorns. Großbritannien, Deutschland und das Heraufziehen des Ersten Weltkrieges. Aus dem Englischen von Walter Brumm. Frankfurt a. M. 1998 S. 132

 

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einer Synthese aufzulösen. Die Synthese ist zugleich die These für den nächsten dialektischen Prozess. Hegel war überzeugt, dass die Geschichte nach diesem Rhythmus fortschreitet, Geschichte war für ihn zugleich Ideengeschichte.[62] Hegel war ein klassischer Vertreter des deutschen Idealismus, für ihn gehören die Ideen in das Reich der herrschenden geistigen Welt, von dem die historischen Vorgänge nur den Reflex darstellen. Bei Marx ist es umgekehrt, beherrschendes Element sind die materiellen Lebensverhältnisse und die daraus hervorgehenden Ideen nur ihre Widerspiegelung, weshalb Marx überzeugt war, er habe Hegels Weltsicht vom Kopf auf die Füße gestellt.[63] Er äußert dazu: „Meine dialektische Methode ist nicht nur verschieden von der Hegelschen, sondern ihr gerades Gegenteil. Für Hegel ist der Lebensvorgang, der Denkprozess, den er unter dem Namen „die Idee“ sogar in ein unabhängiges Subjekt verwandelt, der Schöpfer der realen Welt. Bei mir ist im Gegenteil die Idee nicht anderes als die vom menschlichen Geist reflektierte und in gedankliche Formen übersetzte materielle Welt…“[64]

Ein weiterer Eckpfeiler marxistischer Denkweise findet die Bezeichnung Historische Materialismus. In der Geschichte unterscheidet sich der „materielle Unterbau“, die Produktionsverhältnisse und die Produktivkräfte, die bestimmt sind durch den technischen Fortschritt vom „ideologischen Überbau“, bei Hegel sind es die Ideen, die Denken und Handeln bestimmen. Nach Marx bestimmen die Eigentumsverhältnisse und die darauf gegründete Wirtschaftsordnung den Gang der Geschichte. Hinter allen Ideen, Religionen, Weltanschauungen, Rechtsbegriffen und Rechtsordnungen, Staatsformen, Verfassungen, Sitten, Traditionen steht ein wirtschaftliches Klasseninteresse, dessen „ideologischer Überbau“ sie sind. Hegel sagt: Rechtsbegriffe, staatliche Einrichtungen, Religionen, Philosophie haben dieselbe gemeinsame Wurzel, den Zeitgeist.[65] Wo Ideen in der Politik auftreten, soll der Marxist nach ihren klassenmäßigen Grundlagen forschen; in der Luft hängende Ideen gibt es nicht.[66] Marx blieb lebenslang auf Hegel fixiert. Der Dreischritt mit der These bürgerliche Gesellschaft, der Antithese Proletariat folgt als Synthese die klassenlose Gesellschaft. Das Geschichtsgesetz seines Vorbildes hatte Marx übernommen, die Geschichte strebt danach unabänderlich einem festgesetzten Ziel zu: die Verwirklichung von Vernunft und Freiheit. Der Hauptunterschied liegt im Denken beider, was Marx auf materialistischer Grundlage erstrebte, war bei Hegel geistig idealistisch angelegt.[67] Grundgedanke einer Synthese ist nicht ein Kompromiss, sondern die Aufhebung der Gegensätze zu etwas gänzlich Neuem, das sich zum Vorhergehenden entscheidend abhebt. Versöhnung und Aufhebung der Gegensätze sind das zentrale Anliegen.

Hegel erlangte maßgeblichen Einfluss auf das Denken der Zeit, während seiner Zeit als Professor an der Universität Berlin von 1818-1831, die mit seinem Tode von 61 Jahren ein Ende fand. Wie konnte es sein, dass ein maßgeblicher Vertreter des deutschen Idealismus ausgerechnet maßgeblich wurde für die materialistische Denkweise des Marxismus mit allem, was er im Gefolge hatte?

Der Theologe Karl Barth entwirft ein ganz anderes Bild, ein geradezu christliches Bild von Hegel. Er stellt die Frage, warum Hegel nicht einen ähnlichen Einfluss auf die Protestantische Welt ausgeübt hat, wie der Scholastiker Thomas von Aquino (1224-1274) in der katholischen Kirche,[68] einer der maßgeblichen und herausragenden Kirchenlehrer der katholischen Kirche durch sein Werk „Summe der Theologie“. Ein Unterschied besteht zwischen Hegel und Thomas von Aquino.

[62] Theimer, Walter: Der Marxismus. S. 10

[63] ebd. S. 11

[64] ebd. zitiert auf S. 13

[65] ebd. S. 13

[66] ebd. S. 15

[67] ebd. S. 11

[68] Barth, Karl: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und Geschichte. Zürich 1952. S. 343

 

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Hegel schreibt in einem Stil, der seine Gedankenwelt nur schwer zugänglich macht. Das ist bei Thomas anders, sein Stil zeichnet sich aus durch klare tiefgehende Gedankenführung, die dennoch allgemein verständlich ist. Karl Barth war reformierter Theologe und hat mit seiner „Kirchlichen Dogmatik“ ein theologisches Werk hinterlassen, das zu den umfangreichsten in der ganzen Kirchengeschichte gehört. Er trat 1931 der SPD bei und hat weitgehend die „Barmer Erklärung“ vom Mai 1934 verfasst, Bekenntnisgrundlage der „Bekennenden Kirche“, die eine völlige Gleichschaltung der evangelischen Kirche durch die NS-Ideologie verhinderte.

Auf den Lehrstuhl Hegels gelangten Professoren, die ihrem Vorgänger nicht ebenbürtig waren. Die Zeit Hegels und die Zeit der Überwindung Hegels verhalten sich zueinander wie die Schlacht von Sedan am 2. September 1870 und die Schlacht an der Marne zu Beginn des Ersten Weltkrieges, die als Ausgangspunkt für den Verlauf dieses Krieges angesehen werden kann.[69]

Die Philosophie Hegels, die ausgerichtet ist auf die Versöhnung der Gegensätze, ist mit der Botschaft des Evangeliums und seinem ethischen Inhalt vereinbar, in dem alle Gegensätze in Jesus Christus aufgehoben sind, heißt es doch in dem Brief des Apostels Paulus an die Galater in Kapitel 3, Vers 28: Jetzt gilt nicht mehr Juden oder Heiden, nicht mehr Sklaven oder Freie, nicht mehr Mann noch Weib, denn ihr alle seid Einer in Christus Jesus.[70]Karl Barth spricht im Hinblick auf Hegel vom Tag des Gerichts und dem Tag der Freiheit, den er zuvor in die Vergangenheit verlegt hatte, er könnte der Menschheit in Zukunft bevorstehen. Wir können nicht mit Sicherheit wissen, ob die Zeit Hegels schon abgelaufen oder erst recht im Kommen ist.[71] Wirkliche Freiheit kann nur in der Hinwendung zu Jesus Christus bestehen. Das Selbstvertrauen, das die Philosophie Hegels verkündet, und zu dem sie aufruft, ist zugleich als solches qualifiziertes, wahres, eigentliches Gottvertrauen, dass sie so ausdrücklich wie möglich Gott und nicht Menschen die Ehre gibt.[72]

Hegel hat Novalis (Friedrich Hardenberg 1772-1801) nahe gestanden, näher als andere Geistesgrößen der Zeit wie Kant, Fichte, oder Schelling der Philosoph der Romantik.[73] Ein Gedicht aus „Hymnen an die Nacht“, die als eine Synthese aus Licht und Nacht, was als Vorausdeutung auf die Aufhebung aller Grenzen und die neue Einheit angesehen werden kann, (Aus Wikipedia) gewährt einen Einblick:

Eins in allem,

Das All in einem,

Gottes Bild auf Kräutern und Steinen,

Gottes Geist in Menschen und Tieren,

Dies muss man sich zu Gemüte führen,

Keine Ordnung mehr nach Raum und Zeit,

Hier Zukunft in der Vergangenheit.

Was sich in diesen Worten offenbart, geht über die vierte Dimension noch hinaus. Novalis wandte sich zurück in die europäische Geschichte, und als Romantiker stand er für ein Europa, wie es sich im Mittelalter formiert hatte. Es ging aber nicht um die Rückkehr zu mittelalterlichen Herrschaftsformen. Das mittelalterliche Staatsverständnis gründete auf den universalen Staatsgedanken, was im Europa der Zeit, wo der Nationalstaatsgedanke seit der

[69] Barth, Karl: Geschichte des Protestantismus. S. 346

[70] übersetzt nach Riesler (kath)

[71] Barth, Karl: Geschichte des Protestantismus. S. 349

[72] ebd. S. 353

[73] ebd. S. 350

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Französischen Revolution das beherrschende Thema war, keinen Anklang fand. Einfluss auf Hegel und Novalis hatte auch der schlesische Theosoph und Schuhmacher Jakob Böhme (1575-1624) gewonnen. Hegel bezeichnete ihn als den „ersten deutschen Philosophen“. Der Mensch müsse neu geboren werden, wolle er das Reich Gottes schauen, so Jakob Böhme in seiner Schrift: Die Menschwerdung Christi. (Aus Wikipedia) Ein Satz Jakob Böhmes lässt die Tiefe seiner Gedankenwelt erkennen: „Wem Zeit ist wie die Ewigkeit, und Ewigkeit wie die Zeit, der ist befreit von allem Streit.“ Eine Aussage, die von Gefahren umwoben ist, und von leichtfertigen Gemütern leicht missverstanden werden kann.

Das reale Eingehen des Göttlichen in die Menschenseele war durch die absolute Transzendenz Gottes ausgeschlossen. Finitum non est capax infniti. (Das Endliche kann nicht das Unendliche umfassen). Immanenz bedeutet die endliche mit den Sinnen wahrnehmbare Erfahrungswelt, die vergänglich ist, Transzendenz die ewige-unendliche Wirklichkeit, die sich der sinnlichen Wahrnehmung verschließt. Die Gemeinschaft Gottes konnte mit denen, die Gnade erlangt hatten, nur stattfinden und zum Bewusstsein kommen, indem Gott in ihnen wirkte, und das der Mensch sich dessen bewusst wird. Der Mensch kann sich seines Gnadenstandes versichern in einem Leben der Gefühlskultur oder in einem asketischen Handeln, im ersten Fall ist die Nähe zu Luther, im letztgenannten der Calvinismus erkennbar.[74]

Calvin lässt auch den Glauben an eine Vorsehung nicht gelten, konsequent duldet er keinen Widerspruch und besteht auf die exakte Vorherbestimmung, die keinen gedanklichen Spielraum lässt.[75] In diesem dogmatischen Gegensatz darf die menschliche Vernunft zu Wort kommen. In der Christenheit besteht Konsens über Eigenschaften, die Gott und seinem Handeln zugeschrieben werden: Allmächtig, allwissend und allgegenwärtig. Alle drei Eigenschaften können einer Betrachtung unterzogen werden. Allwissenheit bedeutet, dass Gott vor allem Anfang den Lauf der Schöpfung in der mikrokosmischen und makrokosmischen Welt nach einem vorgefassten Plan gelenkt hat. Er konnte vorhersehen in welches geographische und gesellschaftliche Umfeld jedes  nach seinem Ebenbild geschaffene  menschliche Individuum hineingestellt sein würde, und die damit verbundene Kausalität vorhersehen, wie ein Mensch, allerdings in einem begrenzten Wahrnehmungsvermögen, von möglichen Vorgehensweisen seiner Mitmenschen oder technischen Vorgängen vorausschauend Entwicklungen einschätzt. Allmacht wird gedeutet, dass dem nach dem Ebenbilde Gottes geschaffene Mensch kein freier Wille zuerkannt werden kann. Wenn aber alles menschliche Handeln nach einem fest gefassten unabänderlichen Plan abläuft, dann entsteht hier ein Widerspruch, denn eine Allmacht, die Pläne nicht ändern kann, ist keine Allmacht. Die Allmacht muss aber den Anspruch stellen, dass außerhalb dieser Allmacht keine Entscheidungsbefugnis besteht, sonst könnte sich der Mensch über Gott erheben, und das Geschöpf sich an die Stelle des Schöpfers setzen, womit dann jede Ordnung aufgehoben wäre, und nur noch das Chaos bliebe. Allgegenwart bedeutet, dass es für die unendliche ohne Raum und Zeit definierte Allgegenwart nur Gegenwart gibt, während es für das Geschöpf nur Vergangenheit und Zukunft gibt. Ein gegenwärtiger Augenblick verschwindet in einer unendlichen nicht darstellbaren Zeit. Unendlichkeit kann nur gedacht, aber nicht dargestellt werden, ein solcher Versuch scheitert an seinem Widerspruch, darum sollte der Mensch auch nicht versuchen, das Handeln Gottes mit seiner begrenzten Vernunft zu erfassen. Immanuel Kant (1724-1804) hat verlauten lassen, der Mensch könne „das Ding an sich“ nicht erkennen, weil unser Erkenntnisvermögen dazu nicht ausreicht, trotz des ständigen immer schneller und häufiger werdenden Vordringen des  Menschen in die makrokosmische und mikrokosmische Welt. Besäße der Mensch die göttlichen Eigenschaften

[74] Weber, Max: Protestantische Ethik S. 130

[75] Calvin, John: Institutes of the Christian Religion. S. 212 f

 

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der Allwissenheit, der Allmacht und der Allgegenwart, dann könnte er „das Ding an sich“ vollumfänglich erkennen.[76]

Jesus Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch, anders kann es nicht sein, denn sonst hätte er die Erlösung der Menschheit und der gefallenen Schöpfung nicht vollbringen können. Nur der Erwählte kann ein wirksames Glaubenszeugnis bekennen, nur er ist fähig, vermöge der Wiedergeburt und der darauf folgenden Heiligung, die ihm die Kraft verleiht, die nicht nur gottgewollt, sondern auch gottgewirkt ist. Auf diesem Wege erlangt er das höchste Gut, nachdem diese Religiosität strebte: Die Gnadengewissheit. In dem 2. Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth im 13. Kapitel, Vers 5 wird die Möglichkeit bestätigt, sie zu erlangen: (5) Überprüft euch, ob ihr im Glauben seid; prüft euch selbst! Oder erkennt ihr an euch selbst nicht, dass Jesus Christus in euch ist? Dann hättet ihr euch nicht bewährt.[77] So absolut ungeeignet gute Werke sich als Mittel zur Erlangung der Seligkeit sind, denn auch der Erwählte bleibt Kreatur, und alles, was er tut, bleibt in unendlichen Abstand hinter Gottes Anforderungen zurück, so unentbehrlich sind sie als Zeichen der Erwählung.[78]

Dem katholischen Christen steht die Sakramentsgnade seiner Kirche als Ausgleich eigener Unzulänglichkeit zur Verfügung, der Geistliche als geweihter Amtsträger verfügt über die Autorität, bei ernsthaften Verlangen die Absolution zu erteilen. Sie spendet Sühne Gnadenhoffnung, Gewissheit der Vergebung und gewährt damit Entlastung von einer ungeheuren Spannung. Der Gott des Calvinismus verlangt von den Seinigen nicht einzelne „gute Werke“, sondern eine zum System gesteigerte Werkheiligkeit.[79]

Die ethische Praxis des Alltagsmenschen wurde so ihrer Plan-und Systemlosigkeit und zu einer konsequenten Methode der ganzen Lebensführung ausgestaltet. Es ist ja kein Zufall, dass der Name „Methodisten“ ebenso an den Trägern der letzten großen Wiederbelebung puritanischer Gedanken im 18. Jahrhundert haften geblieben ist.[80] Die damit verbundene Selbstbeherrschung findet sich auch bei Ignatius von Loyola (1491-1556), der den ausschlaggebenden Stoß der Gegenreformation führte und nicht nur hier, sondern auch bei den Puritanern zu einem Lebensideal.[81] Zur Beichte in der katholischen Kirche ist oft angemerkt worden, sie führe zu Macht und Einfluss des Pfarrers und Amtsträgers über die Gemeindeglieder. Solche Bedenken könnten in jedem Fall zutreffen, darum fühlt der reformierte Christ selbst „den Puls“.[82]

Philipp Jakob Spener (1635-1705), August H. Francke (1663-1727) und Nikolaus Graf Zinzendorf (1700-1760) gelangten in Preußen zu einem besonderen Einfluss mit Breitenwirkung, der von König Friedrich Wilhelm I gefördert wurde. Sie standen auf dem Boden des Luthertums, was eine Abkehr von der Prädestinationslehre bedeutete. Die Berufsarbeit war auch für A. H. Francke das asketische Mittel wie auch bei den Puritanern.

Für ihn stand fest, dass Gott selbst es sei, der die Glaubenden mit seinem Segen bedenkt.[83] In alledem manifestiert sich die spezifisch lutherische Art, das Heil zu suchen, für welche nicht die Vergebung der Sünden, sondern die praktische Heiligung das Entscheidende ist.[84] Zunächst wurde im Gegensatz zum Calvinismus, der alles Gefühlsmäßige, aus der die Sicherheit des Glaubenden herrühre, als Täuschung ansah. Nach der Lehre John Wesleys sollte der Glaubende

[76] Kant, Immanuel: Die Drei Kritiken in einem Zusammenhang mit dem Gesamtwerk. Mit verbindendem Text zusammengefasst von Raymund Schmidt. Stuttgart 1956 S. 39

[77] Nach der revidierten Übersetzung nach Marin Luther. Wollerau 2009

[78] Weber, Max: Protestantische Ethik. S. 131

[79] ebd. S. 133

[80] ebd. S. 134

[81] ebd. S. 135

[82] ebd. S. 139

[83] ebd. S. 146 f

[84] ebd. S. 151

 

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Zeit und Stunde nennen können, in der er die Heilsgewissheit erlangt habe, entsprechend wurden auch die äußeren Gnadenmittel, insbesondere die Sakramente entwertet[85] Wesley war unter Einwirkung der Brüdergemeinde lutherischen Einflüssen ausgesetzt gewesen. Ein Erlebnis war dabei nicht ohne Bedeutung geblieben, 1735 kam es auf der Überfahrt nach Amerika zu einer Begegnung mit Anhängern der auf Zinzendorf zurückgehenden Herrenhuter Brüdergemeinde, die unbekümmert geistliche Lieder sangen, als das Schiff in einen bedrohlichen Sturm geraten war. Die Methodistenkirche spaltete sich, ein Teil wurde von John Wesley (1703-1789) geführt, der dem freien Willen des Menschen in seiner Theologie Raum gab, aus diesem Grunde trennte sich der Mitbegründer John Whitefield (1714-1770), der theologisch ein Anhänger Calvins und der Prädestinationslehre war, und gründete einen eigenen Zweig des Methodismus. Trotz dieser theologischen Differenzen haben beide in ihrer Verkündigung eine Breitenwirkung erzielt. Zinzendorf hat nicht nur auf John Wesley und andere Theologen eingewirkt, sein Einfluss erstreckte sich auch auf andere Geistesgrößen der Zeit, wie Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Daniel Friedrich Schleiermacher (1768-1834), (aus Wikipedia)was nicht bedeutet, das alle die genannten auf Zinzendorfs geistliche Linie eingeschwenkt wären. Karl Barth nannte Zinzendorf den ersten echten Vorläufer der Ökumene. Etwas von dieser Linie ist in Goethes Faust zu finden in dem vielfach erwähnten und bekannten Osterspaziergang:

Chor der Engel:                        Chor der Weiber:                      Chor der Engel:

Christ ist erstanden!                 Mit Spezereien                          Christ ist erstanden!

Freude dem Sterblichen,          Hatten wir ihn gepflegt,            Selig der Liebende,

Den die verderblichen,             Wir, seine Getreuen,                 Der die betrübende,

Schleichenden, erblichen          Hatten ihn hingelegt;                Heilsam und übende

Mängel umwanden.                  Tücher und Binden                   Prüfung bestanden.      

                                                  Reinlich umwanden wir, –      

                                                  Ach und wir finden

                                                  Christ nicht mehr hier.

Die so verkündete Osterbotschaft zertrümmert Faust wie mit einem Hammerschlag:

Was sucht ihr mächtig und gelind,

Ihr Himmelstöne, mich am Staube?

Klingt dort umher wo weiche Menschen sind,

Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube;

Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind,

Zu jenen Sphären wag ich nicht zu streben,

Woher die holde Nachricht tönt;

Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt,

Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben. (Goethes Faust, der Tragödie erster Teil)

Immanuel Kant nimmt Stellung zum Verlangen der Menschen ein Wunder zu sehen, und sieht eine vernunftgemäße Begründung darin, das Wunder etwas Seltenes sein müssten, da sie sonst

[85] Weber, Max: Protestantische Ethik. S. 153 ff

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nicht mehr als Wunder angesehen werden könnten. In einer Abhandlung mit dem Titel erläutert Kant die Zusammenhänge:

Wunder und übernatürliche Begebenheiten

Es ist eine bekannte Regel der Weltweisen oder vielmehr der gesunden Vernunft überhaupt: dass man ohne die erheblichste Ursache nichts für ein Wunder oder eine übernatürliche Begebenheit halten solle. Diese Regel enthält erstlich, dass Wunder selten seien, zweitens, dass die gesamte Vollkommenheit des Universums auch ohne viele natürliche dem göttlichen Willen gemäß nach den Gesetzen der Natur erreicht werde; denn jedermann erkennt: dass, wenn ohne häufige Wunder die Welt des Zwecks ihres Dasein verfehlte, übernatürliche Begebenheiten etwas Gewöhnliches sein müssten.[86]

Der Glaube Immanuel Kants ist rein philosophisch auf die Vernunft gegründet, und verzichtet daher auf theologisch begründete Gottesbeziehungen: Nun war es Pflicht für uns, das höchste Gut zu befördern, mithin nicht allein Befugnis, sondern auch mit der Pflicht als Bedürfnis verbundene Notwendigkeit, die Möglichkeit dieses höchsten Guts vorauszusetzen, welches, da es nur unter der Bedingung des Daseins Gottes stattfindet, die Voraussetzung desselben mit der Pflicht unzertrennlich verbindet, was bedeutet, es ist moralisch Notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen.[87]

An der Spitze des Staates müssen Philosophen stehen, so die Vorstellung Platons, die dafür gebildet und in eigens dafür geschaffenen Einrichtungen auf ihre Aufgabe vorbereitet werden. Mann und Frau haben in der platonisch ausgerichteten Gesellschaft gleiche Rechte und Pflichten, eine für seine und spätere Zeit revolutionäre Ansicht. Oberstes Gebot für das Individuum ist die Pflichterfüllung, „jeder tut das Seine“. Für Philosophen als Wächter über das Gemeinwesen und Staatenlenker wird Besitzlosigkeit gefordert. Die Hauptgefahr für die Stabilität seines Staates sah Platon in der Spaltung der Wächterklasse durch Streit um Güter. Wächter des Staates trügen das Gold in ihrer Seele, so die Idealvorstellung. Nach Platons Vorstellungen kann der gerechte Staat nur bestehen, wenn in ihm das Göttliche beherrschendes Element ist, das gegen unwahre Darstellungen und Fälschungen geschützt werden muss. Er fordert die Reinigung der griechischen Mythologie von „Lügen“ über Gott. Geschichten von Göttern, die sich streiten, intrigieren, Inzest praktizieren und stehlen, seien mit der wahren Natur des Göttlichen, des Guten und Wahren, unvereinbar. Platons Sicht des einen Gottes war ein radikaler Bruch mit dem Polytheismus, der bestimmend war für das griechische Leben der Zeit in Politik und Gesellschaft. Hierin und in Platons Lehre vom Weiterleben der Seele nach dem Tode sahen Augustinus (354 – 430) und andere Kirchenväter Gemeinsamkeiten mit der christlichen Vorstellungswelt.[88] 

[86] Kant, Immanuel: Die drei Kritiken. S. 66

[87] ebd. S. 276

[88] Klassische Staatsphilosophie. Texte und Einführungen von Platon bis Rousseau. Oberndorfer, Dieter/Rosenberg, Beate (Hrsg) München 2000 S. 17 f

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Platon hat nicht einen Staat nach modernen Vorstellungen angestrebt. Ebenso unübersehbar sind die Unterschiede in seinen Ausführungen vom gerechten Staat zum christlichen Verständnis, worin die Gerechtigkeit des Individuums Ausgangspunkt christlicher Lehre ist und nicht die Gerechtigkeit staatlicher und politischer Ordnung.[89]

Erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt platonischer Philosophie ist die Ideenlehre. Die durch die Sinne wahrnehmbare Natur (physis) ist für Platon die Welt der Vergänglichkeit. Die bleibende unzerstörbare Realität sind die „hinter der Natur liegenden“ (Metaphysik) Ideen. (griech. Eidos = Bild, Gestalt). Die sinnlich erkennbare Welt ist nur ein „Schatten“ der eigentlichen Wirklichkeit der Ideen, die als unzerstörbar, unveränderlich und ewig gelten. Im „Höhlengleichnis“ ist veranschaulicht, wie die irdische Welt in dem Maße Realität gewinnt, als es ihr gelingt sich der Wirklichkeit der Ideen anzunähern. Auf die Politik bezogen ist es Aufgabe des Staates die „Idee des guten Staates“ zu verwirklichen. Platon wird als der geistige Vater des Idealismus angesehen. Der deutsche Idealismus, mit Hegel als einem ihrer führenden Vertreter, hat seine Wurzeln in der platonischen Ideenwelt.[90]

Ein weiterer Einfluss auf Theologie und christliches Denken, besonders der Scholastik im Mittelalter, ist von dem griechischen Philosophen Aristoteles (324-322 v. Chr.) ausgegangen. Herausragender Vertreter dieser theologischen Richtung ist Thomas von Aquino (1224-1274). Er sieht in der Theologie eine Wissenschaft neben der Philosophie. Davon ausgehend, wäre es nicht notwendig, neben der Philosophie noch eine andere Wissenschaft zu betreiben. Dagegen spricht das Wort des Apostels Paulus in dem Brief an Timotheus (2. Tim. Kapitel 3, Vers 16): „Jede göttlich eingegebene Schrift dient zur Lehre, zur Überzeugung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“. Nun erstreckt sich aber die göttlich eingegebene Schrift nicht auf die Fächer der Philosophie, die sich die menschliche Vernunft nach ihrem Bedürfnis geschaffen hat. Also ist es zweckdienlich, dass außer der Philosophie noch andere, göttlich eingebebene Wissenschaft bestehe. Thomas antwortet: Es war notwendig zum menschlichem Heile, dass außer den philosophischen Fächern, in welchem die Vernunft des Menschen forscht, noch eine Wissenschaft besteht, die auf der göttlichen Offenbarung gründet.[91] Alles Geschaffene, alles historisch Gewordene hat eine Ursache, alles beruht auf Kausalität. Nur Gott, der Schöpfer aller Dinge hat keine Ursache, er ist der „Unbewegte Beweger“.[92] Diesen Ausdruck aus der Physik des Aristoteles identifiziert Thomas mit dem christlichen Gott. Er stellt in seiner Gotteslehre die Bedeutung der Offenbarung heraus, die für philosophische Überlegungen unerreichbar sei. (aus Wikipedia)

Im Jahre 529, nach dem das Christentum im Römischen Reich zur Staatsreligion erklärt worden war, wurde die auf den Philosophen Platon zurückgehende Akademie in Athen geschlossen. Damit ging nicht nur philosophisches Wissen verloren, sondern auch die übrigen Wissenszweige und die damit verbundenen Erkenntnisse. Die Heilige Schrift ist kein Buch der Wissenschaften, den pythagoreischen Lehrsatz für das rechtwinkelige Dreieck a²+b²=c² suchen wir dort vergeblich, aber der Lehrsatz gilt auch für Christen, auch wenn sein Entdecker kein Christ war. Erst im Hochmittelalter gelangten über die in Spanien herrschenden Mauren wissenschaftliche Erkenntnisse des antiken Griechenland nach Europa, und erst mit dem Beginn der Renaissance gelang es, an die wissenschaftlichen  Errungenschaften der griechischen Antike anzuknüpfen.

Auf den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) geht die Lehre von der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes, zurück, in der es heißt, Gott habe die beste aller

[89] Klassische Staatsphilosophie. S. 18 f

[90] ebd. S. 19

[91] Aquino, Thomas vom: Summe der Theologie. Zusammengefasst und erläutert von Josef Bernhart. Band I Stuttgart 1954 S. 3

[92] ebd. S. 15

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möglichen Welten geschaffen.[93] Leibniz gehört neben dem christlichen Philosophen Blaise Pascal (1623-1662) und dem unermüdlichen Forscher Isaac Newton (1642-1727) zu dem Dreigestirn herausragender Wissenschaftler. Sie waren zugleich Angehörige einer europäischen Gelehrtenrepublik, zu der viele große Namen hinzugefügt werden müssten, in der nationale Eifersüchteleien nicht tonangebend waren. Es kann hier von einem Spitzentrio europäischer Wissenschaft gesprochen werden. Leibniz verfocht die Realität der sittlichen Welt, so in der Theodizee, wo diese Welt eben die „beste“ sei, weil sie eine ewige Aufgabe enthält, die sich von Stunde zu Stunde und von Tag zu Tag neu stellt.[94] Aus der Unvereinbarkeit eines freien Menschenwillens mit dem Kausalprinzip folgt aber nicht, dass Strafe und Belohnung nicht kausalfrei, also mit der Kausalität nicht verträglich sind. Lohn und Strafe sind nämlich keine auf Naturgesetze beruhende Naturerscheinungen, welche determiniert sein müssen, sondern Moralphänomene, welche indeterminiert sind. Die Handlungsdeterminiertheit steht nicht der Schuld im Wege, weil durch sie keine Bestimmung erfolgen kann. Schuld wird nur durch indeterminierte Moralgründe bedingt. Noch mehr vertragen sich Lohn und Strafe mit dem Gottesgedanken – lauter freie Ideen, welche als solche dem Naturgesetze nicht unterworfen sein können. Wer denn bestraft und belohnt, wenn nicht Gott? Besteht doch gerade seine Allmacht in dem Vermögen der zuteilenden Vergeltung.[95]  Was hier nicht betont wird, ist die Möglichkeit zwischen mehreren Kausalitäten oder Beweggründen zu wählen. Freiheit vom kausal bedingten Geschehen ist zur Belohnung und Bestrafung unerlässlich. Es ist dies keine Freiheit des Menschen. Wessen Freiheit aber dann? Es ist die Freiheit der göttlichen Gebote. – Dieu agit très librement…Les décrets de Dieu sont toujour libres…Gottes Handeln wird durch Freiheit bestimmt, seine Dekrete sind freie Entscheidungen. Die Behauptung: „Dieu a fait l’homme libre Gott hat dem Menschen die freie Entscheidung ermöglicht, ist widerspruchsvoll, da das Gemachte nicht der Meister, und das dadurch Bewirkte nicht frei von Ursachen sein kann.[96] Es gibt aber Freiheit, wenn auch keine Handlungsfreiheit, so doch Urteilsfreiheit, nur wenn es keine Werturteile gäbe, ginge die Freiheit gänzlich verloren.[97]

Theologen unterschiedlicher Richtungen haben von Anbeginn der christlichen Kirche die Behauptung vertreten, Gott hätte ohne  Leiden gelitten.[98] Eine irrige und abwegige Behauptung. Gott hat die Leiden erduldet wie ein Mensch ohne Abstriche. Gott ist in Jesus Christus geworden, was alle Menschen sind, er hat die Leiden des menschlichen Individuums und der Menschheit auf sich genommen und sich damit identifiziert, so wie auch die Schuld des gefallenen Menschen und der Schöpfung, ohne in Sünde zu fallen. In seinem Gebet im Garten von Gethsemane (Evangelium nach Matthäus Kapitel 25) bittet er, dass der Kelch an ihm vorübergehen möge, und auf dem Berg der Versuchung macht der Teufel ihm das Angebot, ihm alle Reiche der Welt zu übergeben, wenn er niederfalle und ihn anbete. (Evangelium nach Matthäus Kapitel 4) Es hätte also für Jesus Christus die Möglichkeit bestanden anders zu entscheiden. Er ist also von den Leiden der Schöpfung und der Menschheit betroffen, und sein Ziel ist es alles herzurichten und nicht hinzurichten.

Ebenso haben auch Schriftsteller unterschiedlicher Art den Standpunkt vertreten, die Heilige Dreieinigkeit stünde im  Widerspruch mit der großen mathematischen Wahrheit: Sind zwei Größen einer dritten gleich, so sind sie untereinander gleich, oder wenn A und B einerseits, C und B andererseits gleich sind, dann müssten A und C untereinander gleich sein. Denn dieses Prinzip folgt unmittelbar aus dem Satz vom Widerspruch und bildet das Fundament der ganzen

[93] Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Theodizee.Übersetzung von Arthur Buchenau. Hamburg 1968. Einführender Essay von Morris Stockhammer, hier S. V

[94] ebd. einführender Essay S. VI

[95] ebd. S. X

[96] ebd. S. XIII

[97] ebd. S. XIV

[98] Leibniz: Die Theodizee. Einleitende Abhandlung über die Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft. S.50

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Logik; fällt sie, dann gibt es kein Mittel, vernünftig zu urteilen. Wenn daher gesagt wird der Vater ist Gott, der Sohn ist Gott und der Heilige Geist ist Gott, und es gibt dennoch nur einen Gott, obgleich diese Personen untereinander verschieden sind, so muss der Schluss folgen, dass dieses Wort Gott am Anfang und Ende nicht den nämlichen Sinn hat. Es bezeichnet in dem einen Falle die göttliche Substanz (ein Ding das zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf) in einem anderen Fall eine der drei göttlichen Personen. Die gewöhnliche Unterscheidung zwischen dem, was über die Vernunft hinausgeht und dem, was gegen die Vernunft gerichtet ist, deckt sich ungefähr mit der oben beigebrachten Unterscheidung der zwei Arten von Notwendigkeit. Eine Wahrheit geht über die Vernunft hinaus, wenn unser Geist (oder der geschaffene Geist überhaupt) sie nicht begreifen kann; und so verhält es sich meines Erachtens mit der Dreieinigkeit, mit dem Gott allein vorbehaltenen Wundern, wie z. B. die Schöpfung, mit der Wahl der Weltordnung, die von der allgemeinen Harmonie und der klaren Erkenntnis unendlich vieler Einzeldinge zugleich abhängt.[99] Denn was gegen die Vernunft gerichtet ist, ist auch gegen gewisse absolute  Wahrheiten, die nicht aufgehoben werden können, gerichtet, was jedoch über die Vernunft hinausgeht, widerstreitet nur der gewöhnlichen Erfahrung und der üblichen Auffassung, eine Wahrheit, jedoch, kann nicht gegen die Vernunft gerichtet sein.[100] Nachdem wir die Rechte des Glaubens und der Vernunft so geregelt haben, fährt Leibniz fort, dass die Vernunft dem Glauben dient, und weit davon entfernt ist, ihm zu widersprechen, wollen wir sehen, wie man sich dieser Rechte bedient, um das, was uns das natürliche Licht und die Offenbarung über die Stellung Gottes und des Menschen zum Übel lehrt, zu stützen und in Einklang zu bringen. Die Stellungen zu den gegebenen Schwierigkeiten können in zwei Klassen aufgeteilt werden, die einmal auf die Unvereinbarkeit menschlicher Freiheit und göttlicher Natur hinauslaufen, und die Grundlage bilden von Schuld und Strafe des Menschen. Weiter geht es um das Verhalten Gottes, dem ein Anteil an der Existenz des Bösen zugeschrieben wird, selbst dann, wenn der Mensch frei wäre und seinen Anteil hätte. Wie lassen sich so Gottes Güte, Heiligkeit und Gerechtigkeit in Einklang bringen, da Gott am physischen und moralischen Übel mitwirkt? Im Reich der Natur werden die Übel genauso wahrgenommen wie im Reich der Gnade Gottes, und diese Übel treten im zukünftigen ewigen Leben mehr und härter hervor als im vergänglichen Leben.[101] Im zukünftigen Leben werden Lohn und Strafe noch ärger offenbar werden, da die Anzahl der Geretteten, zum Heil bestimmten, sich von der großen Masse, die nicht des Heiles teilhaftig wird, abhebt.[102] In einem gemäßigten theologischen System heißt es, Gott habe alle Menschen retten wollen. Gott gab seinem Sohne Menschennatur, um die Erlösung zu bewirken, die aus vollem Herzen ohne Zagen glauben. Dieser Herzensglaube ist eine Gottesgabe, der Mensch bedarf dazu der vorgreifenden Gnade, von der das Wollen und das Gelingen abhängig ist.[103]

Leibniz schürft tiefer und greift etwas auf, was ebenso tiefes Nachdenken auslöst, und die Frage entstehen lässt, wie eine Schöpfung zu bewerten ist, die zu einem immerwährenden Verderben verurteilt ist. Eine Theologie, die den Standpunkt vertritt, im zukünftigen Leben sei eine Rettung vom Weg des Verderbens ausgeschlossen, hat keine Gottesfurcht bewirkt, das zeigt insbesondere die Geschichte der christlichen Kirchen mit all den grausamen Exzessen, die sie sich gegenseitig angetan haben, aber auch in die übrige Welt hinein. Die Lehre von der immerwährenden Verdammnis ist deshalb aufrechterhalten worden, weil die Befürchtung bestand, der Mensch könne in diesem Leben dadurch zu Leichtfertigkeit und Leichtsinn gebracht werden. Es bleibt die Tatsache bestehen, der Mensch ist zum Ebenbilde Gottes geschaffen, durch Jesus Christus ist Gott geworden, was der Mensch auch ist, und der Mensch

[99] Leibniz: Die Theodizee. Einleitende Abhandlung. S. 50 f

[100] ebd. S. 51

[101] Leibniz: Die Theodizee. 1. Teil der Versuche über die göttliche Gerechtigkeit, die Freiheit des Menschen und der Ursprung des Übels. S. 95

[102] ebd. S. 97

[103] ebd. S. 98

 

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soll auf den Weg geführt werden, zu werden, was Gott auch ist. Ziel ist es, den Menschen in dieses Ebenbild zu verwandeln, aus dem er herausgefallen ist.

Hier kommen wir zurück auf Leibniz mit der unumwundenen Feststellung, Gott habe „die beste aller möglichen Welten“ geschaffen. Voltaire (1694-1778), einer der herausragenden geistigen Wegbereiter der Aufklärung, hat sich mit dieser Theologie, müssen wir schon sagen, auseinandergesetzt mit seiner märchenhaften Darstellung „Candide oder der Optimist“. Mit beizender Ironie lässt Voltaire „die beste aller Welten“ vorüberziehen. Candide, der „Held“ wird den Leiden der Zeit unterworfen, die im absolutistischen Herrschaftssystem einen Höhepunkt erreichten durch den mit ausgesuchten Grausamkeiten erhobenen Herrschaftsanspruch, begleitet von absoluter Willkür, dem Adel und Monarchie sich hingaben. Am Ende, nach dem vielen Auf und Ab von Glück und Unglück, von Armut und Reichtum, sieht Candide mit seiner endlich erlangten und Erfüllung gefundenen Liebe zu seiner Conégonde den Ausweg in einem bescheidenem Dasein, gegründet auf das Arbeitsethos.

Beachtenswert sind die Beziehungen zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen. Die Beziehung zwischen Voltaire und Friedrich II. (der Große) gehört zu den ungewöhnlichsten Männerfreundschaften der Geschichte.[104] „Europa hatte zu dieser Zeit zwei Könige, den König von Preußen und König Voltaire. Der eine verwandelte das Denken, der andere die Landkarte Europas“.[105] Der Briefwechsel zwischen beiden, beginnend 1736 hielt ein Leben lang, trotz eines zwischenzeitlich schweren Zerwürfnisses, das nicht zuletzt aus fragwürdigen Geldgeschäften Voltaires herrührte. Der Kapitalismus, im wahrsten Sinne des Wortes, hatte bereits große Fortschritte gemacht. Friedrich urteilte über Voltaire: „Sie sind eine Fackel, welche die Welt erleuchten muss“ oder Voltaire in einem seiner letzten Briefe: „Mehr denn je werfe ich mich ihnen zu Füßen, von Herzen hoffe ich, dass sie nicht mehr geschwollen sind“.[106] Friedrich sah sich als Philosoph auf dem Königsthron. Er verkörperte ein anderes Preußen, als das, was später aus Preußen und Friedrich II. gemacht wurde.

Idealistische Philosophie und materialistische Philosophie, und der daraus resultierende Gegensatz durchziehen die  Menschheitsgeschichte. Zielsetzung platonischer Staatslehre ist ein gerechter Staat. Es besteht hier ein Unterschied zum christlichen Verständnis, wo die Gerechtigkeit des Individuums im Vordergrund steht und nicht die Gerechtigkeit staatlicher und politischer Ordnung. Im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth im 1. Korintherbrief Kapitel 7, Vers 22: Ein Sklave, der im Herrn berufen ist, ist ja ein Freigelassener des Herrn, so wie auch, wer als Freier berufen ward, ein Sklave Christi ist,[107] also auf die innere Überzeugung kommt es zuerst an. Hier beginnt der steinige und dornige Weg des Individuums im Ringen mit dem Kollektiv. Im christlichen Kanon der Heiligen Schrift findet sich nirgendwo ein Aufruf zum Umsturz der politischen Verhältnisse. Es wäre aber abwegig, sich hinter dem Glauben an eine zukünftige Welt nach dem Tode zurückzuziehen, und die irdischen Lebensverhältnisse in Staat und Gesellschaft unberücksichtigt zu lassen.

Der Marxismus gründet auf das materialistische Staats-und Gesellschaftsverständnis, wobei kein Verständnis dafür aufgebracht werden kann, warum in der angestrebten klassenlosen, Gesellschaft, der Atheismus zur Staatsreligion erhoben werden musste.

Platonisches und marxistisches Staatsverständnis treffen sich in einem Punkt, beide setzen darauf, dass ein gerechter Staat, gerechte Individuen schafft. Es geht also hier tatsächlich alles von oben nach unten. Ein marxistischer Kernsatz lautet: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Die Ideen, und mit ihnen die ethischen Werte, werden zwar relativiert, wenn sie nur als Reflexe der materiellen Verhältnisse erscheinen. Dennoch ist der marxistische Materialismus nicht

[104] Spiegel Online. Spiegel Geschichte 2/2011

[105] Spiegel Geschichte 2/2011 zitiert nach Jean Orieux (1907-1990) durch seine Biographien über Voltaire und Talleyrand, die in zahlreiche Sprachen überstzt wurden.

[106] Aus Spiegel Geschichte 2/2011

[107] Übersetzung nach Riesler (kath)

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unethisch, sonst hätte er nicht als Fundament eines sozialistischen Systems dienen können. Unabhängig davon, ob jemand für oder gegen den Sozialismus ist, kann nicht geleugnet werden, dass seine Ziele von einem ethischen Fundament getragen werden. Der Widerspruch löst sich dadurch, dass nach Marx die materielle Entwicklung, ganz wie Hegels Weltgeist, die Tendenz zu Vernunft und Freiheit in sich trägt. Wer sich also mit ihr identifiziert, wird gut und vernünftig wie sie selbst. Materialismus und Ethik werden eins. Eine autonome Idee des Guten wird überflüssig, weil die materielle Entwicklung ohnedies zum Guten hinführt. Es gibt materialistischen Anschauungen, die zu anderen Ergebnissen, zur Entwertung der Ethik führen. Der Marxismus gehört, entgegen vielen Behauptungen, nicht dazu. Marx war ganz von der Idee der Gerechtigkeit beseelt; sie war, obwohl seine Lehre es leugnet, der Ausgangspunkt seines Denkens.[108] Es ist in der Geschichte aber oft zu beobachten gewesen, dass steigender materieller Wohlstand aus christlicher Sicht zu frivolen unsittlichen Handlungen führt.

Im Reich des Glaubens und der Gnade steht im Zentrum der Satz: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Schon im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift in Levitikus (3. Buch Mose) Kapitel 19, Vers 18 steht dieser Satz, und im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom ist zu lesen, Kapitel 12, Verse 8-9: (8) Bleibt niemand etwas schuldig, außer dem, dass ihr euch einander liebt; denn wer seinen Nächsten liebt hat das Gesetz erfüllt. (9) Denn die Gebote: „Du sollst nicht ehebrechen, nicht töten, nicht stehlen, [nicht falsches Zeugnis geben,] nicht begehren, und jedes andere Gebot ist in diesem einen Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.[109] Diese Gebote sind auch dem Lohn und der Strafe ausgesetzt, wenn Verstöße dagegen vorliegen. Was hier für das Reich des Glaubens gilt, findet auch im Reich der Vernunft Anwendung. Im „Kategorischen Imperativ“ bei Immanuel Kant ist dazu ausgesagt: „Handle so, dass die Maxime deines Willens, jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“, was auch für das Zusammenleben der Menschen die gleiche Bedeutung hat wie der einfache Satz des Glaubens. Ein Verstoß dagegen wird auch im Reich der Vernunft geahndet, nur ist hier nicht die persönliche Beziehung zu einem strafenden Gott gemeint, hier wird die Entwicklung von Staat und Gesellschaft die angedrohte Konsequenz herbeiführen. So sieht es Voltaire im Hinblick auf die christliche Kirche, wenn er schreibt: „Ihr habt euch die Zeiten der Unwissenheit, des Aberglaubens, des Wahnsinns zunutze gemacht, um uns unser Hab und Gut zu rauben und uns mit Füßen zu treten, um euch auf Kosten der Unglücklichen zu mästen. Zittert vor dem anbrechenden Tag der Vernunft“.[110] Voltaire kann als Wegbereiter angesehen werden zu dem, was in der Französischen Revolution angestrebt wurde, ob er die Exzesse der Gewalt gebilligt hätte, ist unwahrscheinlich.

Was gegenwärtig bedrückend wirkt, ist das wirtschaftliche Geschehen im Weltmaßstab. Ratlosigkeit ist überall erkennbar. Für mehr als zwanzig Monate beabsichtigt die Europäische Zentralbank (EZB) jeden Monat 60 Milliarden Euro auf den Markt zu werfen, um Staatspapiere aufzukaufen, deren Wert mindestens zweifelhaft ist. Um Geldkapital in den Wirtschaftskreislauf zu locken, damit auch Sachkapital wieder den nötigen Absatz findet, ist in Erwägung gezogen worden, Bargeldkäufe auf 5000 € zu reduzieren oder den Bargeldverkehr gänzlich abzuschaffen, um dann durch negativen Zins, den Geldumlauf zu erzwingen, denn ohne Geldumlauf bleiben die durch Arbeitsleistung erzeugten Sachwerte in ihrem Depot. Es wäre ein Umlaufzwang, der unter den gegenwärtig herrschenden ökonomischen Bedingungen nicht zum Erfolg führen kann, weil eine Geldmengenregulierung über den Preisindex ausgeschlossen werden muss, denn die Billionenbeträge, die aufgehäuft worden sind durch Staatsverschuldung, Spekulationsgewinne und durch das Drucken von Banknoten, könnten auf den Markt drängen und alles überschwemmen. Das Wirtschaftssystem, dem die Weltwirtschaft unterworfen ist, lässt freies Unternehmertum, insbesondere mittelständische Unternehmen nur schwer gedeihen, und es wird zunehmend schwieriger. Freier Wettbewerb wird unmöglich gemacht. Großkonzerne, die immer größer werden und kaum noch von einem Staatsmonopol zu unterscheiden sind, entfalten sich zu einem Diktat, das Demokratie und freien Wettbewerb einschränkt oder ganz abschafft.

Gründerkrach (1873), Weltwirtschaftskrise, Oktober 1929, und Bankenkrise 2008 sind nur einige Stationen, die soziale Ungerechtigkeit mit unermesslichem Leid und Elend markieren. Dieser Kapitalismus kann mit dem ethischen Gehalt des Evangeliums von Jesus Christus keine Gemeinsamkeiten aufweisen, ja nicht einmal mit der protestantischen Ethik, die Max Weber

[108] Theimer, Walter: Der Marxismus. S 11 entnommen aus Dahrendorf "Die Idee des Gerechten bei Karl Marx" Hannover 1952

[109] Übersetzung nach Josef Kürzinger (kath)

[110]  Zitiert in Kirchen-und Dogmengeschichte in Quellen: Ein Arbeitsbuch/hrsg. A. Obermann. Band IV. Vom Konfessionalismus zur Moderne/begründet von Martin Greschat. Neunkirchen-Vluyn. S. 102 unter dem Titel Voltaires Krichenkritik.

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ausführlich beschrieben hat. Es dürfen hier keine Missverständnisse entstehen. Der „Kapitalist“ oder Kapitalismus, den Marx vom produktiven Kapitalismus unterscheidet, ist in seiner Funktion unentbehrlich, es erweist sich die Notwendigkeit einer Einrichtung mit der Aufgabe, die Wirtschaft mit Geldkapital zu versorgen, damit auch Sachkapital fließen kann, entscheidend sind nur die Bedingungen, unter denen Geldkapital fließen soll und muss, denn auf den „Kapitalisten“ kann die Wirtschaft nicht verzichten, genau so wenig auf den Produzenten von Waren, Dienstleitungen und geistigen Erzeugnissen, wesentlich sind nur die Auswirkungen und Angebote, unter denen sich Kapital zur Verfügung stellt.

Die Botschaft des Evangeliums enthält mit aller Eindeutigkeit und Konsequenz eine sozialethische Verpflichtung. Soziale Hilfsprojekte, wie „Misereor“ oder „Brot für die Welt“, wie sie von den großen Kirchen betrieben werden oder die Menge sozialer Projekte von Orden und Freikirchen, sind gut und nützlich, sie lindern aber die Not nur in geringem Umfang, am System selbst ändert sich dadurch nichts.

Im Evangelium nach Matthäus im 25. Kapitel, den Versen 34-40, wird eine sozialethische  Verpflichtung formuliert, die Individuum und Kollektiv gleichermaßen betreffen, denn es ist hier von den Völkern der Welt die Rede. (34) Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! (35) Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt. (36) Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. (37) Dann werden ihnen die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dich gespeist? Oder durstig und haben die getränkt? (38) Wann haben wir dich als einen Gast gesehen und beherbergt? Wann haben wir dich krank oder gefangen gesehen und sind zu dir gekommen? (40) Und der König wird antworten und sagen zu ihnen: Wahrlich ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.[111]

 

b) Der christliche Glaube in der deutschen Geschichte in ihrem Kontext.

Zwei Ereignisse, die im 4. Und 5. Jahrhundert die Geschicke der politischen Gegenwart nachhaltig betreffen und beeinflussen sind zuerst die „Konstantinische Wende“ zu Beginn des 4. Jahrhunderts und die Germaneneinfälle in das weströmische Reich bis zu seiner Auflösung 476. Kaiser Theodosius, dem es zum letzten Mal gelang, die Einheit des gesamten Römischen Reiches herzustellen, erhob 395 das Christentum zur Staatsreligion, mit nachfolgenden, unmittelbaren Auswirkungen für die gesamte europäische Geschichte, für den geistigen und historischen Werdegang. Im Vordergrund der Betrachtung steht und muss stehen der Kirchenvater Augustin mit seinem theologischem Hauptwerk „Der Gottesstaat“, das mit maßgebend wurde für den geistlichen Verlauf der Kirche und ihrer Geschichte. Die Auflösung des weströmischen Reiches durch die Einfälle der verschiedenen Germanenstämme war ebenfalls nicht ohne Auswirkung, die bis in die neueste Geschichte hineinreichen. Die nationalsozialistische Ideologie umgab sich mit einem Germanenmythos, der sich gerade auf den oben angesprochenen Zeitabschnitt bezog, und mit einer durch und durch heidnischen Symbolik getränkt war mit dem Ziel, darauf ein Geschichtsbewusstsein zu begründen. Daran knüpft sich die Frage an, inwieweit dieser Germanenmythos mit dem wirklichen historischen Verlauf der Zeit, die es zu betrachten gilt, standhält. Festgehalten werden muss zu Beginn der Betrachtung, dass von den Reichen, die von den Germanenstämmen auf dem Boden des in Auflösung begriffenen weströmischen Reiches errichtet wurden, keine Rassenpolitik ausging. Sie verschmolzen sehr schnell mit der einheimischen Bevölkerung, nahmen ihre

[111] Stuttgarter Jubikäumsbibel nach der Übersetzung Martin Luthers

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zivilisatorischen Lebensgewohnheiten an und nicht zuletzt den christlichen Glauben, der bestimmend geworden war für das gesamte römische Reich.

Julius Cäsar (100-44 v. Chr.) hatte von Gallien aus Angriffe auf die Germanen unternommen, die von Kaiser Augustus (14 v. Chr.-37 n. Chr.) und seinen Nachfolgern fortgeführt wurden. Der entscheidende Rückschlag für solche Unternehmungen geschah im Jahr 9 in der oft zitierten und kommentierten Varusschlacht, benannt nach dem römischen Statthalter Varus für Germanien, im Teutoburger Wald. Es gelang den Römern in der Folgezeit nicht, das Gebiet vom Rhein bis an die Elbe zu unterwerfen und zur römischen Provinz zu machen, was beabsichtigt worden war. Arminius der germanische Sieger im Teutoburger Wald war zuvor in römischen Diensten gewesen, erlangte den Ritterstand und führte germanische Truppen, die vermehrt ins römische Heer eingegliedert wurden. Germanenstämme, die im römischen Grenzgebiet siedelten, mussten dafür im römischen Heer Heeresfolge leisten. Die Römer verlegten sich vermehrt auf eine Defensivstrategie, errichteten als Schutzwall den „Limes“ mit Wachtürmen, der zusammen mit Rhein und Donau als natürliche Grenzabwehr galt. Vor dem Limes und den anderen Grenzgebieten drängten sich die Germanen, die an den dafür vorgesehenen Grenzübergängen römisches Gebiet ohne Waffen betreten durften, was zu einem regen Handel und Warenaustausch genutzt wurde.[112] Im ausgehenden 2. Jahrhundert formierten sich die Germanen zu größeren Stammesverbänden zu Alemannen, Franken und Sachsen. Um das Jahr 260 drangen die Alemannen bis in norditalienische PO-Ebene vor und wurden in einer Schlacht bei Mailand überwunden und zurückgedrängt.[113] Zur selben Zeit, als die Alemannen den Limes durchbrachen, durchzogen die Goten und Heruler den Balkan und Griechenland und eroberten Athen und Olympia. Es entstand für die römische Herrschaft der Zwang, den Germanen auf römischem Territorium Siedlungsgebiet zu überantworten gegen die Verpflichtung zur Grenzsicherung.[114] Im 4. Jahrhundert waren die römischen Legionen am Rhein und an der Donau vorwiegend aus Germanen rekrutiert, ihnen wurde die Offizierslaufbahn eröffnet und unter Kaiser Konstantin (306-337) gelangten sie in höchste Staatsämter, Teile des römischen Imperiums wurden geradezu germanisiert.[115] Zuvor begannen unter Kaiser Diokletian (284-305) die schlimmsten aller Christenverfolgungen.[116] Folter, Verbrennung von Kirchen, Zerstörung von Kirchen und Verbrennungen von Büchern, die den Christen heilig waren. Die Verfolgung der Christen vollzog sich in mehreren Etappen und begann im Jahre 299 zunächst mit der Entlassung christlicher Beamten, bis zum physischen Zwang heidnische Götter zu verehren. Die Verfolgung erstreckte sich bis zum Jahre 311. Christen wurde die Möglichkeit genommen ihre Gottesdienste abzuhalten.[117] Das Christentum hatte bereits eine solche Verbreitung gefunden, dass Martyrium und Polizeimethoden nichts Entscheidendes bewirken konnten. Verwaltungsstellen und Regierungszentren sympathisierten oft mit den Christen und hintertrieben die vorgesehenen Repressalien.[118]

Das Römische Reich, wie es aus den Händen der Kaiser Diokletians und Konstantins hervorging, verfügte über eine starke Staatsgewalt und fand seinen unbestrittenen Mittelpunkt in der Gestalt des Kaisers,[119] wobei die Gegensätze zwischen beiden Kaisern zu Beginn des 4. Jahrhunderts hervorstachen, die Christenverfolgung wurde nicht nur 312 beendet, das Datum markiert auch den Weg des Christentums zur Staatsreligion am Ende des 4. Jahrhunderts. Kaiser Diokletian hatte das Herrschaftssystem der Tetrarchie[120] begründet und das Reich unter

[112] Orthbandt, Eberhard: Deutsche Geschichte. Baden-Baden 1955 S. 79

[113] ebd. S. 82

[114] ebd. S. 81

[115] ebd. S. 84

[116] Heuss, Alfred: Römische Geschichte: Braunschweig 1960. S. 435

[117] ebd. S. 435

[118] ebd. S. 435

[119] ebd. S. 446

[120] ebd. S. 436

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vier Kaisern aufgeteilt mit einem jeweiligen Herrschaftsbereich. Mit dem Ende der Herrschaft Diokletians 306 begannen die Machtkämpfe im Westen zwischen den Kaisern Konstantin und Maxentius. Der Kampf wurde 312 in der Schacht an der Mulvischen Brücke in der Nähe Roms entschieden. Konstantin, so wird berichtet, habe vorher in einer Vision das Christuskreuz erblickt, in der ihm verheißen wurde; „In diesem Zeichen wirst du siegen“. Der Sieg brachte Konstantin die Alleinherrschaft über den Westteil des Reiches mit Rom als Zentrum. Im Osten schwang sich Kaiser Licinius (308-325) zum Alleinherrscher über den Ostteil des Reiches auf. Die letzte Entscheidung fiel 324/25 in dem Ringen zwischen Konstantin und Licinius, nachdem Sieg über Licinius war Konstantin Alleinherrscher über das Riesenreich.[121] Die Zeiten der Alleinherrschaft währten immer nur kurze Zeit. Konstantin von 324.337, Constantius von 353-360, Julian von 361-363 und Theodosisus der Große von 394/95.[122]

Im 5. Jahrhundert überrannten die verschiedenen Germanenstämme den Westen des Reiches, die Angelsachsen Britannien, die Franken Gallien, die Westgoten Spanien, die Vandalen Nordafrika und die Ostgoten Italien. Das oströmische Reich blieb noch fast tausend Jahre mit der Hauptstadt Konstantinopel erhalten. Römer, die dem Heidentum verhaftet blieben, sahen die Gründe für den Niedergang in dem Abfall von den Göttern, die nach ihrem Verständnis das Römische Reich zu seiner Größe geführt hatten. Ein Grund, warum Kaiser Julian noch einmal den Versuch unternahm, dem heidnischen Glauben wieder Geltung zu verschaffen, was aber misslang. Das rief die christlichen Apologeten (Verteidiger) auf den Plan, zu denen Augustinus (354-430) als der wirkmächtigste angesehen werden muss. Er trat in einem umfassenden Werk „Vom Gottesstaat“ heidnischen Anklagen entgegen. Dieses Werk kann auch als Ausgangspunkt angesehen werden für spätere theologische Gedankengebäude in der Kirchengeschichte.[123] Das Ende des Römischen Reiches war zugleich auch der Ausgangspunkt für Europas zukünftige Geschichte, was Christentum, Staats-und Geschichtsverständnis betrifft.

Das Römische Reich war christlich geworden, daraus ergibt sich die Frage in welchem Verhältnis standen die ebenfalls aus dem Heidentum hervorgegangenen Germanenstämme zum christlichen Glauben, die immer tiefer in den Westen des Reiches eingedrungen waren, und es schließlich überwanden. Die Germanenstämme waren zum selben Zeitraum wie die Römer für das Christentum gewonnen worden, hatten sich aber dem Arianismus zugewandt, was in den von Germanen errichteten Reichen auf dem Territorium des Weströmischen Reiches zu Konflikten der germanischen Oberschicht mit der herkömmlichen römischen Bevölkerung führte, die dem auf die Theologie des Athanasius begründeten katholischen Glauben angehörten.

Der Streit dieser beiden theologischen Richtungen und sein Ausgang zeigen den Weg, den die nachfolgende Kirchengeschichte genommen hat. Um eine Klärung herbeizuführen berief

[121] Heuss, Alfred: Römische Geschichte. S. 449

[122] ebd. 438

[123] Augustinus, Aurelius: Vom Gottesstaat. Vollständige Ausgabe in zwei Bänden von Wilhelm Thimme. Zürich 1955

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Kaiser Konstantin 325 ein Konzil nach Nicäa ein, das gleichzeitig als das erste Kirchenkonzil überhaupt angesehen werden kann. Der Kaiser verfolgte das Ziel neben einem einheitlichen Reich auch einen einheitlichen Glauben und Glaubensdogma herbeizuführen. Er verstand sich als geistliches Oberhaupt, als Schiedsrichter in den vielfältigen widerstreitenden Lehrmeinungen. Er wollte der gemeinsame Bischof und Vermittler sein. Von der urchristlichen Gemeinde hatte sich die Kirche entfernt. Es begann ein Machtkampf in der Kirche selbst, eine Vermischung von Gottesdienst und Staatsdienst, von selbstloser Hingabe an den Erlöser und Machtansprüchen der Geistlichkeit, von Glaubenseinfalt und Dogma.[124]

Ein Streit rückte in Nicäa in den Vordergrund, er war der eigentliche Anlass zur Einberufung des Konzils, ausgelöst wurde der Streit durch Arius, Presbyter in Alexandria, der sich fast über das ganze 4. Jahrhundert erstreckte, und der für die gesamte Christenheit zu einer Existenzfrage hätte werden können und daher einer Entscheidung bedurfte. Arius behauptete, dass Christus nicht Gott gleich sei, sondern ein ethisch besonders hochstehender Mensch sei, der aus eigenem freiem Willen gut geblieben sei. Wäre diese Lehre unwidersprochen hingenommen worden, hätte es den Kern der christlichen Botschaft in Frage gestellt und im Gegensatz zu eindeutigen Aussagen des christlichen Kanons der Heiligen Schrift gestanden. Arius wurde von seinem Bischof exkommuniziert. Wortführer gegen ihn war Athanasius, ebenfalls ein Presbyter in Alexandria.lehrte, Christus und Gott seien eins, und somit eine Einheit.[125] Über das ganze Johannesevangelium hinweg ist die Beziehung von Gott dem Sohn und Gott dem Vater eindeutig ausführlich definiert. Im Evangelium des Johannes Kapitel 10, Vers 30 steht übereinstimmend in allen Übersetzungen der Satz: Ich und der Vater sind eins. Im Brief des Apostel Paulus an die Kolosser Kapitel 1, Verse 14 – 17  steht geschrieben: (14) In diesem haben wir die Erlösung, nämlich die Vergebung der Sünden; (15) er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller (= der ganzen***) Schöpfung; (16) denn in ihm (d. h. durch seine Vermittlung) ist alles geschaffen worden, was im Himmel und auf der Erde ist, das Sichtbare wie das Unsichtbare, mögen es Throne oder Herrschaften, Mächte oder Gewalten sein; alles ist durch ihn und für ihn geschaffen worden, (17) und er ist vor allem (=steht über allem) und alles (oder: das ganze Weltall) hat in ihm seinen Bestand. *** a. Ü. der Erstgeborene vor allem Geschaffenen. [126]

Das Konzil zu Nicäa brachte ein Ergebnis, es entschied sich für die von Athanasius vertretene Theologie, die auch von Kaiser Konstantin gestützt wurde. Athanasius war eine geistesmächtige, entschlossene Persönlichkeit ohne Rücksichtnahme auf den hierarchischen Aufbau von Staat, Kirche und Gesellschaft.[127] Herausgekommen war das Nicäische Apostolikum als Glaubensbekenntnis, über das noch nicht endgültig entschieden worden war, denn Konstantin war nach dem Konzil schwankend geworden, und schenkte einige Jahre später wieder den Arianern Gehör, was für Athanasius Verbannung und Exil bedeutete.[128] Die Entscheidung für das Nicänische Apostolikum fiel endgültig auf dem Konzil in Konstantinopel 381. Das Nicänische Glaubensbekenntnis bildete im Verlaufe der Kirchengeschichte einen Konsens über die Konfessions-und Denominationsgrenzen hinweg. Bei rationaler Betrachtung, gestützt besonders auf das Johannesevangelium, ist ein anderer Ausweg gar nicht möglich. Wäre Jesus Christus Mensch gewesen, wenn auch ethisch hochstehend  und über alles herausragend, dann wäre die Erlösung der Schöpfung und der Menschheit in die Hände eines Menschen gelegt, bei wohlwollender Betrachtung eines mit Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart ausgestatteten Gottes, was schon zur Vernunft, mit der jeder Mensch ausgestattet ist, im Widerspruch steht.

[124] Orthbandt, Erberhard: Lebenslauf des deutschen Volkes. Werdegang des deutschen Reiches. Baden Baden 1955 S. 85 f

[125] ebd. S. 85

[126] Übersetzung nach Herrmann Menge (ev.)

[127] Orthbandt, Eberhard: Werdegang des Deutschen Reiches. S. 86

[128] ebd. S. 86

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Ebenso gilt als zweite Voraussetzung, dass Jesus Christus Mensch war ohne Einschränkung, ausgestattet mit allem, was den Menschen ausmacht im Denken und Empfindungen mit dem Unterschied, dass keine Vergehen oder Fehlleistungen bei ihm gefunden werden konnten. Als am Kreuz die Nägel in Hände und Füße getrieben wurden, hat er es empfunden, wie jeder andere Mensch und Erdenbürger es auch empfinden würde. Darüber hinaus leidet er in und mit jedem Menschen und aller Kreatur und der gesamten Schöpfung. Darum heißt es in dem 2. Brief des Apostels Paulus an die Korinther Kapitel 5, Verse 19 und 21: (19) Denn Gott war in Christo, und versöhnte die Welt mit ihm selber, und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu, und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. (21) Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.[129]

Das Bekenntnis von Nicäa wurde vom ersten Konzil von Nicäa 325, dem ersten ökumenischen Konzil herausgegeben. Es ist nicht zu verwechseln mit dem bekannteren und nahe verwandten Nicäno – Konstantinopolitanum, dem Bekenntnis des ersten Konzils von Konstantinopel, das ebenfalls oft als Nicänisches Glaubensbekenntnis oder Nizänisches Glaubensbekenntnis bezeichnet wird.

Das Erste Konzil von Konstantinopel (das 2. ökumenische Konzil) wurde von Kaiser Theodosius im Jahre 381 einberufen, um den seit 325 andauernden Streit und die drohende Glaubensspaltung zwischen Trinitariern  und Arianern zu lösen.

in Latein:

Credimus in unum Deum,

Patrem omnipoténtem,

omnium visibílium et invisibílium factorem.

Et in unum Dóminum nostrum Iesum Christum,

Fílium Dei,

natum ex Patre unigenitum.

hoc est de substantia Patris,

Deum ex Deo, lumen ex lúmine, Deum verum de Deo vero,

natum, non factum, unius substantiae cum Patre (quod graece dicunt homousion):

per quem ómnia facta sunt, quae in caelo et in terra,

qui propter nostram salútem descéndit,

incarnátus est et homo factus est,

et passus est,

et resurréxit tértia die,

et ascéndit in cælos,

ventúrus iudicáre vivos et mórtuos,

Et in Spíritum Sanctum.

Eos autem qui dicunt "Erat quando non erat" :

et "Antequam nasceretur, non erat" :

et "Quod de non exstantibus factus est" :

vel alia substania aut essentia dicentes

aut convertibilem aut demutabilem Deum <Filium Dei>,

hos anathematizat cahtolica Ecclesia

in deutscher Übersetzung:

Wir glauben an den einen Gott,

den Vater, den Allmächtigen,

den Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren.

[129] Revidierte Übersetzung nach Martin Luther. Stuttgart 1954

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Und an den einen Herrn Jesus Christus,

den Sohn Gottes,

der als Einziggeborener aus dem Vater gezeugt ist, das heißt: aus dem Wesen des Vaters,

Gott aus Gott, Licht aus Licht,

wahrer Gott aus wahrem Gott,

gezeugt, nicht geschaffen,

eines Wesens mit dem Vater (homoousion to patri);

durch den alles geworden ist, was im Himmel und was auf Erden ist;

der für uns Menschen und wegen unseres Heils herabgestiegen und Fleisch geworden ist,

Mensch geworden ist,

gelitten hat und am dritten Tage auferstanden ist,

aufgestiegen ist zum Himmel,

kommen wird um die Lebenden und die Toten zu richten;

Und an den Heiligen Geist.

Diejenigen aber, die da sagen „es gab eine Zeit, da er nicht war“

und „er war nicht, bevor er gezeugt wurde“,

und er sei aus dem Nichtseienden geworden,

oder die sagen, der Sohn Gottes stamme aus einer anderen Hypostase oder Wesenheit,

oder er sei geschaffen oder wandelbar oder veränderbar,

die verdammt die katholische Kirche. [richtig: die belegt die katholische Kirche mit dem Anathema]

 

Nicäno-Konstantinopolitanum:

 

Credo in unum Deum,
Patrem omnipotentem,
factorem cæli (cœli) et terræ,

visibilium omnium et invisibilium.

Et in unum Dominum Iesum Christum,
Filium Dei unigenitum,
et ex Patre natum ante omnia
sæcula.

Deum de Deo,
Lumen de Lumine,
Deum verum de Deo vero,
genitum non factum,
consubstantialem Patri;
per quem omnia facta sunt.
Qui propter nos homines et propter nostram salutem
descendit de cælis (cœlis).
Et incarnatus est
de Spiritu Sancto ex Maria Virgine,
et homo factus est.
Crucifixus etiam pro nobis sub Pontio Pilato,

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passus et sepultus est,
et resurrexit tertia die, secundum Scripturas,
et ascendit in cælum (cœlum),
sedet ad dexteram Patris.
Et iterum venturus est cum gloria,


iudicare vivos et mortuos,
 
cuius regni non erit finis.

Et in Spiritum Sanctum,
Dominum et vivificantem,
qui ex Patre (
Filioque) procedit.

Qui cum Patre et Filio simul adoratur et conglorificatur:

qui locutus est per prophetas.

Et unam, sanctam, catholicam et apostolicam Ecclesiam.
Confiteor unum baptisma in remissionem peccatorum.
Et expecto resurrectionem mortuorum,
et vitam venturi sæculi.


Amen.

Wir[2] glauben an den einen Gott,
den Vater, den Allmächtigen,
der alles
geschaffen hat, Himmel und Erde,
die sichtbare und die unsichtbare Welt.
Und an den einen Herrn
Jesus Christus,
Gottes
eingeborenen Sohn,
aus dem Vater geboren vor aller Zeit:
Gott von Gott,
Licht vom Licht,
wahrer Gott vom wahren Gott,
gezeugt, nicht geschaffen,
eines Wesens mit dem Vater;
durch ihn ist alles geschaffen.
Für uns Menschen und zu unserem Heil
ist er vom Himmel gekommen,
hat Fleisch angenommen
durch den
Heiligen Geist von der Jungfrau Maria
und ist Mensch geworden.
Er wurde für uns
gekreuzigt unter Pontius Pilatus,
hat gelitten und ist begraben worden,
ist
am dritten Tage auferstanden nach der Schrift
und
aufgefahren in den Himmel.
Er sitzt zur Rechten des Vaters


und wird wiederkommen in Herrlichkeit,
zu
richten die Lebenden und die Toten;
seiner Herrschaft wird kein Ende sein.
Wir glauben an den
Heiligen Geist,
der Herr ist und lebendig macht,
der aus dem Vater (und dem Sohn)
[3] hervorgeht,
der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird,

der gesprochen hat durch die
Propheten,
und die eine, heilige, christliche/katholische
[4] und apostolische Kirche.
Wir bekennen die eine
Taufe zur Vergebung der Sünden.
Wir erwarten die
Auferstehung der Toten
und das Leben der kommenden Welt.
Amen.

Textvergleich

Trotz ungesicherter Textgeschichte steht das Nicäno-Konstantinopolitanum in engem Zusammenhang mit dem Bekenntnis von Nicäa. Zum genauen Vergleich werden die beiden Texte gegenübergestellt (mit den Streichungen und Ergänzungen). (Aus Wikipedia)

Mit diesen Beiden Bekenntnissen wurde der Weg aufgezeigt für die christliche Gemeinde über Konfessions-und Denominationsgrenzen hinweg, der unverändert Bestand haben sollte für alle Zeiten der nachfolgenden Kirchengeschichte.

Damit war eine Säule errichtet, auf den sich der christliche Glaube gründete, unabhängig von den vielen Gegensätzen und Kämpfen, von den die Kirchengeschichte in oft unerfreulicher schrecklicher Weise Zeugnis gibt. Die zweite Säule wird gebildet durch die Theologie Aurelius Augustins, der mit seinem Werk „Vom Gottesstaat“, den Ausgangspunkt und das Vorbild schuf, auf das spätere umfangreichere theologische Werke sich gründeten, ebenfalls konfessions-und denominationsübergreifend.

Einige Kernaussagen dieses Werkes und zu diesem Werk, die einen Einblick gewähren:

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Im August 410 erstürmten unter Führung ihres Königs Alarichs die Westgoten Rom und plünderten es drei Tage lang. Ein solches Ereignis hatte zuletzt vor annähernd 800 Jahren stattgefunden. 387 v. Chr. hatten die Kelten Rom erobert. Entsprechend war das Entsetzen auch außerhalb der Stadt im Römischen Reich. Augustin erfuhr davon, als er das Amt des Bischofs in der afrikanischen Stadt Hippo innehatte. „Furchtbares ist uns gemeldet worden“, äußerste er in einer Predigt, „eine Katastrophe ist hereingebrochen, Brand und Raub, Mord und Totschlag. Es ist wahr. Was mussten wir nicht hören? Wie oft haben wir geseufzt, wie oft bitterlich geweint. Kaum konnten wir Trost finden.[130] Es gab nicht nur Klagen, Vorwürfe wurden geäußert, nicht gegen den schwachen Kaiser Honorius, der den Germanen Stilicho durch eine Intrige umbringen ließ, eine starke Herrscherpersönlichkeit, der das bedrohte Reich zusammengehalten, und vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. Alarich und Stilicho waren Christen, und die von ihnen befehligten Germanenverbände gehörten dem Bekenntnis des Arius an. Die Christen im Römischen Reich waren ratlos und gerieten in Zweifel. Zugleich begehrten die Heiden auf, die verblieben waren, nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war. Ihnen war der Kult durch die Gesetzgebung der letzten Kaiser Gratian, Valentinian II. und Honorius verwehrt worden. Jetzt sahen die Heiden ihre Stunde gekommen, sie erhoben Anklage und Vorwürfe mit dem Hinweis auf den Zorn der Götter, weil ihre Tempel geschlossen, ihre Statuen zerstört und ihre Opferfest verboten worden waren. Viktoria, die Siegesgöttin, die Kaiser Augustus im Senatssaal aufgestellt hatte, war weggeschafft worden.[131] Die Plünderung Roms war der Anlass für Heiden, den Gott der Christen zu lästern.[132] Dieses heidnische Aufbegehren bewog Augustin, die Bücher vom Gottesstaat zu schreiben, was ihn mit Unterbrechungen in der Zeit von 412 bis 426 beschäftigte.

 

Er selbst schreibt dazu: „Dieses Werk beschäftigte mich eine Reihe von Jahren, denn es kam vieles andere dazwischen, was sich nicht aufschieben ließ und erst erledigt sein wollte. Aber endlich ward dieses umfangreiche Werk in 22 Bänden angeschlossen. Die ersten fünf Bände weisen diejenigen zurecht, die der Ansicht sind, der Dienst der vielen von den Heiden verehrten Göttern sei zum Gedeihen der menschlichen Verhältnisse nötig, und die behaupten, die Verhinderung dieses Dienstes sei am gegenwärtigen schrecklichen Unglück Schuld. Die fünf folgenden Bücher wenden sich gegen die, welche wohl zugeben, dass dergleichen Missgeschick, bald schwerer bald leichter und nach Ort, Zeit und Personen wechselnd, von jeher die sterblichen traf und künftig treffen wird, die aber versichern, der Opferdienst der vielen Götter sei wegen des künftigen Lebens nach dem Tode empfehlenswert. In diesen zehn Büchern also werden die beiden erwähnten, der christlichen Religion widerstrebenden Meinungen widerlegt. Doch damit niemand uns vorwerfe, wir hätten nur fremde Ansichten zurückgewiesen, nicht die eigenen bekräftigt, greift der zweite, zwölf Bücher umfassende Teil des Werkes, auch diese Aufgabe an. Die ersten vier Bücher der zweiten Hälfte handeln vom Ursprung der beiden Staaten, nämlich vom Staate Gottes und dem dieser Welt, die zweiten vier von ihrem Ablauf oder Verlauf, die letzten vier von ihrem gebührenden Ausgang. Sämtliche 22 Bücher aber wurden, obwohl sie beide Staaten beschreiben, nach dem besseren von ihnen benannt, erhielten also den Titel vom Gottesstaat.[133]

Civitas Dei (Gottesstaat) steht im Gegensatz zum civitas terrena (irdischer Staat). Der Begriff civitas terrena wird von Augustin durchweg in geringschätzig abwertenden Sinne gebracht. Es ist nicht der bürgerliche Staat als solcher gemeint, sondern der im Sündenstand befindliche, also nicht von Natur, sondern infolge der Verderbnis der Natur sündige und böse Staat. Die deutsche Übersetzung „irdischer Staat“, „Weltstaat“ lässt diesen dunklen Ton nicht anklingen. Wäre er nicht sprachlich schwerfällig, sollte man civitas terrena immer mit „irdisch gesinnter Staat“ wiedergeben.[134] Augustinus lässt einen Unterschied erkennen und beschreibt wie

[130] Zitiert in Augustinus, Aurelius: Vom Gottesstaat. Band I vollstaändige Ausgabe, eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimme.  Zürich 1955 S. 7

[131] ebd. S. 7

[132] ebd. S. 8

[133] zitiert in Augustinus: Vom Gottesstaat. Band I S. 8

[134] ebd. Band II S. 843

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heilsam der christlich gedachte Staat sich darstellt und schreibt: „Dass nun die Menschen von dem höllischen Joch dieser unreinen Mächte und dem Schicksal mit ihnen verdammt zu werden, durch den Namen Christi gerettet und aus der Nacht verderblichster Gottlosigkeit in das Licht heilsamer Gottesfurcht versetzt werden, darüber beklagen sich und murren die schlechten, undankbaren und von jenem sündigen Geiste zutiefst besessenen und geknebelten Leute. Denn sie müssen sehen, wie die Massen zu keuscher Feier, in ehrbarer Trennung der Geschlechter, sich in der Kirche versammeln, wo sie hören, dass man hier zeitlich fromm leben muss, um nach diesem Leben das selige, immerwährende Leben zu erlangen, wo die Heilige Schrift und die Lehre von der Gerechtigkeit von erhöhtem Platze vor der ganzen Gemeinde schallen verkündigt wird, den Hörern, die danach tun, zum Heil, denen, die nicht danach tun, zum Gericht.[135] Mit Leidenschaft verficht Augustinus die Idee von einem christlich geprägten Gottesstaat und fordert auf zur Abkehr vom polytheistischen Götterglauben: Frag du nichts nach den falschen und trügerischen Göttern! Wirf sie weg, verachte sie, schwing dich auf zur wahren Freiheit![136] Im historischen Rückblick zeigt sich, dass die von Augustinus entwickelten Idealvorstellungen vom Gottesstaat sich in Geschichte und Kirchengeschichte nicht verwirklicht haben.

Der Philosoph Karl Jaspers (1883-1969) sieht in Platon, Augustin und Kant drei herausragende Denker der Philosophiegeschichte.[137] Der Weg, den Augustin geht, ist ein Weg von der Philosophie zur Glaubenserkenntnis,[138] was ihn gemeinhin von der übrigen Philosophiegeschichte abhebt. Augustins Denken ist begründet in seiner Bekehrung. Dem Kinde waren christliche Motive durch seine Mutter Monica nahegebracht, während zugleich Erziehung und Zielsetzung vom Vater bestimmt wurden und zur heidnischen Überlieferung hinführten. Dieses Leben brachte ihn die Lust des Daseins, erfüllt mit Angeboten der Sinnlichkeit. Der philosophische Weg, auf den er geriet, erschloss ihm den Neuplatonismus Plotins. Die Bekehrung brachte die entscheidende Wende durch ein Wort Heiliger Schrift, das ihn wie ein übersinnlicher Befehl erreichte. Es war eine Stelle, wo es durch den Apostel Paulus heißt: „…ziehet den Herrn Jesus Christus an, und pfleget nicht des Fleisches in seinen Lüsten“. Am Schluss dieses Satzes, so schildert es Augustin, „strömte das Licht der Sicherheit in mein Herz ein“. Die Bekehrung ist die Voraussetzung Augustinischen Denkens,[139] In der Bekehrung erst wird der Glaube gewiss, der durch nichts absichtlich erzwungen, durch keine Lehre mitgeteilt werden kann, sondern in ihr von Gott geschenkt wird. Damit war der Boden bereitet, mit dem die Denkungsart eine Wandlung erfuhr, die ihn zur Kirche und Bibel führte, nicht durch Einsicht und guten Willen, sondern durch die unerschütterliche Fraglosigkeit, die erfahren wurde durch Gott selbst gewirkt. Es war nicht ein philosophischer

[135] Augustinus: Vom Gottestaat S. 148 f

[136] ebd. S. 150

[137] Jaspers, Karl: Plato Augustin Kant. Drei Gründer des Philosophierens. München 1957

[138] ebd. S. 102

[139] ebd. S. 103 f

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Denkprozess, sondern ein biographisch datierbarer Augenblick, der in das Leben einbricht, und es neu begründet. Die philosophische Dogmatik wird kirchliche Dogmatik. Augustin vollzieht alle Möglichkeiten, im Denken Gott zu berühren. Aber diese Gedanken wurden zusammengehalten durch die Autorität, nicht durch ein philosophisches Prinzip.[140] Der biblische Gott Augustins ist wirksamer Wille, der sich seinerseits dem Menschen zuwendet. Der Neuplatoniker Plotin, dessen Philosophie eine Anziehung auf Augustin ausgeübt hatte, betet nicht. Beten dagegen ist das Lebenszentrum Augustins, und das Wesen dieses Glaubens wird klarer in der Rechtfertigung gegen die Angriffe der Heiden, die nach der Eroberung Roms 410 durch Alarich den Vorwurf erhoben, das Unheil sei durch das Verlassen der alten Götter bewirkt worden. In Augustins Schriften ist ein Prozess des Hineinwachsens zu jener gewaltigen Totalität christlicher, katholischer, kirchlicher Existenz, die mit und durch ihn im Abendland die geistige Macht eines Jahrtausends wurde. Seine Lehre vom freien Willen geht fast ganz in der Gnadenlehre verloren. Wohl ist die Seligkeit nur in der liebenden Erkenntnis Gottes zu finden, aber diese Seligkeit gehört doch erst einem zukünftigen Leben an, und der einzige Weg dahin ist Christus. Die Geltung der Philosophie hat aufgehört. Das biblisch theologische Denken bleibt das allein wesentliche.[141] Augustin denkt alles im Blick auf Gott, für ihn besteht das von Gott Unabhängige gar nicht. Diese Augustinische Geborgenheit ist anders als die philosophische Selbstgewissheit.[142] Die Bibel war für ihn die Sprache der Offenbarung, in der alle Wahrheit sich gründete, Der philosophische Gedanke der Transzendenz wurde erfüllt durch den biblischen Gottesgedanken, aus der Spekulation war lebendige Gegenwart geworden. Die schönsten philosophischen Sätze verblassen vor einem Psalmenwort.[143] Die Transzendenz als philosophischer Begriff deutet ein Denken, das nicht aus der Erfahrung hergeleitet werden kann, das aber aufgehoben wird durch die Erfahrung der Offenbarung Gottes.

Schon zu Lebzeiten Augustins ging der Westen des Römischen Reiches seinem Ende entgegen. Seine staatliche Existenz wurde durch das Eindringen der verschiedenen Germanenstämme in das gesamte Gebiet aufgelöst. Zwei Säulen hatten es an seinem Ende getragen: Die Kaiser, die es im Verlauf des 4. Jahrhundert, dem Christentum unterworfen hatten, als staatliche weltliche Macht und die Kirche mit dem Papst an der Spitzes als geistliche Macht. Die geistliche Macht überdauerte die staatliche Macht nach ihrem Zerfall.

Mit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion im 4. Jahrhundert begann eine neue Entwicklung, von der Kirchengeschichte und Christenheit in seiner Tiefe und Ausbreitung durchzogen sind. Als die Christen nicht mehr jene kleine Herde waren, als die sie im Evangelium bezeichnet wird, änderte sich die Lage grundlegend. Mit der ständigen Vergrößerung der Mitgliederzahl bis hin zur Volkskirche, ließ sich das hohe Niveau der Sittlichkeit nicht aufrechterhalten, es zeigte sich eine sichtliche Erweichung im ethischen Bereich, insbesondere als Kaiser Konstantin die Schleusen öffnete und die breiten Volksmassen aus bloßen Konjunkturgründen den Raum der Kirche füllten, war es um das überragende Ethos geschehen, die es in der Zeit der Verfolgung besessen hatte.[144] Zwei Geistesströmungen, die auf sittliche Strenge Acht gaben, belegen Versuche, die Kirche zu ihrem Ursprung zurückzuführen, um eine Verflachung abzuwehren. Bereits um 170 begann die Bewegung der Montanisten, die eine Rückkehr zum Enthusiasmus

[140] Jaspers, Karl: Plato Augustin Kant S. 104 f

[141] ebd. S. 108

[142] ebd. S. 113

[143] ebd. S. 117

[144] Nigg, Walter: Das Buch der Ketzer. Zürich 1949. S. 107

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der ersten Christen, dem Urchristentum, anstrebten.[145] Als die Verfolgung der Christen ab 312 ein Ende gefunden hatte, drängten die Christen, die  in der Zeit der Verfolgung Kompromisse eingegangen waren, um den Weg in das Martyrium zu umgehen, zurück in die Kirche, in der eine Spaltung entstand um die Frage, ob jene, die in der Zeit der Verfolgung Schwäche gezeigt hatten, wiederaufgenommen werden sollten. Die Donatisten widersetzten sich einer Wiederaufnahme, womit die Gefahr einer Kirchenspaltung bedrohliche Ausmaße angenommen hatte. Das Aufbegehren war im Wesentlichen auf den Westen Nordafrikas begrenzt, fiel aber in den Wirkungsbereich von Augustin, dem Bischof von Hippo. Die Anhänger des Donatus erfuhren von seiner Seite harte Verfolgungsmaßnahmen. Ein erstaunlicher Vorgang, da Augustin selbst ein strenges Kirchenregiment befürwortete, aber es drohte eine Kirchenspaltung, die es zu verhindern galt. Der Erhalt der Einheitskirche hatte Priorität. Die Christenheit stand vor der Frage, ob sie sich zur früheren Status der ersten Christen, der als heilige Gemeinde eine Vorbildfunktion zugeschrieben wurde, oder eine Angleichung an ein weltliches Getriebe vollziehen sollte. Nach innerem Ringen fiel die Entscheidung für die zweite Möglichkeit, da die inneren Machtverhältnisse im Römischen Reich keine andere Wahl zuließen.[146]

Diese kirchengeschichtlichen Ereignisse markieren ebenfalls einen Blick in die Zukunft. Mit diesen Schilderungen ist ein weiterer Weg vorgezeichnet, den die Kirche in ihrer  Geschichte im Verlaufe von zweitausend Jahren gegangen ist. Die große Herausforderung für Christentum, seinem Glauben in unterschiedlichen Variationen, besteht in der Identität von Dogma und Ethik. Richtiges Dogma kann an mangelnder Ethik scheitern, richtige und gute Ethik kann scheitern an dogmatischer Unzulänglichkeit. 

Der Kampf gegen „Häresien“ begann schon im Frühstadium der Kirche, die aus den ersten Christengemeinden hervorgegangen war. Häresie bedeutet ein Abweichen der Glaubensauffassung von der offiziellen Kirchenlehre. Im Verlaufe der Kirchengeschichte entstand der Begriff „Ketzer“. Die Kirche teilte die Ketzer ein in drei Gruppen, Apostaten (Abgefallene), Schismatiker (von Schisma=Spaltung) und Irrlehrer. Ob diese Einteilung allen Nuancen der Häresie gerecht wird, bleibt fraglich.[147] In der katholischen Kirche gilt als offizielle Kirchenlehre, was vom Papst „ex cathedra“ (unfehlbar) verkündet wird. Nur dann gilt der Papst als unfehlbar, wenn er eine Lehre verkündet. Das Bekenntnis von Nicäa (325) und das darauf zurückzuführende Bekenntnis von Konstantinopel (381) sind die unabdingbaren Glaubensbekenntnisse, ein Abweichen davon raubt der Botschaft des Evangeliums jeglichen Sinn. Diese beiden Bekenntnisse haben denn auch über alle Konfessions-und Denominationsgrenzen hinweg verbindliche Anerkennung gefunden, das Bekenntnis von Konstantinopel allerdings schon mit einer Einschränkung.  Wenn ein Mensch offen bekennt, er könne das nicht glauben, so besteht ein Unterschied zu einem Menschen, der bewusst die Willensentscheidung der Ablehnung vollzieht. In dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom in Kapitel 14, Vers 1, wo in verschiedenen Übersetzungen ein Bild vermittelt wird, heißt es dazu: (1) Den Schwachen im Glauben nehmt an und streitet nicht über Meinungen.[148] In einer katholischen Übersetzung nach Kürzinger: (1) Den Schwachen im Glauben nehmt an ohne Streit der Meinungsverschiedenheiten! Das gleiche Thema findet sich in Kapitel 15, Vers 1 (1) in der katholischen Übersetzung nach Storr: Wir nun, die Starken, müssen die Gebrechen der Schwachen tragen, doch ohne Selbstgefälligkeit. Und in Luthers revidierter Übersetzung von 1984: (1) Wir aber, die wir stark sind sollen das Unvermögen der Schwachen tragen und nicht Gefallen an uns selber haben.

Diese Feststellungen sind wichtig, damit nicht in leichtfertiger Weise Menschen vom Evangelium ferngehalten werden.

Mit dem Ende des weströmischen Reiches begann die Germanenherrschaft der verschiedenen Stämme, die sich über das gesamte Gebiet ausbreiteten, und ebenfalls zum Ende des Römischen Reiches in seinem Westteil sich dem Christentum zugewandt hatten,

[145] Nigg, Walter: Das Buch der Ketzer. S. 107

[146] ebd. S. 111

[147] ebd. S. 92

[148] revidierte Übersetzung nach Luther 1984

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allerdings mehrheitlich zur Glaubensrichtung der von Arius vertretenen theologischen Auffassung. Hervorgehoben werden muss hier die Leistung des Gotenbischofs Wulfila (311-383), ihm muss  ein wesentliches Verdienst zugeschrieben werden, dass neben den Westgoten, die geschlossen zum Christentum übertraten, auch die Ostgoten, Vandalen, Langobarden, Markomannen, Burgunden, Heruler und Rugier vom arianisch-germanischen Christentum  erfasst und durchdrungen wurden. Als Arianer unterstanden sie nicht dem Herrschaftsbereich Roms, sondern Konstantinopels. Wulfila selber vertrat eine andere Christologie als Arius, dennoch verblieben nicht nur die Goten bei der Lehre des Arius, was zu Konflikten zwischen der jeweiligen germanischen Oberschicht und der ansässigen Bevölkerung führte, die dem katholischen Glauben anhing. Wulfila konnte mit einer besonders herausragenden Leistung aufwarten: Er schuf, indem er die Bibel ins Gotische übersetzte, eine gotische Schriftsprache und ein gesondertes dazugehöriges Alphabet, die so auch von anderen Germanenvölkern gelesen wurde. Als erster Germane hatte er es unternommen, eine bisher nur gesprochene Sprache in Schriftzüge zu übertragen. Von Wulfilas Übersetzung der Heiligen Schrift sind viele Abschriften angefertigt worden, aber nur wenige dieser Abschriften sind erhalten. Eine davon in Silberbuchstaben auf purpurgefärbten Pergament geschrieben, die in der Universitätsbibliothek in Uppsala in Schweden aufbewahrt wird.[149] 

Einige germanische Herrscherpersönlichkeiten sollen in Zusammenhang mit diesem geschilderten anfänglichen Verlauf einer Betrachtung unterzogen werden. Alarich wurde schon erwähnt. Ein weiterer Name kann hinzugezogen werden, der Name Stilicho und was Alarich und Stilicho verbindet, beide waren Teil der römischen Geschichte geworden. Alarich sicherte sich 395 die Herrschaft über das Gesamtvolk der Westgoten, das bis dahin in einzelne Fürstentümer aufgespalten war. Das römische Imperium war in eine verworrene Lage geraten, die Alarichs Absichten begünstigten. Theodosius der Große hatte am Ende des 4. Jahrhunderts noch einmal das ganze Imperium beherrscht. Nach seinem Tod zerfiel es endgültig in zwei Hälften. In beiden Reichshälften regierte ein Sohn von ihm, im Osten Arcadius, im Westen war der elfjährige Sohn Honorius auf den Thron gelangt. Der eigentliche Regent im Namen des Honorius war der Vandale Stilicho, Oberbefehlshaber über die weströmische Armee. Eine genaue Grenzziehung zwischen beiden Imperien war noch nicht erfolgt, so waren Alarichs Westgoten zwischen Ostrom und Westrom eingeklemmt. Alarich führte sein Heer zunächst gegen  Ostrom, fiel in Griechenland ein  und verheerte das Land. Stilicho bot der Regierung in Byzanz militärische Hilfe, die aber abgelehnt wurde. Ostrom einigte sich schließlich mit Alarich und verlieh ihm 399 Rang und Titel eines Oberbefehlshabers über fast die ganze Balkanhalbinsel. Damit waren die Beziehungen zwischen Byzanz und den Westgoten geordnet und geregelt, nicht aber das Verhältnis zum weströmischen Imperium. Ein Druck von weströmischer Seite blieb also bestehen, was in Alarich den Entschluss zur Reife brachte, sich gegen die Weströmer zu wenden, bei Aquileja kam es im Winter 401 zur ersten Schlacht. In wechselvollen Kämpfen konnte aber keine Entscheidung herbeigeführt werden. Alarich und Stilicho einigten sich daraufhin gütlich und schlossen ein Abkommen. Alarich führte sein Heer zurück auf den Balkan, und seine Herrschaft dort wurde auch von Westrom anerkannt, so schien allen Kontrahänden genüge getan. 407 verhandelte Stilicho erneut mit Alarich über ein gemeinsames Vorgehen. Da entspann sich am Hofe des Honorius eine Intrige gegen Stilicho, die 408 zu seiner Ermordung führte. Er hatte bis dahin den Westen des Imperiums zusammengehalten und sich redlich bemüht, seinen Zerfall zu verhindern. Er zeigte die Fähigkeit zum Ausgleich zwischen Römern und Germanen, und

[149] Orthbandt, Eberhard: Lebenslauf des deutschen Volkes. S. 86 f

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daher den einzigen Ausweg für den Zusammenhalt des Imperiums. Alarich fühlte sich hintergangen und eroberte 410 Rom, das bis dahin für unbesiegbar gegolten hatte. Er setzte den Senator Attalus als Imperator ein, und zwang ihn gleichzeitig, das arianische Glaubensbekenntnis anzunehmen, womit er sich in Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche brachte. Alarich starb in Unteritalien, von wo aus er nach Afrika übersetzen wollte. Sein Nachfolger Athaulf, der die Überlegung hegte, eine von Römern unabhängiges Gotenreich zu errichten, nahm aber Abstand von solchen Plänen und bemühte sich um Ausgleich zwischen Goten und Römern.[150] Die Goten gingen nach dem Ende Alarichs erneut auf Wanderschaft nach Südgallien und von dort nach Spanien, wo die Herrschaft der Westgoten  711 ein Ende fand, und Spanien unter Herrschaft der Mauren geriet. Um 430 waren die Vandalen von Spanien aus nach Nordafrika eingedrungen und errichteten dort ihre Herrschaft, bis sie von Belisar, dem oströmischen Feldherrn Kaiser Justinians I. (483-565)  533 in zwei Schlachten vernichtend geschlagen wurden. Kaiser Justinian war die letzte bedeutende Herrscherpersönlichkeit der Spätantike. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, das römische Imperium in seiner alten Größe wiederherzustellen. Von Nordafrika und dem Balkan aus drangen die oströmischen Heere nach Italien ein, was die Gotenkriege auslöste, die von 535 bis 554 mit wechselndem Erfolg geführt wurden.

Die Betrachtung des Zeitraumes von der Endphase des Römischen Reiches  bis zur Herrschaft Karls des Großen von 768 bis 814 ist von besonderer Wichtigkeit, da in dieser Zeit die entscheidende Weichenstellung erfolgte für die europäische Geschichte bis in die jüngste Vergangenheit und unmittelbare Gegenwart.  

Die nationalsozialistische Ideologie, die 1933 zur absoluten Herrschaft gelangte, meinte aus dem genannten Zeitraum Geschichtsbewusstsein herleiten zu können, und hielt ihn für geeignet zur Stiftung einer Identität, der sich auf eine germanische Rasse gründen sollte. Ein solches Verständnis, wie sie der Nationalsozialismus zu vermitteln suchte, weist keine Gemeinsamkeiten zur wirklichen Entwicklung der Zeit; allein die Huldigung durch Handaufheben, wie sie der „Führer“ Hitler von den Massen entgegennahm, erinnert eher an den Kaiserkult der römischen Cäsaren, der den Germanen sicher fremd war. Die Germanen öffneten den Weg für das Christentum zu einer beherrschenden Stellung. Der Begriff „Rasse“ ist in der Heiligen Schrift des hebräischen und christlichen Kanons von der ersten bis zur letzten Seite nicht ein einziges Mal zu finden. Die römisch-katholische Kirche überstand die Zeit eines ungewöhnlichen Umbruchs und festigte sogar noch ihre Herrschaft und Bedeutung, ein Umbruch, der zugleich den Übergang von der Antike zum Mittelalter darstellt, der aber auch Kontinuitäten aufweist. Der Beginn der Völkerwanderung um 375, ausgelöst durch das Reitervolk der Hunnen, die unter ihrem Führer Attila nach Europa eingefallen waren und die Germanenvölker von Osten her unter Druck gesetzt und nach Westen abgedrängt hatten. Auf den Katalaunischen Feldern, inmitten des heutigen Frankreich gelegen,  wurden die Hunnen 451 gemeinsam mit ihren germanischen Verbündeten von den Römern gemeinsam mit ihren verbündeten Westgoten geschlagen. Ein Jahr nach dieser Schlacht 452 fiel Attila mit einem Heer in Italien ein, und Oberitalien geriet unter seine Herrschaft, und die Angst breitete sich aus, er könnte sich gegen die Stadt Rom selbst wenden. Um diese Gefahr abzuwehren, griff die geistliche Vormacht im Westen des verbliebenen Römischen Imperiums, die römisch-katholische Kirche ein in der Person ihres Oberhauptes Leo I. Der Titel Papst war noch nicht geläufig, aber Leo I. kann als der erste Papst bezeichnet werden. Er hat die geistliche und kirchliche Vorherrschaft der römischen Bischöfe begründet, gestützt auf die Verheißung, die dem Apostel

[150] Orthband, Eberhard: Lebenslauf des deutschen Volkes. S. 96 ff

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Petrus von Jesus Christus gegeben worden war, woraus der päpstliche Anspruch, Stellvertreter Christi auf Erden zu sein, herrührt, wie im Evangelium nach Matthäus in Kapitel 16, Vers 16-18 berichtet wird: (16) Da antwortete Simon Petrus: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ (17) Darauf sprach Jesus zu ihm: „Selig bist du, Simon, Sohn des Jonas. Nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern Mein Vater, der in den Himmeln ist. (18) Ich sage dir: Du bist Petrus; auf diesen Felsen will ich Meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.[151] Unerschrocken trat Papst Leo I. dem König Attila entgegen und forderte ihn auf Rom zu verschonen. Er kehrte um, ob auf Verlangen des Papstes Leo I. ist nicht gesichert überliefert, aber sein Auftreten stärkte das Ansehen der Kirche beträchtlich. Die Staatsform des alten Römischen Reiches war gesprengt und ging dem Verfall entgegen, aber mit dem Niedergang und Untergang erhob sich ein neues geistliches Römisches Reich: Das Reich der römisch-katholischen Kirche. Schon während der verworrenen Epoche der Völkerwanderung hatte die Kirche sich als einzige Einrichtung erwiesen, welche die auseinanderfallenden Reichsteile unabhängig von den wechselnden Herrschern zusammenhielt.[152] Hier muss noch einmal die Schrift des Augustinus vom „Gottesstaat“ Erwähnung finden, mit der die Theologie und Dogmengeschichte einen wesentlichen Anstoß erhielt und sich folgenreich auswirkte. Diese Welt und ihre Geschichte befindet sich unablässig in einem Gegensatz zwischen der Herrschaft Christi und der antichristlichen Gegenbewegung. Beide trachten danach ihr Reich aufzurichten. Zwischen beiden Reichen steht der Staat, der weder völlig gut noch gänzlich böse ist. Es besteht aber für ihn die Möglichkeit entweder gut oder böse zu werden. Denn er kann dem Willen Gottes unterworfen sein oder dem eigensüchtigen Machtwillen gottloser Gewaltmenschen dienen.[153]

Eine weitere Weichenstellung geschah im Zuge der römisch-germanischen Geschichte mit Folgen darüber hinaus für die europäische Geschichte und Kirchengeschichte, die sich wiederfindet in zwei Herrscherpersönlichkeiten des Königs der Ostgoten Theoderich der Große (456-526) und dem König der Franken Chlodwig I. (466-411). Theoderich lebte in seiner Jugend als Geisel am Hof des oströmischen Kaisers Leo I. in Konstantinopel. Um auf römischen Territorium den Föderatenstatus zu erhalten, mussten germanische Fürsten Söhne und Töchter als Geiseln stellen. Sie erhielten im Rahmen von Kultur und Gesellschaft eine römische Ausbildung, und konnten im römischen Heer in hohe Ämter und Offiziersstellen gelangen. Das geschah auch mit Theoderich, der 484 zum Konsul erhoben wurde, eine der höchsten Würden, die der römische Staat zu vergeben hatte. Als Föderaten galten Völkerschaften, die auf römischen Territorium Siedlungsrecht erhalten hatten und dafür Heeresfolge leisten mussten, ohne formal in das römische Heer eingegliedert zu sein. Ihnen waren Privilegien zugesichert worden, sie besaßen aber nicht das römische Bürgerrecht. 488 erhielt Theoderich von Kaiser Zenon den Auftrag als Oberbefehlshaber einen Feldzug gegen König Odoaker, der sich zum Herrscher über Italien aufgeschwungen hatte und gegenüber Ostrom unbotmäßig geworden war. Odoaker unterlag in zwei Schlachten,   eine völlige Unterwerfung gelang Theoderich aber nicht,[154] und so kam es zu vertraglichen Vereinbarungen, die von Seiten Theoderichs nicht eingehalten wurden, Odoaker wurde bei einem gemeinsamen Festmahl hinterrücks ermordet. Theoderich war vom Kaiser in Byzanz zum Herrscher über Italien ernannt worden, zugleich war er König der Ostgoten. Es gelang ihm, einen Ausgleich zwischen den arianischen

[151] Übersetzung nach Storr (kath)

[152] Orthbandt, Eberhard: Lebenslauf des deutschen Volkes. S. 106 f

[153] ebd. S. 108

[154] ebd. S. 118

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Germanen und dem katholischen Bevölkerungsteil herbeizuführen, die das nicäische Glaubensbekenntnis vertraten, und somit ein friedliches Nebeneinander zu gewährleisten. Das Herrschaftsgebiet Theoderichs umfasste ganz Italien mit Sizilien, große Teile südlich der Alpen und den Nordwesten der Balkanhalbinsel. Die römische Kultur und Staatsaufbau erlebten unter seiner Herrschaft eine Blütezeit.  Historische Forscher zählen diese Zeit zu einem Teil der Weströmischen Geschichte.[155] In den kriegerischen Zusammenstößen hatten die Westgoten sich zeitweise an die Seite der Ostgoten gestellt.

In diesem Zeitraum gerieten Theoderich und der Frankenkönig Chlodwig I. (466-511) in einen Gegensatz zueinander, der nicht ohne Auswirkungen blieb und weitreichende Folgen nach sich zog. Chlodwig entstammte dem Herrschergeschlecht der Merowinger, das sich mit seinem ursprünglichen Herrschaftsgebiet auf das heutige Belgien und Teile Nordfrankreichs erstreckte. Noch als Jüngling griff er in die bestehenden Machtverhältnisse ein. Sein erster Angriff richtete sich gegen das südlich angrenzende Territorium, das römisch verblieben war, und das nach einem kurzen Krieg unter fränkische Herrschaft geriet. Die Bewohner, die sich als Römer verstanden, durften ihr Eigenleben beibehalten. Wie zuvor Theoderich in Italien, war auch Chlodwig in seinem neuen Herrschaftsgebiet um Ausgleich zwischen Römern und Germanen bemüht. Theoderich war die Ausbreitung fränkischer Macht nicht verborgen geblieben, so versuchte er Chlodwig, der Heide war, für das arianisch-christliche Glaubensbekenntnis zu gewinnen, das zu einem geistigen Band für die verschiedenen Germanenvölker geworden war. Mit zunehmender Einflussnahme wurde Chlodwig auch von der römisch-katholischen Kirche vom Bischof von Reims umworben, er zögerte aber und war schwankend in seinem Entschluss. Der Bischof von Tours, der dem Reich der Westgoten zugehörte, hatte ebenfalls ein Interesse bekundet und wollte Chlodwig auf seine Seite ziehen, was dem Gotenkönig Alarich II missfiel, er verbannte den Bischof, Anlass für die Franken  einen kriegerischen Einfall ins südlich gelegene Westgotenreich zu unternehmen. Der Angriff brachte nicht den gewünschten Erfolg, und das fränkische Heer ging geschwächt aus den Kämpfen hervor. Ein anderes Germanenvolk, die Alemannen, nutzten die Gelegenheit und fielen ein in das fränkische Herrschaftsgebiet. In der Schlacht bei Zülpich stießen Franken und Alemannen aufeinander. Einer Überlieferung zu Folge drohte Chlodwig die Niederlage, was er zum Anlass nahm den Christengott anzurufen und zu geloben, sich römisch-katholisch taufen zu lassen, wenn ihm der Sieg zu teil werden sollte. Nach gewonnener Schlacht erneuerte er den Krieg gegen die Westgoten mit Erfolg und Territorialgewinn. Durch das Eingreifen Theoderichs wurde Chlodwig am weiteren Vorgehen gehindert, und 498 kam es zu einem Friedensschluss. Chlodwig ließ sich danach römisch-katholisch taufen. Es ist zweifelhaft, ob ihn ausschließlich Glaubensgründe zu diesem Schritt bewogen haben oder mit Rücksicht auf die gemischte Gesellschaft von Römern und Franken und ihre Beziehungen. Chlodwig war der erste Germanenkönig, der zum römisch-katholischen Glaubensbekenntnis übergetreten war, dem die Mehrheit der Franken

[155] Orthbandt, Eberhard: Lebenslauf des deutschen Volkes. S. 121 f

 

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bald folgte. Das Ereignis hat sich bestimmend auf das französische Geschichtsverständnis ausgewirkt, aber auch auf die Kirchengeschichte insgesamt. In Reims wurden später alle französischen Könige gekrönt bis hin zu Ludwig XVI. Frankreich wurde das Reich der Franken, von hier aus breitete dieses Reich nach Westen aus. In Reims wurde im 20. Jahrhundert noch einmal große Geschichte geschrieben, als der erste Präsident der Fünften Republik in Frankreich, Charles de Gaulle, und Bundeskanzler Konrad Adenauer nach Abschluss des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages im Januar 1963 in der Kathedrale in Reims gemeinsam die Messe feierten. Auch der burgundische Thronfolger trat einige Jahre später zur römisch-katholischen Kirche über. Franken und Burgunder verbündeten sich in der Folgezeit. Mit einem Angriff auf die Alemannen begannen 505 ihre Eroberungszüge, die ein Gebiet um Worms, Speyer und Würzburg an die Franken verloren. Die Burgunder eroberten weiter südlich von zuvor Alemannen beherrschtes Gebiet. Immer weiter nach Osten abgedrängt, wandten sich die Alemannen an Theoderich und baten um Schutz und Unterstützung, der ihnen gewährt wurde, allerdings außerhalb der Gebiete, die ihnen bereits abgenommen worden waren. Während sich die Franken in Gallien ausbreiteten, erweiterte Theoderich die Grenzen seines Reiches auf dem Balkan, was in Byzanz Unruhe auslöste. Chlodwig hatte seinen Herrschaftssitz in Paris aufgeschlagen, und von hieraus seine Fühler nach Byzanz ausgerichtet mit der Absicht, ein Bündnis herbeizuführen. Ein beachtenswerter Vorgang, der Theoderich veranlasste, die nichtfränkischen Germanen zu einer Einheit zusammenzufassen. Daraus ergaben sich 507 kriegerische Verwicklungen, die sich im Einvernehmen zwischen Byzanz und Paris zum Nachteil für die Westgoten auswirkten. Chlodwig agierte also als Verbündeter des verbliebenen oströmischen Kaiserreiches. Ein Jahr danach, 508, entsandte Theoderich ein militärisches Aufgebot gegen Franken und Burgunder nach Gallien. Die Burgunder verloren alle ihre Eroberungen, und die Franken wurden ebenfalls zurückgedrängt. Mit dem Tod König Alarichs II. übernahm Theoderich auch die Herrschaft über die Westgoten. Chlodwit erhielt aus Byzanz die Würde eines Konsuls. Theoderichs Reich wurde nicht nur vom Westen bedroht, sondern auch von den Langobarden auf dem Balkan.

Eine weitere Bedrohung des Reichsfriedens geschah durch die byzantinischen Kaiser Justin und Justinian. Die arianisch-christliche Kirche wurde von ihnen mit Härte bedrückt. Dadurch wurden in den anderen Germanenreichen die Anhänger der römisch-katholischen Kirche ermutigt, sich gegen das auf Arius zurückgehende Bekenntnis aufzulehnen, und es konnte von einem Kirchenkampf gesprochen werden.[156] Theoderich überlebte Chlodwig um fünfzehn Jahre. Sein Tod wirkte sich verhängnisvoll aus nicht nur für die Ostgoten, sondern auch für die mit ihnen verbündeten Germanenvölker, und es zeigte sich,  dass Theoderich die treibende Kraft für den Zusammenhalt gewesen war. Ein Nachfolger, der in gleicher Weise das angefangene Werk hätte vollenden und so das kulturelle römisch-germanische Erbe bewahren können, war nicht in Sicht.[157] Die Ostgoten erlebten nicht nur einen Rückschlag, sie verschwanden aus der Geschichte, zuvor aber traf es die Vandalen in Nordafrika. Mit einer vernichtenden Niederlage gegen ein Heer aus Byzanz war nicht nur ihre Herrschaft beendet, sie wurden aus Nordafrika vertrieben. Nach Überwindung der Vandalen, wandte sich Ostrom-Byzanz nach Italien gegen die Ostgoten, um auch diese Herrschaft zu beseitigen. Nach mehreren vernichtenden Schlachten gelang es, nicht nur ihre Herrschaft zu beenden, sondern sie gänzlich aus Italien zu vertreiben, sie verschwanden, als hätte ihr Reich in Italien und darüber hinaus  nie bestanden.

[156] Orthband, Eberhard: Lebenslauf des deutschen Volkes. S. 122 f

[157] ebd. S. 124

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Das Erbe ging über auf die Franken, die in den kommenden Jahrhunderten tonangebend wurden in der westeuropäischen Politik. Chlodwig I. hatte dazu die die kulturellen und staatsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen, indem es ihm gelang Römer, Germanen und christliche Kirche zu einer Einheit zusammenzufassen. Der Zerfall des Ostgotenreiches eröffnete den Aufstieg und Ausdehnung des Frankenreiches.[158] Das Ende der Ostgotenherrschaft in ihrem Machtbereich wurde von der römischen Bevölkerung nicht etwa freudig begrüßt. Die Übergriffe der byzantinischen Besatzung erwies ich als drückend. Gotische Widerstandsnester erhielten von der römischen Bevölkerung insgeheim Hilfe und Unterstützung.[159] Um 534 übergaben die Ostgoten ihre letzte  Festung Campsa an Byzanz, der Krieg hatte damit sein endgültiges Ende gefunden. Die verbliebenen Goten zogen nordwärts, von da ab verliert sich ihre Spur in der Geschichte, damit ging die Vorherrschaft in Westeuropa über an die Franken. 569 setzte sich ein andere germanischer Stamm in Italien fest. Sie eroberten die Po-Ebene und drangen weiter vor nach Mittel-und Süditalien, nur Rom und die Küstenstädte blieben byzantinisch.[160] Zehn Jahre später traf Ostrom Vorbereitungen und schritt zu einem Krieg gegen die Langobarden, und wurde dabei von den Franken unterstützt. Trotz dieses gemeinsamen Vorgehens gelang es nicht die Langobarden zu überwinden.

Die fränkische Vorherrschaft und das Verschwinden der West-wie auch der Ostgoten als Machtfaktor hatte noch ein anderes Ergebnis: Das auf Arius gegründete christliche Bekenntnis fand mit dem Ausscheiden germanischer Stämme, die diesem Bekenntnis anhingen, ebenso ein Ende. Am Ende des 6. Jahrhunderts bestieg einer der bedeutendsten Päpste in der Kirchengeschichte der Stuhl Petri: Gregor I. (540-604) dem die Geschichte aufgrund seines Wirkens Größe bescheinigt hat. Er beendete als Erstes die Abhängigkeit von Byzanz. Mehr als irgendein anderer Papst versuchte er die Germanen ins römisch-katholische Reich hinüberzuziehen. Die Langobarden, die noch vielfach dem Heidentum anhingen, bewog er, soweit sie Christen waren, Abstand zu nehmen vom Bekenntnis des Arius, und sich hinzuwenden zu dem römisch-katholischen Bekenntnis, das auf dem Konzil in Nicäa 325 seinen Ursprung hatte. Ebenso förderte er auch den Abfall der Westgoten von Arius und den Übertritt zur Papstkirche. Es gelang ihm auch die Angelsachsen in Britannien für das katholische Christentum zu gewinnen. Im Frankenreich galt die Kirche als Staatskirche nach dem Vorbild, das Kaiser Konstantin in die Wege geleitet hatte. Die Westgoten hatten sich uneinig gezeigt, wenn es darum ging, Königsherrschaft und Papstherrschaft miteinander zu vereinen. Mit der Unterwerfung unter die Mauren in Spanien im 8. Jahrhundert war den Westgoten jegliche Einflussnahme entzogen. Die fränkischen Könige wahrten ihre Unabhängigkeit vom Papst, anerkannten zugleich die Oberhoheit des Papstes im Kirchenregiment.[161]

Bedeutend und wegweisend für die zukünftige westeuropäische Geschichte war das Wahl-oder Erbrecht bei den germanischen Völkern. Theoderich d. Gr. wurde von den Ostgoten  zum König erkoren, die, wie auch bei anderen germanischen Völkern, durch Wahl bestätigt wurde. Anders war die Nachfolge bei den fränkischen Merowingern geregelt, hier war die Thronfolge erblich. Kriege und Eroberungen gingen vom König aus und auf ihn zurück, waren die Unternehmungen erfolgreich, festigte es das Ansehen des jeweiligen Königs und des Königtums. Erfolgloses Vorgehen hatte  die umgekehrte Wirkung, wie die Geschichte der Merowinger erkennen lässt. Im Frankenland ging das Staatsvolk nicht von einem Volksstamm aus. Die Franken siedelten in kleinen Gruppen zwischen den unterworfenen Völkern, um den Zusammenhalt zu wahren. Alle im Reich vereinten Germanen und Römer galten als gleichberechtige Staatsbürger mit gleichen Rechten und Pflichten.[162]

Das Jahr 567 enthielt eine zukunftsweisende historische Entwicklung, die in der Dreiteilung des merowingischen Reiches bestand. Einer der vier Könige war verstorben, was einen schwerwiegenden Vorgang zur Folge hatte: Das Reich fiel in drei Teilreiche auseinander, in Austrasien, dem Ostteil, in Neustrien, dem Nordteil und mit Burgund, dem

[158]

[159] Orthbandt, Eberhard: Das werden des deutschen Reiches. S. 131

[160] ebd. S. 136 f

[161] ebd. S. 138

[162] ebd. S. 139

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Südwesten und Süden des Reiches.[163] In Frankreich erinnert noch heute eine Region mit Namen Bourgogne (Burgund) daran. Eine andere Bezeichnung hat sich ebenfalls bis heute erhalten: Les Allemands (die Deutschen), zurückgehend auf das Germanenvolk der Alemannen.

Die Herrschaft der Merowinger begann zu bröckeln, und der Einfluss  der Hausmeier[164] führte zu einem Machtzuwachs, der sich nicht mehr eindämmen ließ. Um die Mitte des 7. Jahrhunderts übernahm der Hausmeier Pipin, der aus dem das Geschlecht der Pipiniden hervorging, die Regentschaft für den König der Merowinger, der noch im Kindesalter die Nachfolge angetreten hatte.

Im Bereich der Kirche kamen iroschottische Mönche zum Einsatz, der von Pipin gefördert wurde. Sie traten für ein gereinigtes entschiedenes Christentum ein, das zu verflachen drohte, da der alte germanische Götterglaube seine Wirkung noch nicht verloren hatte, ebenso ließ  das Machtgebaren einiger christlicher Könige Zweifel aufkommen, ob sie getreu ihre Handlungen nach den ethischen Grundsätzen des Evangeliums ausgerichtet hatten.[165]

Die Pipiniden waren als Hausmeier aus dem Adelsgeschlecht der Karolinger hervorgegangen. Pipin der Ältere (580-640) war der Stammvater. Die tatsächliche Macht im Frankenreich ging über an Pipin den Mittleren (635-714). Pipin der Jüngere (714-768), ein Sohn Karl Martells (686-741) war der Vater Karls des Großen (768-814). Ein Name tritt in dem letztgenannten Zeitabschnitt besonders hervor. Es ist Pipins außerehelicher Sohn Karl, der später den Beinamen Karl Martell (686-741) (der Hammer, französisch marteau) erhielt. Seine Erbfolge war umstritten, dennoch lag die eigentliche Macht in seinen Händen, er war der Großvater Karls des Großen (768-814). Kriegerische Verwicklungen ergaben sich im Norden des Frankenreiches mit den Friesen und den Sachsen. Die Alemannen wurden in das Frankenreich einverleibt, das darüber hinaus nach Osten ausgedehnt wurde, somit schuf Karl Martell eine günstige Ausgangslage für seinen Enkel, der in der Zeit seiner Herrschaft den Westen Europas zu einem Großreich vereinte.

Karl Martells herausragende Bedeutung liegt noch auf einem anderen Feld, ihm wurde das Verdienst zugeschrieben, indem er dem weiteren Vordringen der Araber und damit der moslemischen Welt ein Ende setzte. In der Schlacht bei Tours und Poitier 732 gelang unter seiner Führung ein Sieg über die bis dahin unaufhaltsam vordringenden Araber mit ihren überlegenen militärischen Möglichkeiten, die sich schließlich über die Pyrenäen gänzlich nach Spanien zurückzogen. Ihre Herrschaft in Europa blieb auf die Iberische Halbinsel beschränkt. Sie erwiesen später eine Überlegenheit auf geistigem Gebiet, unter einer toleranten moslemischen Herrschaft erfuhren die auf die griechische Antike zurückgehenden Wissenschaften eine Förderung und Ausbreitung, die ihnen im christlichen Europa verwehrt blieb, weil antikes griechisches Wissen als heidnisch angesehen wurde und verpönt war, dennoch sickerten die Erkenntnisse im Laufe der folgenden Jahrhunderte ein nach Europa. Bevor es arabischen Heeren gelang, in Spanien ihre Herrschaft aufzurichten, die über einen weiten Zeitraum von Toleranz geprägt war, hatte der Islam seine Herrschaft über ganz Nordafrika, wo zuvor Augustin gewirkt hatte, und den vorderen Orient ausgedehnt. Karthago, Alexandrien und Antiochien über Jahrhunderte hinweg Zentren christlichen Glaubens verloren ihre Bedeutung, als

[163] Orthbandt, Eberhard: Das Werden des deutschen Reiches S. 143

[164] Hausmeier vom Lateinischen Majordomus (Hausherr)

[165] Orthbandt, Eberhard: S. 148

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hätte es an diesen Orten nie ein Christentum gegeben.  Mit dem Ausgang des 8. Jahrhunderts begann mit Karl dem Großen ein neuer Zeitabschnitt in der westeuropäischen Geschichte, der sich als prägend erweisen sollte für das gesamte Mittelalter. Bevor diese vorausschauende Entwicklung zum Abschluss kam, schufen weitere historische Ereignisse die Voraussetzungen dafür. In den Ereignissen, die den Weg der westeuropäischen Geschichte vorzeichneten, kommt Karl Martell eine herausragende Bedeutung zu, nicht allein, weil unter seiner Führung das weitere Vordringen arabisch-moslemischer Heere verhindert wurde, sondern weil er der Ausbreitung der christlichen Kirche nach Osten Vorschub leistete. Obwohl er seine politisch-weltliche Macht gegenüber der Kirche zu wahren wusste, gewann er als überzeugter Christ, die Hessen und Thüringer als Heiden für die christlich katholische Kirche. Unter seiner Obhut konnte Bonifatius (672-754) seine Missionstätigkeit nach Osten voranbringen.[166] Bonifatius verdiente sich in der Geschichte den Beinamen „Apostel der Deutschen“. Die verschiedenen Germanenvölker waren von der Mitte Europas aus nach Süden und Westen in das Römische Reich vorgedrungen und waren mit diesem Vordringen zugleich Christen geworden. Das germanische Kernland, das spätere Deutschland, war in weiten Teilen heidnisch geblieben. Hier eröffnete sich für Bonifatius ein Betätigungsfeld, nicht nur, vom Frankenreich aus gesehen, nach Osten, sondern auch nach Norden. Er gründete Bistümer und setzte Bischöfe ein. Einher damit ging eine Kirchenreform, die besonders die Lebensführung des Klerus betraf. Amtshandlungen wurden überprüft, und wenn für nötig erachtet geahndet, verboten wurde für Amtsträger das Waffentragen und die Teilnahme an Jagten. Nach dem Tode Karl Martells 741 gelangte Bonifatius auf den Höhepunkt seines Wirkens,[167] und schuf damit die geistlichen Voraussetzungen, auf die sich das christlich-katholische Westeuropa gründete und bestimmend wurde für die mittelalterliche Glaubenswelt.

In dem Zeitraum vom Ende des weströmischen Reiches 476 bis zur Erneuerung des römischen Staatsgedankens durch Karl den Großen (768-814) gab es die bereits beschriebene Zwischenphase, die eine unterschiedliche Interpretation erfahren hat, um daraus ein entsprechendes Geschichtsbewusstsein herzuleiten. Das Mittelalter selbst gilt vielen als Zwischenphase von der Antike zur Neuzeit, es ist vielfach mit der Bezeichnung „finster“ und „barbarisch“ bedacht worden. Zwei Gegenbewegungen haben die Neuzeit von Anbeginn geprägt: Der Humanismus und die Renaissance, mit der Erneuerung und Wiedergeburt der antiken Geisteswelt als Ziel und die Aufklärung in der jüngeren Neuzeit mit der Hinwendung zum demokratischen Verfassungs-und Nationalstaat. Beide Geistesströmungen sahen im Mittelalter eine Zeit des Rückschritts und des Verfalls. Als Ursache galten das Eindringen der Germanen in die überlegene geistig-kulturelle Welt der griechisch-römischen Antike und der Machtanspruch der römisch-katholischen Kirche mit ihrem Anspruch auf das Bildungsmonopol und damit auch der geistig-kulturellen Entwicklung, wofür auch die Scholastik

[166] Orthbandt, Eberhard: Lebenslauf des deutschen Volkes. S. 155

[167] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900. Stuttgart 1990. S 272

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angesehen wurde[168] In Deutschland setzten die Humanisten andere Akzente als in Italien, dem Ursprungsland der Renaissance, die zweifach begründet waren. Sie sahen in der gelungenen Abwehr der römischen Herrschaft durch die Germanen eher ein Element der Befreiung, zugleich vollzogen sie keine radikale Abkehr vom christlichen Glauben, was nicht zuletzt der Reformation Martin Luthers geschuldet war. Als einer der führenden Humanisten muss Erasmus von Rotterdam (1466-1536) angesehen werden. Er hatte nicht in gleicher Weise wie der Reformator Luther die Abkehr von der antiken Geisteswelt vollzogen. Er hat eine christliche Streitschrift verfasst mit dem Titel: „Handbüchlein eines christlichen Streiters“. Den christlichen Streiter, den dieses Buch zum Gegenstand hat, haftet nichts von einem Soldaten oder Kreuzfahrer an, es richtet sich vielmehr an einen befreundeten Laien aus höfischen Kreisen. Dieses Brevier des Evangeliums enthält mehr als fünfhundert Bibelzitate und nimmt etliche Male Bezug auf Origenes, Augustinus, Platon und Pico della Mirandola (1468-1494). Der letztgenannte war kein typischer Vertreter des Humanismus in Italien, wo die Predigttätigkeit des Dominikanermönches Savonarolas (1452-1498) nicht ohne Einfluss geblieben war. Erasmus verfolgte mit seiner Streitschrift die Absicht, den Leser mit der christlichen Glaubenswelt vertraut zu machen.[169] Die Frage nach dem freien Willen des Menschen hat Erasmus von Rotterdam und Martin Luther gleichermaßen bewegt. Erasmus verfasste eine Abhandlung dazu: „De libero arbitrio (Vom freien Willen). Luther trat ihr entgegen mit „De servo arbitrio“ (Vom Unfreien Willen).  Ein Gegensatz, der die ganze Kirchengeschichte durchzieht.

Eine besonders ablehnende Haltung zur Welt des Mittelalters lässt sich in der Französischen Revolution ausmachen, wo die Gegnerschaft zu Christentum und Kirche besonders radikale Ausmaße annahm. Die Zeit vor der Revolution sollte gänzlich ausgeblendet werden, was in der Schöpfung eines neuen „Republikanischen Kalenders“ gipfelte, der harmonisch besser im Einklang mit der Natur stand als der Gregorianische Kalender. (1582) Der Beginn der Revolution wurde als bedeutender angesehen als die Geburt Jesu Christi.[170] In Deutschland besonders in Preußen entstand im Pietismus eine Gegenbewegung dazu. Humanismus und Aufklärung haben in Deutschland durch Einbeziehung christlicher Elemente ein anderes Gewicht erfahren, was Anlass gegeben hat von einer „deutschen Sonderentwicklung“ zu sprechen.[171]

Zur Begrenzung der Zeit des Mittelalters gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Auf tausend Jahre kann der Zeitraum veranschlagt werden, vom Untergang des weströmischen Reiches 476 bis zur Blüte der Renaissance, die mit dem ausgehenden 15. Jahrhundert einsetzte.[172]

Gefördert wurde die Mittelalter-Forschung durch den im 19. Jahrhundert immer stärker werdenden Historismus. Er leitete eine Geschichtsbetrachtung ein, in der jeder Zeitabschnitt, jede historische Erscheinung eine eigene Individualität besaß, die deshalb in ihrer Bedeutung herausgestellt wurde, das „finstere papistische“ Mittelalter eingeschlossen. Der protestantische Historiker Leopold von Ranke war ein führender Vertreter dieser Richtung. Er schrieb eine Geschichte der Päpste ohne polemisches Beiwerk. Rankes Schüler schufen getreu der Maxime ihres Vorbildes eine historische Sicht, um darzustellen „wie es eigentlich gewesen ist“. In der Gesamtdeutung war die Geschichte, trotz ihrer in sich geschlossenen Einzelepochen, dennoch als Ganzes eine „Hieroglyphe Gottes“ mit der Zielvorgabe eine „Erziehung des Menschengeschlechts“ zu bewirken, womit dem Historiker die Aufgabe zufiel, diese Geschichte zu „entziffern“. Mit Ranke, so ist festgestellt worden, sei die Geschichte zur ersten Bildungsmacht erhoben worden. Von ihm ist der Satz überliefert: „Ein Volk, das seine Geschichte nicht kennt, wird erleben, dass ihm eine schlechte Geschichte gemacht wird.“ Die weitere Entwicklung führte zu einer Säkularisierung des historischen Denkens, zur Relativierung der metaphysischen und

[168]

[169] Halkin Leon E.: Erasmus von Rotterdam. Eine Biogrphie. Paris 1987 S. 73

[170] Scott Samuel F. /  Rothaus, Barry: Historical Dictionary fo the French Revolution 1789-1799. Westpoint Connecticut 1985 S. 145

[171] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 23

[172] ebd. S. 23

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religiösen Doktrin.  Friedrich Nietzsche (1844-1900), einer der entschiedensten Gegner christlicher Wert-und Lebensvorstellungen, sah in einer ausschließlich historischen Behandlung „das Christentum aufgelöst in reines Wissen und dadurch vernichtet“.[173] Tatsächlich hätte eine solche historische Sicht der christlichen Botschaft alle Überzeugungskraft genommen.

Die verschiedenen historischen Sichtweisen wurden ergänzt durch eine konfessionelle evangelische und katholische Geschichtsschreibung. Dem von den Humanisten geschaffenen Geschichtsbild vom „finsteren“ Mittelalter fügte die Reformation das Verdikt vom „katholisch-papistischen“ Mittelalter hinzu. Die Reformatoren sahen sich als Erneuerer des Ursprünglichen Christentums und beurteilten das Mittelalter aus dieser Sicht.[174] Die Entwicklung ging aber in eine andere Richtung, der katholischen Volkskirche wurde schließlich eine evangelische Volkskirche gegenübergestellt. Für die katholische Kirche hatte das Mittelalter eine Vorbildfunktion. Statt hier Namen und Werke anzuführen, sei auf die historische Gestalt des frühen Mittelalters verwiesen, an welcher der Streit exemplarisch ausgefochten werden konnte, auf Winfrid-Bonifatius. Als Angelsachse war er germanischer Abkunft, zugleich aber hielt er Rom die Treue und war dem Papst ergeben, für die katholische Kirche repräsentierte er das Urbild des germanisch-deutschen und zugleich des römisch-katholischen Christen, für Protestanten war er mehr der Apostel des Papsttums als des Christentums.

Der konfessionellen kam eine nationale Geschichtsschreibung hinzu, die mit dem aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhundert einsetzte, ausgelöst durch die Französische Revolution. In dem Zeitabschnitt, der im Vordergrund der Betrachtung steht, nämlich das frühe Mittelalter, wurde in der nationalen Geschichtsschreibung sorgsam der Anteil der Romanen und Germanen am historischen Verlauf herausgearbeitet, was als abwegig angesehen werden muss. Die Germanen waren von Anfang in den Gebieten, wo sie ihre Herrschaft aufrichteten, eine Minderheit, die sich sehr schnell assimilierte. Der Nationalsozialismus wollte diesen Zeitabschnitt nutzen zu einem Geschichtsbewusstsein reinen Germanentums. Die Massen, die Hitler begeistert zujubelten, fühlten sich nicht als Germanen reinen Geblüts, sie waren angetan von Hitlers innen-und außenpolitischen Erfolgen, die er zweifellos am Beginn seiner Herrschaft vorweisen konnte. Das kann ebenso auch von Napoleon I. gesagt werden, seine Heere hatten große Teile Europas unterworfen, die sich sicher nicht als Romanen empfanden, sie waren begeistert der Führungspersönlichkeit Kaiser Napoleons gefolgt. Es darf in diesem Zusammenhang keine Analogie zwischen Napoleon und Hitler hergestellt werden, dazu waren beide in ihrer Persönlichkeit und politischen Zielsetzung zu unterschiedlich. Aus diesem Blickwinkel muss auch Preußen Erwähnung finden, das sich aus kleinsten Anfängen zu einer europäischen Großmacht emporgearbeitet, und schließlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Voraussetzung zur Einheit Deutschlands geschaffen hatte. Preußen hatte überhaupt nichts Germanisches an sich. Die Preußen waren aufgrund ihrer geographischen Lage vielfältig eine Mischung aus Slaven und Germanen, was in dem Satz seinen Ausdruck findet: Preuße ist man durch Bekenntnis, nicht durch Geblüt. Die mittelalterliche Geschichte war keine Geschichte der Rassen und Nationalitäten. Die Konflikte dieser Zeit beruhen auf  ganz anderen Voraussetzungen und hatten ein ganz anderes Geschichts-und Staatsverständnis zum Inhalt, als es sich in der Neuzeit herausbildete

[173] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 25

[174] ebd. S. 27

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Neben der genannten verschiedenen Geschichtsschreibung mit ihren Interpretationen und einem damit einhergehenden Geschichts-und Staatsverständnis gab es eine weitere Begründung, dem Mittelalter mit Distanz zu begegnen: Seine Philosophiegeschichte die in der Scholastik ihren Ausdruck gefunden hatte. Einer ihrer führenden Vertreter war Thomas von Aquino (1224-1274). Er hinterließ ein umfangreiches Werk, das mit seiner Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart reicht. Als Dominikaner zählt er zu den bedeutendsten Kirchenlehrern der Katholischen Kirche, darüber hinaus kann er als einer der einflussreichsten Philosophen und Theologen angesehen werden. Sobria ebriatas – nüchterne Trunkenheit, so wird seine Persönlichkeit und die Gestaltung seiner Theologie, Philosophie und Lehre umschrieben, gepaart mit Intellekt und Leidenschaft.[175]

Noch eine andere Kontroverse kann wesentlich auf das Mittelalter zurückgeführt werden, die sich danach fortgesetzt hat bis in die Gegenwart: Der Universalienstreit. Als Universalien werden Allgemeinbegriffe wie beispielsweise „Mensch“ und „Menschheit“ oder mathematische Entitäten (Dasein im Unterschied zum Wesen eines Dinges) wie „Zahl“ „Relation“ (Beziehung) und Klasse bezeichnet. Bei Platon sind Universalien als Ideen rein geistigen Ursprungs im Denken begründet. Ideen haben eine eigene Existenz und waren zuerst und vorher. (universalia ante rem) Der Streit entzündete sich an der Beziehung zwischen dem Allgemeinbegriff und den Einzeldingen und was und wem darin der Vorrang eingeräumt werden muss. Zweifellos ist der einzelne Mensch Teil der Menschheit. Im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift ist im Buch des Propheten Jeremia Kapitel 1, Vers 5 zu lesen, wo Gott spricht: (5) „Noch ehe ich dich im Mutterleibe bildete, habe ich dich erwählt (oder ersehen), und ehe du das Licht der Welt erblicktest, habe ich dich geweiht: zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt“. Weiter heißt es dazu in Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde zu Ephesus, Kapitel 1, Versen 4-6: (4) Denn in ihm hat er uns schon vor Grundlegung der Welt dazu erwählt, daß wir heilig und unsträflich (untadelig, oder: ohne Fehl) vor seinem Angesicht dastehen sollten, (5) und hat uns in Liebe durch Jesus Christus  zu Söhnen, die ihm angehören sollten, vorherbestimmt nach dem Wohlgefallen (oder: Ratschluss) seines Willens, (6) zum Lobpreis der Herrlichkeit seiner Gnade, die er uns in dem Geliebten erwiesen hat.[176]

Die Idee, der Gedanke, des Propheten oder Erwählten war geistig schon vorhanden ehe sie als materielle Existenz in Erscheinung trat, worin auch der Gegensatz von Zeit und zeitlos aufgehoben ist. 

Eine andere Sicht zum Universalienstreit liefert Aristoteles, der im Gegensatz zu Platon, dessen Schüler er anfangs war, die radikale Trennung von Idee, von geistiger und materieller Wirklichkeit ablehnt, für ihn ist die Form Ausdruck geistigen Wesens, der geistige Ursprung verwirklicht sich in der Form. Dazu findet sich ein Wort im christlichen Kanon der Heiligen Schrift im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth, Kapitel 2, Verse 10-11: (10)

[175] Thomas von Aquino: Summe der Theologie. Zusammgestellt, eigeleitet und erläutert von Joseph Bernhart. Stuttgart 1954 S. XXXIII

[176] Übersetzung nach Herrmann Menge (ev.)

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Gott hat es durch den Geist uns geoffenbart; der Geist ergründet nämlich alles, selbst die Tiefen der Gottheit. (11) Wer von den Menschen kennt das Wesen des Menschen, außer dem Geist des Menschen, der in seinem Innern ist?[177]

Der geistige Ausdruck, das Wesen, verwirklicht sich in der Form, universalia in re,

Gegenüber beiden vertritt der Nominalismus eine gegensätzliche Auffassung. Für den Nominalisten haben nur die Einzeldinge wirkliche Existenz, für die der Mensch im Nachhinein die Namensgebung vornimmt, universalia post rem. Nominalismus rührt her vom lateinischen Wort Nomen. (Namen) Dazu findet sich ein Satz im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift in Genesis (1. Buch Mose) Kapitel 2, Vers 19. (19) Und Gott der Herr machte aus Erde alle Tiere auf dem Feld und alle Vögel unter dem Himmeln und brachte sie zu dem Menschen, um zu sehen, wie er sie benennen würde; denn wie der Mensch die Lebewesen nennen würde, so sollte ihr Name sein.[178] Der Nominalismus hat unterschiedliche Spielarten bis hin zum radikalen Subjektivismus, für den nur gilt, was sich im Bewusstsein des Subjekts wiederfindet und somit Wirklichkeit erlangt, außerhalb dieses Subjekts, des ICH, gibt es keine Wirklichkeit. Der Nominalismus öffnet auch den Weg zum ausschließlich materialistischen Denken. Immanuel Kant, als Vertreter des Idealismus, vollzog die „kopernikanische Wende“ des Denkens, in dem sich das Denken nicht nach dem Objekt, sondern das Objekt nach dem Denken richtet. Mit dem Tage der Schöpfung nahmen auch Raum und Zeit ihren Anfang und alle damit verbundenen Gesetzmäßigkeiten, wozu auch der pythagoreische Lehrsatz a²+b²=c² gehört. Diese Gesetzmäßigkeit war schon vorhanden, bevor Pythagoras sie entdeckte, er hat diesen Lehrsatz nicht erfunden, sondern gefunden.

Der größte französische Scholastiker, Abälard, hat eine Sicht zum Universalienstreit gegeben, die besondere Beachtung verdient. Er hat sich die Sicht zu Eigen gemacht, die sich auf Platon gründet, wonach  die Universalien vor den (Einzel)Dingen sind. (universalia ante res). Die Gegenposition Nominalisten sieht die Universalien nach den Einzeldingen. (universalia post res). Abälard geht hier andere Wege und gründet auf die Feststellung, dass die Universalien in den Dingen sind (universalia in rebus). Es sei abwegig, zu behaupten, das Wirkliche sei die „Menschheit“ und nicht die Menschen. Es könne nicht sein, die Verkörperung des Allgemeinen in den Einzeldingen zu sehen, und die individuellen Unterschiede zu vernachlässigen. Ebenso abwegig sei die Behauptung, nur das Einzelne sei wirklich, und die allgemeinen Begriffe bloße Namen. Abälard erkennt in beiden Sichtweisen eine Einseitigkeit, die in einer Synthese auf einer höheren Ebene zusammengeschaut und überwunden wird. Er zeigt eine Art und Weise, die gegensätzliche Sichtweisen in seine Lehre einbezieht. In der uns umgebenden Wirklichkeit sind die Universalien in den Dingen. Für Gott aber sind sie vor den Dingen, nämlich Urbilder des Geschaffenen in einem göttlichen Geist. Für die Menschen sind sie nach den Dingen als Begriffsbilder, die wir aus der Übereinstimmung in den Dingen abziehen müssen.[179]

Die Wissenschaft im Mittealter war international. Der aus Italien stammende Anselmus lebte in der Normandie und starb als Erzbischof von Canterbury, dem höchsten geistlichen Amt, das in der britischen Geschichte vergeben wurde, in England. Der deutsche Albertus Magnus lehrte in Paris. Sein Schüler Thomas von Aquino, der aus allen Geistesgrößen der Zeit herausragte, stammte aus Süditalien und wirkte an den damals führenden Universitäten Paris, Köln, Bologna und anderen Bildungsstätten. Das sind nur wenige Beispiele. Die Philosophie dieser Zeit ist

[177] Übersetzung nach Storr. 1956 (kath)

[178] revidierte Übersetzung nach Luther. Wollerau 2009

[179] Störing, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Stuttart 1950. S. 166

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erwachsen aus der Unterweisung und Erziehung der Geistlichkeit in den Klosterschulen und  war in dieser Zeit die „ancilla theologiae“, die Magd der Theologie.[180] Alle Geistesgrößen der Zeit waren Mönche der verschiedenen Orden, der Franziskaner, der Dominikaner oder der Benediktiner, die, auch wenn sie nicht immer im Gleichklang standen, das absolute Bildungsmonopol innenhatten, und denen die lateinische Sprache gemeinsam war. Der internationale Geist, der diese geistige Elite verband, lässt erkennen, dass dieses Mittelalter nicht so finster und barbarisch gewesen ist, wie es, je nach politischem oder ideologischem Standort, gerne gesehen wird; jedenfalls war das Mittelalter nicht finsterer und barbarischer als die Zeiten davor und danach. Es muss in Betracht gezogen werden, wie nationalstaatliche Eifersucht, verbunden mit einem Hegemoniestreben, Europa an den Rand der Vernichtung und Bedeutungslosigkeit geführt hat.

c)  Renovatio imperii Romanorum (Die Erneuerung des Römischen Reiches)

Mit Karl dem Großen begann ein neuer Abschnitt westeuropäischer mittelalterlicher Geschichte. Geschichts-und Staatsverständnis fanden hier ihre bestimmende Ausprägung und Grundlegung für den Verlauf des gesamten Mittelalters und darüber hinaus. Die Errichtung dieses Reiches war zugleich ein Rückgriff in die Vergangenheit und machte da Fortsetzung, wo das Römische Reich aufgehört hatte zu bestehen. Der Staatsentwurf, den die letzten römischen Kaiser im 4. Jahrhundert geschaffen hatten war neu und hob sich ab von der zuvor anders gearteten römischen Geschichte. In einem Zeitraum von hundert Jahren hatte das Römische Reich eine Wandlung erfahren, bis im 5. Jahrhundert der völlige Verfall einsetzte und alles zerbrach. Bevor aber Karl sein Werk neu beginnen und vollenden konnte, hatte sein Großvater Karl Martell, die Voraussetzungen dafür geschaffen, nachdem er dem Vordringen arabisch-moslemischer Heere in der Schlacht bei Tours und Poitier 732 ein Ende gesetzt hatte. Er hatte die Herrschaftsverhältnisse im Frankenreich gefestigt. Im Norden hatte er Friesen und Sachsen zwar nicht seiner Herrschaft unterworfen, aber doch Gefahren, die drohen konnten, abgewehrt und den Grenzbereich zu diesen beiden Germanenstämmen gesichert; eine wichtige Voraussetzung für seinen Enkel zum weiteren Vordringen nach Norden.

Vier Ereignisse bilden die Grundlage für die territoriale Ausdehnung und die Einheit des von Karl dem Großen geschaffenen weströmischen, westeuropäischen Großreiches und seine spätere Bedeutung für die westeuropäische Geschichte.

  • Der Krieg gegen die Sachsen und die Beziehungen zu seinem größten Widersacher, dem Sachsenherzog Widukind, der zugleich Anführer der immer wieder aufflammenden Kämpfe war, die sich über einen Zeitraum von dreißig Jahren hinzogen, und die Unterwerfung der Sachsen, nicht allein dem fränkischem Staatsverband, sondern auch die Bekehrung zum Christentum zum Inhalt hatten. Es war eine Bekehrung durch Feuer und Schwert, eine Methode, die nicht nur bei Karls Gegnern Ablehnung und Kritik   hervorriefen, sondern schon zu seinen Lebzeiten als fragwürdig angesehen wurden.
  • Die Abwehr einer Gefahr für die Einheit der Kirche, hervorgerufen durch das Vordringen einer Lehre, die in Spanien ihren Ursprung hatte. Der alte Streit, der schon die christliche Kirche mit dem Beginn als Staatsreligion im Römischen Reich beschäftigt hatte. Diese Lehre besagte, Jesus Christus sei von Gott adoptiert worden, womit ihm die Gleichstellung mit Gott abgesprochen wurde.
  • [180] Störing, Hans Joachim: Kleine Geschichte der Philosophie. S. 160 f
  •                                                                                                   71
  • Die Kaiserkrönung am Weihnachtsfest des Jahres 800 war die Geburtsstunde des „Heiligen Römischen Reiches“. Kaum ein Ereignis hat so viele und unterschiedliche Deutungen erfahren, deren Klärung nie als abgeschlossen betrachtet werden konnte. Es entspann sich daraus eine Auseinandersetzung, die tonangebend wurde für die mittelalterliche Geschichte. Es betraf die Klärung der Machtverhältnisse zwischen den beiden beherrschenden Institutionen Kaiser und Papst. Die Machtkämpfe, die sich daraus entwickelten, haben die beiden Institutionen geschwächt und schließlich in die Bedeutungslosigkeit geführt.
  • Das Verhältnis zu dem in Byzanz (Konstantinopel) regierenden oströmischen Kaiser. Mit Karls Kaiserkrönung wurde zugleich eine Wunde aufgerissen, denn der Kaiser in Byzanz sah sich immer noch als Herrscher des gesamtrömischen Reiches. Es betraf nicht nur das Staatsverständnis und seine damit verbundene staatliche Einheit, es betraf auch die Einheit der Kirche, denn die in Byzanz residierende Geistlichkeit war nicht bereit, sich dem weströmischen Papst zu unterwerfen. Der Gegensatz, der nie überwunden werden konnte, führte zur staatlichen und kirchlichen Spaltung zwischen Ost und West mit fatalen Folgen.

Karl trat 768 seine Herrschaft an. Vier Jahre später 772 begannen die Sachsenkriege, die auf beiden Seiten mit besonderer Grausamkeit geführt wurden, und die erst genau dreißig Jahre später 802 ihr endgültiges Ende fanden. Einen Meilenstein zu dieser Entwicklung wurde im Jahr 785 gesetzt: Der Sachsenherzog Widukind, eine Herrscherpersönlichkeit, die für Karl nicht nur auf militärischen Gebiet eine besondere Herausforderung bedeutete. In dem genannten Jahr unterwarf sich Widukind und ließ sich christlich taufen, und der Taufpate selbst war kein geringerer als der Frankenkönig Karl. Noch bedeutender erscheint dieser Akt, wenn dazu die Wirkungsgeschichte verfolgt wird, denn von 919 bis 1024 gelangten Könige und Kaiser aus sächsischem Hause auf den Thron, und nie stand das Heilige Römische Reich so gefestigt da wie in diesem Zeitabschnitt. Der größte unter ihnen, Otto I. (der Große), (936-973) war ein Enkel Widukinds (730-807).[181]

Die gewaltsame Bekehrung der Sachsen ist schon zu Lebzeiten Karls auf Kritik gestoßen auch am Hofe Karls selbst. Diese Form der Bekehrung war zu der Zeit und in Zeiten davor   nicht das übliche Verfahren. Die Bekehrung der noch heidnischen Germanenstämme war überwiegend das Werk angelsächsischer Missionare, ihr Leitbild war der Gottesmann, verkörpert vor allem durch Bonifatius (672-754), der auf dem Kontinent an vorhandene gleichartige Bestrebungen anknüpfte, die maßgebend  die karolingischen Kirchenreform beeinflussten, die dann auch für die mittelalterliche Kirche Vorbildfunktion erlangte.[182] Die Kirchenreform mit Karl Martell durch angelsächsische Missionare begonnen, wurde von seinen Nachfolgern fortgesetzt.[183] Die Karolinger bevorzugten angelsächsische Missionare; sie begannen die Friesen im Norden zu missionieren, wo Bonifatius 754 den Märtyrertod fand, nachdem er zuvor das Hauptgewicht seiner Missionstätigkeit auf Hessen und Thüringen verlagert hatte. Bei den Friesen gab es Adelige, die für das Christentum optierten, auf diese Weise erhielt Bonifatius Predigterlaubnis.[184] Bonifatius entstammte einer adelig grundherrlichen Familie aus Wessex (Westsachsen) im Südwesten Englands. Im Alter von

[181] Kleinpaul, Rudolf: Das Mittelalter. Bilder aus dem Leben und Treiben der Stände in Europa. Unveränderter Nachdruck von 1885. Würzburg 1998 S. 94

[182] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 230

[183] ebd. S. 254

[184] ebd. S. 265

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sieben Jahren wurde er in ein Kloster gegeben und wuchs dort im mönchischen Geist auf. 718 kehrte er von einer Missionsreise bei den Friesen nach England zurück; von dort ging er nach Rom und erhielt den Auftrag von Papst Gregor II. (715-731) zur Missionierung Germaniens, was auch für die fränkische Kirche zu einer weiteren Bindung an Rom führte. Im Frankenreich nahm ihn Karl Martell unter seinen besonderen Schutz. 732 wurde er von Papst Gregor III. (731-741) zum Erzbischof erhoben. In dieser Funktion stieß er bei Karl Martell auf Widerstand. Ein Kompetenzstreit zeichnete sich ab über die Abgrenzung geistlicher und weltlicher Macht, der im ausgehenden Mittelalter dramatischen Formen annehmen sollte. Sachsen blieb für Bonifatius verschlossen, dagegen eröffnete sich in Bayern ein Betätigungsfeld, wo vier Bischofssitze errichtet wurden; die Errichtung eines Erzbistums unterblieb, und Bayern gelangte unter die eigene Hoheit des Bonifatius.[185] Unter den Nachfolgern Karl Martells, der 741 verstorben war, schritt Bonifatius zu einer einschneidenden Kirchenreform. Zentral betraf die Reform die Lebensführung des Klerus. Zur Beseitigung heidnischer Bräuche wurde nötigenfalls die weltliche Macht um Beistand angerufen. Es erfolgte die Forderung auf Restitution des der Kirche durch Karl Martell entfremdeten Besitzes. Ein Eherecht wurde erlassen; es Verbot die Neuverheiratung zu Lebzeiten des rechtmäßigen Ehepartners. Ferner wurde das Zölibat eingeschärft und im Konkubinat lebende Klerikern die Amtsenthebung angedroht. Zur Ehelosigkeit hat der Apostel Paulus einiges geäußert im 1. Brief an die Korinther Kapitel 7, in der Versen 4-7. (4) Das Weib hat kein Verfügungsrecht über ihren Leib, sondern der Mann; desgleichen hat der Mann kein Verfügungsrecht über seinen Leib, sondern das Weib. (5) Verweigert euch einander nicht, außer auf Grund gegenseitiger Übereinkunft eine Zeitlang, um für das Gebet Zeit zu haben und dann wieder zusammenzuleben, damit euch der Satan nicht versuche wegen eures Mangels an Selbstbeherrschung. (6) Ich sage dies nur als Zugeständnis, nicht als Gebot. (7) Ich wollte aber alle Menschen wären so wie ich; indes hat jeder von Gott seine eigene Gabe, der eine so, der andere anders.[186] Mit dieser Feststellung wird die Ehelosigkeit zu einer Gewissensfrage, denn über die eigene Berufung kann jeder Mensch nur individuell entscheiden. Der Apostel Paulus war ehelos, was aber nicht für alle Apostel und Verkündiger des Evangeliums galt, denn im 1. Korintherbrief, Kapitel 9, Vers 5 schreibt und fragt er: (5) Haben wir nicht das Recht, eine Schwester als Frau mitzunehmen wie die anderen Apostel, die Brüder des Herrn und selbst Kephas? (Petrus)[187] Mönche und Nonnen wurden angehalten, die Regeln des Benedikt strengstens zu befolgen. Die nach Benedikt genannten Klostergründungen waren die ersten in der Kirche des Westens.[188] Die Klöster hatten die Aufgabe, Bildung zu pflegen und zu vermitteln und Land urbar zu machen für die Nutzung landwirtschaftlicher Flächen, ein hartes Geschäft, ora et labora (bete und arbeite) hieß es darum. Ein geflügeltes Wort, das sich über die Zeiten erhalten hat.

Die Sachsen, ursprünglich an der unteren Elbe ansässig, breiteten sich immer weiter nach Süden aus und überlagerten schließlich die ganze nordwestdeutsche Tiefebene. Angelsächsische Missionare eröffneten den Sachsen die Möglichkeit den christlichen Glauben in freier Entscheidung anzunehmen. Der sächsische Selbstbehauptungswille stellte sich aggressiv gegen alles Christliche, und sah in dem Versuch der Missionierung mehr als nur einen Glaubenswechsel. Die Sachsen sahen darin vielmehr eine Bedrohung ihrer stammeseigenen Unabhängigkeit, zudem war der Einfluss einer Adelsherrschaft, die eher geneigt war, sich dem

[185] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 270 ff

[186] Übersetzung nach Storr (kath)

[187] ebd.

[188] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 272 f

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Christentum zu öffnen, nicht so ausgeprägt wie bei den Friesen. Als Karl zur fränkischen Gesamtherrschaft aufgestiegen war, zog er 772 erstmals mit militärischer Gewalt gegen die Sachsen, womit ein Bekehrungsversuch mit dem Schwert einherging. Auf diesem ersten Feldzug wurde auch das Zentralheiligtum der Sachsen, die Irminsul, demonstrativ zerstört, um die Überlegenheit des Christengottes eindrucksvoll zu untermauern. 773 befand sich Karl auf einem Italienzug, was die Sachsen ausgiebig zu einem Rachefeldzug nutzten. Nach der Rückkehr Karls aus Italien, erfolgte die Vergeltung. Karls Biograph Einhard berichtet, das Vorgehen der Franken löste Entsetzen aus. Die Antwort gründete in der Entschlossenheit, die Sachsen solange mit Krieg zu überziehen, bis sie besiegt, das Christentum angenommen hätten oder, im Falle eines unnachgiebigen Widerstandes, gänzlich ausgerottet seien. Angesichts dieser Drohung gelobten große Teile Bekehrung und Unterwerfung. Es wurde eine Reichsversammlung nach Paderborn einberufen, gleichzeitig fand eine Synode statt mit dem Ziel, die Missionierung des Sachsenlandes zu organisieren, große Teile der sächsischen Bevölkerung ließen sich taufen, was bei den Franken die Zuversicht aufkommen ließ, das Sachsenland sei befriedet. 778 zog Karl mit einem Heer über die Pyrenäen nach Spanien, was die Sachsen prompt zu einem Aufstand nutzten, diesmal unter der Führung Widukinds, der über ein militärisches Konzept verfügte, und die Sachsen erstmals von einer einheitlichen Führung geleitet wurden; sie drangen weit nach Süden vor, bedrohten Fulda, den von Bonifatius errichteten Bischofssitz, so dass die Mönche fliehen und den Leichnam des Bonifatius in Sicherheit bringen mussten. Die Sachsen gelangten an den Rhein bis nach Koblenz. Die Kämpfe zogen sich über Jahre hin und forderten auf beiden Seiten große Opfer.[189] In dem vielbeachteten Akt der Hinrichtung von Sachsen in Verden, in der NS-Zeit als „Blutbad von Verden“ bezeichnet, sollen nach unterschiedlichen Angaben 4500 Sachsen hingerichtet worden sein, die zuvor von frankentreuen Sachsen ausgeliefert worden waren. Mit Deportation und Umsiedlung wurden Gebiete der Sachsen durch Franken ersetzt. Als unzutreffend haben sich Darstellungen erwiesen, gefangene Sachsen seien in die Sklaverei verkauft worden. Ein vorläufiges Ende erreichten die Kämpfe durch die Taufe Widukinds Weihnachten 785. Karl hatte seinem größten, in vieler Hinsicht ebenbürtigen, Widersacher Straffreiheit und Sicherheit zugesagt, was er durch Stellung von Geiseln bekräftigte. Durch die Übernahme der Patenschaft war er verpflichtet Widukind als geehrte Person zu betrachten und zu behandeln; damit war die Eingliederung der Sachsen vollzogen, auch wenn bis zum Beginn des 9. Jahrhunderts zeitweise Kämpfe aufflammten. Das Geschlecht Widukinds hat schon bald zu Hof-und Kirchendienst gefunden. 802/03 erließ Karl ein sächsisches Stammesrecht, das eine zuvor strengere Gesetzgebung aufhob, und den Sachsen eine gleichberechtigte von aller Diskriminierung befreite Stellung einräumte.[190] 

Die Sachsenkriege sind besonders von den NS-Ideologen herangezogen worden, um einen heidnischen Germanenmythos zu untermauern und auszubreiten. Auf welchen Auswüchsen und Irrwegen ein Geschichtsbewusstsein gegründet werden sollte, zeigt eine Schrift des SS-Hauptamtes mit dem Titel:

Wieder reiten die Goten…

…Was den Goten, den Warägern und allen einzelnen Wanderern aus germanischem Blut nicht gelang – das schaffen jetzt wir, ein neuer Germanenzug, das schafft unser Führer, der Führer aller Germanen. Jetzt wird der Ansturm aus der Steppe zurückgeschlagen, jetzt wird die

[189] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 296 f

[190] ebd. S. 298

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Ostgrenze Europas endgültig gesichert. Jetzt wird erfüllt, wovon germanische Kämpfer in den Wäldern und Weiten des Ostens einst träumten. Ein dreitausendjähriges Geschichtskapitel bekommt heute seinen glorreichen Schluss. Wieder reiten die Goten, seit dem 22. Juni 1941 – jeder von uns ein germanischer Kämpfer[191] Ein Rassenkrieg war ausgerufen worden, wobei der Begriff Rasse in jedem Fall eine falsche Bedeutung erlangt, es ist ein Begriff aus der Zoologie, und da gehört er auch ausschließlich hin. Dem auf nationalstaatlichem Denken begründeten Prozess, der die Völker Europas in Gegensatz zueinander gebracht hat, ist vom sogenannten Nationalsozialismus ein rassisch begründetes Element hinzugefügt worden, und hat Zerstörung und Selbstzerstörung zur Vollkommenheit geraten lassen. Die Machart nationalsozialistischer Ideologie und Einflussnahme hat ihre Wirkung erzielt, nicht zum Zeitpunkt als sie geschah und auch nicht, weil die Soldaten der Deutschen Wehrmacht sich als germanische Krieger empfanden; sie waren geblendet von den Anfangserfolgen in den ersten Jahren des Krieges. Dem Bestreben, dem Germanenmythos in der Zeit der NS-Herrschaft eine Breitenwirkung zu verschaffen, war nur ein mäßiger Erfolg beschieden; er wurde von Anbeginn nicht sonderlich ernst genommen, was ein Flüsterwitz unterstreicht: Blond wie Adolf Hitler, groß und stark wie Joseph Goebbels, gertenschlank wie Hermann Göring und keusch wie Ernst Röhm. Zarah Leander konnte mit ihrem Gesang noch den Text interpretieren: „Er heißt Waldemar, und hat schwarzes Haar, er ist weder stolz noch kühn, aber ich liebe ihn.“ In Nordafrika schwiegen auf beiden Seiten die Waffen, wenn Lili Marleen erklang, von Lale Andersen gesungen. Es gibt eindrucksvolle Berichte darüber, die belegen, wie die Menschen der Zeit mehrheitlich wirklich empfanden. Die vom Nationalsozialismus inszenierte Weltanschauung wurde begleitet von einer Diktatur, die Widerspruch mit den bekannten Mitteln ahndete. Eine einzelne Stimme hat sich in dem Meer der Begeisterung für Hitler dennoch erhoben in einer Broschüre, einem Büchlein von 75 Seiten, 1935 veröffentlicht, unter dem Titel. „Karl und Widukind. Geschichtliche Wirklichkeit gegen widerchristliche Legendenbildung“.[192] Es gehörte einiger Mut dazu, dem ethnisch begründeten nationalsozialistischen Machtanspruch so entgegenzutreten. Ein Abschnitt daraus kann das belegen: Es ist die große Erfahrung, dass der Gottesglaube, der angeblich den Menschen zum hündischen Sklaven macht zu allen Zeiten Männer mutig und furchtlos gemacht hat auch da, wo andere schwiegen. Wer die Bibel und die Geschichte der Christenheit kennt, weiß von den Gottesmännern, die vor die Mächtigen der Erde traten und sie straften, wenn ihr Tun gegen Gottes Gebot verstieß. Er kennt die Geschichte von Elia, der den Tyrannen Ahab strafte. (1. Buch der Könige, Kapitel 18) Er kennt Nathan, den Propheten und sein Wort an den sündigen König David: „Du bist der Mann!“ (2. Samuel; Kapitel 12) Er kennt Johannes den Täufer, der, als alle schwiegen, vor Herodes hintrat und ihn die Anklage ins Gesicht schleuderte: „Es ist nicht recht, König….“ (Evangelium nach Matthäus; Kapitel 14)[193] Obwohl Hitler und sein ideologischer Anhang in der Broschüre nicht ausdrücklich erwähnt und angesprochen werden, sind die Äußerungen beachtenswert, besonders die Zitate aus dem hebräischen Kanon der Heiligen Schrift, denn solche Äußerungen konnten nicht ohne Risiko geschehen. Weiter heißt es: Er kennt vielleicht auch den Namen Alkuin, den Führer der Kirche im Reiche Karls des Großen. Was war das für ein Mann, der in dieser für die christliche Kirche in Deutschland so entscheidenden Jahren die in kirchlichen Dingen einflussreichste Persönlichkeit am fränkischen Hof war? (…) Er war wie so viele Kirchenleute seiner Zeit, ein Angelsachse, wohl aus

[191] Hofer, Walther: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945. Frankfurt a. M. S. 250

[192] Schaller, Theo: Karl und Widukind. Geschichtliche Wirlichkeit gegen widerchristliche Legendenbildung. Berlin 1935 S. 53

[193] ebd. S. 54

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vornehmen northumbrischen Geschlecht, kam nach manchen Wanderjahren, die ihn auch nach Rom führten – das er übrigens nicht sehr schätzte! – in Norditalien in Berührung mit König Karl und wurde bald von ihm an den Hof gezogen.[194] (…) War Sachsenland nun ein Land von Gräbern und Trümmern? War in dem Kampf der Schwerter gegen das Kreuz ein wilder, unbrechbarer Hass gewachsen, der die Herzen der Sachsen unzugänglich machte für die Botschaft? Antwort kann nicht eine Theorie, sondern nur die Geschichte geben. Und die gibt die Antwort: Nein! Über dem nordischen Land stand die Christusgestalt![195]

Ab einem bestimmten Zeitpunkt nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die NS-Ideologie verstärkt dazu genutzt, um die deutsche Geschichte insgesamt zu überlagern und zu diskreditieren. Alles drehte und dreht sich um Hitler. Er ist nach wie vor die Orientierungsmarke, zu seinen Lebzeiten als Vorbild, heute als Gegenbild, was dazu führt, dass ständig nach Wegen gesucht wird, diesem Gegenbild gerecht zu werden, um nicht in Verdacht zu geraten. Auf diesem Wege könnte die gesamte deutsche Geschichte ausgelöscht oder auf Hitler reduziert werden, was in beiden Fällen auf dasselbe hinausliefe, wobei nicht außer Acht gelassen werden darf, wie Hitler Wesen und Ereignisse der deutschen Geschichte auf das Schändlichste missbraucht hat.

Die geistige Verwirrung, Verirrung ist ein zu schwacher Ausdruck, zeigte sich bereits in dem Gesetz vom 1. Dezember 1936 über die Erziehung der Hitlerjugend. Hitler hatte dazu seine Vorstellungen entwickelt: …Meine Pädagogik ist hart. Das schwache muss weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muss das alles sein. Schmerzen muss sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muss erst aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend.[196] Dieser Geist erhebt bereits wieder seine Schwingen vor einer versagenden Demokratie, einer Demokratie, die diesen Namen nicht verdient, genau wie ehedem.

Die Einheit des Reiches zu schaffen war für Karl ein mühevoller Weg, aber er gelang, wenn auch nicht ohne Opfer und kriegerische Verwicklungen, die nur kurze Zeiten des Friedens ermöglichten, bis es sich zu einem Großreich gestaltete. Wichtige Voraussetzungen bildeten die Neuordnung der Verhältnisse in Italien, die Beziehungen zu Rom und Papst Hadrian I. Nach Herrschaftsantritt 768 teilte Karl das Reich mit seinem Bruder Karlmann, der jedoch überraschend 771 starb, wodurch Karl sich zum Alleinherrscher aufschwingen konnte. Karlmanns Frau floh mit ihren beiden Söhnen zu Desiderius dem König der Langobarden nach Pavia, von wo aus die Thronansprüche für die Söhne Karlmanns erhoben wurden, zugleich bedrohte Desiderius Papst Hadrian I. mit der Einnahme Roms; Grund genug für Karl nach Italien zu ziehen, nach der Belagerung und Einnahme Pavias krönte sich Karl mit der „Eisernen Krone“ der Langobarden und war damit König der Langobarden, was gleich bedeutend war mit der Einverleibung ins Frankenreich. Anschließend zog Karl nach Rom, das er vor der Einnahme durch die Langobarden bewahrt hatte. In einem Zusammentreffen mit Papst Hadrian I. wurden Schenkungsversprechen, die Karls Vater Pipin III. dem Heiligen Stuhl gemacht hatte, erneuert, Grundlage für den späteren Kirchenstaat. Italien gelangte so, bis auf kleine Teile

[194] Schaller, Theo: Karl und Widukind. S. 54 f

[195] ebd. 57

[196] zitiert in Hofer: Der Nationalsozialismus. S.88 Diese Dokumentensammlung hat in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Massenauflage erlebt, was der These von der Verdrängung entgegensteht.

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Süditaliens, unter Karls Herrschaftsbereich. Vollendet wurde dieses westeuropäische Großreich durch die Einnahme Sachsens, der Oberhoheit über Bayern und das Reich der Awaren, das Teile des heutigen Österreichs und Ungarns einschloss. Begleitet wurde alles durch intensive christliche Missionstätigkeit. Der angrenzende Osten dieses Reiches zählte in Teilen zum fränkischen Einflussbereich, ebenso ein Streifen Landes im Süden der Pyrenäen, der neben dem Königreich Asturien im Nordwesten Spaniens, das seine Unabhängigkeit von der Frankenherrschaft und dem moslemisch beherrschten Teil der iberischen Halbinsel bewahren konnte. Diese Gebiete bildeten später die Grundlage der Reconquista (Wiedereroberung) Spaniens für den christlichen Machtbereich. Damit blieb das Reich  zu Lebzeiten Karls in seinen Bestand gefestigt.

Die nächste große Aufgabe sah Karl in Bereich der Bildung; seine Herrschaft verband damit eine Zielsetzung, die mit dem Namen „Karolingische Renaissance“ wiedergegeben worden ist. Sie war vielfach gefächert, und erstreckte sich auf die Bereiche Bildung, Schrift, Kunst, Liturgie, Theologie und Architektur. Eine kulturelle Linie, die dem Herrschaftskonzept in seiner Gesamtheit dienen, und dem gerade geschaffenen Reich mit seinen unterschiedlichen Ethnien einer einheitlichen Linie unterwerfen sollte, die auch für den Bildungsbereich als unabdingbar angesehen wurde.[197] Es dürfen keine Verwechselungen Platz greifen, wenn von einer Renaissance die Rede ist, denn  diese Renovatio (Erneuerung) darf nicht gleich gesetzt werden mit der Renaissance, die sechs Jahrhunderte später einsetzte und die christliche Welt überlagerte durch die verstärkte Hinwendung besonders zu antiker Philosophie Kunst und Literatur. Die antike Geisteswelt hatte auch am Hofe Karls ihre Bedeutung, sie wurde nicht gänzlich verworfen wie in Zeiten davor. Die Karolingische Renaissance hat sich für das Bildungswesen bis zu jener späteren Renaissance als wegweisend erwiesen bis hin zu einem einheitlichen Schriftbild, der Karolingischen Minuskel, denn das Reich umfasste Länder und Gebiete, die ohne Schriftkultur auskamen, oder in Sprache wie im Schriftwesen eigene Entwicklungen genommen hatten.[198] Karls gewichtigster Berater, Alkuin, der größte Gelehrte seiner Zeit, entwickelte die Gesamtkonzeption.[199] Karls Reformidee verlegte sich auf Berichtigung, von Schrift, Sprache und Gottesdienst. Beabsichtigt war der Rückgriff auf die reinen Quellen der alten Christenheit, wenn von Wiedergeburt gesprochen werden sollte, so war vornehmlich an die christliche Spätantike gedacht. Dies alles entfaltete sich unter Karls Herrschaft neu, und schuf für das Abendland eine gemeinsame christliche Bildungsgrundlage. Es eröffnete sich ein Kapitel der Geistesgeschichte und Baukunst. Karls Neuanfang war nicht im Original etwas völlig Neues, es war eher eine Fortsetzung von dem, was schon in der antiken Welt seinen Anfang genommen hatte durch die geistige Welt der Kirchenväter, als das Römische Reich, wenn auch als christliches Reich gedacht, noch eine staatliche und geistige Einheit am Ende seines Bestehens bildete. Karl entwickelte daraus ein tragendes Fundament für die ganze weitere christlich abendländische Geschichte.[200] Zur Durchführung seiner Bildungsziele begann Karl Männer von besonderer Gelehrsamkeit um sich zu versammeln. Dieser Kreis fand die Bezeichnung Hofschule. Die Mitglieder waren von Karl in seine Umgebung berufene Gelehrte und Dichter, die sich zeitweise am Hof aufhielten, als Lehrer wirkten, und die Geistige Elite dieser Hofgesellschaft bildeten, von wo aus sie mit Geistesverwandten in Verbindung traten, Leiter von Abteien wurden oder andere entsprechende Aufgaben wahrnahmen,[201] und somit eine Breitenwirkung erzielten. Das geistige Leben im

[197] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 304

[198] ebd. S. 311

[199] ebd. S. 304

[200] ebd. S. 305

[201] ebd. S. 305 f

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Frankenreich bedurfte der Neuauflage. Führende Männer der Bildungserneuerung kamen aus allen Winkeln des Reiches, die ersten davon aus Italien, das trotz seiner Schädigungen durch Goten-und Langobardenkriege eine kulturelle Überlegenheit bewahrt hatte.[202] Ethnische oder nationale Vorlieben waren bei Hofe Karls unbekannt. Einige der Namen sprechen für sich, so aus dem italienischen Raum stammende, wie Petrus von Pisa, Paulinus von Aquileja oder Paulus Diaconus aus Friaul. Alkuin, der seine Wurzeln in England hatte, ist schon mehrfach erwähnt worden. Theodulf von Orléans war vor den eindringenden Arabern aus Spanien entflohen. Adelhart war ein Sohn von Pipins Halbbruder, also weitläufig mit Karl verwandt. Angilbert konnte seine Herkunft auf fränkischen Hochadel zurückführen. Er hatte seine Ausbildung bei Alkuin und Paulinus erhalten. Als Vertreter der jüngeren Generation fungierte Einhart als Geschichtsschreiber und Baumeister. Seine „Vita Caroli Magni“ sicherte ihm für alle Zeiten einen Bekanntheitsgrad.[203]

Die Eroberungszüge hatten über Jahrzehnte hinweg alle Kräfte in Anspruch genommen, jetzt galt es das Erreichte durch Festigung staatlicher Einheit zu sichern, wozu auch die Bildungsreform ausersehen war. Eine Missionstätigkeit durch Klostergründungen, Errichtung von Bistümern und Erzbistümern sollte die Glaubenseinheit festigen, denn das Reich sollte auf zwei Säulen ruhen: Die Glaubenseinheit vertreten durch den Papst und die katholische Kirche, und die staatliche Einheit vertreten durch den König, später durch den Kaiser. Für die eine tragende Säule, die katholische Glaubenseinheit, hatten sich drei Gefahrenquellen aufgetan durch das Eindringen von Lehren, die eine dogmatische Einheit gefährdeten:

  • Die Lehre des Adoptianismus
  • Der Bilderstreit (Ikonoklasmus)
  • Der Streit um das filioque im Glaubensbekenntnis

Die Araber als Moslems landeten 710 in Spanien. In einem Zeitraum von sieben Jahren, die dem Sieg über die Westgoten 711 folgten, eroberten die arabisch-moslemischen Heere nahezu die ganze iberische Halbinsel mit Ausnahme eines schmalen Streifens südlich der Pyrenäen und Asturien, einem Gebiet im Nordwesten Spaniens. Damit endete auch die westgotische Kirchengeschichte, und es begann die Geschichte der Mozaraber, die bis zu einem gewissen Grade für die Christen zu einen Anpassungsprozess an die moslemische Welt führte. In diesem Zeitraum nahm auch die spanische Kirchengeschichte einen anders gearteten Verlauf, die theologische Gegensätze auslöste, die ihren Höhepunkt zum Ende des 8. Jahrhunderts erreichten. Im  letzten Jahrzehnt des 8. Jahrhunderts wurde ein Gruppe spanischer Theologen für eine Lehre verdammt, herausragende Vertreter waren der Erzbischof von Toledo, Elipandus, im arabischen Herrschaftsbereich  und Bischof Felix von Urgel, außerhalb des arabischen Machtbereiches in Asturien  gelegen. Der Kern dieser Lehre beinhaltete eine Christologie, in der Jesus Christus im Augenblick der Taufe durch Johannes den Täufer als Sohn Gottes adoptiert worden sei. Als dieses so vertretene Dogma über die spanische Halbinsel hinausgelangte, und zunächst im Süden des Frankenreiches um sich griff, entstand eine Art Alarmstimmung, die weite Kreise im gesamten Frankenreich erfasste, und den Anlass bildete zur Einberufung dreier Konzile, 792 in Regensburg, 794 in Frankfurt und 799 in Aachen. Bereits 785 hatte Papst Hadrian I. (772-795) die Lehre des Elipandus verurteilt, der sich Leo III. (795-816) in Rom anschloss.[204] 475, ein Jahr vor dem endgültigen Ende des weströmischen

[202] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 306

[203] ebd. S. 306 ff

[204] Cavadini, John C. The last Christology  of the West. Philadelphia 1993 S. 1

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Reiches erklärten die Westgoten mit ihrem König die Unabhängigkeit von Rom. 507 wurden die Westgoten vom Frankenkönig Chlodwig I. aus dem Süden Galliens vertrieben. Den Westgoten verblieb nur Spanien, das gänzlich unter ihre Herrschaft geriet. Nach der erfolgreichen Besitzergreifung des Landes, konnte die römisch-spanische Mehrheit ihre kulturelle Eigenständigkeit und den Verwaltungsaufbau beibehalten. Eroberer und Eroberte lebten in einer Koexistenz. Auch das katholische Glaubensbekenntnis blieb von den Westgoten, die sich als Arianer verstanden, unangetastet, bis 589 ein Westgotenkönig sich zum Katholizismus bekehrte, dem sich die Mehrheit der Westgoten anschloss, was den Zusammenhalt weiter bestärkte, und was dazu führte, dass die letzte Bastion der Byzantiner 634 in westgotische Hände fiel.[205] Spanien deshalb als isoliert vom übrigen Europa zu betrachten, hieße seine Einzigartigkeit zu unterschätzen, und die Bedeutung seiner kirchlichen Einheit. Der Sitz des Metropoliten von Toledo sicherte sich einen überragenden Einfluss in der Kirche Spaniens. Das geistig-kulturelle Leben der spanischen Christenheit erlitt keine Einbußen nach Eroberung des westgotischen Königreiches durch die Mauren, weil die moslemische Herrschaft in Spanien der Fortsetzung kultureller Traditionen keine Hindernisse bereitete, wie es die Westgoten zuvor gegenüber der römisch-katholischen Mehrheit auch gehandhabt hatten. Am Ende des 8. Jahrhunderts dehnte sich der karolingische Machbereich bis an die Grenzen Spaniens aus, die südlich der pyrenäischen Gebirgsbarriere verlief.[206] Gleichzeitig begegneten sich in der Theologie zwei christologische Welten. Die Gegensätze entzündeten sich zunächst im innerspanischen Bereich. Elipandus vertrat eine Christologie, in der Jesus Christus in seiner menschlichen Natur als ein adoptierter Sohn Gottes angesehen wurde. Sein Gegner war Beatus, Abt eines Klosters in Asturien. Er errang besondere Aufmerksamkeit als leitender Gegner der Adoptionisten, der seinen stärksten Ausdruck außerhalb des moslemischen Herrschaftsbereiches fand. Elipandus fand Rückhalt bei Bischof Felix von Urgel, der sich als starker Unterstützer der von Elipandus vertretenen Doktrin erwies. Er erregte zusätzliches Aufsehen, weil sein Bischofssitz außerhalb des moslemischen Machtbereiches angesiedelt war, und dem karolingischen Einflussbereich zugerechnet wurde. Die Auseinandersetzungen gewannen an Fahrt und die Herausforderung, ausgelöst durch Felix von Urgel, erzeugte eine Gegenposition, die sich durch Verbreitung  umfangreicher Literatur auszeichnete, herbeigeführt durch  Papst Hadrian I., Alkuin, und Paulinus von Aquileja.[207]

Es muss als abwegig angesehen werden, den Adoptionismus mit den christologischen Gegensätzen, die auf dem Konzil in Chalcedon (451) im Vordergrund standen, in Beziehung zu setzen, obwohl  auch hier die Natur Jesu Christi, die mit dem Streit um das arianische Bekenntnis ihren Ausgang genommen und ihre Fortsetzung gefunden hatte, in Frage stand. Zwei Pole im innerspanischen theologischen Schlagabtausch sollten ausgeklammert werden: Die Christologie, die auf Nestorius zurückgeführt wurde oder auf Eutyches, dem Begründer des Monophysitismus. Nestorius war von 428-431 Patriarch von Konstantinopel. Mit seiner Behauptung Maria sei Christusgebärerin und nicht Gottesgebärerin löste er einen Streit aus und wurde zum Begründer des Nestorianismus. Dieser Lehre zufolge hat Jesus Christus nicht nur eine göttliche, sondern auch eine menschliche Natur. Zwei Ökumenische Konzile beschäftigten sich mit dieser Thematik: Das Konzil von Ephesus 431 und das Konzil von Chalcedon 451. Die Beschlüsse beider Konzile wurden von den orientalischen Kirchen und den Nestorianern nicht

[205] Cavadini, John C. The last Christology of the West. Adoptionism in Spain and Gaul 785-820. S. 2

[206] ebd. S. 2 f

[207] ebd. S. 4

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anerkannt. Nestorius wurde nach dem Konzil von Ephesus seines Amtes enthoben. Ein Zitat aus dem Beschluss legte fest: „Wenn jemand nicht bekennt, dass Emanuel (Christus) in Wahrheit Gott ist und das deshalb die heilige Jungfrau Gottesgebärerin ist – denn sie hat dem Fleisch nach den aus Gott stammenden Fleisch gewordenen Logos geboren, so ist er ausgeschlossen.“ (zitiert in Wikipedia) Eine entgegengesetzte Bewandtnis hat es mit Eutyches. Seine Lehre besagt, in Jesus Christus gebe es keine zwei Naturen, nämlich eine göttliche und eine menschliche, die miteinander verbunden seien, sondern nur eine Natur, wobei die menschliche Natur von der göttlichen aufgesogen worden sei, wie ein Tropfen Honig im Ozean. (Wikipedia) Nach einigen Differenzen wurde diese Lehre auf dem Konzil in Chalcedon ebenfalls verworfen. Im spanischen Konflikt werden von den Kontrahänden keine Vorwürfe in die eine oder andere Richtung erhoben. Elipandus vermied es, Beatus als Anhänger des Eutyches zu bezeichnen, umgekehrt brachte Beatus Elipandus nicht mit Nestorius in Verbindung.[208] Das Ergebnis dieses theologischen Streites wiederlegt die Hypothese, Elipandus habe bewusst oder unbewusst Anknüpfungspunkte bei Nestorius gesucht und gefunden. Bei Betrachtung der Soteriologie (Lehre von der Erlösung) und Christologie (Lehre über Jesus Christus), wie sie von Elipandus oder Beatus vertreten wurden, führen zu einem besseren Verständnis der Positionen beider.[209] Die gegensätzlichen theologischen Sichtweisen bekommen ein anderes Gesicht durch den Eingriff von Papst Hadrian I. und in der Folge Alkuins in dem Verlauf vieler Disputationsbeiträge, sie interpretierten zuerst den Adoptionismus als eine Form des Nestorianismus. Es ist Alkuin, der von christologischen Voraussetzungen ausging, die grundlegend anders gestaltet waren, als sie von der spanischen Schule vertreten wurden. Ausgangspunkt für Alkuin war ein intensives Studium der Beschlüsse des Konzils von Ephesus.[210] Es muss noch einmal ein Blick auf Alkuin geworfen werden und seine herausragende Bedeutung am Hofe Karls. Karl war Alkuin in Italien begegnet, und es spricht für König Karl, dass er die Bedeutung dieser Persönlichkeit sofort erkannt hatte, und ihn an seinen Hof zog. Alkuin war als Diakon in den unteren Rängen der kirchlichen Hierarchie angesiedelt, dass er sich dennoch am Hof Karls so entfalten konnte, spricht für den Frankenkönig, der  nicht allein auf Rang und Titel achtete, sondern auch die Leistung in den Vordergrund seiner Beurteilung stellte. Später wurde Alkuin von Karl zum Abt von Tours ernannt, und es ist der Verdacht geäußert worden, Karl habe ihn weiter vom Hof entfernen wollen wegen mancher kritischen Haltung Alkuins, was besonders Karls Sachsenpolitik betraf und die Bekehrung mit Feuer und Schwert.

Alle Geschichte, die um den Adoptionismusstreit entstanden ist, beginnt mit Darstellungen und Stellungnahmen, die Elipandus an Migetius gerichtet hatte, in Zusammenhang mit den von ihm geäußerten Ansichten und theologischen Vorstellungen. Migetius ist im Dunkel der Geschichte verblieben, und sein Name ist nur dadurch bekannt geworden, weil im Nachlass von Elipandus, die an Migetius gerichteten Briefe den Namen dieses Mannes in Erscheinung treten lassen. Elipandus wandte sich an Migetius in seiner Eigenschaft als Erzbischof von Toledo und Primas der spanischen Kirche, wobei nicht mit letzter Klarheit ersichtlich ist, ob persönliche Begegnungen stattgefunden haben, oder ob sie sich nur vom Hörensagen kannten, darum ist es schwierig Migetius einzuordnen. Er könnte Positionen der Donatisten übernommen oder sogar eine Erneuerung donatistischer Theologie betrieben haben, über die aber wegen dürftiger Quellenlage wenig überliefert ist. Jedenfalls wurde rigoros ein puritanischer Lebenswandel

[208] Cavadini, John C. The Last christology of the West. S. 5

[209] ebd. S. 7

[210] ebd. S. 8

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angestrebt und erwartet. Migetius wollte vorschreiben und verbieten, sich mit Heiden oder  Moslems an einem Tisch zu setzen und mit ihnen  zusammen zu essen oder Nahrung einzunehmen, die mit heidnischen oder moslemischen Brauchtum in Verbindung gebracht werden konnten. Elipandus stellte ihm die Frage, ob er sich damit über Jesus Christus selbst stellen wolle, der sich mit Zöllnern und Sündern an einen Tisch gesetzt habe. Im Brief an die Gemeinde in Korinth äußert sich der Apostel Paulus zu diesem Fragenkomplex in Kapitel 10, in den Versen 25-30:

(25) Alles, was auf dem Fleischmarkt verkauft wird, das esst und forschet nicht nach, damit ihr das Gewissen nicht beschwert. (26) Denn „die Erde ist des Herrn und was darinnen ist“. (Psalm 24,1) (27) Wenn euch einer von den Ungläubigen einlädt und ihr wollt hingehen, so esst alles, was euch vorgesetzt wird, und forscht nicht nach, damit ihr das Gewissen nicht beschwert. (28) Wenn aber jemand zu euch sagen würde, das ist Opferfleich, so esst nicht davon, um dessentwillen, der es euch angezeigt hat, und damit ihr das Gewissen nicht beschwert. (29) Ich rede aber nicht von deinem eigenen Gewissen, sondern von dem des anderen. Denn warum sollte ich das Gewissen eines anderen über meine Freiheit urteilen lassen? (30) Wenn ich’s mit Danksagung genieße, was soll ich mich dann wegen etwas verlästern lassen, wofür ich danke?[211]

An diesem Beispiel lässt sich ermessen, wie die Heilige Schrift eine Fülle von Ratschlägen für das alltägliche Leben enthält.

Es ergeht weiter der Vorwurf an Migetius, er habe den Bischofsitz in Rom in ungebührlicher Weise eine Stellung zugewiesen mit der Behauptung, die Kraft Gottes sei allein in Rom zu finden, wo Christus wohnt, und der Satz: „Du bist Petrus, auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen…“ bezöge sich ausschließlich auf Rom, es sei das Neue Jerusalem, beschrieben in dem prophetischen Wort der Offenbarung des Johannes, das einzige prophetische Buch im christlichen Kanon der Heiligen Schrift. Rom, so Migetius, sei ohne Fehl und Flecken.[212]

Für Elipandus waren die Irrtümer des Migetius besonders aber auf doktrinärem Felde zu suchen, die vorwiegend die Dreieinigkeit betrafen. Elipandus weist hin auf die besondere Absurdität einer Lehre über die Dreieinigkeit, wie von Migetius vertreten, in der Vater, Sohn und Heiliger Geist gleichgesetzt werden mit den Personen König Davids als Vater, Jesus Christus als Sohn und der Apostel Paulus als Heiliger Geist.[213]

Es ist in der Tat zutreffend, die erste Erwiderung an Migetius kann als eine Christologie der einen Person gelten, und wenn jemand in diesem Zusammenwirken als Anhänger nestorianischer Christologie angesehen werden müsste, dann ist es Migetius.[214] Elipandus ist vielleicht eine der interessantesten Figuren in der Dogmengeschichte, Fakten sind aber nur dunkel und unzulänglich überliefert. Wenn seine Person nicht so umfangreiche über die Grenzen Spaniens hinaus breit angelegte Kontroversen ausgelöst hätte, wäre wohl nicht mehr übrig geblieben als ein Eintrag in die Archive von Toledo und seine Briefe an Migetius.[215] Gegenüber Migetius wollte er Klarheit herbeiführen über den Glauben an die Dreieinigkeit aus seiner Sicht. Mehr als 75% der Texte setzen sich mit dem Dogma der Dreieinigkeit

[211] revidierte Übersetzung nach Luther. Stuttgart 1984

[212] Cavadini, John C. The Last Christology of the West. S. 10 f

[213] ebd. S. 15

[214] ebd. S. 22

[215] ebd. S. 24

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auseinander, angefüllt mit Analogien und Erklärungen, ähnlich der Christologie Augustins, die ohne Abstriche als antiarianisch angesehen werden muss. Wer sind die Personen der Dreieinigkeit? Sie sind eine Dreieinigkeit in einer Natur und das Wesen der Gottheit. Der Vater geht dem Sohn nicht voraus in einer zeitlichen Abfolge, wie es den Vorstellungen des Migetius entsprach.[216] Weiter ist des ewigen Sohnes Selbstentäußerung, wie sie in dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde der Philipper in Kapitel 2 in den Versen 6-10 zum Ausdruck kommt und interpretiert wird mit dem Ziel, die adoptionistische Lehre zu untermauern: (6) Obwohl Er sich in der Gestalt Gottes befand, wollte er dennoch nicht gewaltsam an seiner Gottesgleichheit festhalten, (7) vielmehr entäußerte er sich, nahm Knechtsgestalt an und ward dem äußeren Menschen ähnlich. Im Äußeren als ein Mensch erfunden, (8) er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze. (9) Darum hat ihn Gott auch so hoch erhoben und Ihm den Namen gnädiglich verliehen, der über alle Namen ist; (10) im Namen Jesu sollen sich alle Knie beugen im Himmel auf der Erde und in der Unterwelt.[217] Die Antworten auf die Fragen nach den drei Personen der Dreieinigkeit, haben vielfältige Deutungsmuster aufzuweisen, die bis zum heutigen Tage in der Christenheit kein eindeutiges Bild und keine einhelligen Antworten erkennen lassen. Für Elipandus bedeutet die Aussage im Philipperbrief eine „Entleerung“, nicht nur in Beziehung auf die Gottheit selbst, sondern auch, was immer auch an rationalen Eigenschaften definiert wird, eine Teilhabe an der Gottheit selbst, denn die Beziehung des Sohnes zum Vater kann charakterisiert werden als Licht vom Licht, als wahrer Gott vom  wahren Gott, wie im Glaubensbekenntnis (Apostolikum) auf dem Konzil von Nicäa 325 festgelegt. Es ist die Beschreibung einer einzigartigen Beziehung. Die Selbstentäußerung des Sohnes impliziert für Elipandus eine „Selbstentleerung“, die sich in einer einzigartigen Beziehung in einer anderen Natur entfaltet, aber es ist dieselbe Beziehung und nicht als neue Person definiert, wenn sie sich in einer anderen Natur manifestiert. Es bedeutet, sie ist ihrer einzigartigen Beziehung entkleidet, wenn es im Apostolikum heißt: Gott aus Gott, Licht aus Licht, wahrer Gott aus wahrem Gott, gezeugt nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater, dann gilt er als Einziggeborener aus dem Vater gezeugt. Elipandus unterscheidet aber zwischen Einziggeborener und Erstgeborener, als Erstgeborener ist er als Sohn adoptiert.[218]In dem Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Rom heißt es dazu im 8. Kapitel, in Vers 29. (29) Denn die, die Er vorher erkannte, hat Er auch vorherbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleich zu werden, der dadurch der Erstgeborene unter vielen Brüdern wird.[219] Denn der Sohn, der vor den Zeitaltern der Einziggeborene, gezeugte, nicht geschaffene, wurde Substanz der Gottheit genannt, als Erstgeborener aber zur Natur des angenommenen Fleisches gerechnet.[220] Elipandus sieht zwei wechselseitig sich gegenseitig ausschließende Naturen in Christus, eine als Adoption und eine der göttlichen Natur nach und trotz seiner Behauptung in Christus die Einheit einer Person zu sehen, vertritt er in Wahrheit die Lehre der zwei Söhne und Personen, die auf Nestorius zurückgeführt werden kann. Ein Vorwurf, den Papst Hadrian I. bereits 785 in einem Brief an die spanischen Bischöfe erhoben hatte. Das Argument wird näher betrachtet in der Auseinandersetzung zwischen Alkuin und Felix von Urgel.[221] Der Nachweis, Elipandus habe unter dem Einfluss nestorianischer Lehre gestanden, kann nur virtuell erbracht, historische Quellen können in dem nötigen Umfang dazu nicht

[216] Cavadini, John C. The Last Christology of the West. S. 28

[217] Übersetung nach Rupert Storr. Mainz 1956 (kath)

[218] Cavadini, John C. The Last Christology of the West. S. 35

[219] Übersetzung nach Rupert Storr. (kath.)

[220] Aus einem Zitat bei Cavadini. S. 37

[221] ebd. S. 38

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herangezogen werden. Es besteht die Möglichkeit der Einflussnahme von Nestorianern in einigen Gegenden des mozarabischen Spaniens, ob sie aber integrierter Bestandteil der christlichen Bevölkerung waren ist schwer feststellbar. Die geistigen Herausforderungen um das Verständnis zur Dreieinigkeit waren Gegenstand christlicher-moslemischer Streitkultur in Spanien, wo persönliche Begegnungen dazu einluden, einen Dialog zu führen. Dazu ist eine fiktive dialektisch geführte Konversation überliefert durch die Apologie (Verteidigungsrede) von Timotheus I. als nestorianischer Patriarch von 780-823 und Kalif Mahdi: Und unser König sagte zu mir: „Glaubst du an Vater, Sohn und Heiligen Geist?“ Und ich antwortete: „Ich bete sie an und Glaube an sie.“ Darauf sagte unser König: „Dann glaubst du also an drei Götter?“ Eine Frage, die zu einer weiteren ausführlicheren schriftlichen Erklärung Anlass bot, worin noch einmal dargelegt wurde, dass Dreieinigkeit nicht zugleich drei Götter bedeute. Der König war dennoch nicht überzeugt, es können, so die Antwort, weder drei noch zwei verschiedene Aussagen über Gott getroffen werden, es könne in Gott keine Mehrzahl geben. Der Dialog wurde fortgesetzt, zunächst wiederum in schriftlichen Abhandlungen, die in keiner Richtung eine Überzeugung bewirkten. Der moslemische Part bestand darauf, die Wesensgleichheit von Vater, Sohn und Heiliger Geist müsste als eine Beleidigung Gottes aufgefasst werden, weil es Mehrzahl in einem Gott bedeutet. Der eine ist ewig Gott von Gott, der andere ist zeitlich. Der König fährt fort zu widersprechen, weil er nicht überzeugt werden kann, beide stimmen jedoch in dem Punkt überein, worin das Argument der Monophysiten, Gott habe gelitten und sei im Fleisch gestorben, als falsch erkannt wird. Nachdem Timotheus erläutert hatte, der Sohn und Jesus Christus seien im Fleisch gestorben, kam es zu einer Annäherung der Standpunkte, die darin bestand, den Nestorianern zu bescheinigen, sie stünden näher an der Wahrheit. Die Monophysiten hatten in den Gegensätzen, die weitgehend, wenn nicht ausschließlich, in den Kirchen des Ostens und den Konzilen, die dort stattgefunden hatten, abgewickelt wurden war, die provokante Frage gestellt: Wer wagt es zu behaupten, dass Gott stirbt?[222] Der moslemische Gesprächspartner weigerte sich, in irgend eine theologische Richtung irgendwelche Konzessionen zu machen, was immer auch zu einem Wort und Gottes Sohn gesagt werde, ihr alle liegt falsch. Es war das letzte Wort. Die beiden gingen freundlich auseinander. Timotheus hatte noch den Hinweis gegeben, wie Christus im Koran als Wort und Geist Gottes aufgefasst werden, aber es genügte nicht, die Standpunkte anzunähern. Es muss abschließend festgestellt werden, zumindest aus zeitgenössischer moslemischer Perspektive, gab es keinen unbedingten Vorteil, für die Christologie der Nestorianer einzutreten. Elipandus vertrat zwar die „eine Person“ Christologie gleichwie die Nestorianer, aber ein Unterschied bleibt zu ihren Systemen. Zum besseren Verständnis müssen noch einmal kurz und knapp die Positionen der Nestorianer und der Monophysiten erläutert werden. Der Hauptpunkt des Nestorianismus besteht in der Lehre, es habe in Christus eine göttliche und eine menschliche Natur gegeben. Jedes zugeordnete Attribut und jede Handlung des im Fleisch inkarnierten Christus könne einer dieser Personen zugeordnet werden. Maria, die Mutter Jesu, wird als Christusgebärerin oder Menschengebärerin gesehen und als solche auch verehrt und nicht als Gottesgebärerin. Der Monophysitismus ist die christologische Lehre, in der Jesus Christus nach der Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen in der Inkarnation im Fleisch nur eine einzige göttliche Natur habe. Elipandus wird, flüchtig betrachtet, in seiner historischen Bedeutung eher als eine Randerscheinung wahrgenommen. Das gilt noch mehr für seinen Hauptkritiker, Beatus von Liebena, der ein noch schwächeres Bild hinterlassen hat. Der von Spanien ausgehende theologische Streit hat dennoch weite Kreise gezogen, so dass sich Karl und Papst Hadrian zu einer groß

[222] Cavadini, John C. The Last Christology of the West. S. 39 ff

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angelegten Abwehrreaktion veranlasst sahen. Beatus könnte ein Mönch und Abt eines Klosters in Asturien gewesen sein, eine Region im Nordwesten Spaniens, die von moslemischer Herrschaft ausgespart blieb.[223] In der ersten Betrachtung lassen sich zwischen beiden Gemeinsamkeiten finden, sie bewunderten die Patristiker, besonders der spanischen Kirche, beide haben zu Rom und die von da ausgehende und geforderte Vorherrschaft eine distanzierte Haltung, und schließlich vermeiden beide, Beschlüsse des Konzils von Chalcedon 451 zu zitieren. Elipandus vermied es, Beatus in die Nähe von Eutyches und die Monophysiten zu rücken, in gleicherweise wurden von Beatus über Elipandus keine Verdächtigungen verbreitet, die ihn den Nestorianern zugeordnet hätten.[224] Beatus, jedoch, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Elipandus zu widerlegen. Fußend auf die Kirchenväter Tertullian (150-220), Cyprian (200-258) und Augustinus, herausragende Vertreter der Kirche des Westens, geht Beatus ans Werk. Eine Christologie der zwei Naturen oder Substanzen in einer Person, nicht weil eine Substanz (das Beharrende im Gegensatz zu wechselnden Zuständen und Eigenschaften), geformt aus beiden von diesen, sondern eine Person ist in beiden enthalten. Es ging um eine Lehre, dass Jesus Christus der Sohn Gottes, der Gott-Mensch wurde, von einer Jungfrau geboren, gleichwie die Seele mit dem Leib geboren wurde. Der Sohn allein wurde als Mensch geschaffen, nicht in Einheit der Natur[225]  aber in Einheit der Person[226], gezeugt vom Vater ohne zeitlichen Anfang. Eine Natur ist vom Fleisch, eine Substanz gehört beiden: Christus und dem Vater. Mit dem Vater ist er vollkommener Gott, mit uns Menschen vollkommener Mensch. Jesus Christus eine Person mit zwei Naturen: Gott und Mensch. Eine Erklärung dazu findet sich in dem Evangelium nach dem Apostel Johannes, Kapitel 1, Vers 14: (14) Und das Wort wurde Mensch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, die Herrlichkeit des einziggeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.[227] In Vers 1 desselben Kapitels wird der Begriff Wort definiert: (1) Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.[228] Im griechischen Urtext steht für Wort „Logos“, was weit über das hinausgeht, was gemeinhin unter „Wort“ verstanden wird. Logos ist die im Geiste fertige Schöpfung, genau wie das vom Menschen geschaffene geistigen Ursprungs ist, bevor es als Substanz (Stoff, Materie) geformt wird. Mit „Fleisch“ hat es aber noch eine andere Bewandtnis, sie wird uns in dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom in Kapitel 8, in den Versen 1-9 beschrieben: (1) Nunmehr aber gereicht nichts mehr denen zur Verdammnis, die in Christus Jesus sind [und nicht nach dem Fleische wandeln]. (2) Denn es hat das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus dich vom Gesetz der Sünde und des Todes befreit. (3) Was nämlich dem Gesetz unmöglich war, weil es ohnmächtig war durch das Fleisch: Gott sandte seinen  Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und hat das Gericht gehalten über die Sünde am Fleische, (4) damit die Forderung des Gesetzes in uns erfüllt werde, die wir nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geist. (5) Denn die nach dem Fleische leben, trachten nach dem, was des Fleisches ist, die aber nach dem

[223] Cavadini, John C. The Last Christology of the West. S. 45

[224] ebd. S. 47 f

[225] ...inhaltlich der Inbegriff, die Gesamtheit aller unmittelbaren Wirklichkeit, aller dinge und Geschehnisse in ihrem ganzheitlichen Zusammenhang, formal das Sein überhaupt. In der Scholastik wurde zwischen dem ewigen Schöpfergott, der schaffenden Natur [natura naturans], und endlichen"erschaffenen Natur [natura naturata] unterschieden.

[226] Person in diesem Sinne wurde in der mittelalterlichen Philosophie öfter mit dem Begriff "unsterbliche Seele" identifiziert. In der christlichen Religion beispielsweise steht der Begriff der Person für eines der zentralen Wesensmerkmale Gottes.

[227] revidierte Übersetzung nach Martin Luther. Wollerau (Schweiz) 2009

[228] ebd.

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Geist leben, nach dem, was des Geistes ist. (6) Das Trachten des Fleisches ist Tod, das Trachten des Geistes Leben und Friede. (7) Das Trachten des Fleisches ist feindlich gegen Gott, es unterwirft sich ja dem Gesetz Gottes nicht und kann es auch nicht. (8) Die im Fleische sind können Gott nicht gefallen. (9) Ihr aber seid nicht im Fleische, sondern im Geiste, vorausgesetzt, dass der Geist Gottes in euch wohnt. Wer aber den Geist Christi nicht hat, gehört nicht zu ihm.[229] Das Fleisch, das im Evangelium nach Johannes in Kapitel 1, Vers 14 zur Darstellung gelangt, wo es in vielen Übersetzungen auch heißt: Das Wort ward Fleisch…, unterscheidet sich wesentlich von dem Fleisch, das uns in dem Brief an die Gemeinde in Rom entgegentritt.

Die Natur der Göttlichkeit ist das eine, die der Unterwerfung das andere, dennoch war es der eine und derselbe Christus in der Person der Gottheit und der Person der angenommenen Menschheit. Der ganze Christus ist Wort (Logos) Seele (Geist) und Fleisch. Wenn eine Substanz davon abgezogen wird, von diesen drei Substanzen mit der Aussage, sie gehöre nicht zu Christus dann wird der ganze Christus geleugnet. Weiter erklärt Beatus, dass nur der Mensch in Christus leidet, nicht aber Gott. Diese Einstellung gleitet gefährlich nahe zu der Ansicht, es gebe in Christus eine Person aber zwei Naturen, die auf eine Trennung der Person hinauslaufen.[230] Er ist einmal der der gezeugte Sohn Gottes und einmal der erstgeborene, die jeweils zwei Naturen angehören.[231]Das Wort wurde Fleisch, aber es wurde nicht in Fleisch verwandelt, gleichwie die Seele des Menschen nicht in Fleisch verwandelt wird, und seit das Wort in dem Fleisch Jesu Christi wohnt, so wohnt es auch in der Natur des Menschen. Mit diesem Fleisch ist die Kirche verbunden, in der Jesus Christus das Haupt und der Leib ist.[232] Im 1. Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth im Kapitel 12, Vers 12 wird es anschaulich gemacht: (12) Denn wie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obwohl ihrer viele sind, doch ein Leib sind, so auch Christus.[233]

Wer ist der Sohn Gottes, wenn nicht der von der Jungfrau Maria geborene? Wäre er es nicht, der Engel hätte nicht Maria verkündigen können, wie im Evangelium nach Lukas Kapitel 1, Vers 31-33 berichtet: (31) Wisse wohl: du wirst guter Hoffnung werden und Mutter eines Sohnes, dem du den Namen Jesus geben sollst. (32) Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden, und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, (33) und er wird als  König  über das Haus Jakobs in alle  Ewigkeit herrschen, und sein Königtum wird kein Ende haben.[234] Es hätte vielmehr heißen müssen: Er soll Jesus heißen, adoptierter Sohn des Höchsten im Hinblick auf seine Menschheit, und absolut nicht adoptiert im Hinblick auf seine Gottessohnschaft. Beatus hat, damit er in der Rhetorik der Beleidigung nicht übertroffen werden kann, spöttisch die eigenen Worte des Elipandus auf die Lippen des Engels gesetzt.[235] Die von Elipandus vertretene Christologie ist im Grunde eine Ideologie des Stolzes, ein Versuch sich über Gott zu erheben. Beatus verfasst eine Analyse über den grundlegenden Irrtum von Elipandus, der darauf abzielt Jesus als adoptiert unter Adoptierten und als Diener unter Dienern zu betrachten. Elipandus, jedoch, ist selbst als Erzbischof

[229] Übersetzung nach Kürzinger (kath.)

[230] Cavadini, John C. The Last Christology of the West. S. 48 f

[231] ebd. S. 50

[232] ebd. S. 55

[233] revidierte Übersetzung von 1984 nach Martin Luther. Stuttgart 2007

[234] Übersetzung nach Herrmann Menge (ev.)

[235] Cavadini, Johm C. S. 61

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von Toledo der Erlösung bedürftig, wie jeder andere Mensch auch.[236] Der Primas von Spanien unternimmt zu viel, überschwänglich von Stolz erfüllt, um sich selbst  zusammen mit Christus als ein Christ zu beweisen….In seiner Verrücktheit macht er keinen Unterschied zwischen sich selbst und dem Sohn Gottes.[237]

Es ist unwahrscheinlich, dass die Gegensätze in Spanien, mit dem Austausch der theologischen Positionen zwischen Elipandus und Beatus, ein Ende gefunden hätten.[238] Es war nicht das erste Mal in der Kirchengeschichte, dass eine Entwicklung ihren Verlauf nahm mit bedrohlichen Ausmaßen für die Glaubenseinheit und den staatlichen Zusammenhalt. Die aufgezeigten Kontroversen sind in der christlichen Welt nie ganz ausgeräumt worden und haben sich in einem Zeitraum von nahezu zweitausend Jahren erhalten, dennoch ist der christliche Glaube erhalten geblieben, weil der Glaube den Menschen etwas vermittelt, was keine Philosophenschule oder politische Richtung zu bieten vermag. Eines tritt dabei deutlich hervor: die hinzugekommenen theologischen Lehrsätze sind entweder eine Abweichung vom Nicänischen Bekenntnis und vom Nicäno-Konstantinopolitanum oder es sind Bekenntnisgrundsätze hinzugefügt worden, wie sie in den beiden Bekenntnissen, die den absoluten Kern der der Botschaft des Evangeliums enthalten, nicht zu finden sind. Die von Spanien ausgehenden verschiedenen theologischen Denkrichtungen hatten eine Ausgangslage, die besonderes Augenmerk auf sich zog. Asturien, der Wirkungskreis von Bischof Felix von Urgel, und die Spanische Mark wurden dem fränkischen Einflussbereich zugerechnet, wobei Asturien sich eine größere Unabhängigkeit bewahren konnte. Zuvor, während der Herrschaft der Westgoten, gehörten diese Gebiete in die kirchliche Zuständigkeit des Erzbistums von Toledo. Diese Zusammenhänge ergaben einen unterschiedlichen historischen Verlauf zum übrigen Westeuropa. In dieser Konstellation betrat ein weiterer Amtsträger, Bischof Felix von Urgel das Feld der geistigen Auseinandersetzungen, der schnell Aufmerksamkeit fand und nicht übergangen werden konnte. Elipandus hatte in einem Schreiben Fragen abgehandelt zur Einstellung, die Felix über die Natur von Jesus Christus verbreitet hatte. Die aus dem Spanischen Bereich kommenden Lehrmeinungen hatten Verbreitung gefunden und Befürchtungen ausgelöst, die eine Abwehr erforderlich machten. 792 hatte Felix sich nach Rom begeben, nachdem er im gleichen Jahr auf dem Konzil von Regensburg verurteilt worden war, das Karl eigens zur Gefahrenabwehr einberufen hatte. Der Zweck dieser Romreise war begründet in einem Widerruf vor Papst Hadrian durch Felix von Urgel. Regensburg war erst der Anfang, zwei weiterer Konzile, 794 in Frankfurt und 799 in Aachen, wurden als erforderlich angesehen, außerdem hatten die aus dem spanischen Bereich herrührenden Einflüsse eine Gegenwehr ausgelöst, die in einer Missions-und Überzeugungsarbeit bestand, um eine Ausbreitung der als falsch angesehenen Lehren zu verhindern.[239] Felix hatte sich Ansehen verschafft und Alkuin, gestützt auf Papst Hadrian, war ausersehen, Felix entgegenzutreten und zu widerlegen, was in einer umfangreichen Auslegung in sieben Büchern geschah. 785 hatte sich Papst Hadrian in Briefen an die spanischen Bischöfe gewandt mit kritischen Kommentaren zu von Elipandus verbreiteten Lehrmeinungen. Hadrian berief sich auf das Konzil von Ephesus und sah in den aus Spanien eindringenden Einflüsse eine Neuauflage der von den Nestorianern vertretenen Positionen und äußert sich drastisch: „Niemand, welche Häresie auch immer, hat es gewagt zu bellen und solche Gotteslästerungen zu verbreiten, es sei denn

[236] Cavadini, John C. S. 68

[237] zitiert in Cavadini, John C. S. 68

[238] ebd. S. 71

[239] ebd. S. 72

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der perfide Nestorius, der bekannte, Gottes Sohn sei nur ein Mensch. Wenn jemand sagt, Gottes Sohn sei ein Individuum und der von Maria geborene ein anderes Individuum, durch Gnade adoptiert, bis hin zu dem Punkt, es gebe zwei Söhne und von Natur aus Sohn und einer ein Mensch von Maria durch Gnade, den belegt die katholische und apostolische Kirche mit dem Anathema.“[240] Hadrian war nicht bereit zu einem Zugeständnis, das in einer ordnungsgemäßen Verwendung des Wortes Diener (Sklave) im Hinblick auf Jesus bestanden hätte. Für Hadrian bedeutet das Wort Gebundenheit zur Sünde, was weit von der Interpretation des Elipandus entfernt ist. Keiner der Evangelisten oder Apostel benutzt diesen Begriff, sie nennen Jesus Herr und Erretter. Hadrian greift zu auf die Verse in dem Brief des Apostels Paulus an die Philipper, Kapitel 2, Verse 6-7, worin die angesprochene Dienerschaft Jesu Christi von Elipandus als „Selbstentleerung“ gedeutet wird. Der korrekte Gebrauch des Wortes Diener wird dadurch ausgeschlossen. Nach Hadrian nennt Paulus ihn Herr in seiner universellen Bedeutung. Dieser Abschnitt des Philipperbriefes, so findet Hadrian, betont über die Maßen die „Selbstentfremdung“, wie sie von Elipandus aus dem Vers 7 herausgelesen wird, die auf Nestorius zurückgeht. Die fränkischen Bischöfe verwerfen ebenfalls den christologischen Standpunkt, wie er von Elipandus und danach mit Entschiedenheit von Felix vertreten wurde; sie sehen eine theologische Nähe zu Nestorius. Alkuin, indem er für die fränkischen Bischöfe spricht, verfolgt die von Hadrian vertretene Linie, und macht dazu weitergehende Ausführungen. Er kommentiert und fragt, welche andere Bedeutung könnte Adoption haben, außer dass Jesus Christus nicht der eigene Sohn Gottes, noch als Sohn der Jungfrau Maria geboren wurde zu Ihm (Gott), sondern eher als ein Diener (Sklave) adoptiert. Für Alkuin und die fränkischen Bischöfe kann nur eine Bedeutung für das Wort Adoption vorliegen. Sie stimmen mit Hadrian überein, verteidigen diese christologische Linie und gehen ausführlich darauf ein.[241]

Das Wort Sklave ist als Unterwerfung unter die Sünde zu verstehen. Aus dieser Unterwerfung und Gebundenheit entsteht für den Menschen die Notwendigkeit zur Adoption,[242] die nicht verwechselt werden darf mit dem Adoptionsbegriff der spanischen Bischöfe. Was es mit dieser Adoption auf sich hat, wird anschaulich gemacht im Evangelium nach Johannes Kapitel 1, Vers 12-13: (12) Allen, aber, die Ihn aufnahmen, gab er vollmacht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, (13) die nicht aus dem Blute und nicht aus dem Wollen des Fleisches und dem Wollen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.[243]  Eine Definition, die Unterwerfung und Knechtschaft darstellt, wird gegeben in dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom, Kapitel 6 in den Versen 19-23. (19) Ich muss menschlich davon reden um der Schwachheit eures Fleisches willen: Wie ihr eure Glieder hingegeben hattet an den Dienst der Unreinheit und Ungerechtigkeit zu immer neuer Ungerechtigkeit, so gebt nun eure Glieder hin an den Dienst der Gerechtigkeit, dass sie heilig werden. (20) Denn als ihr Knechte der Sünde wart, da wart ihr frei von der Gerechtigkeit. (21) Was hattet ihr nun damals für Frucht? Solche, denen ihr euch heute schämt, denn das Ende derselben ist der Tod. (22) Nun aber, da ihr von der Sünde frei und Gottes Knechte geworden seid, habt ihr eure Frucht, dass ihr heilig werdet; das Ende aber ist das ewige Leben. (23) Denn der Sünde Sold ist der Tod; die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserem Herrn.[244] Die Propheten im

[240] Cavadini, John C. S. 74

[241] ebd. S. 76 ff

[242] ebd. S. 78

[243] Übersetzung nach Kürzinger (kath.)

[244] revidierte Übersetzung nach Luther, Wollerau 2009

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hebräischen Kanon der Heiligen Schrift haben Christus mit dem Wort Knecht (Diener) umschrieben, aber Hadrians Anliegen war es, den Gehorsam zu betonen, den Jesus Christus gegenüber dem Vater vollzog, bis hin zum Tode am Kreuz, wie es der Apostel Paulus im Brief an die Philipper, Kapitel 2, in den Versen 2-8 aufgreift. Elipandus erfährt Schelte und Gegnerschaft in gleicher Weise von den fränkischen Bischöfen: Wenn er also von einer Jungfrau geboren wurde als wahrer Gott, wie könnte der dann adoptiert oder Sklave seins?  Um sicher zu sein, darfst du es nicht wagen, zu bekennen; Gott sei ein Knecht (Diener, Sklave) und/oder adoptiert. Wenn also der Sohn Gottes zum Zeitpunkt der Empfängnis wahrer Gott ist, wann ist da ein Zeitpunkt gewesen, dass er Mensch war ohne Gott, wie hätte er dann adoptiert werden können, Gottes Sohn zu sein?[245] Diese Fragen wurden gestellt aus der Sicht und Interpretation fränkischer und auch italienischer Bischöfe. Adoption wird gesehen als reiner Mensch (purus homo) ein Mensch ohne Gott (sine Deo) und somit der Lehre des Nestorius verknüpft; eine Interpretation die von außen herangetragen worden ist. Damit verbunden standen Fragen im Mittelpunkt auf dem Konzil in Frankfurt 794. Zu dem Zeitpunkt war das Ringen um die verschiedenen Lehrmeinungen zur Christologie fast zehn Jahre alt, seit Papst Hadrian sich 785 zum ersten Mal in einem Brief geäußert hatte.[246]

Weitaus größeren Umfang und größeres Aufsehen erregte der Meinungsaustausch zwischen Alkuin und Bischof Felix von Urgel, der seinen Ursprung hatte im Eingreifen Karls in die Diskussionen und theologischen Differenzen. Der Hauptverfechter der Interessen und Ansichten Karls war Alkuin. Aber auch die fränkischen Bischöfe wandten sich insgesamt geschlossen an ihre spanischen Amtsbrüder in einer Entgegnung zu den einzelnen Argumenten auf spanischer Seite. Die Spanier hatten ihre Darstellungen mit Rückgriff auf Isidor von Sevilla (560-636) untermauert, eine Persönlichkeit, die sich nicht nur auf dem Gebiete der Theologie vernehmen ließ, sondern  in anderen Wissenschaften Bedeutendes leistete und seiner Zeit damit voraus war. Auf ihn ging die Gegenüberstellung von primogenitus (erstgeborener) und  unigenitus (eingeborener) zurück, die von adoptionistischer Seite auf die beiden Naturen Christi übertragen worden waren, was die fränkischen Bischöfe zurückwiesen: „Wir wissen nämlich, dass der Sohn Gottes Gott ist aus beiderlei Natur sowohl eingeboren als auch erstgeboren, weil er einzig ohne Anfang aus Gott, dem Vater, gezeugt ist und einzig seit Beginn der Zeit von der Mutter, einer Jungfrau, geboren worden ist, und daher in beiderlei eingeboren und auch erstgeboren (ist), denn jeder eingeborene ist (auch) ein Erstgeborener, wenn auch gemäß dem menschlichen Geschlecht nicht jeder Erstgeborene eingeboren ist.[247] Alkuin und die fränkischen Bischöfe setzten dem adoptionistischen Ansinnen eine differenziertere Bezeichnung der menschlichen Natur Christi  als primogenitus und der göttlichen Natur als unigenitus so entgegen, dass die personale Einheit beider Naturen ununterscheidbar zugleich unigenitus und primogenitus sei. Die fränkischen Bischöfe verwerfen wie zuvor schon ihre oberitalienischen Amtsbrüder die von den Spaniern vorgetragene Lehre von den drei Substanzen in Christus und die Bezeichnung Christi als göttlicher Mensch und menschlicher Gott. Sie verweisen in diesem Zusammenhang die Konzile von Nicäa (325) und Chalcedon (451): „Was ihr im Folgenden angefügt habt, haben wir nicht als Aussage im Bekenntnis der Symbole zu Nicäa gefunden, das in Christus zwei Naturen und drei Substanzen seien, und dass er

[245] zitiert in Cavadini, John C. S. 78

[246] ebd. s. 79

[247] Nagel, Helmut: Karl der Große und die theologischen Herausforderungen seiner Zeit. Zur Wechselwirkung zwischen Theologie und Politik im Zeitalter des großen Frankenherrschers. Berlin; Bern; New York; Paris; Wien 1998 zitiert auf S. 92 f

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göttlicher Mensch und menschlicher Gott sei. Was ist die Natur des Menschen, außer Seele und Körper, oder was ist zwischen Natur und Substanz, dass es für uns nötig wäre, drei Substanzen anzunehmen und nicht viel einfacher, wie die heiligen Väter es gesagt haben, unseren HERRN Jesus Christus als wahren Gott und wahren Menschen in einer Person zu bekennen? Es ist aber die Person in der Heiligen Dreifaltigkeit geblieben, zu welcher (Person) die menschliche Natur hinzugekommen ist, so dass eine Person ist, Gott und Mensch, nicht Gott gewordener Mensch und Mensch gewordener Gott, sondern Gott-Mensch und Mensch-Gott, wegen der Einheit der Person ein einziger Sohn Gottes und derselbe Sohn des Menschen, vollkommener Gott und vollkommener Mensch.[248]

Im Evangelium nach Matthäus, Kapitel 5, Vers 48 heißt es am Schluss der Bergpredigt durch Jesus Christus dazu: (48) Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.[249] Dies ist nicht nur ein Gebot und Erfordernis, es zeigt auch die Zielsetzung, wie sie für das menschliche Individuum vorgesehen ist, nämlich die Umgestaltung des Menschen in das Ebenbild Gottes zu dem er geschaffen wurde und die Rückführung dahin. In Genesis (1. Buch Mose), Kapitel 1, Vers 27 werden Absicht und Bestimmung zur Erschaffung des Menschen definiert: (27) Und Gott schuf den Menschen als Sein Bild. Als Gottes Bild schuf Er ihn. Er schuf sie als Mann und als Weib.[250] In dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom, Kapitel 5, Vers 14, ist etwas ausgesagt über Adam[251] und Christus: (14) Dennoch herrschte der Tod von Adam an bis Mose auch über die, die nicht gesündigt hatten durch die gleiche Übertretung wie Adam, welcher ist ein Bild dessen, der kommen sollte.[252] Adam und Evas Sünde ist kein Vergehen im Sinne des Dekalogs (zehn Gebote). Was es damit auf sich hat, erfährt die Menschheit in Genesis Kapitel 2, in den Versen 8-10 und 15-17: (8) Nun hatte der Herr Gott im Osten einen in Garten Eden gepflanzt; dort ließ er nun den Menschen sein, den er gebildet hatte. (9) Allerlei Bäume, lieblich zur Schau und köstlich als Speise, hatte der Herr Gott aus dem Boden sprießen lassen, in des Gartens Mitte aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. (15) Der Herr Gott nahm also den Menschen und setzte ihn in Edens Garten, dass er ihn bebaue und pflege. (16) Und der Herr Gott gebot dem Menschen und sprach: „Von allen Bäumen im Garten darfst du nach Belieben essen. (17) Nur von dem Baume, der Gutes und Böses kennen lehrt, darfst du nicht essen. Denn sobald du von ihm issest, bist du des Todes.[253] Die Geschichte vom Sündenfall, die uns in Genesis 3 entgegentritt ist sattsam bekannt. Von einem Apfel ist da oft die Rede gewesen, den Eva dem Adam gereicht habe. Im Kanon der Heiligen Schrift ist von keinem Apfel die Rede, es handelt sich hier eher um eine oberflächliche oft ins lächerliche gezogene Betrachtung. Wie stellt sie sich in Wirklichkeit dar? Ganz entscheidend und ausschlaggebend ist das Ergebnis des Sündenfalles, darüber wird in Genesis 3 am Ende berichtet in den Versen 22-24: (22) Und Gott der Herr sagte: „Sieh, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.- Nun aber, damit er nicht seine Hand ausstrecke und auch vom Baume des Lebens nehme und esse und ewig lebe“, – (23) wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, dass er den Erdboden bebaue, von dem er genommen war. (24) Und er trieb den Menschen hinaus und ließ die Cherubim mit dem flammenden Schwert östlich vom Garten Eden lagern, um den Weg zum Baum des Lebens zu bewachen.[254] Aber der Zugang sollte nicht für immer versperrt sein, wie das Versprechen, das Jesus Christus dem neben ihm am Kreuze hängenden in seiner letzten Stunde gegeben, nach dem dieser Reue gezeigt hatte, wie es im Evangelium nach Lukas; Kapitel 23, Vers 42-43 berichtet wird: (42) Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! (43) Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradise sein. In dem prophetischen Buch der Offenbarung des Johannes, Kapitel 2, Vers 7 steht dazu: (7) Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! Wer

[248] Nagel, Helmut: Karl der Große und die theologischen Herasuforderungen seiner Zeit. S. 93

[249] revidierte Übersetzung nach Luther. 1984

[250] Übersetzung nach Paul Riessler (kath). Rottenburg 1956

[251] Adam ist zugleich das hebräische Wort für Mensch

[252] revidierte Übersetzung nach Luther. Stuttgart 1984

[253] Übersetzung nach Paul Riessler

[254] revidierte Übersetzung nach Luther. Wollerau 2009

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überwindet, dem will ich zu essen geben von dem Baum des Lebens, der im Paradies Gottes ist.[255] Was hat die ersten Menschen, Adam und Eva (die Mutter aller Lebendigen), nachdem ihnen der Odem Gottes eingegeben worden war zur Handlung bewogen entgegen dem ausdrücklichen Gebot, nicht von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen? Sie hatten den Einflüsterungen der Schlange Raum gegeben, die in dem Satz gipfelten: Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.

Nach diesem Ausflug erfolgt erneut die Anknüpfung dort, wo vieles begonnen hat, was bestimmend werden sollte für die Geschichte der westlichen Welt oder des viel besungenen christlichen Abendlandes. Eine Frage lässt sich nicht umgehen, die durch den Standpunkt Alkuins und der fränkischen Bischöfe aufgeworfen worden ist. Es heißt bei ihnen, der Mensch sei geschaffen mit Leib und Seele und bilde mit beiden eine Einheit. Unzweifelhaft besteht hier eine Wechselwirkung und auch ein Zusammenhang Es kann keine Trennung geben zwischen psychischer und physischer Befindlichkeit, es sei in Freude oder im Leid, und wenn von Leib und Seele gesprochen wird, wo ist dann der Geist angesiedelt? Das viel zitierte Wort Heiliger Schrift aus dem Evangelium nach Matthäus, Kapitel 26, Vers 41, kommt hier zum Tragen: (41) Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet! Der Geist ist willig, das Fleisch aber ist schwach.[256] Der Geist kann wie die Seele emotional berührt werden, Geist und Seele sind immateriell und darum unbegrenzt, der Leib dagegen ist materiell und begrenzt.

In den unterschiedlichen Auffassungen hatte sich das Hauptgewicht auf zwei Themen und Standpunkte verlagert: Die Dreieinigkeit in Zusammenhang mit der Adoptionslehre  und die Aussage in dem Brief des Apostels Paulus an die Philipper, Kapitel 2, Vers 7, wo es um den Begriff der „Entäußerung“ geht, von den Anhängern der Lehre von der Adoption als „Selbstentleerung“ verstanden. Zur Bekräftigung ihrer Aussagen werden von Alkuin und den fränkischen Bischöfen zahlreiche Zitate der Kirchenväter und der Päpste Leo I. (Papst 440-461) und Gregor I. (Papst 590-604), der auch in der orthodoxen Kirche großes Ansehen genießt angeführt. Karl selbst griff ebenfalls sehr entschieden ein, besorgt über Einheit von katholischer Kirche und den Staat, den er zu formen gedachte. Das Hauptargument gegen die Bezeichnung Christi als servus (Knecht, Sklave, Diener) liegt bei Alkuin und dem fränkischen Episkopat wie vordem schon bei Hadrian in der Belastung, die diese Bezeichnung für die Soteriologie (Lehre von der Erlösung) mit sich brachte, hervorgehoben durch ein Zitat: „Christus aber hat nicht gesündigt, deshalb ist er nicht ein Sklave der Sünde, sondern vielmehr ein Befreier und Erlöser derer, die Sklaven der Sünde sind….Nach dieser Erörterung über den Titel servus lenken die Bischöfe des Frankenlandes auf den Hauptgegenstand des Streites: Die Bezeichnung adoptivus (Adoption) für die menschliche Natur Jesu Christi: „Du aber, wer bist du, der du predigst, dass Christus adoptiert sei, woher dir diese Meinung gekommen wäre, hätte ich wissen wollen, wo hättest du diesen kennenlernen sollen, zeige. Die Patriarchen haben (ihn) nicht gekannt, Die Propheten haben (ihn) nicht erwähnt, die Apostel haben (ihn) nicht gepredigt, die heiligen Ausleger haben diesen Namen verschwiegen, die Gelehrten unseres Glaubens haben (ihn) nicht gelehrt….Du sagst nämlich: ‘Warum fürchtest du, den HERRN Christus adoptiert zu nennen?‘ Ich sage dir, weil weder die Apostel ihn so genannt haben, noch hat die heilige allgemeine Kirche die Sitte gehabt, ihn so zu nennen, stets auch nicht zu glauben,

[255] revidierte Übersetzung nach Luther. Stuttgart 1984

[256] Übersetzung nach Hermann Menge (ev)

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dass er adoptiert sei, sondern er ist der eigene Sohn, gemäß den vorangegangenen Zeugnissen der Apostel und Lehren der heiligen Lehrer.(Zitat)[257]

Gegen Ende ihres Schreibens führt der fränkische Episkopat dann den Vorwurf des Nestorianismus ins Feld, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Spanier in ihrem Schreiben zwar zahlreiche Häretiker vergangenen Jahrhunderte verdammt hätten, der bedeutende Nestorius aber nicht darunter zu finden sei, was als zusätzlicher Beleg für den Vorwurf des Nestorianismus gewertet wird. Aufs engste damit verbunden ist die Anschuldigung gegen die Spanier, zwei Söhne Gottes, einen adoptierten und einen eigenen zu lehren. Bei dem Vorwurf des Nestorianismus lassen es die fränkischen Bischöfe es allerdings nicht bewenden, indem sie den spanischen Adoptianern auch arianisches Gedankengut unterstellen: „Wie nämlich es niemals war, dass Gott der Vater, ohne Gott, den Sohn, gewesen ist…so war es niemals, dass der Mensch Jesus ohne Gott gewesen ist…Wie nämlich Arius den Sohn vom Vater getrennt hat, indem er sprach: Es war (eine Zeit), in welcher er nicht Sohn Gottes war, so trennt ihr durch die Adoption den Menschen Christus vom Sohn Gottes.[258] (Zitat)

Nach diesen Ausführungen ermahnen die fränkischen Bischöfe ihre spanischen Amtsbrüder weiterhin: „Erkennt, dass in (diesem) eurem Bekenntnis eine zweifache Täuschung des teuflischen Betruges hervorgebracht ist, das ist, dass er euch, die ihr durch die Gnade der Taufe erlöst worden seid, von der Einheit der katholischen Kirche trennt und mit dem Strick des schismatischen Irrtums vom Weg des ewigen Heils abhält und vor den Heiden unter denen ihr lebt, die Anfangsgründe des christlichen Glaubens versperrt, und während ihr unseren HERRN Jesus Christus, wir als Gott verehren und anbeten, sowohl als Knecht als auch als adoptiert predigt…Bedenkt, wie groß dieser Skandal unter den heidnischen Völkern ist, dass gesagt wird, der Gott der Christen sei ein Knecht oder adoptiert. Wir sind durch jenen adoptiert worden, nicht ist jener mit uns adoptiert worden, wir sind durch jenen von der Knechtschaft befreit worden, nicht (ist) jener mit uns ein Knecht.[259]

Alkuin und der fränkische Summenepiskopat sehen in der adoptionistischen Häresie eine doppelte Gefahr: Zum einen bedeutet sie die Trennung von der einen katholischen Kirche und damit verbunden der Verlust des persönlichen Heils, zum anderen ist sie nach fränkischer Auffassung ein Hinderungsgrund für die moslemischen Besatzer auf der iberischen Halbinsel, den christlichen Glauben anzunehmen, stellt doch die Bezeichnung des christlichen Gottes als Knecht nach ihrer Ansicht eine unzumutbare Erniedrigung Gottes dar, und muss somit für die Moslems als unüberbrückbares Hindernis erscheinen. Dieser Argumentationslinie folgend, hebt das fränkische Episkopat Jesus Christus noch einmal als Sohn Gottes  in seiner Göttlichkeit hervor: „Wir wollen verkündigen, dass dieser wahrer und lebendiger und wirklich Sohn Gottes ist, damit wir (es) erwerben, zu einer glückseligen Schau zu gelangen, in welcher

[257] Nagel, Helmut: Karl der Große und die theologischen Herausforderungen seiner Zeit. S. 93 f

[258] ebd. S. 95

[259] zitiert ebd. S. 96

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die ewige Glückseligkeit und die gesegnete Ewigkeit (ist), dem Lob und Preis in alle Ewigkeiten (sind). Amen.“[260] Diese Widerlegungen von Seiten der oberitalienischen und fränkischen Bischöfe waren begleitet von einem direkten Eingriff Karls des Großen in die gegensätzlichen Auffassungen, der mit dem Gewicht seiner Herrscherpersönlichkeit zusätzlich die Bedeutung der aufgeworfenen Fragen unterstrich. Sein von den Hoftheologen, angeführt von Alkuin, formulierter Appell verfolgte zwei Ziele: Die Bewahrung der kirchlichen und damit auch der staatlichen Einheit und die Rückführung der abgewichenen Spanier durch eine groß angelegte Überzeugungsarbeit  in die dogmatische und organisatorische Einheit der Kirche. In einem Lehrschreiben hatte Papst Hadrian 793/94 seine Bereitschaft zu erkennen gegeben, über die Abtrünnigen in Spanien, den Kirchenbann auszusprechen.[261] Die apostolische und patristische Lehrtradition sind für Karl und seine Berater die absolute Richtschnur, an der aller Glaube und alles Denken ausgerichtet werden muss; wenn die Spanier von dieser grundlegenden Norm abgewichen sind und darin beharren, so ist damit die grenzüberschreitende Gemeinschaft aufgehoben. Der Weg zu einer künftigen Zusammenarbeit wird aber unter den genannten Voraussetzungen offen gehalten.[262]  In diesem Zusammenhang erwähnt das Schreiben Karls des Großen, dass er Mitgefühl für die politische Unfreiheit der spanischen Christen empfinde, den schismatischen Irrtum, der von den Bischöfen in Spanien ausgehe, aber nicht billigen könne, und ihm Sorgen bereite.[263] Ein unmittelbarer Eingriff innerhalb der moslemisch beherrschten Gebiete stieß aber auf  Hindernisse. Die Drohung mit der Exkommunikation, die Papst Hadrian zuvor ausgesprochen hatte, konnte nicht die gleiche Wirkung erzielen, wie im Herrschaftsbereich selbst, weil die Zugriffsmöglichkeiten durch die politischen Machtverhältnisse in Spanien begrenzt waren.[264]

Die spanischen Bischöfe hatten an König Karl eine Anfrage gerichtet. In der freundlich gehaltenen Antwort wird die universale Bedeutung von Einheit und Lehre dargelegt: „Daher ist eure Besserung (correctio) unsere Freude, wenn ihr danach verlangt, Bundesgenossen im Glauben zu haben und Mitarbeiter in der Verkündigung der Wahrheit, so dass die Freude, die Christus seinen Jüngern verheißen hat, in euch wohne, und unsere Freude in euch vollständig sei.“ Im Evangelium nach Johannes, Kapitel 15, Vers 11 heißt es dazu; (11) Das sage ich euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde.[265]  „Zur Vollendung dieser Freude haben wir in der nötigen brüderlichen Liebe befohlen, dass eine synodale Versammlung der heiligen Väter aus allen Kirchen unseres Herrschaftsgebietes von überall her zusammenkomme, damit die heilige Einmütigkeit aller kräftig beschließe, was man über die Adoption des Fleisches Christi glauben müsse, die, wie wir kürzlich erfahren haben, ihr mit euren Behauptungen und in der heiligen allgemeinen Kirche Gottes aus früheren Zeiten nie Gehörtem in euren Schriften vorbringt.[266]

Mit diesen Worten bestätigt Karl, dass der spanische Adoptionismus Gegenstand auf dem Frankfurter Konzil von 794 war, und dass Karl bereits im Vorwege zur Frankfurter Synode mit Hadrian Kontakt aufgenommen hatte, zeigte sich durch die Romreise, zu der Bischof Felix von Urgel auf dem Konzil von Regensburg 792 veranlasst wurde. Es war zu

[260] Nagel, Helmut: Karl der Große und die theologischen Herausfroderungen der Zeit mit Zitat. S. 96 f

[261] ebd. S. 98

[262] ebd. S. 100

[263] ebd. S. 101

[264] ebd. S. 98

[265] revidierte Lutherübersetzung 1984. Stuttgart 2007

[266] Nagel, Helmut: zitiert auf S. 101

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einer ausgeweiteten Korrespondenz zwischen dem fränkischen Hof und Rom gekommen, die ausgelöst wurde durch die Befürchtung vor einer weiteren Ausbreitung der Lehren, wie sie vom spanischen Episkopat ausgegangen waren und in der Notwendigkeit einer Gefahrenabwehr gesehen wurde, die ihre Grundlage in der von Bonifatius im römischen Sinne durchgeführten Reform der fränkischen Kirche mit dem Primat des päpstlichen Lehramtes.[267]

Zunächst ruft Karl die Spanier zur Einmütigkeit mit der traditionellen Lehre der römisch-fränkischen Kirche auf, wobei er in der Adoptionsfrage den Versuch erkennt, die Kirche mit einer neuen anders gearteten Christologie zu durchdringen, was nicht mit der Überlieferung durch die Kirchenväter in Einklang gebracht werden konnte.  Karl und die Theologen des fränkischen Hofes vertraten eine auf namhafte Kirchenväter, insbesondere Augustin, zurückgehende Lehrtradition, die beherrschend war für das gesamte Frühmittelalter. Karl greift auch das Schreiben auf, in dem die spanischen  Bischöfe Karl davor warnen, die Wege Kaiser Konstantins zu beschreiten. Der Frankenkönig weist den negativen Konstantinvergleich zurück. Die Bewertung Konstantins durch die Spanier, die seit den Tagen Isidors von Sevilla zweideutige Züge aufzuweisen hatte, die zumindest keine Verteidigung der von Kaiser Konstantin vertretenen Kirchenpolitik aufzuweisen hatte, die sich zeitweise  schwankend gestaltete. Karl war einem positiven Vergleich mit der letzten machtvollen Herrscherpersönlichkeit der Römischen Geschichte nicht abgeneigt. Er hatte die in einem Brief Hadrians aus dem Jahre 778, in der die Bezeichnung Novus Constantinus (Neuer Konstantin) zu finden war, nicht ausdrücklich zurückgewiesen.  Die sinnfällig gewordene Erneuerung des Römischen Reiches nach der Kaiserkrönung im Jahre 800 hatte aber nicht ausschließlich Kaiser Konstantin zum Vorbild. Auf dem Frankfurter Konzil waren die anwesenden Bischöfe bemüht, die Schriften der Spanier angemessen zu beurteilen, und Karl dabei auch mit Zustimmung der anwesenden Spanier als Autorität und Schiedsrichter anerkannt wurde. In einem Schreiben bekräftigt Karl seine Entschlossenheit, gegen alle vorzugehen, die irgendetwas dem rechtmäßigen Glauben Widersprechendes lehren, nachdem die Spanier ihm Beatus von Liebena, der ihm völlig unbekannt war, als Verführer vorgestellt hatten.[268]

Nach Karls Auffassung und des ihn umgebenden Hofkreises war die politische Emanzipation der hispanisch-westgotischen Christen von der moslemischen Herrschaft eine unabdingbare Voraussetzung, um in dem gegebenen politischen und kirchlichen Umfeld Teil der katholischen Kirche zu sein. Sie war aus fränkischer Sicht die unverzichtbare Heilsvermittlerin auch für das diesseitige Heil für den einzelnen wie auch für die Gesellschaft. Dieses Deutungsschema, das keine Veränderungen duldete, bestimmte das Denken und lässt eindrucksvoll erkennen, welche ungewöhnliche Bedeutung theologische Fragen für das Reich Karls des Großen hatten, gerade auch im Alltagsleben der Menschen. Das Schreiben Karls konnte eher als Mahnung, nicht als Drohung verstanden werden: „…Ihr habt uns, mit Hilfe der göttlichen Gnade, zu Mitarbeitern eurer Freude, wenn ihr mit uns Prediger des katholischen Glaubens sein wollt. Unzweifelhaft wird daher dort die Hilfe des göttlichen Mitgefühls sein, wo die Nächstenliebe der ganzen Kirche eins und das Bekenntnis des wahren Glaubens eins ist. Kehrt zur Menge des Volkes Christi und zur Einmütigkeit der bischöflichen Versammlung zurück.“[269]  Die Verurteilung der Lehre des Elipandus von Toledo und des Felix von Urgel auf dem Frankfurter Konzil war reichsrechtlich bindend und bildeten einen Höhepunkt in der Auseinandersetzung mit der

[267] Nadel, Helmut: Karl der Große und die theologischen Herausforderungen der Zeit. S. 101 f

[268] ebd. S. 104 f

[269] ebd. mit Zitat

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Christologie der Adoption, wie sie von den spanischen Bischöfen vertreten und verbreitet wurde. Der Anstoß zu den weitreichenden räumlich und zeitlich ausgedehnten und vorgetragenen Gegensätzen, die ihren Höhepunkt auf dem Frankfurter Konzil 794 erreichten in Umfang und Besetzung der Beteiligten. Die Initiative war von Karl ausgegangen, sein Einfluss zu der Zeit, besonders im letzten Jahrzehnt des 8. Jahrhunderts, war stets gegenwärtig; er ließ nichts unbeobachtet, wenn auch die eigentlichen schriftlich und mündlich vorgetragenen theologischen Debatten von der zuständigen Gelehrsamkeit wahrgenommen wurden, bis 799 auf dem Konzil in Aachen die endliche und letzte Entscheidung fiel.[270]  

Im April 796 hatte sich Alkuin wegen politischer Unruhen in seiner Heimat in York in Britannien entschlossen auf eine Rückkehr zu verzichten. In dankbarer Erinnerung für geleistete Dienste verlieh  Karl dem siebzigjährigen die Abtei St. Martin in Tour, dem geschichtsträchtigen Ort, die zu den größten im Frankenreich gehörte. In der Bibliothek von St. Martin befand sich die lateinische Übersetzung der Akten des Konzils von Ephesus 431. Der Fund als Quellenmaterial bildete den Auftakt erneut in eine groß angelegte Argumentation zum  immer noch laufenden Streit um die Christologie der Spanier. Im Frühjahr 797 eröffnete Alkuin erneut den theologischen Disput in einem Schreiben an Felix von Urgel,[271] der nach dem Konzil von Regensburg nicht ganz freiwillig zu Papst Hadrian gereist war, um zu widerrufen. Nachdem Widerruf wurde er nicht in die Freiheit entlassen, sondern festgesetzt. Es gelang ihm aber die Flucht und über Gerona und Septimanien im äußersten Nordosten Spaniens und Südwesten des Frankenreiches, Gebiete, die in einem Eroberungsfeldzug von den Sarazenen eingenommen worden waren, gelangte er wieder nach Urgel, wo er sein Amt als Bischof wieder einnahm, was die fränkische Seite offensichtlich nicht verhindern konnte, dennoch bezeichnete ihn Alkuin in einem Schreiben, das freundlich gehalten war als Bischof, und forderte ihn auf „…ins Lager des himmlischen Königs…“ zurückzukehren. Felix hatte trotz seines Widerrufs die Lehre von der Adoption erneut verbreitet, was Alkuin zu der Feststellung veranlasst, dass der Name Adoption weder im Alten noch Neuen Testament zu finden sei, und führt dazu aus: „Die ganze evangelische Vollmacht ruft, alle Schriften der Apostel bezeugen, die große Mehrheit auf der Welt glaubt, die römische Kirche predigt, dass Jesus Christus der wahre und eigene Sohn Gottes ist. Warum wollt ihr ihn den Namen eines adoptierten beilegen? Was ist ein adoptierter Sohn anderes, außer ein falscher Sohn?…“[272]  Diese Position ist Alkuin mancher Orts als Monophysitismus ausgelegt worden.[273]  Auf diesem Wege bei den Spaniern ein Verständnis hervorzurufen, erscheint unmöglich. Alkuin ist unentwegt bemüht, Felix für orthodoxe Ansicht zurückzugewinnen. Entsprechend lässt er sich vernehmen: Ermahne deinen Bruder, den ehrwürdigen Bischof Elipandus…, dass er mit dir und mit der unzähligen Menge der Heiligen zum Tor der ewigen Stadt emporsteigt. Richtet die Herde Christi, die ihr empfangen habt, um sie zu weiden, nicht zugrunde, sondern rettet (sie)…“[274] Demnach sieht Alkuin in der adoptionistischen Lehre eine Krankheit, die in der Lage ist, das ganze Gemeinwesen des Frankenreichs zu befallen und zu zerstören, analog den Ausführungen Karls in seiner Ansprache vor dem Frankfurter Konzil und hebt damit hervor, wie sehr die adpotionistische Lehre für die politisch-religiöse Spitze des Frankenreiches darstellte, welche dem großen Reformprogramm, das Karl in Angriff genommen hatte und zu vollenden gedachte

[270] Nagel, Helmut: S. 111

[271] ebd. S. 113

[272] ebd. mit Zitat S. 114

[273] ebd. S. 115

[274] ebd. mit Zitat S. 115

 

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entgegenstand. Alkuin sah in der Anführung der patristischen Zeugen das geeignete theologische Mittel, der Gefahr entgegenzutreten und sie zu überwinden.[275]

Einige Monate nach seinem Brief an Felix von Urgel wandte sich Alkuin im April/Mai 798 in einem Schreiben an Elipandus von Toledo. Im Verlauf seines Briefes lobt er das fromme Leben des Elipandus und warnt ihn gleichzeitig vor den Lehren des Felix, dessen frommen Lebenswandel er dennoch betont. Er vermisst einen überzeugenden Hinweis mit Begründung zur Adoptionslehre, stellt dabei die Besonderheit der Geburt und Erwählung Christi in den Vordergrund und schreibt: „…sondern sogleich in der Empfängnis selbst und in der Geburt ist Christus als wahrer Gott und eigener Sohn Gottes geboren, nicht als adoptierter Sohn und auch nicht  als sogenannter Gott. Ohne jeden Zweifel muss man kräftig glauben und predigen, dass derselbe, der aus einer Jungfrau geboren wurde, wahrer Gott in zwei Naturen und wahrer Sohn Gottes ist; so, dass er ein einziger Christus und ein einziger Gott und ein einziger Sohn Gottes und ein einziger König und ein einziger Erlöser der ganzen Welt ist, aufgrund der Gottheit mit dem Vater wesensgleich, aufgrund der Menschheit mit der Mutter wesensgleich, dass derselbe wahrer Gott und wahrer Mensch in der Einheit der Person ist.[276]

Felix unternahm es, Alkuin von seiner Sicht zu überzeugen: „Warum lehnst du diesen Namen (Adoption) ab? Was kann es Herrlicheres geben, was Ehrenvolleres oder was Heiligeres der menschlichen Natur von Gott verliehen werden als dieses Geschenk, durch welches man erkennt, dass dieselbe Natur des Menschen von Gott nach dem Sündenfall wieder angenommen wurde?[277] Alkuin ist dem Gedanken nicht abgeneigt, indem wir durch die Bezeichnung adoptivus filius, (adoptierter Sohn) aber auch nur dann, wenn wir im wahren Sohn Gottes adoptiert sind. Für Christus hingegen bedeute dieser Titel eine Minderung, da die größere Ehre darin bestehe, wahrer Sohn Gottes zu sein.[278] Diese Aussage findet eine Erklärung im Brief des Apostels Paulus im Brief an die Gemeinde in Rom Kapitel 8, Verse 14-17: (14) Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. (15) Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet, sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba lieber Vater! (16) Der Geist selbst gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind. (17) Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm Leiden, damit wir mit zur Herrlichkeit erhoben werden.[279] In der Heiligen Schrift ist oft von Kindern Gottes die Rede, so schon im hebräischen Kanon, wenn von den Kindern Israels gesprochen wird. Die Worte Adoption oder adoptiert sind in der Heiligen Schrift von der ersten bis zur letzten Seite nicht zu finden. Wenn diese Worte benutzt werden, kommt es darauf an in welchem Sinne sie benutzt werden, das wollte Alkuin deutlich zu erkennen geben. Auf fränkisch-päpstlicher Seite wurde die Gewähr des eigenen Heiles nur im Deus-Christus (Gott-Christus) gesehen, also Christus als Gott in Gott, was Karl in seinem Brief an Elipandus und die spanischen Bischöfe unterstreicht unter Berufung auf Augustin, allerdings auf einer athanasianischen-kyrillischen Linie liegend.[280] Das war auch ein Rückgriff auf Kyrill von Alexandria (378-444), der entschieden dem Nestorius und seiner Lehre entgegengetreten war, in der er eine Verletzung

[275] Nagel. Helmut: S. 118

[276] ebd. mit Zitat S. 121 f

[277] ebd. mit Zitat S. 124

[278] ebd. S. 125

[279] revidierte Übersetzung nach Luther 1984

[280] Nagel, Helmut: S. 125

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der Dreieinigkeit Gottes sah. Auf dem Konzil von Ephesus 431 setzte sich Kyrill mit der Lehre von der Gottesmutterschaft Marias durch. Wenige Jahre später fand das Konzil von Chalcedon statt, auf dem sich Patriarchat von Alexandrien endgültig von der Reichskirche lossagte und zur koptischen Kirche wurde.

Wie sehr gerade die Verknüpfung von Christologie und Soteriologie im Mittelpunkt der theologischen Disputation stand, lässt die Argumentation des Felix erkennen: „Denn wenn unser Erlöser selbst in seinem Fleisch, das er aus dem Leib der Jungfrau, nämlich bei der Empfängnis, angenommen hat, beim Vater nicht adoptierter, sondern wahrer und eigener Sohn ist, was bleibt übrig, außer dass sein Fleisch von derselben Masse des menschlichen Wesens und nicht vom Fleisch der Mutter geschaffen und gemacht wurde, sondern von der Substanz des Vaters, wie auch von seiner Göttlichkeit entsprungen ist. Die logische Argumentation hat die Annahme zum Hintergrund, dass ohne die Vorstellung der Adoption der menschlichen Natur Christi „…die wahre Menschlichkeit Jesu die Gleichheit Jesu mit dem Menschen…verloren geht.“

Felix untermauert diese Argumentation, in welcher der inkarnierte (Fleisch gewordene) Christus als das Urbild der Erlösung erscheint: „Denn in der ersten Geburt, in der wir fleischlich geboren werden, kann keiner Mensch sein, der seinen Ursprung von woanders her als von dem ersten Adam, der aus der jungfräulichen Erde geschaffen wurde, herleiten könnte. Ebenso vermag niemand  in der zweiten geistlichen Geburt, in der wir mit Wasser und dem Heiligen Geist wiedergeboren werden, die Gnade der geistlichen Geburt zu erlangen, es sei denn, er empfange diese beiden Geburten in Christus, dem zweiten Adam, der aus dem Fleisch einer Jungfrau geschaffen und geboren ist. Die erste Geburt ist nämlich fleischlich, die zweite geistlich und geschieht durch Adoption.

Diesen Standpunkt verschärft Felix und fügt hinzu: „Wenn aber irgendeiner, sagst du, diese geistliche Geburt, die durch Adoption geschieht, von Christus gemäß der Menschheit verwerfen will, so ist es vorher nötig, dass er jene, welche gemäß dem Fleisch ist, gänzlich von ihm trennt. Wenn nämlich in dieser da, welche geistlich ist, er sich mit uns nicht verständigt, ohne Zweifel auch nicht mit jener, welche fleischlich ist.  

Felix sieht demnach in der fränkischen Christologie  die Gefahr des Doketismus.[281]

Doketismus und die im Gegensatz dazu stehende Begriffswelt der Kenosis bedürfen in ihren Zusammenhängen der genaueren Erläuterung, um das Vorhergehende besser zu erfassen. Der Doketismus beinhaltet eine Christologie, in der Jesus Christus seinen Leib nur zum Schein angenommen hat, er also mit dem eigentlichen Menschsein nicht in Berührung gebracht werden kann, somit ist er einseitig nur Gott. Für die Doketisten galt die Materie als unrein und für Jesus somit unannehmbar. Der Lehre von der Kenosis steht dem entgegen, sie ist das genaue Gegenteil. In ihr wird über Jesus Christus ausgesagt, er habe bei der Menschwerdung auf seine Herkunft, die ihn Gott gleichstellte, „verzichtet“. Im Protestantismus hat es dazu eine Diskussion gegeben, die zu unterschiedlichen Auffassungen führte, von denen hier vier genannt werden sollen: So wurde die Ansicht vertreten Jesus habe bei seiner Menschwerdung ganz auf seine göttlichen Eigenschaften „verzichtet“ (Martin Chemnitz). Einer anderen Sicht zufolge war er zwar im Besitz der  Eigenschaften, die ihn Gott gleichgestellt haben, machte aber keinen

[281] Nagel, Helmut: S.126

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Gebrauch davon (Johannes Brenz). Besonders im 19. Jahrhundert bildete sich im protestantischen Raum eine Schule von Kenotikern heraus, in der unterschieden wurde zwischen weltbezogenen Wesenszügen Gottes wie Allmacht, Allgegenwart, Allwissenheit und den immanenten Wesenszügen, die Jesus nicht ablegen konnte, wie Macht, Wahrheit und  Heiligkeit  (Gottfried Thomasius). Dazu ist eine Theologie vertreten worden, die unterscheidet zwischen mitteilbaren und unmitteilbaren Eigenschaften, das hieße der Mensch könne zwar die Eigenschaften der Nächstenliebe, der Barmherzigkeit, der Wahrheit und Heiligkeit als die mitteilbaren besitzen, nicht aber die unmitteilbaren der Allmacht, der Allwissenheit und der Allgegenwart.

Die katholische Kirche hat die Lehre der protestantischen Kenotiker mit Schärfe verurteilt.  Papst Pius XII. erklärte in der Enzyklika Sempiternus Rex Christus 1951: Völlig unvereinbar mit dem Glaubensbekenntnis von Chalcedon ist auch eine unter Nichtkatholiken ziemlich weit verbreitete Ansicht, der eine leichtfertige und falsch ausgelegte Stelle aus dem Philipperbrief des heiligen Paulus (Phil 2, 7) eine Handhabe und einen Schein von Autorität bot-die Lehre von der sogenannten ‚Kenose‘-, nach der man in Christus eine ‚Entäußerung‘ der Gottheit des Wortes annimmt. Diese wahrhaft gotteslästerliche Erdichtung ist, ebenso wie der Irrtum des Doketismus, zu verwerfen, da sie das ganze Geheimnis der Menschwerdung und Erlösung zu einem blutlosen nichtigen Schatten entwertet. „In der unversehrten und vollkommenen Natur eines wahren Menschen“, so lehrt eindrucksvoll Leo der Große, „wurde der wahre Gott geboren, vollständig seiner Eigenart nach, vollständig der unseren nach.“ (zitiert in Wikipedia)

Es ist ersichtlich, wie die Gegensätze sich über die Jahrhunderte von Anbeginn der Gemeinde und Kirche über die Zeit Karls des Großen, die sich mit ihrem Ausgang prägend gestalten sollte, bis in die Gegenwart hingezogen haben. Im Mittelpunkt der Betrachtung theologischer und christologischer Abhandlung ist immer und erneut die Passage aus dem Brief des Apostels Paulus an die Philipper entgegengesetzt worden, besonders Vers 5 - 7 aus dem 2. Kapitel, worauf bereits weiter oben Bezug genommen worden ist: (5) Seid auf das in euch bedacht, was auch in Christus Jesus war. (6) Da er in Gottes Gestalt war, glaubte er nicht, das Gleichsein mit Gott selbstsüchtig festhalten zu müssen, (7) sondern er entäußerte sich selbst dadurch, dass er Knechtsgestalt annahm, dem Menschen ähnlich und in seinem Äußern wie ein Mensch gefunden wurde.[282]  

Die Adoptionisten in ihrem Gegensatz zu Karl und Alkuin, hatten „Selbstentäußerung“ als „Selbstentleerung“ interpretiert, was aufgefasst wurde, als wäre Gott aus ihm entwichen. Jesus Christus ist im Fleisch auf diese Erde unter die Menschen gekommen, und unterschied sich äußerlich nicht von ihnen. Aber das Fleisch in dem er gekommen war, unterscheidet sich von dem Fleisch der Menschen unter denen er sich bewegte. (s. o. Seite 83 f) Eine Erklärung findet sich dazu im 2. Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth Vers 21: (21) Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.[283] Es gibt keinen zweiten Menschen, von allen die je diese Erde betreten haben, die das von sich sagen können. Und vollends heißt es dazu im christlichen Kanon der Heiligen Schrift im Brief an die Hebräer in Kapitel 4, Vers 15-16: (15) Denn wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. (16) Darum lasset uns

[282] Übersetzung nach Kürzinger (kath)

[283] revidierte Übersetzung 1984 nach Luther

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hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.[284] Diese Worte Gottes führen den Menschen nicht nur ins Zentrum und in die Zielsetzung der Heilsgeschichte, diese Worte besitzen auch eine gesellschaftspolitische Sprengkraft, denn Jesus Christus hätte sich auch anders äußern und anders handeln können, welcher Mensch wäre schon bereit aus seiner gesellschaftlichen Position heraus, eine solche Haltung einzunehmen. Jesus hätte ebenso gut sagen können: Ich bin zwar in eurem Fleisch und eurer Gestalt zu euch gekommen, nur ist mein Fleisch besser als das eure, und meine Gestalt darum anders geartet, darum stehe ich über euch. Genau das hat er nicht getan, sondern er hat sich mit den sündigen Menschen und der gefallenen Schöpfung gemein gemacht, um so den Weg zur Erlösung zu öffnen, darum ist eine Theologie falsch und irreführend, die besagt, Gott habe nicht gelitten, er leidet in seinem Sohn in allem was Menschen auf ihren Irrwegen begegnet. Voraussetzung, um dieser angebotenen und erwirkten Erlösung teilhaftig zu werden, ist der Glaube daran. Es wäre daher angebracht, das Angebot dieser Erlösung nicht zu missachten.

Das Konzil von Frankfurt, das 794 einberufen wurde, brachte eine wichtige Entscheidung in dem weiteren Verlauf des theologischen Streits um das christologische Verständnis. Es war nicht das letzte Zusammentreffen, aber es war besetzt mit den wichtigsten Entscheidungsträgern, von Karl selbst, den ihn am Hofe umgebenen Gelehrten sowie als Vertreter des Papstes Legaten aus Rom.  Welcher Weg führte von Toledo, dem hartnäckigen Zentrum des dogmatischen Widerstandes, nach Frankfurt, wo ein groß angelegtes Konzil den Durchbruch und die Entscheidung schaffen sollte? In Spanien hatten Kirchenväter und Theologen eine eigene Schule begründet, die sich gegenüber Rom eine weitgehende Unabhängigkeit bewahrt hatte, schon bevor Spanien zum größten Teil unter moslemische Herrschaft geriet. Christologie bildete das Zentrum, um das die Argumente ausgetauscht wurden, und das Urteil über die Abtrünnigen aus Spanien fiel deutlich aus: „…gegen die gottlose und ruchlose Häresie des Elipandus, Bischof des toledanischen Sitzes und des Felix von Urgel und ihren Anhängern, die in übler Meinung eine Adoption im Sohn Gottes behaupteten. Dagegen widersprachen alle genannten heiligen Väter und wiesen sie einmütig zurück, und legten fest, dass diese Häresie von Grund auf aus der heiligen Kirche auszurotten sei“.[285] Darauf folgte die eigentliche Aussage zum Adoptionismus: „Durch diesen Sohn Gottes und zugleich Menschensohn, adoptiert der Menschheit nach und keineswegs adoptiert der Gottheit nach, erlöste er die Welt. Zur ekklesiologischen (kirchlichen) Bedeutung wird dazu ausgeführt: Es seien alle Heiligen diesem Sohn Gottes der Gnade nach gleichförmig und mit dem adoptierten ebenfalls Adoptierte und mit Christus „Christusse“. In der Auferstehung werden wir ihm nicht der Gottheit nach ähnlich sein, sondern der Menschheit des Fleisches nach.[286] Eine soteriologische (Soteriologie Lehre von der Erlösung) Sicht tritt hier hervor und erklärt sich so: Heilige (Menschen) können ihm (Christus) gleichförmig sein der Menschheit des Fleisches nach, aber nicht der Gottheit nach, sie sind in ihrem Menschsein mit ihm zusammen adoptiert.[287] Die spanische Seite äußert sich so unter Berufung auf den ersten Brief des Apostels Johannes Kapitel 3, Vers 2: (2) Geliebte, wir sind nun Gottes Kinder; und es ist

[284] revidierte Übersetzung nach Luther

[285] Das Frankfurter Konzil von 794 herausgegeben von Rainer Berndt mit einem Beitrag von Theresia Hainthaler: Von Toledo nach Frankfurt. Dogmengeschichtliche Untersuchungen zur adoptionistischen Kontroverse. Mainz 1997. S. 809 f

[286] ebd. S. 815

[287] ebd. S. 817

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noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es offenbart wird, dass wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.[288] An anderer Stelle im christlichen Kanon der Heiligen Schrift steht dazu im Brief des Apostels Paulus an die Römer in Kapitel 6, Vers 5-6: (5) Sind wir nämlich zusammengewachsen mit der Gestalt seines Todes, werden wir es auch sein mit der seiner Auferstehung. (6) Wir wissen ja, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt wurde, auf dass der sündige Leib vernichtet werde und wir so nicht mehr der Sünde Knechte seien.[289] Die Aussagen der Heiligen Schrift erlauben keinen Spielraum für Interpretationen, wie sie im Verlaufe der Kirchengeschichte auf mannigfache Weise vorgenommen worden sind und vorgenommen werden.

Die Ablehnung der Adoption, das lässt Elipandus in seinem Grundentwurf erkennen, gefährdet die Lehre von der wahren Menschwerdung durch die Geburt aus Maria.[290] Ein Bekenntnis lautet, worin eine deutliche Abkehr vom Bekenntnis, das 325 in Nicäa ausgesprochen wurde, erkennbar ist: „Wir glauben als Gott den Sohn Gottes, vor aller Zeit ohne Anfang aus dem Vater gezeugt, gleichewig und ihm gleich und wesensgleich nicht der Adoption nach, sondern der Herkunft nach, und nicht der Gnade, sondern der Natur nach, was derselbe Sohn im Evangelium nach Johannes in Kapitel 10, Vers 30 bezeugt: Ich und der Vater sind eins, und das übrige, was über seine Gottheit uns derselbe wahre Gott und wahre Mensch gesagt hat. Für das Heil des Menschengeschlechts aber ging er am Ende der Zeit aus jener innersten und unaussprechlichen Substanz des Vaters hervor und, ohne sich vom Vater zu entfernen, strebte er nach dem Untersten dieser Welt, erschien öffentlich dem Menschengeschlecht, nahm als Unsichtbarer einen sichtbaren Leib an und wurde auf unaussprechliche Weise aus der Jungfrau bei unversehrter Jungfräulichkeit der Mutter geboren. Gemäß der Tradition der Väter bekennen und glauben wir, dass der aus der Frau geborene, dem Gesetz unterstellte nicht der Herkunft nach der Sohn Gottes ist, sondern der Adoption nach, nicht der Natur nach, sondern der Gnade.“[291] Behauptungen, die Anhänger der Adoptionslehre hätten Jesus Christus zweigeteilt, werden schwer zu widerlegen sein. Um ihre Lehre  zu unterstreichen wird als Schriftbeleg auf das Evangelium nach Johannes Kapitel 14, Vers 28 verwiesen: (28) Ihr habt gehört, dass ich euch gesagt habe: Ich gehe hin und komme wieder zu euch. Hättet ihr mich lieb, dann würdet ihr euch freuen, dass ich gesagt habe, ich gehe zum Vater; - denn mein Vater ist größer als ich.[292] Nicht wenige haben sich zu allen Zeiten aufgemacht, um den Beweis anzutreten, die Heilige Schrift sei ein Buch der Widersprüche. Das könnte auch geschehen, wenn die zwei Schriftstellen im Johannesevangelium, Kapitel 10, Vers 30 und Kapitel 14, Vers 28 zum Vergleich herangezogen würden. In Joh. 10, 30 werden der Vater und Jesus Christus als Einheit gesehen, und zwar als Wesenseinheit, nicht im Sinne von Meinungs-und Auffassungseinheit. Wenn es trotzdem in Joh. 14, 28 heißt: ...der Vater ist größer als ich, dann spricht Jesus hier als Mensch zu Menschen, aber eben als Mensch, ohne der Versuchung zur Sünde erlegen zu sein (s. o. Seite 85 f), der sich dennoch  mit der Sünde und den Sündern auf eine Stufe stellt aus einer freien Entscheidung heraus. Es stellt sich die Frage, hätte er überhaupt auch anders entscheiden können? Er hätte anders entscheiden können mit allerdings den entsprechenden Konsequenzen. Hätte er sich über die Menschen gestellt, was er ja hätte können, dann wäre der Weg zu Erlösung versperrt gewesen. Welche Konsequenz hätte es gehabt, wenn

[288] revidierte Übersetzung nach Luther Wollerau 2009

[289] Übersetzung nach Kürzinger (kath)

[290] Hainthaler, Theresia: Von Toledo nach Frankfurt. S. 817 f

[291] ebd. S. 818

[292] revidierte Übersetzung nach Luther. Wollerau 2009

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Jesus Christus im Garten von Gethsemane den Gehorsam verweigert hätte (Evangelium nach Matthäus, Kapitel 26), oder wenn er dem um die Macht kämpfenden Gegenspieler Gottes nachgegeben und niedergefallen wäre zur Anbetung (Evangelium nach Matthäus, Kapitel 4)? Er stand in der Versuchung, den Leidensweg für sich und der Menschheit zu umgehen.

In seiner letzten schriftlichen Äußerung in einem Brief an Alkuin 798 greift Elipandus zu einem groben beleidigenden Umgangston. Darin lässt er sich vernehmen, der Sohn Gottes sei in seiner Knechtsgestalt geringer als der Vater.[293]  

Es handelt sich aber bei der Sohnschaft um Wesensgleichheit mit Gott dem Vater, das ist Glaubensgut seit Nicäa und wird von Leo dem Großen (400-461), auf den sich Papst Pius XII. in einer entsprechenden Enzyklika beruft (s. o. Seite 96), so formuliert: „Dies ist mein Sohn, nicht adoptiert, sondern der eigene, nicht anderswoher geschaffen, sondern nur gezeugt, nicht von anderer Natur mir vergleichbar geworden, sondern von meiner Wesensart geboren.[294]

Im Mai/Juni 799 berief Karl ein Konzil nach Aachen, um eine endgültige Klärung zur Adoptionsfrage herbeizuführen, die auf dem Frankfurter Konzil 794 einen breiten Raum in den Verhandlungen eingenommen hatte, mit dem Ergebnis war Karl jedoch höchst unzufrieden. Felix von Urgel hatte eine Einladung nach Aachen erhalten, der er nach Zusicherung, er könne offen, ohne Repressalien befürchten zu müssen, seinen theologisch/christologischen Standpunkt vertreten, gefolgt war.[295] Die Orthodoxie mit ihrem beredten Sprecher Alkuin an der Spitze, der mit der politischen Rückendeckung des mächtigsten Herrschers in Westeuropa rechnen konnte, hatte gesiegt und Felix zum Widerruf bewogen. Dieser Widerruf war der Anfang vom Ende des Erfolges, den die Lehre von der Adoption Jesu Christi bis dahin hatte verbuchen können, sie konnte danach keinen Einfluss auf den Gang der dogmatischen Dinge mehr ausüben. Trotz der gegebenen Zusicherung konnte Felix nicht in seine Heimat zurückkehren, er wurde in Lyon in einem Kloster festgesetzt.[296]

Einer ausgedehnten Missionsarbeit im spanischen Grenzbereich südlich der Pyrenäen, geführt von Bischöfen, die Karl eigens dafür ausgewählt hatte, gelang es in eindrucksvoller Weise, das verloren gegangene Gelände zurückzugewinnen. Einige Monate nach dem Aachener Konzil erreichte Alkuin ein Antwortschreiben des Elipandus, das den Vorwurf enthielt, Alkuin sei ein neuer Arius, der den glorreichen König Karl verführt habe, wie einst Arius den Kaiser Konstantin. Bevor das Aachener Konzil stattfand, hatte Elipandus sich 798 an Felix gewandt und ihn zur Standhaftigkeit ermahnt. Er verstarb kurz darauf, und mit dem Widerruf des Felix waren die beiden Hauptakteure ausgeschaltet, die eine entscheidende und treibende Kraft gewesen waren. Selbst im moslemisch besetzten Teil Spaniens war der Lehre von der Adoption der Rückhalt genommen, bis er gänzlich erlosch.[297] Der Aufwand, der getrieben wurde, um der Lehre von der Adoption ein Ende zu bereiten, zeigt, welches Gefahrenpotential für die Einheit und den Bestand des Frankenreiches gesehen wurde.

[293] Hainthaler, Theresia: Von Toledo nach Frankfurt. S. 825

[294] zitiert ebd. S. 830

[295] Nagel, Helmut: S. 131 f

[296] ebd. S. 133 f

[297] ebd. S. 135

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Spanien war durch die moslemische Herrschaft zu einer innerhalb Westeuropas abweichenden historischen und politischen Entwicklung gelangt, die sich nicht nur nachteilig ausgewirkt hat, da die Araber eine weitgehend tolerante Herrschaft ausübten, und sie sich den in der Geschichte des antiken Griechenland herausgebildeten Wissenschaften öffneten im Gegensatz zum übrigen christlichen Europa, so gelangten die verschiedenen Wissenschaften aus der Zeit des Altertums auf dem Wege von Übersetzungen über Spanien nach Europa. An einem Beispiel aus der Mathematik ist das erkennbar. In Granada, Sevilla und Cordoba waren die drei großen moslemischen Schulen angesiedelt. Aus Cordoba gelangte eine Übersetzung des Euklid in den Westen Europas, ebenso eine Kopie des bedeutendsten Werkes arabischer Herkunft, einer Rechenkunst mit der arabischen Bezeichnung „Alchwarizmi“. „Gesprochen hat Algoritmi. Lasst uns Gott verdientes Lob sagen, unserem Anführer und Verteidiger.“ So lauteten die ersten Zeilen eines Manuskripts, das in der Bibliothek der Universität Cambridge aufbewahrt wird. Algoritmus ist ein Wort, das arabische Gelehrte in abgewandelter Form zu unserem Sprachschatz beigesteuert haben, und aus dem arabischen Wort „Aldschebr walmakabala“ zu Deutsch „Wiederkehr und Gegenüberstellung“ ist der mathematische Begriff „Algebra“ hergleitet worden, die als rein arabische mathematische Leistung angesehen werden kann.[298]   

Auf dem Frankfurter Konzil wurde neben dem Streit um die Lehre von der Adoption ein weiteres Thema abgehandelt. Es ging um den Bilderstreit, der seinen Ursprung in Byzanz hatte, und neben theologischen Gesichtspunkten auch politische Brisanz  enthielt. Im achten Jahrhundert zerstörten im oströmischen Reich erbitterte Streitigkeiten über den Gebrauch der Ikonen (Heiligenbilder) den gesellschaftlichen Konsens. In der ersten Phase der Auseinandersetzung zwischen Bilderfreunden und Bildergegnern setzten sich die Kaiser der ikonoklastischen Partei ein Bilderverbot durch. Später vollzog die kaiserliche Politik unter Konstantin IV. und seiner Mutter Irene jedoch eine Wende. Im Konzil von Nicäa 787 ließen sie der Verehrung von Bildern erneut freien Lauf. Der lateinische Westen zeigte zunächst wenig Verständnis für die byzantinischen Auseinandersetzungen um das Kultbild. Durch die fortschreitende Expansion des Frankenreiches entstand eine Rivalität zwischen dem Nachfolgestaat des weströmischen Reiches und Byzanz. In den Jahren um 790 wollte Karl in einem ideologischen Feldzug einen Konflikt begünstigen, dazu bot der Bilderstreit, der auch im Frankenreich nicht verborgen geblieben war, einen gegebenen Anlass. Karl strebte danach ein lateinisches Kaisertum zu errichten, und sah in dem oströmischen Reich ein Hindernis zu diesem Ziel, weil dort  immer noch von einem Alleinanspruch ausgegangen wurde. Der heftig ausgetragene Streit in Ostrom bot die Gelegenheit zur Intervention in die innerpolitischen Machtverhältnisse, die genutzt wurde, ohne Rücksicht auf souveräne Belange zu nehmen. Karls Eingriff in den Bilderstreit richtete sich zunächst gegen die kaiserlichen Bilderverehrer, ohne sich gänzlich auf die Seite der Ikonoklasten zu schlagen. Ein solcher Schritt hätte ihm auch im Westen einiges Ansehen gekostet. Er fand eine Kompromisslösung, die eine einseitige Festlegung vermied. Er lehnte die Verehrung der Bilder ab, ohne sie gleichzeitig zu verbieten. Karls Hoftheologen verfassten ein Dokument „Libri Carolini“, darin argumentierten sie auf theologischer und philosophischer Grundlage, und stützten sich dabei besonders auf Augustin.[299] Die fränkischen Theoretiker dachten die Zeit nicht als ein Stück aus einer unendlichen Dauer. (Zur Zeittheorie s. o. Seite 13, 37 f, 38 f) Das wäre zu oberflächlich gewesen. Sie bestimmten sie vielmehr als eine von Menschen definierte Seite oder Perspektive der Ewigkeit. (Zeit ohne Begrenzung) Die Zeit ist aber nur dann erfahrbar, wenn sie sich in

[298] Karlson, Paul: vom Zauber der Zahlen. Berlin 1954 S. 182

[299] Das Frankfurter Konzil von 794. Jeck, Udo R.: Augustins Zeittheorie in den "Libri Carolini" S. 861 f

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Dimensionen aufspaltet. Diese Eigenschaft besitzt sie jedoch nicht an sich selbst. Wir sind es vielmehr, die sie in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aufteilen.[300] Die westlichen Intellektuellen benutzten ihre philosophischen Erfahrungen, die sie im Wesentlichen aus den Schriften Augustins entnommen hatten. Dazu gehörte auch seine Zeittheorie. Augustin betonte stets die Präferenz einer geistigen Gotteserkenntnis. Der byzantinische Bilderkult verbleibt nach fränkischer Ansicht im materiellen Bereich.[301] Der Frankenkönig Karl hatte seinen wissenschaftlichen Beratern die Aufgabe gestellt, gegen die Auswüchse des byzantinischen Bilderkultes ein neues Konzept bildlicher Darstellung zu erarbeiten. Zu diesem Zweck benutzten die westlichen Intellektuellen ihre philosophischen Erfahrungen, die im Wesentlichen den Schriften Augustins entnommen hatten.[302] Die Verfasser des Libri Carolini gingen davon aus, das Gott Geist ist. Das hieß, sich von den biblischen Texten leiten zu lassen. Daher ist Gott nicht auf fleischliche Weise zugänglich, sondern allein geistig zugänglich, was den Zugang zur Welt vom Zugang zu Gott unterscheidet. Diese Sicht findet ihren Niederschlag im Evangelium nach Johannes: Kapitel 4, Verse 22-24, wo Jesus Christus am Jakobsbrunnen zu einer Samariterin spricht: (22) Ihr betet an, was ihr nicht kennet; wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden. (23) Jedoch die Stunde kommt, und sie ist jetzt schon da, in der die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten werden. Der Vater sucht solche Anbeter; (24) denn Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen Ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.[303] Als der byzantinische Kaiser Leon III. (680-741) die Bilder entfernen ließ, berief er sich auf das Bilderverbot im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift in Exodus (2. Buch Mose) Kapitel 20, Vers 4: (4) Du sollst dir kein Gottesbild machen, noch irgend ein Abbild von dem, was droben im Himmel oder auf der Erde unten oder im Wasser unter dem Erdboden ist.[304 Dem ist eine Aussage aus dem Brief des Apostels Paulus an die Kolosser in Kapitel 1, Vers 14-17 entgegengehalten worden, wo von Jesus Christus ausgesagt ist: (14) In diesem haben wir die Erlösung, nämlich die Vergebung der Sünden; (15) er ist ja das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller (=der ganzen) Schöpfung; (16) denn in ihm (d. h. durch seine Vermittlung) ist alles geschaffen worden, was im Himmel und auf der Erde ist, das Sichtbare wie das Unsichtbare, mögen es Throne oder Herrschaften, Mächte oder Gewalten sein; alles ist durch ihn und für ihn geschaffen worden, (17) und er ist vor allem (= steht über allem), und alles (oder das ganze Weltall) hat in ihm seinen Bestand.[305] Ein führender Bildertheoretiker wie Johannes von Damaskus deutete dagegen den Bau der Bundeslade[306] als Hinweis auf eine Bilderverehrung aus der Frühzeit der jüdischen Geschichte. Eine These, die auch von Karls intellektuellen Beratern aufgegriffen wurde, und sie veranlasste, von einer radikalen Position Abstand zu nehmen, und in Grenzen für eine Achtung  des Bilderverbots eintraten.[307] Die Verehrung der Bilder wurde zugestanden, nicht aber ihre Anbetung.

[300] Jeck, Udo R.: S. 869

[301] ebd. S. 873

[302] end. S. 872 f

[303] Übersetzung nach Rupert Storr (kath)

[304] Übersetzung nach Hamf/Stenzel (kath)

[305] Übersetzung nach Menge (ev)

[306] In der Bundeslade wurden die Gesetzestafeln mit den Gesetzen, die Moses auf dem Berg Sinai empfangen hatte, aufbewahrt. Die Lade führte das Volk Israel mit sich auf seiner Wanderung ins verheißene Land. sie wurde nach dem Bau des Tempels im Allerheigsten aufgestellt.

[307] Jeck, Udo R.: S. 878 f

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Die islamische Religion verbietet konsequent jegliche bildliche Darstellung, kann aber dennoch auf beachtliche Kunstwerke hinweisen wie die Moschee in Cordoba oder die Alhambra in Granada.

Wie weiter oben bereits angemerkt, hatte die Bilderverehrung auch Auswirkungen auf die politischen Beziehungen zwischen Ostrom und dem Frankenreich. Aber das gegenseitige Misstrauen und die damit verbundene Gegnerschaft hatten noch andere Ursachen als nur den Bilderstreit. Eine weitere Quelle nicht unerheblicher Differenzen, die nicht nur zu einer Belastung der Beziehungen zu Byzanz, sondern auch zu einer Verstimmung mit Rom und dem Papst führten, ist im Streit um das filioque im Nicäno-Konstantinopolitanum, dem erweiterten Bekenntnis von Nicäa zu suchen (s. o. Seite 51-53).

Hier die zwei unterschiedlichen Texte:

Filioque bedeutet „und (aus) dem Sohn“. Konkret handelt es sich um folgende Stelle:

„ […] et in Spiritum Sanctum,

Dominum et vivificantem,
qui ex Patre Filioque procedit […]“

„[…] und [wir glauben] an den Heiligen Geist,
der Herr ist und lebendig macht,
der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht […]“

Im griechischen Urtext, den das Konzil von Nicäa 325 als Dogma festgelegt hatte, heißt es jedoch nur:

„[…] καὶ εἰςI τὸ Πνεῦμα τὸ Ἅγιον,
τὸ κύριον, τὸ ζωοποιόν,
τὸ ἐκ τοῦ Πατρὸς ἐκπορευόμενον […]“

„[…] und an den Heiligen Geist,
den Herrn, den Lebendigmacher,
der aus dem Vater hervorgeht […]“ (zitiert aus Wikipedia)

Der Filioquestreit entzündete sich an den Beschlüssen des zweiten Konzils von Nicäa, das 787 von der byzantinischen Kaiserin Irene einberufen worden war. Es war ein ökumenisches Konzil, da außer den orthodoxen Bischöfen auch Abgesandte der römisch-katholischen Kirche teilnahmen.

Nachdem zur Mitte des 4. Jahrhunderts Athanasius von Alexandrien (gest. 373) im Zusammenhang der trinitarischen Streitigkeiten die Gottheit des Heiligen Geistes nachhaltig unterstrichen und neben die Personen des göttlichen Vaters und Sohnes gestellt hatte, nahm sich die spätantike Theologie verstärkt einer Wesens-und Verhältnisbeschreibung der trinitarischen Personen vor. Bereits in der Theologie um die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert deutete sich das unterschiedliche Verständnis über den Ausgang des Heiligen Geistes an, das fortan die westliche und östliche Theologie des Römischen Reiches bestimmen sollte.[308] Die Verhältnisse der drei Personen bedingen sich dabei so sehr, dass nach Augustin der Sohn an seiner eigenen Sendung teilhat.

[308] Nagel, Helmut: S. 205

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Die Trinität wird nach Augustin so zu einem Dreieck, das in seinem Wirken sich nahezu auf einen einzigen Punkt zu reduzieren scheint. Für die Lehre vom Ausgang des Heiligen Geistes bedeutete dies, dass der Heilige Geist die Rollen einer Verbindung der Liebe zwischen Vater und Sohn zukam, und von beiden als aus einem einzigen Prinzip hervorgehend zu denken sei; dabei hielt er jedoch aufgrund des biblischen Zeugnisses einschränkend fest, dass der Heilige Geist prinzipiell vom Vater ausgehe, wodurch das Theologumenon (theologischer Lehrsatz) des doppelten Ausgangs des Heiligen Geistes eine gewisse Korrektur erfuhr, ohne grundsätzlich infrage gestellt zu werden. Damit waren bereits an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert theologisch die Weichen gestellt, die eine Verständigung in der Filioquefrage im 8./9. Jahrhundert, abgesehen von den politischen Herausforderungen, so schwierig machen sollte, waren doch die Differenzen  bezüglich des filioque in den unterschiedlichen trinitarischen Vorstellungen der Christenheit des Westens und des Ostens im alten Römischen Imperium begründet; denn ging es der östlichen Christenheit vornehmlich um die Betonung der unterschiedlichen Prioritäten der göttlichen Personen in der Trinität, so macht die Christenheit im Westen des Römischen Imperiums in erster Linie die gemeinsame göttliche Substanz der trinitarischen Personen zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen.[309]

Der Filioquefrage kam nach der Ansicht, die im Libri Carolini formuliert wurde, grundsätzliche Bedeutung zu, denn Karl und seine Hoftheologen wussten um die Stellung, die Papst Hadrian einnahm, der insgeheim die Position der byzantinischen Ostkirche  vertrat. Sie wichen dennoch nicht von ihrem Standpunkt und lehnten entschieden das in Nicäa II verfasste und beschlossene Glaubensbekenntnis mit folgender Begründung ab:

„Denn richtig wird geglaubt und gewöhnlich wird bekannt, dass der Heilige Geist aus dem Vater und dem Sohn, nicht aus dem Vater durch den Sohn, hervorgeht, denn er geht nicht durch den Sohn hervor wie die Schöpfung, welche durch selbigen gemacht ist, auch geht er nicht gleichsam später hinsichtlich der Zeit oder geringer hinsichtlich der Kraft oder niedriger von Substanz hervor, sondern es wird geglaubt, dass er aus dem Vater und dem Sohn als gleichewig, als wesensgleich, als gleichbeschaffen, als eines Ruhmes hervortritt und einer Kraft und Göttlichkeit mit Ihnen ist.[310]

Der Streit um das filioque im Nicäno-Konstinopolitanum hatte auch außerpolitische Auswirkungen, die wie alles, was der Herrschaft Karls des Großen folgte, bestimmend waren für die westeuropäische Geschichte. Mit der Erweiterung des Bekenntnisses von Nicäa 325 durch erste Konzil von Konstantinopel 381 hatte sich auch zugleich ein theologischer Streitpunkt eingeschlichen.

Durch einen regen Pilger-und Kaufmannsverkehr zwischen Orient und Okzident zur Zeit Karls des Großen, insbesondere in dem Jahrzehnt von 797-807 sowie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum abbasidischen Kalifat von Bagdad und reicher Benefizien an das Jerusalemer Patriarchat war der fränkische Einfluss angewachsen. Die Besetzung der Geandtschaft des Jerusalemer Patriarchen im Jahre 807 macht daher deutlich, welch großen Einfluss das lateinische Mönchtum, insbesondere die aus dem Frankenreich stammenden Mönche, in Jerusalem besaß. Dies wird ausdrücklich, dass zuvor an den Gesandtschaften in den auch Mönche des griechischen Sabasklosters beteiligt waren. Die große Bedeutung, welche den fränkischen Pilgern zu Beginn des 9. Jahrhunderts beigemessen

[309] Nagel, Helmut: S. 106 f

[310] ebd. zitiert S. 211

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wurde, ist aus dem Tatbestand ersichtlich, dass siebzehn Frauen aus dem Frankenreich als Hüterinnen des Heiligen Grabes zu diesem Zeitpunkt bezeugt werden, was ohne eine starke fränkische Kolonie in Jerusalem undenkbar gewesen wäre. Die starke politische Einflussnahme Karls des Großen auf das Jerusalemer Patriarchat durch einen regen Gesandtschaftsverkehr mit dem Kalifen von Bagdad, Harun al Raschid (763-809), der Karl in Jerusalem breite Ehrenrechte einräumte.[311] Harun ist der arabische Name für Aaron, Moses Bruder und erster Hohepriester Israels. Harun und Karl hatten zwei gemeinsame Gegner, einer davon stammte jeweils aus dem gemeinsamen Lager, Harun das Kaiserreich von Byzanz und Umayyaden-Kalifat mit Hauptsitz in Spanien, von wo aus der Süden des Frankenreiches mehrfach attackiert wurde, das aber zugleich den Machtanspruch Haruns über die gesamte islamische Welt nicht anerkennen wollte, während Karl in eine Gegnerschaft mit Byzanz geriet, nicht nur wegen theologischer Gegensätze, sondern auch wegen Karls Machtanspruch über die westliche Welt, des vormals weströmischen Reiches, auf das auch der Kaiser in Byzanz historisch begründete Rechte geltend machte.

Papst Leo III. erkannte die theologische Bedeutung des Filioquezusatzes und zeigte gegenüber einer fränkischen Mission Verständnis, wie auch bereits sein Vorgänger Hadrian I. im Amt des Papstes. Beide bestritten nicht die theologische Rechtmäßigkeit des filioque, waren aber gleichzeitig nicht bereit zu einer Aufnahme in den Text des Nizäno-Konstantinopolitanum. Damit war dieses Bekenntnis in seiner universalen umfassenden Bedeutung für die christlichen Kirchen und ihrer Einheit geschwächt, ein einziges kleines Wort genügte dazu: filioque (und Sohn), daran hat sich bis in die unmittelbare Gegenwart nichts geändert. Die Päpste Hadrian I. und Leo III. hatten, indem sie das fränkische Ansinnen zurückwiesen, zu einem verstärkten Selbstbewusstsein gefunden.[312] Außenpolitisch bedeutete die päpstliche Parteinahme gegen das filioque im Messsymbol eine empfindliche Schwächung der fränkischen Stellung nicht nur in Jerusalem, sondern im ganzen orientalischen Raum, war doch nun offenkundig, dass der Kaiser zu Aachen und das Papsttum in einer für die frühmittelalterliche Welt  so grundlegenden Frage wie dem Glaubensbekenntnis unterschiedlicher Auffassung waren. Damit hatte das theologische und zugleich auch das politischen Ansehen des orthodoxen Imperators  Karl im östlichen Mittelmeerraum erheblichen Schaden genommen. Dies umso mehr als Karls wichtigster Verhandlungspartner auf moslemischer Seite, Kalif Harun al Raschid, 809 verstorben war, und die Kämpfe der Kalifensöhne um die Herrschaft sich bis 813 erstreckten, die einhergingen mit den ersten großen Christenverfolgungen und Kirchenzerstörungen im nahöstlichen Machtbereich, als der syropalästinensische  Raum unter moslemische Herrschaft gelangte.[313]

Karl ließ in den Libri Carolini eine Linie erkennen, die darauf abzielte, das Ansehen und die Würde der römischen Kirche zu erhöhen, und sich als Diener ihrer Lehrautorität zu erweisen, als Streiter und Beschützer der mater ecclesia (Mutter Kirche). Diese Ausführungen ergeben ein Spannungsfeld zur politischen und theologischen Wirklichkeit, denen sich Karl gegenüber sah, und die Anlass gaben zu einer scharfen Kritik des fränkischen Hofes an den Beschlüssen von Nicäa II und an der Haltung, die Hadrians I., Schreiben an Kaiser Konstatin V und Kaiserin Irene erkennen ließ, worin eine Mitwirkung an diesen Beschlüssen offenbar wurde. Eine Erklärung für dieses Spannungsfeld ist in Herrschaftsauffassung Karls zu suchen, der sich als Beschützer der Kirche nach außen verstand und als Korrektor in Lehrfragen, gemeinsam mit dem Papst, nach innen empfand. Eine tiefgründige Verletzung durch den Hof von Byzanz sah er in dem gegen ihn gerichteten Ausschluss von der Konzilsteilnahme an Nicäa II 787

[311] Nagel, Helmut: S. 217 f

[312] ebd. S. 224 f

[313] ebd. S. 226. 

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Hadrian I. gelang es in einem Beschwichtigungsversuch Karls Argwohn gegen Rom zu entkräften und ihm zu versichern, es bestünde keine Absicht zu einem tiefergreifenden Bündnis zwischen Rom und Byzanz. Diese Zusicherung vertiefte den Groll gegen Ostrom nur noch. Tatsache blieb: Karl sah durch den Ausschluss von Nicäa II die Grundlagen seiner Herrschaft berührt.[314]

Der Filioquestreit von Jerusalem bildet den Abschluss der theologischen Streitigkeiten zur Zeit Karls des Großen. An der fränkischen Haltung änderte auch der päpstliche Widerspruch nichts, zumal die päpstliche Position in der Filioquefrage zwiespältig war. Nur ein gutes Jahrzehnt nach dem Bilderstreit durch das Frankfurter Konzil 794 wurde das filioque im fernen Jerusalem Ursache eines Streits zwischen den lateinischen Mönchen des Ölbergklosters und den griechischen des St. Sabasklosters. Gerade gegen diesen verstärkten religiös-politischen Einfluss Karls des Großen im Jerusalemer Patriarchat wandten sich die griechischen St. Sabasmönche mit dem Vorwurf, alle Franken (also auch Kaiser Karl) seinen Häretiker, da sie das Nizäno-Konstantinopolitanum um das filioque erweitert hätten. Karl der Große räumte daraufhin der Filioquefrage höchste Priorität ein und berief 809 eigens eine Synode nach Aachen, um anhand dreier theologischer Gutachten die fränkische Position für orthodox (rechtgläubig) erklären zu lassen. Doch wie stets in Fragen der Lehre suchte der fränkische König und Kaiser auch jetzt die Eintracht mit Rom. So schickte er drei Gesandte zum Papst, die diesen in der Filioquefrage überzeugen sollten Doch trat diesmal im Gegensatz zum Bilderstreit der dogmatische Riss zwischen Rom und Aachen offen ins Licht. Zwar bekannte sich der Papst zum theologischen Lehrsatz des filioque, die Einfügung in das Nizäno-Konstantinopolitanum lehnte er jedoch ab, damit war das innere theologische Gefüge der universal gedachten Kirche beschädigt. Erstmals standen  regnum (weltliche Herrschaft) und sacerdotium (geistliche Herrschaft) in Gegensatz zueinander.[315]

Die Herrschaftsauffassung Karls des Großen ist in der Einheit von politischem  und geistlichem Staatsaufbau zu suchen, worin auch das Eingreifen Karls in die theologischen Auseinandersetzungen der Zeit seinen Ausdruck findet. Am Ende setzte sich Rom zu diesem Bestreben in einen Gegensatz und verfocht die Unabhängigkeit von politischer als weltlicher Herrschaft verstandener staatlicher Macht. Es war der Anfang eines Machtkampfes, der  für die nachfolgende westeuropäische Geschichte eine prägende Auswirkung erhalten sollte, die schließlich hinführte zu einem Niedergang für beide Bereiche und Institutionen.[316]

Die theologischen Streitfragen, die zur Zeit Karls des Großen die christliche Welt bewegt haben, endeten mit der Aporie (Schwierigkeit) im Denken das Geheimnis der Dreieinigkeit zu ergründen, und vernunftgemäß und damit auch begreiflich, verständlich zu erklären (s. o. Seite 5). Diesen Zugang über die Philosophie zu ergründen, das bedeutet sie vernünftig eingängig zu machen, ohne Vernunfterkenntnis im Gegensatz zur Offenbarung zu stellen. Aristoteles gibt eine Erklärung zu Gott dem Schöpfer. Aristoteles und Platon waren Monotheisten, Platon hat sogar den Polytheismus scharf verurteilt. Aristoteles spricht von Gott dem Schöpfer als vom „unbewegten Beweger“, was bedeutet, dass Gott keine Ursache  haben kann und hat, aber selbst Ursache der Schöpfung ist und die Schöpfung damit auch der Beginn der Kausalität. Die Dreieinigkeit vernünftig, was bedeuten kann philosophisch zu ergründen, unternimmt Gottfried Wilhelm Leibniz mit einem Satz aus der Mathematik: Sind zwei Größen einer dritten gleich, so sind sie untereinander gleich (s. o. Seite 43).  Leibniz gilt als das letzte Universalgenie der Geschichte. Bis zum Jahr 2050 wird eine Leibniz-Expertengruppe an der Arbeit sein, um den Nachlass, das sein Gedankengebäude ausmacht, aufzuarbeiten, und in vollem Umfange aller

[314] Nagel, Helmut: 233 f

[315] ebd. S. 236 f

[316] ebd. S. 238

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Wissenschaft zugänglich zu machen. Es sei nur an das Duale Zahlensystem erinnert, mit der 2 als Basis, was heute aus der digitalen Computerwelt nicht weggedacht werden kann. In der Theologie war er bestrebt um die Verständigung unter den Konfessionen und stand dadurch im Katholizismus in einem hohen Ansehen, was nicht ohne Bedeutung ist, denn der Dreißigjährige Krieg neigte sich mit seinem Geburtsjahr 1646 gerade dem Ende zu. Die Dreieinigkeit am Beispiel der Sonne zu erklären, eröffnet einen anderen Ausweg, den als schwierig empfundenen Weg zu beschreiten. In der Sonne erkennen wir drei Funktionen ein und derselben Sache, wenn eine Funktion ausfällt, muss das ganze System als erledigt angesehen werden.  Durch den Prozess der Kernverschmelzung in der Sonne selbst entsteht Energie, die in Licht und Wärme ihren Ausdruck findet. Die drei Funktionen sind aufeinander angewiesen, mit dem Ausfall einer Funktion ist die Existenzmöglichkeit der beiden anderen nicht mehr gegeben; Zweck und Ziel lassen sich nicht mehr verwirklichen. Die Funktionen können unterschiedliche Auswirkungen haben, Wärme kann unterschiedlich ausfallen mit der Wirkung, dass Wasser verdampft oder gefriert. Mit einem gänzlichen Ausfall der Wärme würde alles organische Leben erlöschen, dasselbe gilt auch für das Licht, ohne Licht gäbe es einfach kein Sein. Dieser kurze Vorspann soll überleiten zum Wesen und zur Bedeutung der Dreieinigkeit. Es gibt in der Dreieinigkeit, die auch mit drei Personen beschrieben und gleichgesetzt worden ist, keine Prioritäten, keine Abgrenzungen von Kompetenzen, keine hierarchische Rangordnung, keine räumliche oder zeitliche Abgrenzungen und keine Veränderungen wie beim Menschen, wäre es anders, müsste von einer Dreiteilung oder Dreigliederung gesprochen werden, was aber als Unmöglichkeit angesehen werden muss. Es gibt keine Funktionsübertragung oder Abgrenzung innerhalb der Dreieinigkeit und auch keine Abstufungen. Wenn der Eindruck entstehen könnte wie im Evangelium nach Johannes, Kapitel 14, Vers 28: (28) Ihr habt gehört, dass ich euch gesagt habe: Ich gehe hin und komme wieder zu euch. Hättet ihr mich lieb, so würdet ihr euch freuen, dass ich zum Vater gehe, denn der Vater ist größer als ich.[317] In dieser Aussage spricht Jesus als Mensch im Fleisch der Menschen mit dem er zu uns gekommen ist, einem Fleisch allerdings, in dem keine Sünde gefunden wurde, und das aller Versuchung ausgesetzt, ihr aber nicht erlegen war, nur auf diesem Wege konnte die Erlösung vollbracht werden, vom wahren Gott und wahren Menschen (s. o. Seite 81, 84, 97, 98, 101). Die Dreieinigkeit ist der Weg Gottes zum Menschen. Aus diesem theologischen Blickwinkel, muss die Auseinandersetzung um das filioque als müßig angesehen werden, besonders, wenn die Auswirkungen dazu ins Verhältnis gesetzt werden.

In einem Punkt unterscheidet sich die Streitkultur in der Christenheit zum abgehandelten Zeitraum. Felix von Urgel wurde zwar nach dem Konzil von Aachen die Rückkehr in seine Heimat verwehrt, und er wurde in einem Kloster in Lyon festgesetzt. Folter oder gar Scheiterhaufen kamen aber nicht zur Anwendung. Der Einsatz solcher Mittel sollte späteren „fortschrittlicheren“ Zeiten vorbehalten bleiben, in denen es geschehen konnte, dass unterschiedliche Auffassungen in der Abendmahlslehre, der Prädestinationslehre oder auch zur Dreieinigkeit zu einer Entscheidung zwischen Leben und Tod werden konnten. Das betrifft besonders die Zeit des ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Neuzeit im 16. und 17. Jahrhundert, wo unterschiedliche Ansichten in dogmatischen Fragen zu Bürgerkriegen bis hin zu einem europäisch ausgeweitetem Krieg im Dreißigjährigen Krieg von 1618-1648 einmündeten. Eine Entwicklung solchen Ausmaßes blieb der Kirche des Ostens erspart, sie erlag teilweise dem Ansturm von außen, bis sie sich in Russland ein festes Fundament schaffen konnte und dort ihre größte Ausdehnung erreichte.

Der letzte Akt in der Zeit der Herrschaft Karls des Großen wurde am Weihnachtstag des Jahres 800 vollzogen. Er bildete Ausgangspunkt und Grundlage für Europas weitere Entwicklung,

[317] revidierte Übersetzung nach Luther 1984

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darum muss diesem als Gründungsakt angesehenen Ereignis eine angemessene und ausführlichere Betrachtung zu Teil werden. Der Kaiserkrönung gingen Ereignisse voraus, die besonders das Verhältnis zu Byzanz (Ostrom), und dem einheitlich sich darstellenden weströmischen Reiches, das unter der Herrschaft Karls herangewachsen war. Der Name Heiliges Römisches Reich lässt schon erkennen, das aus der Gründung des von Karl geschaffenen einheitlichen Reiches, welcher Staatsgedanke als Ausgangspunkt ausersehen worden war, und wenn es hieß „Heiliges Reich“, so war damit zugleich ein Anspruch verbunden. Beim Aufbau seines Großreiches sah sich Karl drei Mächtegruppierungen gegenüber, die auf ihrer Überlieferungen und Bestrebungen universale Geltung beanspruchten: Das Imperium (weltliche Macht) Sazerdotium (geistliche Macht) und der religiösen auf den Gründer einer neuen Religion, Mohammed, zurückgehenden Islam, der sich zu einer machtvollen Ausdehnung, und schließlich zu einer Weltreligion entfaltet hatte. Innerhalb der Christenheit hatten sich gesondert zwei Größen herausgebildet und erhalten: Das oströmische Kaiserreich in Byzanz und das Papsttum in Rom, mit denen das Frankenreich in Beziehung trat, um ein geregeltes Verhältnis zu erlangen. Beide konnten auf eine Tradition verweisen, die das Römische Reich in seiner historischen Entwicklung betraf.   Das Römische Reich in heidnischer und christlicher Zeit gründete sich auf einen universalen Staatsaufbau. Sein Staats-und Selbstverständnis bezog es aus seiner kulturellen Leistung und  Entwicklung, die seine Identität ausmachte, mit der es eine Überlegenheit empfand zu den Völkerschaften, die das Reich umgaben. Die römische Staatsbürgerschaft war nicht an eine ethnische oder religiöse Herkunft gebunden. Der Apostel Paulus war römischer Staatsbürger, und in der Apostelgeschichte Kapitel 16 wird berichtet, wie er in Thyatira, einer Stadt in Lydien in Kleinasien, einem Gebiet im Westen der heutigen Türkei, nach Inhaftierung und Züchtigung sich als römischer Staatsbürger ausweisen konnte, was bei den zuständigen römischen Behördenvertretern Befürchtungen auslöste, weil sie gegen Recht und Gesetzt verstoßen hatten, auf das sich der Apostel  berufen und Genugtuung  fordern konnte, die er auch  und erhielt.

Im dritten Viertel des 8. Jahrhunderts erweiterten und festigten die Langobarden ihre Herrschaft in Norditalien mit dem Erzbischofssitz in Ravenna und die Stadt Pavia, die zur Hauptstadt erkoren wurde. 772 starb Karls Bruder Karlmann, der seit 768 mit seinem Bruder die Herrschaft über das Frankenreich geteilt hatte. Seine Witwe floh darauf mit ihren beiden Söhnen zu Desiderius dem König der Langbarden, sie hoffte auf diese Weise für ihre Söhne die Nachfolge zu sichern. Mit dem Tode Karlmanns konnte sich Karl zum Alleinherrscher auf das bis dahin geteilte Reich aufschwingen, und seine Politik auf die Erweiterung der Macht nach außen richten. In dieser Lage verlangte Desiderius eine Begegnung mit dem Papst und die Salbung der Söhne Karlmanns zu Frankenkönigen, was Papst Hadrian in Bedrängnis brachte, er musste wählen zwischen Karl und dem Langbardenkönig, der seinen Machtbereich bedrohlich für Rom weiter nach Süden ausgedehnt hatte. Hadrian reiste im Frühjahr 773 zur Pfalz nach Diedenhofen zu Verhandlungen, die ergebnislos verliefen. Im Sommer desselben Jahres zog Karl mit einem Heer nach Italien, belagerte Pavia, das er nach neunmonatiger Belagerung im Juni 774 einnahm. Desiderius wurde in ein Kloster verbracht, und Karl krönte sich zum König der Langbarden ohne Wahl und kirchliche Weihen. Noch während der Belagerung war er im April 774 zum Erschrecken des Papstes nach Rom gezogen. Die Hilfe der Franken gegen die Langbarden war vom Papst erwünscht, nicht aber die Herrschaft Karls über Rom. Die oströmischen Kaiser hatten Karls Stellung in Italien nicht anerkannt, aber auch nicht ernsthaft angegriffen, was der Papst befürchtet hatte, statt dessen kam es zu einem Bündnis mit Byzanz.[318] Karl hat wohlüberlegt Rom dreimal einen Besuch abgestattet, immer zu dem höchsten Feiertag, Ostern,

[318] Classen, Peter: Karl der Große, das Papstum und Byzanz. Die Begründung des karolingischen Kaisertums. Sigmaringen 1985 S. 30

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dem Tag der Auferstehung Jesu Christi, und das vierte Mal zum zweithöchsten, dem Weihnachtstag, dem Geburtsfest Christi.[319]

Im Frühjahr 781 unternahm Karl seine zweite Romreise, die als Ergebnis ein Bündnis mit dem oströmischen Kaiserreich einbrachte. Nach dem Tode Kaiser Leons IV. im September 780 gelangte seine Witwe, Kaiserin Irene an die Macht, die sie als Mitkaiserin für ihren erst zehn Jahre alten Sohn Konstantin VI. übernahm. Sie war gezwungen ihre Herrschaft nach unterschiedlichen Richtungen hin abzusichern. Es gelang ihr den Widerstand aus der nahen Verwandtschaft abzuwehren. Aus Sizilien, das zur der Zeit als oströmisches Territorium angesehen wurde, erwuchs weiterer Widerstand durch den dortigen Oberbefehlshaber der oströmischen Streitkräfte, Elipidius, im Frühjahr 781. Dem byzantinischen Herrschaftsbereich zugehörig waren auch große Teile Süditaliens mit Benevent und Capua. Kaiserin Irene entsandte einen starken Flottenverband nach Sizilien und vertrieb Elipidius, der nach Nordafrika entfloh und im moslemischen Herrschaftsbereich Schutz suchte. Einer oströmischen Chronologie zufolge suchte Irene gleichzeitig ein Bündnis mit dem Herrscher des weströmischen Reiches zu schmieden, denn nach oströmischer Vorstellung wurde immer noch von einem einheitlichen römischen Staatsgedanken ausgegangen. Das angestrebte Bündnis sollte nach Absicht der Kaiserin durch ein Eheprojekt bekräftigt werden, durch eine Heirat zwischen Karls Tochter Rothrud mit dem jungen Kaiser. Die fränkischen Quellen vermitteln eine andere Sicht. Danach wurden Bündnis und Verlobung während der Romreise Karls im Frühjahr 781 ausgehandelt, und dass die Erhebung des Elipidius aus der Befürchtung heraus geschah, die Kaiserin könnte große Teile Süditaliens aufgeben und dem fränkischen Machtbereich überlassen.[320] Der Frankenkönig war bereit seine Tochter dem höchsten Herrscher der Christenheit zu vermählen und holte dazu griechische Erzieher an seinen Hof.[321] 785 hatte sich der Sachsenherzog Widukind Karl und damit auch dem fränkischen Herrschaftsanspruch unterworfen und sich christlich taufen lassen, für die Franken und ihrem König entstand eine Atempause und es herrschte die Überzeugung, die Sachsenkriege seinen endgültig beendet, so reifte in Karl der Entschluss zu einer dritten Italienreise, zu der er Ende 786 aufbrach. Vorgesehen waren Verhandlungen mit Byzanz, und Arichis, den Fürsten von Benevent, der als Haupt der freien Langobarden über ein gefestigtes Staatswesen herrschte und in Rom und im fränkischen Herrschaftsbereich Befürchtungen auslöste. In oder bei Capua trafen Gesandte Irenes und Konstantin VI. ein, um die seit Langem Verlobte Tochter Rothrud nach Konstantinopel zu geleiten. Karl hatte es sich in der Zwischenzeit anders überlegt, und er weigerte sich, seine Tochter ziehen zu lassen. Das noch zuvor von politischen Visionen begleitete Eheprojekt kam nicht zustande, und das fränkisch-byzantinische Einvernehmen zerbrach. Die Quellen berichten auch hier unterschiedlich, dass jeweils die eine Seite das Interesse verloren hatte. Beweggründe werden von beiden Seiten nicht genannt, aber das fränkische Ausgreifen nach Benevent und dem Süden Italiens, und die Weigerung einer fränkischen Teilhabe an einem Konzil in Konstantinopel boten Konfliktstoff, außerdem, so wird berichtet, habe Karl sehr an seiner Tochter gehangen. Zum dritten Mal feierte Karl 787 das Osterfest  bei Papst Hadrian in Rom, und wieder erhielt die Römische Kirche Schenkungen, diesmal beneventinische und tuskische Ortschaften. Tassilo von Bayern versuchte in einem Konflikt mit dem Frankenkönig, die Vermittlung Hadrians zu erreichen, aber der Papst ließ den Bayernherzog fallen, und Karl hatte freie Hand, ihn gänzlich zu entmachten.[322] Papst Hadrian starb am Weihnachtstage 795 noch am folgenden Tag, dem Tag seines Begräbnisses wurde Leo III. zum Papst gewählt. Im selben Jahr und davor durchlebte Byzanz unruhige Jahre. Kaiserin Irene war es gelungen,

[319]  Classen, Peter: S. 28

[320] ebd. S. 30

[321] ebd. S. 31 f

[322] ebd. S. 32 f

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die Bilderverehrung zu erneuern, suchte sie ihr Werk gegen den unsteten Sohn zu sichern, der einst Karls Tochter hatte heiraten sollen und nun zwischen der Mutter und den bilderfeindlichen Truppen, zwischen Einflüsterungen von Höflingen oder Frauen und einem unbeherrschten Selbstbewusstsein schwankt, die Mutter verjagt und zum Hof zurückholt, seine Ehe scheidet und eine Hofdame heiratet. Sein Lebenswandel gibt ihn der Verachtung seiner Umgebung preis, bis die eigene Mutter ihn im August 797 absetzen und blenden lässt. Die Tat löst besonders am fränkischen Hof entsetzen aus, als die Nachricht dort eintrifft, dennoch wird im darauffolgenden Jahr eine Gesandtschaft Irenes empfangen, um über einen Frieden zu verhandeln, wobei es um  Grenzstreitigkeiten im Süden Italiens, und im Norden um Venetien und Istrien ging, worüber es seit den Feldzügen von 788 und den folgenden Jahren zu keiner Einigung gekommen war. Aus diesen Verhandlungen ist der Schluss gezogen worden, gegen Irene opponierende Kreise am Hof in Byzanz hätten ein Eingreifen Karls über seinen westlichen Einflussbereich hinaus befürwortet, stößt auf keinen realen Hintergrund.[323]

Karl sandte 798 eine große Legation nach Rom, um neben anderen Fragen, die zu klären waren, die Einführung der Metropolitanverfassung in der bayrischen Kirche zu betreiben. Den bayerischen Bischöfen schrieb Leo darauf, er habe mit Zustimmung und Willen des Königs Karl den Salzburger Arn zum Erzbischof erhoben, ihm das Pallium verliehen und Salzburg zum Metropolitensitz gemacht. Karl ordnete die Verfassung der fränkischen Kirche, der Papst vollzog die Verfügung des Königs. Indem Leo  um diese Zeit begann, seine Urkunden nicht nur nach Pontifikatsjahren zu datieren, sondern auch Karls Regierungsjahre daneben zu stellen, damit brachte er Karls Herrschaft über Rom auch formell zum Ausdruck. Schon zu der Zeit erkundigte sich Alkuin bei Arn, was denn der römische Adel Neues vorhabe, und Arn erwiderte, der Papst führe ein gerechtes Leben, leide aber unter dem Angriff der Söhne der Zwietracht. Die Opposition gegen Leo führte Paschalis an, einer der Neffen Hadrians, gemeinsam mit Campulus, die beide an der Spitze der päpstlichen Bürokratie standen. Beide hatten unter Hadrian Karriere gemacht, und waren im Frankenreich gut bekannt; Paschalis war bereits 778 als Gesandter bei Karl gewesen, Campulus kurz vor Hadrians Tod. Hinter ihnen standen viele andere Adelige Einwohner Roms. Sie entschlossen sich zu einem Gewaltstreich und überfielen den Papst am 25. April 799 mit der Absicht, Leo zu blenden und seine Zunge zu verstümmeln, eine Maßnahme, die in diesen Zeiten gehandhabt wurde, um so eine Amtsunfähigkeit herbeizuführen, verletzten ihn aber nur ungefährlich und setzten ihn in einem Kloster fest, wo er von seinen Verletzungen genas. Die Beweggründe sind im Nachhinein schwer zu ermitteln, fest steht nur, dass der Anschlag scheiterte, obwohl die Anführer die Stadt beherrschten, gelang ihnen weder die Absetzung noch den Papst dem Willen seiner Feinde gefügig zu machen. Mit dem Überfall auf den Papst setzte sich die Kette von Ereignissen in Bewegung, die unmittelbar zur Erhebung Karls zum Kaiser führten. Die Nachricht von dem Putsch verbreitete sich schnell. Mit Hilfe des Herzogs Winigis von Spoleto, dem Abt eines Klosters und einiger Getreuer, die sich als Gesandte des Königs in der Nähe Roms aufgehalten hatten, konnte der Papst aus Rom entkommen. Die Situation ließ dem Papst keine Wahl, nur mit Hilfe der Franken konnte er auf Freiheit und Sicherheit hoffen. Noch im Mai erfuhr Karl in Aachen, wo ihm von einer Blendung des Papstes berichtet worden war, von den Ereignissen. Die Nachricht gab er sofort weiter an Alkuin in Tours. Sobald Karl von der Rettung Leos aus der Gefangenschaft hörte, schickte er einen hohen Hofgeistlichen und zwei Grafen entgegen, um ihn an seinen Hof zu geleiten. Karl erwog nun eine Romfahrt, änderte aber seine unmittelbaren Pläne nicht, sondern begab sich in zweiten Junihälfte nach Sachsen.[324] Im Juli 799 traf Papst Leo in Paderborn ein, wo Karl Hof hielt. Er wurde mit großem Zeremoniell empfangen, was keinen Zweifel zuließ über seine Rechtmäßigkeit als Papst. Dass er unversehrt und gesund vor Karl erschien, wurde von

[323] Classen, Peter: S. 41 f

[324] ebd. S. 45 ff

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manchen als Wunder gedeutet, wovon Karl aber nicht so ohne weiteres überzeugt war. Die Klagen gegen den Pontifex lauteten auf Simonie (Ämterkauf), Eidbruch und sittliche Verfehlungen, die durch Boten dem König nahegebracht wurden. Es gab anscheinend in der Umgebung des Hofes Geistliche, die von der Berechtigung der Klagen nicht einfach Abstand nehmen wollten. Unversehens sah sich Karl vor die Frage gestellt, ob ihm die Jurisdiktion in Rom und vielleicht sogar über dem Papst zustand.[325] Schon als der Papst nach Paderborn gekommen war hatte Alkuin, aufgeschreckt durch die Nachrichten aus Rom, Karl in einem Brief gemahnt, den Sachsenkrieg abzubrechen, um sich ganz der Verantwortung für den Schutz des Papstes und der Kirche widmen zu können. Die andere Frage, ob der Papst selbst Karls Gericht unterworfen werden könne, bestand für den Angelsachsen nicht. Alkuin lässt keinen Zweifel: Karl muss jetzt in Rom das Recht wiederherstellen, den Papst schützen, und die Frevler strafen. Aber er leitet diese Überzeugung nicht aus dem Amt ab, das Karl als mächtiger weltlicher Herrscher innehatte. Die königliche Würde des Franken ist für ihn nach den Katastrophen in Rom und Konstantinopel das höchste und letzte, auf der das Heil der Christenheit beruht; Gott selbst hat Karl die Aufgabe gestellt. Alkuin verwendet den Begriff des Imperium Christianum (Christliches Reich), den er in seinen Briefen seit 798 öfter gebraucht. Der Ausdruck ist ihm aus der Liturgie zugeflossen, wo es in Gebeten für das Reich an Stelle des Imperium Romanum (Römisches Reich) getreten war. Alkuin hat diese Änderung selbst betrieben. Der Begriff ist unpolitisch und an Orten entstanden, wo nicht mehr von der Identität von christlicher Kirche und Römischen Reich ausgegangen wurde, und das Gebet für das Römische Reich seinen Sinn verloren hatte.[326]  

Karls Königtum war seit Langem in eine Stellung hineingewachsen, die alle bekannten Königtümer überragte. Über die Grenzen seines Reiches hinaus fühlte Karl sich für den rechten Glauben der Spanier und für den Schutz der Kirchen im Heiligen Land verantwortlich. Es wurden ihm im Laufe der Zeit manche Titel und Eigenschaften beigelegt, aber nichts deutet darauf hin, dass er die Erlangung der kaiserlichen Würde zielstrebig verfolgt hat; niemals hatte er in Rom Kaiserrechte an sich gezogen. Die geistige Konzeption des gesteigerten christlichen Königtums über ein Vielvölkerreich wird an Karls Hof nicht vom Vorbild des römisch-christlichen Kaisertums, sondern von dem des alttestamentlichen Königtums geprägt, nicht Konstantin, sondern David, der gesalbte König des Gottesvolkes, ist der Typus für Karl, gibt ihm den Namen, mit dem Alkuin und die anderen Glieder seines Hofkreises, geistliche und weltliche, ihn anredeten. Hatte Alkuin auf den Boden der theologischen-politischen Idee nachdem Richter über die  Frevler von Rom und nach und nach der höchsten irdischen Würde gefragt, so war es den in Paderborn Versammelten, an ihre Spitze Karl und Leo, aufgegeben, eine Antwort im Rahmen des gültigen irdischen Rechtes und der praktischen Politik zu finden. Dass die Frage nach dem Gericht in Rom gestellt wurde, ergibt sich nicht nur aus der Situation, sondern sagt neben Alkuins Briefen auch das vermutlich noch 799 oder 800 entstandene Epos über Leo und Karl. Zweierlei ist damals sicher beschlossen worden, zunächst die unmittelbar folgende Rückführung Leos nach Rom durch Karls Gesandte als Begleitung und die Untersuchung durch diese, sodann aber auch die Romfahrt Karls selbst, die schon im Juni 799 erwogen worden war. Seine persönliche Entscheidung in Rom war notwendig, ob vom Standpunkt der politischen Theologie oder der Machtpolitik, von der Frage nach dem Gericht über den Papst oder nach den Pflichten des defensor ecclesiae (Verteidiger der Kirche) ausging. Wurde schon in Paderborn die Lösung aller Fragen darin gesehen, dass Karl selbst das Kaisertum übernehmen müsse? Zu Anfang des Jahres 801, wenige Tage nach seiner Erhebung zum Kaiser, hat Karl die nach Rom zurückgeführten Gegner des Papstes nach römischem Recht als Majestätsverbrecher abgeurteilt. Daraus ist die These abgeleitet worden, die Kaisererhebung

[325] Classen, Peter: S. 47 f

[326] ebd. S. 48

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sei von Leo allein, ohne Karls Wissen, vorbereitet und durchgeführt worden, weil nur ein Kaiser den rechtsgültigen Majestätsprozess leiten könne. War dem wirklich so, dann muss das schon in Paderborn allen bewusst gewesen sein.[327] Die rechtliche Lage in Rom war also keineswegs eindeutig so, dass nur ein Kaiser gegen die Aufrührer vorgehen konnte; aber sie war unklar, und alle Unklarheiten waren in dem Augenblick beseitigt, da es in Rom einen Kaiser gab. Das kann für Leo ein starker Antrieb gewesen sein, den Franken gegenüber den Kaiserplan zu erörtern, und dies nicht erst in Rom im Dezember 800, sondern schon in Paderborn im Spätsommer 799. Ihm war es wohl wichtiger, seine Gegner in Rom für alle Zeit unschädlich zu machen, als das Postulat des Constitutum Constantini (Konstantinische Schenkung) aufrecht zu erhalten, in Rom dürfe kein irdischer Kaiser herrschen.[328] Sollte die Kaiserfrage in Paderborn erörtert und sogar eine grundlegende Einigung erzielt worden sein, hatte diese Lösung gewiss noch keine festen Formen angenommen. Karl hat über ein Jahr nach Leos Abreise gewartet, bis er selbst nach Rom zog. Zunächst musste in Rom Klarheit geschaffen werden. Karls Abordnung geleitete den Papst dorthin zurück und prüfte in Karls Auftrag die Position beider Seiten. Die Argumente der Gegner müssen Leo nicht wenig belastet haben, dennoch konnte keine Verfehlung die Gewalttat seiner Gegner rechtfertigen, darum ließen die Franken Paschalis, Campulus und ihre Mittäter verhaften und ins Frankenreich überstellen. Karls Abgeordnete traten in Rom zwar nicht als Richter, wohl aber als vom fränkischen König beauftragte Untersuchungsbeamte auf, und die Verhaftung der Papstgegner war selbst dann, politisch zu sehen, wenn der Papst dazu eine formelle Vollmacht gegeben hätte, eine Handhabung des Frankenkönigs in Rom.[329]

Alkuins Briefe aus diesen Monaten ebenso wie die Verse, die er Karl auf die Romfahrt mitgehen ließ, spielen wohl  auf das Richteramt an, mahnen zu rechtem Gericht und sprechen von der hohen Aufgabe in Rom, vom Kaisertum aber ist mit keinem Wort die Rede. Von den vielumstrittenen Ereignissen, die am Weihnachtstag 800 ihren Höhepunkt erreichten, berichten drei unmittelbar zeitgenössische Quellen, die einander ergänzen, aber kaum widersprechen, zu denen eine Reihe späterer kleinerer Zeugnisse hinzutreten. Der Hergang selbst bietet viel weniger Schwierigkeiten als die Deutung, die Erkenntnisse der Beweggründe und Ideen, die das Handeln der beteiligten Persönlichkeiten leiteten. Vom Standpunkt der Anhänger des Papstes Leo berichtet eine um 801 niedergeschriebene Vita des Papstes. Von fränkischer Seite liegen die Reichsannalen vor, die gleichfalls nicht lange nach den Ereignissen abgefasst, und die Sicht des Hofes wiederspiegeln. Neben diesen Quellen steht, vor allem für die dem Weihnachtstag unmittelbar vorausgehenden Geschehnisse von einzigartigem Wert, der Bericht des Lorscher Annalisten. Von Mainz war Karl nach Ravenna, wo er einen Teil des Heeres unter Pipin gegen Benevent abordnete, gezogen. Fast ein volles Jahr nach der Rückkehr des Papstes stand er am 23. November 800 vor den Toren Roms.[330]

Eine Woche nach seiner Ankunft machte Karl sich an die Arbeit. Das große Empfangszeremoniell, das Leo veranstaltet hatte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Anklagen gegen den Papst noch nicht aus dem Weg geräumt waren. In der Peterskirche trat unter Karls Vorsitz eine Versammlung zusammen, die neben dem römischen und fränkischen Klerus auch Laien angehörten. Die Rechtsform der Untersuchung lässt Eindeutigkeit vermissen; obwohl es auch im fränkischen Klerus Männer gab, die ganz anders dachten als Alkuin und Leos Rücktritt wünschten. Gleichwohl wurde es als notwendig angesehen, die Beschuldigungen vor dem Weihnachtsfest aus der Welt zu schaffen, und so ergab sich drei

[327] Classen, Peter: S. 50 f

[328] ebd. S. 52

[329] ebd. S. 54

[330] ebd. S. 58

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Wochen nach Beginn der Untersuchung eine Einigung, die den Papst freiwillig und ohne gerichtlichen Zwang zu einem Reinigungseid verpflichtete. Auf dem Ambo der Peterskirche schwor Leo am 23. Dezember den Eid, und der versammelte römische und fränkische Klerus feierte mit Litaneien und Laudes die wiederhergestellte Ehre und Unschuld des Papstes.[331]

Gemäß einem Bericht der Lorscher Annalen wurde am 23. Dezember 800 in Rom ein Konzil einberufen, das mit Papst Leo an der Spitze beschloss, „dass man Karl, den König der Franken, Kaiser nennen müsse“. Karl wollte diesen Antrag nicht ablehnen, sondern in aller Demut vor Gott und auf Bitten des Klerus und des ganzen christlichen Volkes nahm er am Tage der Geburt unseres Herrn Jesus Christus mit der Weihe des Papstes den Kaisernamen an“.

Papst Hadrian hatte zwar mit Kaiserin Irene zusammengearbeitet, aber seit dem Sturz Konstatins VI. und der Alleinherrschaft Irenes lassen sich Beziehungen zwischen Rom und Byzanz nicht nachweisen. Karl hatte 798 mit einer Gesandtschaft der Kaiserin in Aachen „über den Frieden“ verhandelt, also keinen Grund gesehen, ihr Recht zu bestreiten. Das Vorgehen gegen ihren Sohn hatte im Frankenreich Aufsehen und Abscheu erregt. Alkuin hatte in einem Brief an Karl der Absetzung Konstantins VI. gedacht, des Kaisertums Irenes aber nicht, und damit die Vakanz des byzantinischen Kaiserthrones vorweggenommen, vor diesem Hintergrund hatte Karl jede aggressive Haltung vermieden.[332]

Über die Krönung selber hat es unterschiedliche Darstellungen und Interpretationen gegeben. Als Karl sich bei der Messe des Weihnachtstages 800 vom Gebet vor der Confessio St. Petri erhob, setzte der Papst ihm eine sehr kostbare Krone auf das Haupt. Darauf folgte für Karl von allen anwesenden Römern die Bestätigung durch Akklamation mit Gesang und Anrufung der Heiligen. Der Papst bestätigte durch Kniefall, wie es bei den alten Kaisern üblich gewesen war, die Weihe und Anerkennung. „Und er wurde von allen als Kaiser der Römer eingesetzt“ (Liber Pontificalis), „und nach Ablegung des Patriziernamens wurde er imperator und augustus genannt“ (Reichsannalen). Die beiden Hauptberichte (Reichsannalen und Liber Pontificalis) nennen die zwei wichtigsten Vorgänge: Das Aufsetzen der Krone und die Akklamation durch die Römer in dieser Reihenfolge; als Ergebnis des Gesamtvorganges wird festgestellt, dass Karl zum Kaiser eingesetzt und Kaiser genannt wurde. Beide Vorgänge müssen einzeln betrachtet werden. Kronen waren seit Konstantin dem Großen zu den wichtigsten Herrschaftszeichen geworden.[333] Neu im Text ist also nur der Kaisertitel, Augustus und Imperator. Wie dem auch sei, es ist gewiss, dass der Ablauf genau abgesprochen und vorbereitet war. Das Volk zumindest aber der gesamte römische Klerus, hatte den Akklamationstext gelernt und geübt, wusste, was geschehen musste, wenn der Papst mit der Krönung das Zeichen gab.[334]

Das einzige Argument gegen eine Kaisersalbung Karls des Großen ist die These von einer Überrumpelung Karls durch den Papst, jene These, die schon aus ganz anderen Gründen als überwunden gelten muss. Wenn sich auch angesichts des Schweigens der Hauptquellen letzte Sicherheit nicht gewinnen lässt, so ist die Möglichkeit, dass Karl mit der Krone auch die Salbung empfing, gewiss auch nicht einfach von der Hand zu weisen. Zumindest aber sprach der Papst ein Weihegebet.[335]

[331] Classen, Peter: S. 59

[332] ebd. S. 60 f

[333] ebd. S. 62

[334] ebd. S. 67

[335] ebd. S. 68 f

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Wenn Karl einen anderen Weg ging, wenn er als erster aller Kaiser überhaupt einen anderen Weg ging, wenn er als erster aller Kaiser überhaupt seiner Titulatur ein auf Rom bezügliches Glied einfügte, dann bedeutet das, dass er die römische Wurzel seines Kaisertums nicht leugnen oder abschwächen, sondern gerade betonen wollte. Ihm lag nichts an einem unklaren inhaltslosen Kaisertitel, wie es zuweilen angelsächsische Könige geführt hatten. Der einzige im amtlichen Sprachgebrauch Italiens, besonders in Eidesformeln, längst gebräuchliche Titelform, die Rom nannte, sprach weder von Stadt noch von den „Römern“, sondern vom Römischen Reich. Indem Karl diese Formel aufnahm, konnte er das ganze Gewicht des allein echten, römischen Kaisertums hervorkehren, ohne die Römer den Franken vorzuziehen. So entstand die eigenartige Verknüpfung der übergreifenden Institution des Römischen Reiches mit dem Personenverband der Franken und Langobarden im kunstvoll ausgearbeiteten Titel Karls.[336]

Es wurde bisher die Quelle bewusst außer Acht gelassen, die unter den Berichten über Karls Erhebung zum Kaiser die Hauptschwierigkeit bietet: Einharts berühmtes Kapitel 28 der Vita Caroli Magni. Die rund dreißig Jahre nach den Ereignissen niedergeschriebene Quelle, deren sachliche Irrtümer in vielen Dingen so unbestritten sind wie die literarischen Qualitäten, gibt alles andere als eine Erzählung der Vorgänge, sondern eher eine bestimmte Interpretation bestimmter Gesichtspunkte wieder.[337]

Es kann der Eindruck gewonnen werden, dass Einhart die politische Distanz zu Rom nicht ohne Absicht betont. Darauf wird im Kapitel 28. Kapitel der letzte Romzug behandelt. Ihn veranlasste der Wunsch, nachdem Aufstand gegen Papst Leo, den Zustand der Kirche zu ordnen; einen ganzen Winter brachte Karl deshalb in Rom zu. „Zu dieser Zeit nahm er den Namen Imperator und Augustus“ an. Handelndes Subjekt ist Karl; der Papst, von dem nur anlässlich des Aufstandes die Rede war, erscheint hier überhaupt nicht. „Diesem Namen war er zuerst so abgeneigt, dass er versicherte, er hätte an jenem Tage, obwohl er ein hervorragendes Fest war, die Kirche nicht betreten, wenn er den Plan des Papstes hätte wissen können“.[338]

Das alles ergibt ein gut zusammengefügtes Bild, aber keine Schilderung der Vorgänge, und ist darum Missverständnissen ausgesetzt. Es wurde daraus der Schluss gezogen, Karl selbst sei von der Krönung überrascht worden. Wollte Einhart dies sagen, so entsprach es nicht den Tatsachen. Selbst wer zweifelt, ob in Paderborn 799 und in Rom zwei Tage vor Weihnachten über das Kaisertum verhandelt wurde, wird einräumen müssen, dass er durch den Empfang mit kaiserlichen Ehren am 23. November vorbereitet sein musste, dass eine Krone nicht einem Ahnungslosen übergestülpt werden konnte, dass eine Akklamation der Abrede und Einübung durch viele bedurfte, und dass Karl  eine ungewöhnliche Naivität unterstellt werden müsste, wenn die Vorbereitungen ihm verborgen geblieben sein sollten. Der Möglichkeiten sind viele, aber sicher ist, dass Karl nicht wider Willen zum Kaiser wurde.[339]  

Das Kaisertum, so wie es 800 in Rom geschaffen wurde, entsprach nicht Alkuins Vorstellungen. Mit dem römischen Titel war es nicht das Christliche Imperium, nicht eine Überhöhung des davidischen Königtums, das Alkuin vorschwebte. Vermied er auch offenen Widerspruch, so ist sein Ausweichen und Schweigen deutlich genug. Damit ist nicht gesagt, dass er gegen das Kaisertum selbst eingestellt war, nur die Form in der es verwirklichte wurde, lief seinen Ideen zuwider. Der Putsch zwang Papst Leo, um Hilfe nachzusuchen, wodurch Karl die Aufgabe

[336] Classen, Peter: S.73

[337] ebd. S. 74

[338]  zitiert ebd. S. 75

[339] ebd. 75 ff

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zufiel, Verantwortung und schließlich richterliche Gewalt auszuüben, und eine eindeutige Definition seiner Stellung anzustreben.[340]

Ein Akt wie die Kaiserkrönung Karls des Großen von so weittragender und weitreichender Bedeutung, ohne vorher festgelegtes Protokoll zu vollziehen, ist schwer vorstellbar. Minuziöse protokollarische Festlegungen waren damals, genau wie heute, üblich. Die Quellen der Zeit berichten darüber aber nichts, dafür aber Darstellungen und Interpretationen, die Fragen übrig lassen, daran hat sich in den mehr als 1200 Jahren, die seit diesem Ereignis vergangen sind, nichts geändert. Wenn Absprachen stattgefunden haben in Paderborn und später in Rom, wofür vieles spricht, dann ist eine planvolle protokollarische Durchführung nirgends belegt. Die Krönung hat stattgefunden und die mittelalterliche Geschichte geprägt wie kein anderes Ereignis. Ein zweiter Punkt von ebenso großer Wichtigkeit muss hier genannt werden, der auf eine verfassungsrechtliche Absicherung hinweist, und einen weiteren Mangel offenlegt. Er betrifft den Rahmen für die beiden mächtigen Institutionen Papst als geistliches Oberhaupt und Kaiser als weltliches Oberhaupt. Eine Festlegung der beiden Kompetenzbereiche ist umgangen worden mit schwerwiegenden Auswirkungen in der zweiten Hälfte des Mittelalters. Die Unsicherheiten, die der Gründungsakt erkennen lässt, haben sich fortgesetzt, sie haben sich sogar fortgesetzt bis in die unmittelbare Gegenwart. Das Gebilde, das sich Europäische Union nennt, verfügt über keine verfassungsrechtliche Grundlage, die den Namen verdient. Verträge werden geschlossen und willkürlich gehandhabt, sie werden eingehalten oder auch nicht. Karl wollte dem staatlichen Gebilde, das er mit seinen vielen Völkerschaften und unterschiedlichen historischen Entwicklungen geschaffen hatte, einen Rahmen geben, der seinen Bestand gesichert hätte. Er hatte klar erkannt, worauf es ankam, aber die Kräfte und Umstände haben nicht ausgereicht, um alles in dem notwendigen Umfang zu verwirklichen. Seine unmittelbaren Nachfolger besaßen nicht das Format, um alles in eine Bahn zu lenken und weiter zu führen. Von einer anderen Krönung muss in diesem Zusammenhang berichtet werden: Die Krönung Napoleons I. zum Kaiser der Franzosen am 2. Dezember 1804 in der Kathedrale von Notre Dame in Paris. Schon der Krönungsakt zeigt wesentliche Unterschiede: Napoleon setzte sich die Krone selbst aufs Haupt, um dann auch seine Frau Josephine zu krönen. Der Papst stand daneben, ihm wurde nicht mehr als eine Zuschauerrolle zugebilligt. Napoleon stand dem universalen Staatsgedanken, wie er von Karl mit Leidenschaft vertreten wurde, ablehnend gegenüber; er wollte ein Europa unter nationalstaatlicher französischer Hegemonie. Napoleon hätte etwas bewirken können, keine Herrscherpersönlichkeit hatte seit Karl dem Großen eine solche Machtfülle in sich vereinigt wie Kaiser Napoleon, ihm war die Aufgabe zugefallen, Tradition und Moderne zusammenzuführen, er ist dieser Aufgabe nicht gerecht geworden. Beiden Kaisern wurde unter unterschiedlichen Voraussetzungen die Krone aufgesetzt, ein Akt für nur einen Augenblick mit langandauernden unübersehbaren Folgen. Eine Aussage Friedrich von Schillers passt dazu: „Was du von der Minute ausschlägst, bringt keine Ewigkeit zurück“. Europa ist heute zweigeteilt in ein monarchisches und ein republikanisches Europa, Gegensätze, die schwer zu überwinden sind. Die These, Monarchie und parlamentarische Demokratie könnten nicht zusammengehen, ist durch eine historische Entwicklung widerlegt. Den Beweis liefern die Beneluxstaaten, die skandinavischen Länder, Spanien und Großbritannien. Die Klammer, die das britische Commonwealth zusammenhält, das aus 53 Staaten besteht, ist die britische Monarchie, die in hervorragender Weise diese Aufgabe wahrnimmt. Die Monarchie verfügt anders als die Republik über traditionelle Bindungen, außerdem ist sie parteipolitischen Verpflichtungen entrückt. Monarchie und parlamentarische Demokratie bilden gemeinsam eine zusätzliche Absicherung gegen diktatorische Ambitionen.

[340] Classen, Peter: S. 78 f

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Wie nahm Karl seine Aufgabe wahr, die ihm nach seiner Rückkehr aus Rom zugefallen war? Hat er auch außerhalb Roms in seinen übrigen Herrschaftsgebieten neues Recht geschaffen? Einhart berichtet darüber, wie er als Kaiser begonnen habe, die Gesetze der Franken zu überarbeiten. 802/03 wurde damit der Anfang gemacht, Volksrechte im Frankenreich zu ergänzen und zu revidieren. Das religiöse Leben sollte in festgefügte Bahnen gelenkt werden, was sich in Verfügungen über Kirchenrecht und Klosterleben niederschlug. Karl leitet aus seinem Kaisertum neue Verpflichtung und neues Recht in seinem ganzen Reich ab, aber in den Reformgesetzen lebt weniger die römische Komponente des Kaisertums als vielmehr die christliche, die Verpflichtung des gottberufenen Herrschers, als der sich Karl verstand. Das Imperium Romanum (Römisches Reich) sollte umgewandelt werden in ein Imperium Christianum (Christliches Reich), wie es den Vorstellungen Alkuins entsprach.

Karls Handeln als Kaiser beschränkte sich auf sein altes Herrschaftsgebiet mit Einschluss des römischen Italien. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er je daran gedacht hat, darüber hinaus im Osten des Römischen Reiches Rechte geltend zu machen. Dennoch fühlte sich Byzanz vom ersten Tag an politisch angegriffen. Die Voraussetzung für das Geschehen am Weihnachtstage 800 war in den Augen Leos wie Karls die Vakanz des Thrones in Konstantinopel gewesen. Die Herrschaft der Kaiserin Irene stieß in Byzanz auf offene oder geheime Opposition, dennoch wurde die Kaiserkrönung in Rom als Usurpation durch die Franken betrachtet.[341]

802 wurde die Kaiserin Irene durch Nikephoros, der ihr leitender Finanzbeamter gewesen war, abgesetzt und verbannt. Der neue Kaiser Nikephoros setzte die begonnenen Verhandlungen mit Karl fort und entsandte eine Delegation, die im Sommer 803 empfangen wurde. Diesen Gesandten wurde der schriftliche Entwurf eines Friedensvertrages ausgehändigt, den die Griechen mit einem zusätzlichen Brief Kaiser Karls über Rom mit nach Konstantinopel nahmen. Vom Inhalt dieses Vertrages ist nichts überliefert, es ist aber vermutet worden, dass er den Vorschlag enthalten einer gegenseitigen Anerkennung des Kaisertum sowie vertragliche Absicherung der jeweiligen Herrschaftsgebiete, was Karl in späterer Zeit weiter angestrebt hat. Solche Vorschläge stießen in Byzanz auf Ablehnung, Karl wurde dort als Barbarenherrscher und Usurpator angesehen, dem eine Herrschaft über das immer noch als unteilbar geltende Römische Reich nicht zugebilligt werden konnte. Nikephoros ließ die Vorschläge unbeantwortet; zu kriegerischen Handlungen kam es zunächst nicht, Karl sah keinen Anlass und Nikephoros keine Möglichkeit dazu. Damit waren nicht nur die politischen, sondern auch die kirchlichen Beziehungen zwischen Konstantinopel und Rom abgebrochen, denn indem Leo III. Karl zum Kaiser ausgerufen hatte, war der Westen des Reiches nach byzantinischer Auffassung nicht nur vom Reich, sondern auch von der Reichskirche getrennt worden. Die Gesandten des Papstes und Karls hatten 802 gemeinsam in Konstantinopel den Ausgleich gesucht, waren aber abgewiesen worden, Papst Leo wurde als Schismatiker angesehen und Karl als Usurpator.[342]

Zu keiner Zeit hat Karl aus seinem Kaisertum territoriale Ansprüche abgeleitet, das kommt auch in der Nachfolgeordnung für seine Söhne zum Ausdruck. Kriegerische Verwicklung gab es um Venetien, das im Nordosten Italiens an das Frankenreich grenzte. Venetien war ein Gebiet geblieben, das sich selbst verwaltete, ohne die byzantinische Oberhoheit in Frage zu stellen. Byzanz sah dennoch einen Anlass militärisch einzugreifen, nicht das „Zwei-Kaiser-Problem war dabei ausschlaggebend, sondern der Streit um die Herrschaft über Venetien, der zu Kriegen zwischen Byzanz und den Franken führte, da Byzanz zur See die Überlegenheit besaß, blieb

[341] Classen, Peter: S. 81 f

[342} ebd. 86 f

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es erfolgreich.[343] Ein Krieg mit den Bulgaren, in dem Kaiser Nikephoros fiel, zwang Byzanz schließlich zum Einlenken, 810 kam es zu Friedensverhandlungen, im Text darin redet Karl Nikephoros mit fraternitas tua (Dein Bruder) an, ein Begriff aus dem Vokabular der „Familie der Könige“, mit dem eine Gleichrangigkeit am ehesten ihren Ausdruck fand, was in den Augen Einharts als eine Großmut des fränkischen Kaisers gegenüber den Griechen angesehen wurde. Der Frieden war auf beiden Seiten eine beschlossene Sache. Es folgten komplizierte Formen, mit denen das Beschlossene Rechtskraft erlangen und sichern sollte. Fast zwölf Jahre nach der Kaiserkrönung erkannte Byzanz das Kaisertum Karls an, indem Kaiser Michael dies Kaisertum als bloße Rangerhöhung für einen Herrscher über viele Völker erachtete und so trachtete, diesem Kaisertitel eine andere Deutung unterzuschieben, zugleich unternahm er es, ein Eheprojekt vorzuschlagen zwischen seinen von ihm erhobenen Mitkaiser Theophylakt und einer fränkischen Prinzessin. Auf diesem Wege so hatte er sich ausgemalt, sollte die Einheit des Römischen Reiches wieder erreicht werden. Der Vertrag zwischen beiden Kaisern wurde schriftlich festgelegt. Der Text ist nicht erhalten, es gibt aber reichlich Berichte aus der Zeit über das langwierige Ratifikationsverfahren. Es ist auch nichts darüber überliefert, wie Karl auf das Eheprojekt reagiert hat.[344]   

Als 803 das Band zwischen Rom und Konstantinopel endgültig zerrissen, und das Papsttum dem römische-fränkischen Reich eingegliedert zu sein schien, erreichte Karl in Aachen die Nachricht, der Papst verfolge die Absicht, mit Karl Weihnachten zu feiern. Karl ließ Leo von seinem ältesten Sohn abholen und nach Reims geleiten, wo er ihn selbst empfing. Das Weihnachtsfest wurde Quierzy begangen, einer nordwestlich von Reims gelegenen Kaiserpfalz, danach begaben sich Kaiser und Papst zum Epiphanienfest nach Aachen. Aus den Reichsannalen ist die Andeutung zu entnehmen, Karl sei der Besuch des Papstes ungelegen gekommen. Es ist die Annahme geäußert worden, Leo habe damals das Constitutum Constantini zur Bestätigung vorgelegt, sei aber abgewiesen worden. Der einzige Anhaltspunkt für diese These ist darin begründet, dass Karl ein gutes Jahr danach, die später als Fälschung erkannte Konstantinische Schenkung, zur Abfassung des Reichsteilungsgesetzes, womit das Reich unter seine Söhne aufgeteilt wurde, benutzt hat.[345]  

Das Heilige Römische Reich von 814 bis 1254 unter Einschluss der theologischen Geistesströmung der Scholastik.

Die mittelalterliche westeuropäische Geschichte, die mit der Herrschaft Karls des Großen ihren Ausgang nahm, ist überwiegend eine Geschichte des Heiligen Römischen Reiches. Die europäische Geschichte mit all ihren Errungenschaften ethischer und wissenschaftlicher Wertschöpfungen hat zwei Stützpfeiler, die aus der antiken Geschichte herrühren, auf Baumeister des Staates und Verfechter der Religion und der Welt des Glaubens, auf Griechenland, Rom und Israel, in der weitreichenden Epoche der antiken Welt. Es hat Hochkulturen gegeben, bevor Griechenland und Rom zum fundamentalen Bestandteil der europäischen Geschichte wurden in Ägypten am Nil, im Zweistromland am Euphrat und Tigris und weiter nach Osten in der persischen Geschichte. Große kulturelle Leistungen wurden vollbracht in Indien und im südostasiatischen Raum, die ebenfalls bis in den Zeitraum der Antike hineinreichen. Eine beachtenswerte Stellung nimmt China ein, das sich mit seinen kulturellen Errungenschaften, die bis in die Gegenwart reichen, über Jahrtausende hinweg ein homogenes Territorium bewahrt hat. Eine besondere Stellung nimmt auch Japan ein, dem es in kurzer Zeit gelang, Anschluss zu finden an die technische Entwicklung in Europa und Amerika. Der Einfluss dieser vorausgegangenen Kulturen mit ihren

[343] Classen, Peter: S. 91 f

{344] ebd. S. 93 ff

[345] ebd. S. 88 f

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Staatsentwürfen hat in der europäischen Geschichte in der Zeit, als Europa bestimmend wurde für den Verlauf der Menschheitsgeschichte, keine prägenden Spuren hinterlassen. Im politischen Denken von Hannah Arendt ist eine Fragestellung enthalten, in der untersucht wird, welche Beziehungen und Analogien sich herstellen lassen zu einer Linie von Athen, und  Rom nach Philadelphia, inwieweit antike Staatsentwürfe hineinreichen in die amerikanische Geschichte, und welche Unterschiede sich hier auftun. [346]

Israel und die antike Welt der Griechen haben in der Zeit danach in der europäischen und deutschen Geschichte sehr deutliche Spuren hinterlassen durch das Christentum und die klassische Dichtung, die in der kulturgeschichtlichen Entwicklung im Griechenland der Antike ihr Vorbild suchte. Eine Entwicklung, die in der Zeit des Humanismus ihren Anfang nahm, die aber zuvor im Hochmittelalter in einem christlich-theologischen Zusammenhang in der Scholastik durch den Einfluss des griechischen Philosophen Aristoteles erkennbar ist. Darüber hinaus haben Israel und Griechenland dem europäischen Kulturkreis eine Besonderheit vermittelt, sie haben Geschichte geschrieben, eine anders geartete Geschichtsschreibung, als die Hochkultur am Nil oder des Zweistromlandes, die über die Aufzählung historischer Reminiszenzen nicht hinausgekommen ist. Ihr Blickfeld war eingeengt, auf Einzelheiten gerichtet, eine auf breitere Grundlagen aufbauende zusammenhängende Gesamtschau fehlt, und damit fehlt auch das Bewusstsein als Bedingung für den übergreifenden historischen Fortbestand.[347] Was die Hochkulturen am Nil und im Zweistromland hinterlassen haben, so eindrucksvoll es auch immer ist, bleibt wesentlich nur noch für die Archäologie von besonderem Interesse. So haben nur zwei Völker, Israel und Griechenland ihre Existenz aus dem Altertum herüber gerettet und Früchte getragen, die über ihre eigene Existenz hinausreicht, ohne diese Früchte ist der Baum, der daraus gewachsen ist nicht denkbar. Griechenland, Israel, ihre Geschichtsschreibung und das damit verbundene Bewusstsein ist weiter vererbt worden und bleibt der Menschheit in einem Gesamtverständnis erhalten.[348]

Es ist eine geistige Substanz, worauf Geschichtsbewusstsein beruht, die Bedingung ist für das Fortbestehen der materiellen Substanz.
Die Frage, wem die europäische Zivilisation ihre kulturgeschichtliche Entwicklung und Existenz verdankt, ob der griechisch-römischen Antike oder dem aus der jüdischen Geschichte hervorgegangenen Christentum[349]

stellt sich nicht in einer Ausschließlichkeit, weil beide in ihrer kulturellen Wirkungsgeschichte auf unterschiedliche Quellen zurückgehen. Beide, Juden und Griechen haben in den Stürmen der Geschichte ihre Identität bewahrt, sie waren tief verwurzelt in einer Geschichtsschreibung, die sich eine geistige Grundlage schuf. Griechenland ist geographisch auf dem Platz geblieben, den es in der Antike innehatte. Israel musste seinen geographischen Ursprung aufgeben und war zweitausend Jahre in alle Welt verstreut; die geistigen Wurzeln, die ihm seine Identität bewahren halfen, waren zu tief, um ausgerissen zu werden. Hier wird noch einmal deutlich, was Geschichtsbewusstsein, das in einer Geschichtsschreibung gegründet ist, zu bedeuten hat.

[346] Romberg, Regine: Athen, Rom oder Philadephia? Die politischen Städte im Denken von Hanna Arendt. Würzburg 2007

[347] Rad, Gerdhard von: Gesammelte Schriften zum Alten Testament. München 1965. S. 149

[348] ebd. S. 148 f

[349]  Kaltenstadler, Wilhelm: Griechische-römische Antike oder jüdischen Christentum, wem verdanken wir eunropäische Zivilisation? Hamburg 2005

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Der Übergang von der Antike zum Mittelalter ist unterschiedliche beurteilt worden, ein genaues Datum lässt sich nicht bestimmen, es kommt darauf an, welche Kriterien zu Grunde gelegt werden. Eine grobe Einteilung kann vorgenommen werden von 400 bis 1500.[350] Einige beginnen Konstantin dem Großen und der Einführung des Christentums (324), andere mit der Völkerwanderung, herbeigeführt durch das Eindringen der Hunnen nach Europa (375), die meisten Interpreten neigen zum Zeitpunkt, an dem das Weströmische Reich sein Ende fand (476). Zum Ende des Mittelalters wurden ebenso unterschiedliche Vorstellungen entwickelt. Sie reichen vom Untergang des oströmischen Reiches (1453), der Erfindung der Buchdruckerkunst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, der Entdeckung Amerikas (1492), der Beginn der Reformation Martin Luthers (1517), schließlich noch der westfälische Friede (1648).  

Das „Heilige Römische Reich“ beginnt in dem Augenblick, als Karl dem König des Frankenreiches am Weihnachtstage des Jahres 800 die Kaiserkrone aufgesetzt wurde. Nach vollzogener Krönung huldigte das bei der Krönungszeremonie anwesende Volk: „Karl dem Augustus, dem von Gott gekrönten und friedebringenden Kaiser der Römer, Leben und Sieg.“ Der Bericht geht auf Einhart zurück, dem Hofschreiber und Biographen Karls des Großen.[351] Mit dem einen kurzen Satz ist Ursprung und Zielsetzung eindeutig definiert. Mit Rückgriff auf diese Geburtsstunde des Heiligen Römischen Reiches wurde es neu gestiftet, und damit bis ins 13. Jahrhundert gefestigt, von Otto dem Großen (936-973), dem Nachkommen des Sachsenführers Widukind, Karls hartnäckigstem Gegner in den Sachsenkriegen von 772-802. Am 2. Februar 962 ließ sich Otto I. als deutscher König zum römischen Kaiser krönen. Er hätte diesen Schritt sicher nicht getan, wenn nicht das Vorbild Karls des Großen vor ihm gestanden hätte.[352] Das Heilige Römische Reich ist später mit dem Zusatz „deutscher Nation“ versehen worden. Damit wurde diesem Reich ein nationaler Anstrich gegeben, den es nicht besaß, und auf dem seine Herrscher nie einen Anspruch erhoben hatten. In offiziellen Verlautbarungen der Zeit ist dieser Zusatz darum auch nicht zu finden. Noch im Jahre 1462 heißt es in einer Belehnungsurkunde Kaiser Friedrichs III. (1440-1493), obschon in deutscher Sprache: „Wir Friedrich von gottes gnaden Römischer kayser, zu allen zeiten mehrer des reichs…“[353] Mit dem Epitheton „deutscher Nation“ waren keine nationalstaatlichen Ambitionen verknüpft, eher das Gegenteil. Das Heilige Römische Reich war ein Vielvölkerstaat, bis zuletzt nur noch das übrig war, was zum späteren Zeitpunkt das eigentliche Deutschland ausmachte. Die römischen Kaiser verstanden sich seit Karl dem Großen als Schutzmacht der christlich-katholischen Kirche. Er schloss den Papst und die ganze westliche katholische Christenheit ein, weiterer Machtanspruch war damit nicht verbunden und wurde auch nicht ausgeübt. Kriege hatten ihren Ursprung und waren vordergründig bedingt durch den Gegensatz Papst-Kaiser, geistlicher Machtanspruch und weltlicher Machtanspruch, betroffen war hiervon Deutschland, wenn deutsche Fürsten dem deutschen König/Kaiser die Gefolgschaft verweigerten oder aus anderen Gründen sich ein Gegensatz ergab und Italien, das bei dem Zug deutscher Könige und Kaiser nach Rom  zwangsläufig als Durchzugsgebiet genutzt wurde. Eine Zuspitzung erlebten die Auseinandersetzungen unter den Stauferkaisern Friedrich I. Barbarossa (1152-1190), Kaiser Heinrich VII. (1190-1197)

[350] Kleinpaul, Rudolf: Das Mittelalter. Bilder aus dem Leben und Treiben der Stände in Europa. Unveränderter Nachdruck von 1895. Würzburg 1998 S. 2 f

[351] ebd. S. 94

[352] ebd. S. 94

[353] zitiert bei Spieß, Karl-Heinz unter Mitarbeit von Willich, Thomas: Das Lehnswesen i, hohen und späten Mittelalter. Zweite verbesserte Auflage. Stuttgart 2009 S. 156

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und Kaiser Friedrich II. (1215-1250), was aber noch andere Gründe hatte, herbeigeführt durch den Zugriff der Sarazenen und später der Normannen auf Italien..

Die Kaiserwürde war nicht notwendigerweise an eine deutsche Dynastie gebunden, obwohl seit Karl dem Großen bis zum Ende der Stauferkaiser 1254 die Kaiserkrone an deutsche Dynastien verliehen wurde. Mit dem Ende des letzten Kaisers aus dem Geschlecht der Staufer begann das Interregnum (Zwischenzeit), vielfach mit der Bezeichnung „die kaiserlose, schreckliche Zeit“ versehen, es endete mit der Wahl Rudolf von Habsburg 1273 zum deutschen König. In dieser Zeit wurden Heinrich Raspe, Wilhelm von Holland, Alfons von Kastilien und Richard von Cornwall zu deutschen Königen gewählt, es gelang ihnen aber nicht die ihnen zugefallene Herrschergewalt in dem Umfang auszuüben, die nötig gewesen wäre, um den Absturz in eine Unordnung zu verhindern, sie hatten nicht die nötige Autorität, den an sie gestellten Anspruch gerecht zu werden. Auf zwei der genannten Könige muss ein besonderes Augenmerk gerichtet werden: Alfons von Kastilien und Richard von Cornwall. Bei der Wahl beider zu Königen handelte es sich um Doppelwahl, keine gute Voraussetzung, dem bereits wankenden Reich wieder nötiges Gleichgewicht und Festigkeit zu verschaffen.

Heinrich Raspe (1204-1247) war Landgraf von Thüringen, besaß also keinen besonderen Rückhalt, die ihn zu einer Machtposition innerhalb der Fürsten verholfen hätte. 1246 trat er zu einer Wahl zum Gegenkönig an gegen König/Kaiser Friedrich II: (1215-1250) und dessen Sohn Konrad IV. (1250-1254), nachdem Kaiser Friedrich II. von Papst Innozenz IV. für abgesetzt erklärt worden war. Er verstarb bereits 1247. Nach dem Tode Heinrich Raspes wurde, da sich kein deutscher Fürst bereitfand, den Kampf mit dem Stauferkaiser aufzunehmen, Wilhelm von Holland (1228 -1256) von der päpstlichen Partei zum Gegenkönig gewählt. Die Wahl fand unangefochtene Anerkennung. Das Staufergeschlecht war mit dem Tode Kaiser Friedrich II. 1250 und seines Sohnes Konrad IV. 1254 an sein Ende gekommen, das Wilhelm von Holland nur zwei Jahre überlebte, so dass eine weitere Königswahl nötig wurde. 1257 kam es zu einer Doppelwahl, Alfons von Kastilien (1221 – 1284) und Richard von Cornwall (1209-1272) wurden gleichzeitig zu Königen gewählt, weil das aus sieben Fürsten bestehende Wahlgremium keine eindeutige Einigung erzielen konnte. Beide waren verwandtschaftlich mit der Stauferdynastie verbunden. Alfons von Kastilien, genannt „der Weise“ (spanisch: El Sabio), weil er sich auch auf wissenschaftlichen Gebiet einen Namen gemacht hatte, war König von Kastilien und León, neben Thronstreitigkeiten hatte er auch die Reconquista weiter vorangetrieben und den moslemischen Einfluss zurückgedrängt. Richard von Cornwall entstammte dem Haus Plantagenet, das später noch in der englischen Geschichte Bedeutung erlangen sollte. Richard war Sohn des englischen Königs Johann (1199-1216) mit dem Zusatz Ohneland, weil er in Erbstreitigkeiten leer ausgegangen war. Einen Bekanntheitsgrad erlangte er dadurch, weil die englischen Barone, zugleich der führende Adel, ihm die Magna Charta abtrotzten, sie war der Einstieg in eine Beschneidung der Machtbefugnisse der Monarchie. Die beiden Könige konnten keine allgemeine Anerkennung im Reich erlangen. Richard von Cornwall starb 1272, worauf Alfons von Kastilien von Papst Gregor X. (Papst von 1271-1276) die Bestätigung seiner Königswahl (päpstliche Approbation) forderte, die ihm aber verweigert wurde. Damit war der Weg zu einer weiteren Königswahl eröffnet, die 1271 auf Rudolf von Habsburg (1218-1291) fiel. Er ist der Begründer des Hauses Habsburg, das mit geringen Unterbrechungen als Herrscherhaus bestand hatte, bis es 1806 durch Kaiser Napoleon seine Erledigung fand. Das Interregnum hat in der Geschichtsschreibung wenig Beachtung gefunden, wenngleich in diesem Zeitabschnitt wichtige Weichenstellungen zu einer späteren historischen Entwicklung erkennbar sind.

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Das Heilige Römische Reich war eine Wahlmonarchie, keine Erbmonarchie, und wenn sich in seiner entscheidenden Phase Dynastien herausbildeten, gestützt auf Sachsen, Franken, Salier und Hohenstaufen, so war doch Wahl und Wählbarkeit Voraussetzung. Am Beispiel Alfons von Kastilien und Richard von Cornwall zeit sich, wie sich ein System zur Wahl des deutschen Königs herausgebildet hatte. Beide wurden von sieben Fürsten gewählt, die als Wahlberechtigte Anerkennung gefunden hatten. Das Mitspracherecht des Papstes bei der Wahl zum deutschen König lässt den Machtzuwachs erkennen, den er erreicht hatte, als er Alfons von Kastilien die Approbation verweigerte. Das Wahlgremium war allerdings auf deutsche Fürsten beschränkt, was zu einem späteren Zeitpunkt nicht ohne Folgen bleiben sollte. Die Zeit des Interregnums lehrt auch, dass für die Wahl zum deutschen König, im nationalen Sinne verstanden, ethnische Abkunft nicht zwingend war. Hatte das Interregnum und sein Verlauf in der Geschichtsschreibung kaum Spuren hinterlassen, die besondere Beachtung hervorgerufen hätten, so änderte sich das rund 260 Jahre später bei einer Wahl zum römisch-deutschen König. Die Wahl Kaiser Karls V. (1519-1556), 1519, die keiner päpstlichen Approbation oder Krönung bedurfte, und die vermittels finanzieller Zuwendungen durch Jakob Fugger „dem Reichen“ (1459-1525), der als überzeugendes Argument 800,000 Gulden für die Vertreter des Wahlgremiums fließen ließ und so die Wahl Karls V. begünstigte zum Nachteil des französischen Königs Franz I. (1494-1547), der sich ebenfalls um die Wahl zum römisch-deutschen König und damit auch zum Kaiser beworben hatte. Die Summe muss in Relation zu dem Zeitpunkt gesehen werden, in dem der Jahresverdienst eines Handwerkers 20 Gulden betrug. Der Frühkapitalismus hatte seine Flügel ausgebreitet, und die gesellschaftliche Entwicklung unter seine Fittiche genommen. Die Fugger galten zu dem Zeitpunkt als das reichste Handelshaus Europas. Karl V., obwohl aus dem Hause Habsburg, verstand sich als Spanier, an seinem Hof durfte nur spanisch gesprochen werden, woraus das geflügelte Wort hergeleitet wurde: „das kommt mir spanisch vor“.

Dieses Wahlverfahren wurde 1356 durch die „Goldene Bulle“, die Kaiser Karl IV. (1316-1378) verfügt hatte, Gesetz, erhielt, modern ausgedrückt, verfassungsrechtliche Gesetzeskraft. Wahlberechtigt waren als Vertreter der Geistlichkeit der Erzbischöfe von Trier, Köln und Mainz und als weltliche Kurfürsten der König von Böhmen, der Kurfürst von der Pfalz, von Sachsen und von Brandenburg. Von einer Approbation des Papstes ist in dem Gesetzeswerk nichts vermerkt. Die Wahlverfahren waren begleitet von Zahlungen und der Vergabe von Pfründen, die geleistet wurden, um die Zustimmung der geistlichen und weltlichen Stimmberechtigten zu erhalten. Mit dem Interregnum hatte der Zerfall des Heiligen Römischen Reiches in seiner Bedeutung begonnen, die es zuvor in der mittelalterlichen Geschichte gehabt hatte.

An der Haltung Karls V. 1519 ist die Abkehr vom universalen Staatsgedanken ersichtlich, dem in der mittelalterlichen Welt Vorrang eingeräumt worden war. 1521 richtete Martin Luther eine Schrift an den „Christlichen Adel ‚deutscher Nation‘“. In beiden Fällen kündigt sich der Einstieg in nationalstaatliches Denken an. Im Westen schufen sich Spanien, Frankreich, die Niederlande und Großbritannien Kolonialimperien, und im Osten dehnte sich das russische Zarenreich, nach Niederringung der Tatarenherrschaft im 15. Jahrhundert, bis an den Pazifik aus. Diese Imperien hatten, gewollt oder ungewollt, im Römischen Reich der Antike ein Vorbild, weshalb die Bezeichnung „Kolonien“ als zutreffend angesehen werden muss. Kolonialherrschaft, die sich in der Anfangsphase und auch später durch Sklavenhandel und Ausbeutung der Unterworfenen Territorien auszeichnete, was Augustin schon Jahrhunderte zuvor zu der Frage verleitete: Was sich Staaten anderes als Räuberbanden?“

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Bevor das Interregnum seinen Verlauf nahm, ereigneten sich noch einmal  Höhepunkte, die in Zusammenstößen unter den Kaisern Friedrich I. Barbarossa und Friedrich II. hervorragten, angesiedelt um das immer wieder ungeklärte Verhältnis zwischen Kaiser und Papst, zwischen weltlicher und geistlicher Macht, ob weltliche oder geistliche Herrschaftsform bestimmend sein sollte. 1160 war es zu einer Wahl zweier Päpste, einem kaiserlichen, Viktor IV. (1095-1164), und einem „päpstlichen“, Alexander III. (1100-1181), gekommen. Kämpfe und Kriege schlossen sich an, und im Süden, im Westen, im Norden und im Osten Europas, sah sich Friedrich Barbarossa allein gelassen mit den Herausforderungen. Es war bereits ein richtiger europäischer Konflikt. In Frankreich lagen sich 1162 die Heere des französischen Königs Ludwig VII. (1120-1180) und des englischen Königs Heinrich II. (1133-1189) und Friedrich Barbarossas gegenüber, aber zum Äußersten ist es nicht gekommen, da sollten bis 1914 noch einmal 752 Jahre vergehen. Es war die Zeit in der John of Salisbury (1115-1180) seinen berühmt gewordenen Satz sprach: „Quis Teutonicos constituit judices nationum?“ (Wer hat die Deutschen zum Richter über die Völker eingesetzt?)[354] In der von Deutschland ausgehenden Politik wurde ein Streben nach Vorherrschaft gesehen, der die europäische Welt überdrüssig geworden war. 1914 standen die am Krieg beteiligten „christlichen“ Nationen  nicht vor der Frage, ob Kaiser oder Papst dem Gott der Christen am Nächsten stünden, vielmehr hielten sich  verschiedene Nationen für die besseren Christen. Im Januar 1918 betete der amerikanische Präsident Woodrow Wilson öffentlich vor dem versammelten Kongress für die Vernichtung der deutschen Heeresmacht,[355] und in Deutschland wurde Martin Luthers Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“, das als Trost für Menschen im Glaubenskampf gedacht war, umfunktioniert in ein Kampflied nationaler Machtpolitik. Seit 1162 sind wieder 1754 Jahre vergangen, das legt den Gedanken nahe, ob es nicht reichlich an der Zeit ist, neue und andere Wege zu beschreiten.

Nach diesem Ausflug in ein Geflecht historischer Beziehungen, soll die Rückkehr zum Ursprung vorgenommen werden. Für die Herrscherpersönlichkeiten des Heiligen Römischen Reiches in seiner mittelalterlichen Phase, die sich als Kaiser in der Fortwirkung Karls des Großen verstanden, hat sich kein Shakespeare gefunden, der ihrer Tragik und Größe, ihre Gedankenwelt und Handlungen eingefangen und ihnen ein literarisches Denkmal gesetzt hätte. Die Schilderung ihrer Herrschaft ist begleitet von vier Schwerpunktthemen:

  • Die cluniazensische Kirchen-und Klosterreform.
  • Der Investiturstreit, indem Kaiser und Papst in einen Machtkampf gerieten.
  • Der Höhepunkt der Gegensätze unter den Stauferkaisern Friedrich I. und Friedrich II.
  • Die Theologie der Scholastik.

Die Karolinger, die ihren Namen zurückführten auf eben die Herrschaft Karls, zeigten nach dessen Tod schnell dieselben Verfallserscheinungen, die zuvor die Merowinger durchlebt und durchlitten hatten, bis die Kaiser aus sächsischen Hause die Erneuerung herbeiführten, und dem Reich dauerhaft eine Festigkeit verliehen.

Das Erbe Karls des Großen trat dessen einzig überlebend gebliebene Sohn Ludwig an, der zuvor als König von Aquitanien, im Südwesten des Frankenreiches gelegen, eingesetzt, und ab 813

[354] zitiert bei Reiners, Ludwig: Roman der Staatskunst. Leben und Leistung der Lords. München 1955. S. 457

[355] Congressional Record of the 2nd Session of the 55th Congress of the United States, vol.LVI. Washington 1918.  S. 761 f

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zum Mitkaiser ernannt worden war. Ludwigs Herrschaftsperiode folgt einer Einteilung in drei Phasen, beginnend mit einem Reformvorhaben, das die Jahre von 816 bis 821 ausfüllte. Das Hauptaugenmerk war auf Kirche, Klöster und Geistlichkeit gerichtet, wie es den Vorstellungen Alkuins entsprach, dem Entwurf eines Imperiums christianum (christliches Reich), das auch auf Augustin zurückgeführt werden kann, die beide ohne ihre besondere Erwähnung Pate gestanden haben, zu einem von Christentum und Kirche durchdrungenem Reich. Hierzu muss ein Aachener Gesetzgebungswerk hervorgehoben werden. Es enthielt die Anleitungen zur Kloster-und Klerikerreform, in der Mönche und Nonnen die Regeln des Benediktinerordens zur Pflicht gemacht wurden. Für die Kleriker galten andere Maßstäbe und Regelungen, mit denen eine organisatorische Vermischung der beiden Stränge christlichen und kirchlichen Lebens vermieden werden sollte. In Aachen wurden von 816 bis 821 vier Synoden abgehalten, die auch das Verhältnis von Königtum zu den kirchlichen Einrichtungen festlegte. Zudem wurden straffe auf Einheit gerichtete Standards geschaffen. Die Reichskirche erfuhr durch die Vereinheitlichung zur Organisation und Lebensführung eine Stärkung, womit zugleich eine Aufrechterhaltung der Reichseinheit beabsichtigt war. Ziel dieser Reformen war die völlige Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens durch Kirche, Klöster und Geistlichkeit. Das Reformpaket wurde insgeheim begleitet durch eine politische Regelung, die Ludwig I. nebenher betrieben hatte, in welcher für die Nach-und Erbfolge Bestimmungen festgeschrieben wurden. Die Erbansprüche der Söhne mussten darin zu Gunsten der Reichseinheit weichen.[356]  

Die Geschichtsschreibung hat die Herrscherpersönlichkeiten, die auf Karl dem Großen folgten keine ausführliche Betrachtung gewidmet. Die Zeit gilt als Zeit des Verfalls und Niederganges, des von Karl geschaffenen Großreiches. Diese Zeit, wie immer sie auch beurteilt werden mag, muss als Weichenstellung angesehen werden für die europäische Geschichte danach, wie die Herrschaft Karls selbst. Beide Gegensätze vereinigen sich zu einem historischen Entwicklungsprozess. König Ludwig I. erhielt den Beinamen „der Fromme“, wobei vielfach eher an Frömmelei gedacht wurde, weil in seiner Haltung eine übertriebene Frömmigkeit gesehen wurde, mit der die übrigen Staatsgeschäfte vernachlässigt wurden. Es hat aber auch ein Nachdenken eingesetzt unter den Historikern, die sich mit den Karolingern und dem Niedergang dieses Geschlechts befassten, indem manches Urteil einer differenzierteren Betrachtung Platz machte. Das große Stichwort seiner ersten Regierungsjahre kann mit dem Begriff Reform gekennzeichnet werden, und in der Geschichte des politischen Denkens hat seine Regierungszeit bedeutende unauslöschliche Spuren hinterlassen. Ludwig ging aus von einem transpersonalen, institutionellen Reich, dem aber die notwendige Einheit und Beständigkeit verloren ging. Die Einheitsidee blieb nur im Rahmen der Zerfallsprodukte erhalten: Dem fränkischen West-und Ostreich, aus denen in einem Jahrhunderte dauernden unheilvollen Konflikt Deutschland und Frankreich hervorgehen sollten.[357] Das Wort Frankreich hebt den Ursprung deutlicher hervor: Reich der Franken, mehr als das französische Wort: La France.

Ludwigs Regierung unterschied sich, seine Vorstellungswelt wurde beherrscht von dem Gedanken an das Imperium christianum, das er zu verwirklichen trachtete, die ausgerichtet war auf alle anderen Belange und Handlungen der Staatsführung, die in einer gelebten Christlichkeit ihre Erfüllung finden und darin aufgehen sollten. Das Bestreben lag darin, die Identität von Staatsmacht und dem ethischen Ausdruck des Evangeliums herbeizuführen. Allen voran musste

[356] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 361

[357] ebd. S. 361 ff

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der Herrscher gottgefällig leben und unter seiner Verantwortung ebenso Volk und Gesellschaft. Herrschaft ist ein Auftrag, mit dem vor Gott Rechenschaft abgelegt werden muss. Dem Regierungsamt war aufgetragen, beispielhaft und Leistungsorientiert zu wirken. Der Herrscher hat persönlich ein Amtsethos und einem damit verbundenen Pflichtbewusstsein zu leben und zu fordern. Das Volk wird darin nicht als jederzeit verfügbare Masse gesehen, es besitzt Rechte, die es in Anspruch nehmen kann. Die Gesamtkonzeption dieser Herrschaftsidee enthält die Grundsätze und Bestimmungen, denen sich auch der Herrscher selbst zu unterwerfen hat. Dieses auf ausschließlich christliche Ethik gegründete Herrschaftsverständnis musste zu einer engen Verbindung, angefangen vom Kaiser, den Fürsten, den Ordensleuten, der Geistlichkeit und den im Staate fungierenden Amtsträgern, staatlichen und kirchlichen Institutionen führen. Staat und Kirche waren in diesem Staatsverständnis zu einer Einheit und zu einem einheitlichen Handeln verpflichtet. Damit stand zugleich die Entscheidung an, wem das letzte Urteil zustand, der geistlichen oder der weltlichen Herrschaft. Ludwig räumte im Verlaufe seiner Regierung den Bischöfen nicht nur ein größeres Mitspracherecht in geistlichen Belangen ein, er gestand der Geistlichen Herrschaft eine überlegene Weisungsbefugnis zu. Ludwig sieht in seiner Herrschaft eine von Gott gestellte Aufgabe, die ihm eine erhöhte Verantwortung abverlangt, und in der Erfüllung dieser Aufgabe einen Gottesdienst. Er begann seine Regierung mit einer Reform des Hofes, sein Einzug 814 in Aachen ließ hierzu einen Eifer erkennen, seine Schwestern wurden wegen anstößigen Lebenswandels in ein Kloster verwiesen, und einflussreiche Vettern seines Vaters mussten in die Verbannung gehen. Rechtsgrundsätze erhielten in den genannten ersten Regierungsjahren schriftlich festgelegte Gesetzeskraft.[358] Viele der angesprochenen Maxime passen in moderne Staats-und Verfassungsentwürfe, die heute wie damals nur dann ein tragfähiges Staatsfundament hergeben, wenn bei allen Beteiligten der politische Wille zur Einhaltung vorhanden ist. Die beste Verfassung wird scheitern, wenn dieser Wille in Staat und Gesellschaft in ungenügendem Maße vorhanden oder gänzlich abhandengekommen ist. Missbrauch garantierter Freiheiten führt genauso zu politischen Irrwegen, wie Missbrauch der Autorität. Es gilt zu untersuchen und festzustellen, warum es Ludwig nicht gelungen ist, die hohen Ansprüche, gegründet auf christliche Wertvorstellungen, entsprechend zu verwirklichen. Sein Vater hatte das Reich in Kriegen, die fast die gesamte Zeit seiner Herrschaft in Anspruch nahmen, geschmiedet. Ludwig ist mit dem Versuch das Reich im christlichen Geiste zu konsolidieren gescheitert.

Ludwigs Reform beeindruckt nicht nur wegen des konsequenten und energischen Zugriffs. Ihr kann die Durchsetzung bleibender Lebens-und Verfassungsgrundlagen nachgesagt werden, die gleichermaßen für Mönchtum und Klerus gelten sollten. Die Reform muss ein wahrhaft imponierendes Werk genannt werden, das in wenigen Jahren erstellt wurde, und über die Epoche hinaus Bedeutung erlangen sollte.[359]

Neue Wege beschritt Ludwig der Fromme in der Privilegierung der Klöster und Bischofskirchen, mit der die Reichskirche überzogen wurde. Bischofskirchen und Klöster konnten sich bisher die Immunität geben lassen, die eine von staatlicher Gewalt anerkannte Eigenständigkeit einschloss. Neben der Immunität gab es ein Schutzversprechen. Ludwig vereinte die beiden Elemente Immunität und Schutz. Für die Bischofskirche war die Schutzunterstellung nicht nur etwas vollkommen Neues, sie bedeutete eine Verfassungsänderung und erweiterte Herrscherbefugnis. Die Reichskirche erhielt einen neuen

[358] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 363 f

[359] ebd. 368

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Status. Der Charakter des Schutzes war von Ludwig nicht als Herrschaft und Besitz gedacht, er wollte diesen Schutz als Fürsorge verstanden wissen. Mit der Schutzfunktion waren nicht die Absicht und das Recht der Bischofs-und Abteinsetzung verbunden, wie es zuvor gehandhabt worden war. Ludwig gewährte das Recht auf freie Wahl, für das er sich allerdings das Recht auf Bestätigung vorbehielt, das dazu die Forderung nach Treue zum Inhalt hatte. Den Kirchen und Klöstern wurden neben den zugestandenen Privilegien genaue Verpflichtungen gegenüber Kaiser und Reich auferlegt. Für die Bischöfe und Äbte wurden die seit Karl dem Großen üblichen Dienste fortgesetzt, was auch den Kriegsdienst einschloss. Den Klöstern oblag es, Gebete für den Herrscher und seine Familie sowie für das ganze Reich zu entrichten. 828 wurde der Abtei Fulda anlässlich eines Feldzuges gegen die Bulgaren auferlegt, tausend Messen zu lesen und ebenso viele Psalter zu rezitieren.[360]

Das Reich blieb auch zur Zeit Ludwigs des Frommen darauf angewiesen, den großen umfangreichen Besitz der Herrschaftsbereiche und Territorien der Kirchen und Klöster für den Kriegsdienst zu nutzen. Die militärische Vormachtstellung der karolingischen und später, bis zum Investiturstreit, der deutschen Könige in Europa, beruhte vorwiegend auf dem Aufgebot der kirchlichen Vasallen, die zeitweise bis zu zwei Dritteln oder gar drei Viertel der Heeresmacht ausmachte.[361]

In einer Admonitio generalis (allgemeine Ermahnung) von 789 wurden Bischofskapitularien erlassen. Kapitularien wurden in der Hofkapelle ausgefertigt und enthielten gesetzliche Bestimmungen zu Rechtsprechung und Verwaltung sowie in militärischen, kirchlichen und kulturellen Angelegenheiten. Sie waren schriftlich niedergelegt und im mittelalterlichen Latein gehalten, ihre Einteilung in Kapiteln gab ihnen den Namen. Der Ausdruck Kapitularien bezeichnet in der Rechtsgeschichte hoheitliche Anordnungen im Sinne von Gesetzen vor allem in der Zeit der Karolinger, besonders aber unter Karl dem Großen. Die Reform sollte möglichst breit greifen, das gesamte Volk sollte erfasst werden. Bischöfen und Kirchen war die Aufgabe zugedacht und sie zu einer Mitarbeit aufgerufen. Der Aufruf hat überaus breite Allgemeinwirkung erzielt, ganz im Stil der Admonitio (Ermahnung) und weitere gleichartiger Kapitularien begannen die Bischöfe hauptsächlich auf Synoden für ihre Diözesen Reformkapitularien zu veröffentlichen. Etwa fünfzig solcher Kapitularien sind erhalten, die fast alle aus dem 9. Jahrhundert stammen. Sie dienten dem Zweck, die von Karl angestoßene und von Ludwig verstärkt fortgesetzte Kirchenreform ins Volk zu tragen, um dabei auch die letzte Pfarrei zu erfassen. Aus der Kenntnis dieser Kapitularien wird ersichtlich, wie die Kirchenbasis damit angesprochen und erreicht wurde. Der Inhalt ist vielfältig, wie nur ein Pfarrerleben vielfältig sein kann, und trägt bestimmte immer wiederkehrende zeitübliche Züge.[362]

Ludwig konnte in seiner Reform vielfach bereits an das vom Vater Begonnene anknüpfen und weiterführen. Der Seelsorgeklerus wird dazu gedrängt, sich der „kanonischen“ Lebensform zu unterwerfen. Der Pflichtenkatalog, den ein Weihekandidat zu beschwören hat, wird folgendermaßen umrissen:

„Im Angesicht von Bischof, Klerus und Volk soll er folgendes versprechen: Dass er das Gebet des Herrn und das Credo versteht, dass er das Glaubensbekenntnis, sowohl das, was Athanasius, als auch das, was die anderen Väter zusammengestellt haben, ganz kennt und in beiden das Volk richtig belehrt, dass er die heiligen Schriften täglich liest und das Volk entsprechend

[360] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 368 f

[361] ebd. zitiert nach F. Prinz. S. 369

[362] ebd. 369 f

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belehrt, dass er eifrig in der ständigen Lesung ist, dass er die geschlechtliche Unberührtheit einhält, dass er Frauen weder in seinem Hause wohnen lässt noch ihre Besuche gestattet, dass er immer Zeugen bei sich hat, die Auskunft über seinen Lebenswandelwandel geben können, dass er gebefreudig, gastlich, bescheiden, gütig, barmherzig, großzügig und kirchlich ist, dass er predigt, auch Kranke und Bedrückte besucht; weiter, dass er nicht unterlässt, zu den geistlichen Zeiten die Kirche aufzusuchen, und zwar bei den Gebetszeiten in der Nacht, am Morgen, zur Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet, und diese Gebetszeiten, soweit möglich, zusammen mit frommen Priestern verrichtet“[363]

Es ist ersichtlich, wie sich die kanonische Lebensform sich der monastischen Lebensweise anpasst. In der bischöflichen Gesetzgebung begegnet den Menschen der Alltage des Pfarrlebens, jedoch aus dem Blickwinkel der Anweisungen, die sich auf eine kirchliche und weltlich-staatliche Hierarchie gründen, dogmatische Grundsätze werden ausgeklammert, Pfarrseelsorge und die Pflichten, die dem Klerus und dem Volk auferlegt worden sind, bilden das Hauptanliegen. Breiter Raum wird der Buße eingeräumt. Täglich sollten die Gläubigen, so wird gemahnt, vor Gott beichten und wenigstens einmal im Jahr auch vor dem Priester in den Tagen vor Beginn der Fastenzeit. Der Pfarrer hat eine gerechte Buße aufzuerlegen, zugleich aber dem Beichtenden behilflich zu sein, sowohl beim Bekenntnis wie bei der Abbüßung. Karls des Großen Admonitio generalis hatte sich in Fragen der Ehe unmissverständlich festgelegt. Eine Wiederverheiratung war verboten, solange noch der Partner lebte. Einhard, Karls Hofbiograph, berichtet, Karl habe vier Frauen und vier Konkubinen gehabt, wenn auch nicht in gleichzeitiger Polygamie. Das Bewusstsein von Ehe hatte sich gegenüber der Merowingerzeit strengeren Regeln unterworfen. Adelhard begegnete seinem königlichen Vetter mit Vorwürfen und Anklagen, weil die ihm angetraute königliche Langobarden-Tochter kurz entschlossen verstieß. Das Beispiel zeigt, wie sich Adel geistliche und weltliche Obrigkeiten Sonderechte anmaßten und beanspruchten, und die strengen Regeln, die sie dem Kirchenvolk auferlegt hatten, zu umgehen trachteten, je mehr dies in der Kirchengeschichte einriss, umso mehr musste das System insgesamt seine Glaubwürdigkeit einbüßen. Ein Grundsatz blieb weitgehend festgefügt: Erbe konnten nur die Nachkommen in Anspruch nehmen, die aus einer legitimen Ehe hervorgegangen waren.[364] Nachdem sich Christentum und Kirche im Kern des Reiches konsolidiert hatte, ersteckte sich die Missionsarbeit nach Norden in die skandinavischen Länder und auf dem Balkan nach Ungarn und Bulgarien.

Nicht allein im kirchlichen Bereich bewies Ludwig Reformeifer, er vollzog auch für die Zukunft des Reiches einen ungewöhnlichen Schritt, der im Gegensatz stand zur bisherigen karolingischen Tradition. 817 wurde mit der Ordinatio imperii eine Regelung zur Nachfolge festgelegt. Zwei Grundsätze sollten darin vereint werden, die der fränkischen Tradition entgegenstanden. Nach fränkischem Recht war das Reich teilbar, nach römischem und kirchlichem Recht musste die Einheit gewahrt bleiben. Die Wahrung der Einheit war dem ältesten Sohn Lothar zugedacht, der damit auch als Kaiser die oberste Regierungsgewalt erhielt. Die jüngeren Söhne Ludwig und Pippin wurden Bayern und Aquitanien als Herrschaftsbereich zugeteilt, waren aber ihrem Bruder untergeordnet. Weitere Teilungen sollten für die Zukunft ausgeschlossen sein. Das Reich galt wie die Kirche als Einheit, und durfte mit Rücksicht auf die Nachkommen nicht geteilt werden. Die Entwürfe Karls des Großen sahen die Teilung unter die Erbberechtigen Nachkommen vor, das änderte Ludwig, in seiner Gesetzgebung hatte die

[363] zitiert bei Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 370

[364] S. 370 ff

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Wahrung der Reichseinheit den Vorrang.[365] Die Reform wurde über den kirchlichen Bereich hinaus weitergeführt durch die Kapitulariengesetzgebung. Für die Abfassung, Registrierung und Aufbewahrung authentischer Exemplare am Hof wurde große Sorgfalt aufgewandt. Inhaltlich wurden die Reformen Karls fortgesetzt, sowohl was die Rechtssicherung betraf, worin auch ein Schutz der Armen und Schwachen vorgesehen war. Für Arme und Schwache sollten mögliche Prozesse Vorrang haben. Ein Höhepunkt wurde erreicht mit einer Eindämmung der Gottesurteile, Karl hatte noch auf ihre Anerkennung bestanden. Ludwig nahm hier eine Einschränkung vor, manche Formen wurden ganz verboten, und Zweikämpfe wurden nur noch mit Stock und Schild erlaubt, auch das Prozessverfahren sollte durch die Aufbietung gut beleumdeter Zeugen verbessert werden. Ein Eingriff erfolgte auch in die Stammesrechte, in denen in der Zeit zwischen 816 bis 820 wurde in den Kapitularien eine Anzahl von Korrekturen vorgenommen.[366]

Mit dem Tod Leo III. 816 stand zum ersten Mal nach der Begründung des abendländischen Kaisertums eine Papstwahl an. Der neugewählte Papst Stephan IV. (816-817) kehrte nicht zum alten, päpstlicherseits bis ins 8. Jahrhundert eingehaltenen byzantinischen Kaiserrecht zurück, wonach  vor der Weihe die kaiserliche Zustimmung einzuholen war. Stephan begnügte sich mit der Anzeige seiner Erhebung, ließ aber die Römer auf Ludwig vereidigen und fand sich im Oktober in Reims ein. Mitgebracht hatte er die „Krone Konstantins“, mit der er den Kaiser bei gleichzeitiger Salbung krönte; als konstitutiv ist dieser Akt nicht aufgefasst worden. Absprachen über das künftige Verhältnis, führten zum „Pactum Hludowicianum“ (Ludwigspakt) von 817, die eine freie Wahl des Papsttums garantierte, die erst nach dessen Weihe anzuzeigen war, ferner wurde der päpstlichen Administration in Verwaltung und Justiz eine innere Autonomie zugesprochen, über die der Kaiser allerdings die letzte Oberhoheit behielt, in Fällen von Gewaltanwendung oder Unterdrückung durch örtliche Machthaber.[367]

Die 817 erlassene Ordinatio imperii stellte in der fränkischen Geschichte etwas gänzlich Neues dar, bewertete sie doch die Einheit des Reiches höher als das Erbrecht der Königssöhne. Diese Auffassung beruhte auf der Idee des „corpus christianorrum“, der als Leib Christi verstandenen Einheit und wurde theologisch untermauert. Ludwigs Berater aus der ersten reformerischen Phase, in der die Ordinatio erlassen worden war, waren ohne Ausnahme Anhänger dieser Staatskonzeption.[368]

Als 828 an den Reichsgrenzen Rückschläge zu verzeichnen waren, trat Wala mit einer großen Reformschrift hervor. Wala (780-836), gewann als Vetter Karls und vormaliges Mitglied des Hofrates unter Ludwig bedeutenden Einfluss. Im Winter 828/829 äußerte er sich über die   Missstände im Reich, die sich unheilvoll auswirkten und ein beträchtliches Ausmaß angenommen hätten. Der Hof, so Wala, werde zu lässig geführt, und sei zu nachlässig gegen Pfründenjäger, der Klerus trage Schuld an mangelhafter Seelsorge und Disziplin, die Großen des Reiches, weil  ständig in Korruption und Fehden verstrickt, seien ebenso anzuklagen. Der Kaiser, an dem die  Stabilität des ganzen Reiches hänge, müsse mehr Tatkraft für Recht und Glauben, mehr Sorge für eine bessere Auswahl der Amtsträger zeigen, doch dürfe sich kein

[365] Angenendt, Arnold: S. 374 f

[366] ebd. S. 375

[367] ebd. S. 378

[368] ebd. S. 379

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Herrscher zum Herrn der Kirche machen, sonst vergrößere er nur die verderbliche Mischung von Geistlichem und Weltlichem.[369]

Ludwig nahm die Besserung der Zustände in Angriff, ein dreitägiges Fasten mit allgemeiner Gewissenserforschung wurde ausgerufen, sodann wöchentliche Gerichtssitzungen am Hof, Erkundung aller Missstände im Reich und für Pfingsten 819 vier große Reformsynoden, allein von der Pariser Synode sind Akten überliefert. Gemäß den Konzilsbeschlüssen bildete die Kirche einen einzigen Leib, in dem der himmlische König und Herrscher Jesus Christus das Haupt ist. Die Leitung wird auf Erden stellvertretend wahrgenommen. Die Stellvertretung gliedert sich in zwei im Haupt Christus vereinten Ämtern, Königtum und Priestertum, deren Inhaber als Könige und Bischöfe als Vikare Christi gelten. Zur Stellvertretung gibt es eine Aussage im christlichen Kanon der Heiligen Schrift im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth im 2. Korinther, Kapitel 5, Vers 20: So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott. Die Pariser Synode unternahm den Versuch, die Kompetenz der beiden Leitungsgewalten innerhalb des Corpus Christianum gegeneinander abzugrenzen und griff dabei auf die Zwei-Gewalten-Lehre des Papstes Gelasius I. (492-496) zurück, die antike Voraussetzungen zur Grundlage hatte, und von unterschiedlich gearteten Bereichen her dachte: Von einem weltlichen Staat und einer geistlichen Kirche. Im Blick auf das moderne Staatsverständnis muss darauf hingewiesen werden, dass hier nicht an säkularem Staat und geistlicher Kirche gedacht wird. Es stehen nicht zwei Größen nebeneinander, es gibt in Wahrheit nur einen einzigen Corpus (Leib) Christi mit zwei Leitungsgewalten. Gemäß diesen Grundsätzen wurde das Reformprogramm aufgestellt mit klarer Scheidung der Kompetenzen und Verdrängung der Laiengewalt aus dem innerkirchlichen Bereich.[370]

Als Ludwig die Desiderate der Reformkonzilien auf einer Herbstversammlung in Worms vorgelegt wurden, hielt er ein anderes Programm für wichtiger, Er hatte insgeheim den Entschluss gefasst, die 817 von ihm selbst erlassene Ordinatio imperii zu unterlaufen. Aus seiner zweiten Ehe war ihm 823 ein Sohn geboren worden, der den Namen Karl erhielt. Von da an verfolgte Ludwig 829 den Plan einer Reichsteilung, um seinem Sohn Karl aus zweiter Ehe einen Anteil am Reich zu sichern. Das Vorhaben stieß auf Widerstand und führte zu einem Aufstand, der seine Herrschaft gefährdete und an der sie schließlich zerbrach. Einflussreiche Kreise des Hofes, die eine Teilung des Reiches verhindern wollten, erreichten staatsstreichartig die Einsetzung des ältesten Sohnes Lothar als Herrscher und erzwangen 830 von Ludwig des Einhaltung des 817 beschlossenen Gesetzeswerkes, das die Teilung des Reiches unmöglich machen sollte. Der innerdynastische Machtkampf erreichte seinen Höhepunkt in militärischen Auseinandersetzungen, in denen Ludwigs Söhne gegen den Vater standen, die aber keine wirkliche Entscheidung brachten. 833/834 wurde Ludwig für abgesetzt erklärt, während der Kämpfe, in denen die Fronten mehrfach wechselten, erlangte keine der beiden Seiten die Oberhand. Ludwig hatte die reformerisch gesonnenen Vertreter des Hofes, die der Reichseinheit zuneigten und seinem Sohn Lothar folgten gegen sich, dennoch gelang es ihm bis zu seinem Tode 840, sich als Kaiser zu behaupten. Die Söhne Ludwigs, Pippin und Ludwig, hatten zuvor Aquitanien und Bayern zu ihrem Herrschaftsbereich erhalten. 838 starb Pippin von Aquitannien, worauf der Sohn Karl aus zweiter Ehe, die eigentliche Ursache des Erbschaftsstreites, Aquitanien als Herrschaftsgebiet zugeteilt erhielt, womit die

[369] zitiert bei Angenendt, Arnold: S. 380

[370] Angenendt, Arnold: S. 381

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Teilungspartei einen wichtigen Erfolg verbuchen konnte. Als 840 Kaiser Ludwig starb, erhob der Sohn im Sinne der festgelegten Nachfolgeregelung von 817 Anspruch auf die vollen Rechte als Kaiser, dem sich seine Brüder widersetzten, 841 kam es zu einer Schlacht, in der Ludwig militärisch unterlag. Allen Zeitgenossen galt diese Schlacht als verabscheuungswürdiges Blutvergießen unter Brüdern und Christen.[371] Das Ergebnis dieses militärischen Schlagabtausches wurde ganz im Sinne der Zeit als Gottesurteil angesehen. Die Niederlage Lothars I. (795-855) mit seinem Kaiseranspruch war Auslöser der Teilung des Reiches, die 843 durch den Teilungsvertrag von Verdun vollzogen wurde. Lothar als Kaiser erhielt einen von der Nordsee bis nach Italien und Rom verlaufenden Streifen, Ludwig, der mit dem Beinamen „der Deutsche“ (806-876) ausgezeichnet wurde erhielt „Ostfranken“  und Karl II., nun mit Zunamen „der Kahle“ (823-877) benannt, „Westfranken“ zum Königreich von 875 bis 877 war er König von Italien und römischer Kaiser.[372] Mehr als tausend Jahre später sollte Verdun 1916 im Ersten Weltkrieg traurige Berühmtheit erlangen. In einer zehnmonatigen Schlacht mit Verlusten von insgesamt mehr als 700.000 Soldaten, darunter mehr als 300.000 Toten auf beiden Seiten, alles für einige Kilometer Geländegewinn.

Die Gründe für das Zerbrechen des von Karl dem Großen errichteten Großreiches sind oft seinem Sohn und Nachfolger Ludwig angelastet worden. Es habe ihm an der nötigen Tat-und Entschlusskraft gefehlt, und war so den am Hofe herrschenden Schwankungen seiner Berater erlegen. Hinzu kam eine Frömmigkeit, die ihn von einer diesseits gerichteten Wirklichkeit entfernte. Eine andere Sicht vermittelt das Bild, das ihn als Herrscher darstellt, der ganz einem christlichen Weltbild anhing, von dem, nach seiner Vorstellung, das Reich durchdrungen sein sollte, wie es in einem umfangreichen Gesetzeswerk zum Ausdruck kommt. Die christlichen Ideale als Zielsetzung darin ist er selber aber in entscheidenden Punkten untreu geworden, was nicht zuletzt als Auslöser allen Unheils, das daraus folgte, angesehen werden muss.[373]

Weitere Teilungen beschleunigten den Verfall der Karolingerherrschaft. Als entschiedener Verfechter der Reichseinheit wandte sich Kaiser Lothar I. dem Teilungsgedanken zu. In Italien regierte sein Sohn Ludwig (844-875), der als Ludwig II. (844-875) zum Kaiser erhoben wurde. Das Verwirrspiel nahm kein Ende und führte zu einer erneuten Dreiteilung. Ostfranken wurde in eine Nord-und Südhälfte geteilt, Ludwig der Deutsche erhielt das ostfränkische Gebiet nördlich der Alpen, sein Sohn Italien mit Teilen von Burgund, für Karl dem Kahlen  verblieb Westfranken. Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle gaben sich der Hoffnung hin, nach dem Ableben Lothars, Teile seines Reiches zu „erwerben“. Der mittlere „Streifen“, ehemals in Gänze Kaiser Lothars Reich, war bereits in ost-oder westfränkische Hände übergegangen. Karl III. mit Beinamen „der Dicke“ (839-888) war der letzte karolingische Kaiser, dem es von 881 bis 888 gelang, das Reich, einschließlich Ost-und Westfranken,  nach Krönung in Rom zum Kaiser, unter seiner Herrschaft zu vereinen. Zur dreifachen Zahlenfolge der acht, lässt sich nach genau tausend Jahren eine Linie ziehen zum Jahr 1888, dem Dreikaiserjahr, in dem nach dem Tod Kaiser Wilhelm I. und seines Sohnes Kaiser Friedrich I., Kaiser Wilhelm II. folgte. Ludwig IV. (893-911), mit Beinamen „das Kind“, war der einzige legitime Erbe Kaiser Arnulfs von Kärnten (850-899). Er verstarb bereit 911 im Alter von 18 Jahren. Mit seinem Ende erlosch auch die ostfränkische Linie der Karolinger, und der Frankenherzog Konrad wurde als Konrad I. (881-918) zum deutschen König gewählt. Das Ende der Karolinger war auch der erste westeuropäische Selbstzerfleischungsprozess, der mit dem Ende Karls des Großen seinen

[371] Angenendt, Arnold: S. 381

[372] ebd. S. 382 f

[373] ebd. S. 384

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Anfang nahm, er sollte in der nachfolgenden europäischen Geschichte bei Weitem nicht der letzte sein. Mit den Zersetzungserscheinungen, die das Innere des Reiches erfasst hatten, trat eine äußere Bedrohung hinzu, die eine Abwehr erschwerten, und das Vertrauen in den Bestand des Reiches ins Wanken brachten. Bereits Karl der Große musste einen Küstenschutz organisieren, um die Nor(d)mannen, die skandinavischen Wikinger, am Vordringen ins Landesinnere zu verhindern. Für die Franken war die Kampfesweise der Wikinger, die sich auf einen maritimen Flottenverband stützten, ungewohnt und unbekannt. Die eigentliche Normannennot begann in den 30er Jahren des 9, Jahrhunderts, Küstenorte und Hafenplätze wurden durch jährlich wiederkehrende Überfälle der Wikinger gebrandschatzt und ausgeplündert, sowohl auf den britannischen Inseln wie auf dem Kontinent, an den entsprechenden Orten lebten die Menschen in Angst und ständiger Bedrohung. 845 wurde Hamburg ausgeraubt und zerstört. Beliebte Ziele waren die Küsten und Flussläufe des Westfrankenreiches, insbesondere die Mündungen von Rhein, Schelde, Seine und Loire. In den 40er Jahren errichteten sie feste Plätze und drangen von dort ins Landesinnere ein, bis nach Paris, Nantes und Bordeaux, Städte und Abteien wurden des Öfteren mehrere Male geplündert und nicht selten eingeäschert. Nach 865 fiel England bis auf Wessex in ihre Hand, und sie errichteten dort eigenständige Reiche. Erst Alfred der Große (871-900) vermochte ihnen Einhalt zu gebieten, wodurch sich der Druck auf den Kontinent erhöhte. Über Schelde, Maas und Rhein drangen sie nach 879 tief in das Innere des Reiches der Karolinger vor, bis nach Lüttich, Aachen, Köln, Trier und Koblenz. Sie umrundeten die Küsten der iberischen Halbinsel und erreichten südfranzösische und norditalienische Küstenregionen.

Im europäischen Süden erhob sich zu gleicher Zeit eine nicht minder große Gefahr. Ende der 20er Jahre begannen die Sarazenen Sizilien und Süditalien zu erobern, 831 fiel Palermo. Von Bari und Tarent aus gelangten sie weiter nach Salerno, Capua und Neapel. 846 liefen ihre Schiffe zum ersten Mal in die Tibermündung ein, und die außerhalb der römischen Mauern liegenden Peters-und Paulbasiliken wurden geplündert. Papst Leo IV. (847-855) ließ den Vatikan mit Mauern umgeben, so konnte 849 ein weiterer Angriff abgewehrt werden. Monte Cassino wurde 882 zerstört. Im gleichen Zeitraum drangen die Sarazenen in die Rhonemündung ein, errichteten dort Stützpunkte, und vermochten zeitweilig sogar Alpenpässe zu beherrschen, von wo aus sie einmal bis nach St. Gallen, einem Zentrum christlichen Kultur, vordrangen. Die Kontrolle der Alpenpässe war geeignet, den Verkehr nach dem geistlichen Rom zu gefährden.

Das Heilige Römische Reich war geradezu eingekreist und hatte den überfallartigen Angriffen wenig entgegenzusetzen. Wie vom Westen und Süden die Wikinger und vom Süden die Sarazenen, so verunsicherten vom Osten her die Ungarn das Reich. Ihre Einfälle und Raubzüge erstrecken sich bis weithinein in ostfränkisches Gebiet; es gelang ihnen zeitweise bis ins westfränkische Reich vorzudringen und bis tief nach Süden in die italienische Halbinsel.[376] 

Als im Jahre 911 der letzte ostfränkische Karolinger, Ludwig das Kind, inmitten unsäglicher Wirren und Bedrohungen von innen und außen, die das Reich heimgesucht hatten, verstarb, wurde der Frankenherzog Konrad von ostfränkischen Herzögen zum König gewählt. Noch vor einem Menschenalter hatten die Westfranken in einem ähnlichen Falle den ostfränkischen Karolinger, Karl den Dicken, dem Sohn Ludwigs des Deutschen, auf den Thron erhoben. Mit dem Ableben Ludwigs IV. dachte in Ostfranken niemand daran, einem westfränkischen Herrscher die Krone anzutragen, ein Schritt, der die endgültige Trennung von Ost-und Westfranken nach sich zog. Für die Wahl Konrads I. war die Wahl mit den letzten beiden

[374] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter

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Herrschern Arnulf und Ludwig maßgebend. Er war Herzog der Franken, dem Stammlande der bisherigen Dynastie und somit des angesehensten Herzogtums, ferner, dass er dem Episkopat, dem Träger der Idee von der Reichseinheit als der geeignete Mann erschien. Bezeichnender Weise konnten an der Wahl Konrads westfränkische Herzöge nicht teilnehmen, womit ein weiterer Grund zur Festigung der Teilung gegeben war, der zusätzlich angefacht wurde durch den Abfall Lothringens von Ostfranken. In zwei Kriegszügen versuchte Konrad I. vergeblich den Verlauf des Geschehens rückgängig zu machen, und Lothringen wieder mit Ostfranken zu vereinen, damit  begann ein unheilvoller langer Weg durch die europäische Geschichte, der immer noch seine Spuren hinterlässt. Konrad I. war in ständigen Kämpfen mit den Herzögen seines Reiches verwickelt, die so weit als möglich eine Unabhängigkeit von der Krone bewahren wollten. Kaiser Konrad I. starb im Dezember 918, ohne einen Nachfolger zu hinterlassen. Vor seinem Tode wartete er mit dem Vorschlag auf, nicht seinen Bruder Eberhard zum Nachfolger zu bestimmen und zu wählen, sondern Heinrich von Sachsen, der sein entschiedenster Gegner gewesen war. Er entsandte vor seinem zeitlichen Ende seinen Bruder Eberhard zu Herzog Heinrich mit den dazugehörigen Insignien, um ihn die Krone anzutragen. Heinrich I. wurde 919 in Fritzlar von Franken und Sachsen zum König gewählt. Die Tat Konrads I. und seines Bruders Eberhard ist als selbstlos und als staatsmännische Leistung gewertet worden, sie hatten in der Einschätzung der Machtverhältnisse eine Wahl getroffen, in der die persönlichen Belange dem Nutzen des Reiches untergeordnet wurden.[375] Mit der Wahl Heinrichs I. zum König begann die Zeit der Könige und Kaiser aus dem sächsischen Hause, sie festigten das Reich und führten es zurück zu alter Größe und Bedeutung. Die Einheit, jedoch, wie sie unter Karl dem Großen herbeigeführt worden war, konnten auch sie nicht wieder herstellen. König Heinrich I. gelang es, Lothringen für das Ostfrankenreich zurückzugewinnen. Ein Vorgang, der sich in mehr als tausend Jahren in Zeitabständen wechselseitig wiederholen sollte.

Die Regierungszeit Heinrichs I. (919-936) kann als eine Phase der Konsolidierung angesehen werden, nachdem es durch die Karolinger als Nachfahren Karls des Großen eine Schwächeperiode zu überstehen hatte. Mit Otto I. dem Großen (936-973) begann somit eine erneute Erneuerung des Heiligen Römischen Reiches. Otto ist in der Historiographie die Stellung als Begründer eines deutschen Reiches zuerkannt worden. Es wäre aber verfehlt ihn auch als Begründer eines deutschen Nationalstaates darzustellen, wie es im 19. Jahrhundert geschehen ist, wo der Nationalstaatsgedanke in das Reich Ottos I. hineininterpretiert worden ist, davon war das Reich Ottos I. weit entfernt. Der universale Staatsgedanke, wie er unter Karl dem Großen bestanden hatte und zielstrebig ausgebaut worden war, ließ sich nicht wiederherstellen. Die auseinanderstrebenden politischen Mächte und Kräfte ließen die Ausbildung eines politischen Willens dazu nicht in genügendem Ausmaß anwachsen, eher war das Bestreben eine beherrschende Stellung einzunehmen erkennbar, verbunden mit einem Hegemonieanspruch, der die Gegensätze im Laufe der Zeit beflügelte.

Das Heilige Römische Reich ist ein Herzstück europäischer historischer Erfahrung. eine Geschichte, die deutlich macht, wie sich der Kontinent entwickelte in dem Zeitraum zwischen dem frühen Mittelalter und dem 19. Jahrhundert. Mit dem Aufkommen europäischer Nationalstaaten, die vermehrt ein Eigenleben herausbildeten, insbesondere in Kultur und noch mehr in den verschiedenen Sprachen, die das Lateinische in den Hintergrund treten ließen, wurde die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches verdunkelt. Dieses

[375] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. Nach zeitgenössischen Quellen. Leipzig 1924. S. 54 f

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Imperium, das seinen Namen auf das Römische Imperium der Antike zurückführte, hat in seiner Grundkonzeption die Dauer des antiken Römischen Imperiums überflügelt, und umfasste große Teile des europäischen Kontinents. In Erweiterung des gegenwärtigen Deutschlands schloss es heutige Moderne Staaten oder Teile davon ein. In Erweiterung des gegenwärtigen Deutschlands schloss es heutige moderne Staaten oder Teile davon ein wie Österreich, Belgien, Tschechische Republik, Dänemark, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Polen und die Schweiz. Andere Staaten standen in einer Verbindung wie Ungarn, Spanien und Schweden oder waren in die Geschichte einbezogen in einer Weise, der später keine Bedeutung beigemessen wurde wie England, das mit Richard von Cornwall (1257-1272) einen deutschen König stellte. Als fundamental erwiesen sich die ost-west oder nord-süd Spannungen in Europa, die sich mit dem Kernstaat zwischen Rhein, Elbe, Oder und den Alpen überschnitten. Diese Spannungen spiegelten sich wider in den fließenden Grenzen und dem Patchworkcharakter seiner inneren Unterteilungen. In aller Kürze, die Geschichte dieses Imperiums ist nicht nur Teil einer Anzahl nationaler Staaten mit ihrer Geschichte, sondern liegt im Herzen der allgemeinen Geschichte des Kontinents.[376]

Das Vorhergesagte ist nicht vergleichbar mit der üblichen Darstellung der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches. James Madison, Präsident der Vereinigten Staaten von 1809 bis 1817, war maßgeblich an der Abfassung der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika beteiligt, die im September 1787, nach dem gewonnenen Unabhängigkeitskrieg von 1776 bis 1783 gegen Großbritannien, in Kraft trat. Er untersuchte die europäische Geschichte der Vergangenheit und der entsprechenden Gegenwart, um daraus Erkenntnisse zu schöpfen. In einer Rückschau auf das Heilige Römische Reich, das zur Zeit des von ihm konzipierten Verfassungsentwurfes 1787 formal noch bestand, kam er zu dem Schluss, dieses Imperium sei ein Leib ohne Nerven, unfähig, die Mitglieder dieses Reiches in einer Regierung zusammenzufassen und zur Regelung seiner inneren und äußeren Belange, eine Einheit herbeizuführen, ohne die ein Staatsgebilde keinen Bestand haben kann. Dieses Reich war nicht in der Verfassung, einer Bedrohung von außen zu begegnen, und damit für seine Sicherheit aufzukommen. Seine Innereien hatten kein funktionsfähiges Immunsystem zur Verfügung, um den Körper vor Krankheiten zu schützen. Es bestand aus einem Katalog der Liederlichkeit seiner Großen und der Unterdrückung der Schwachen, aus einer allgemeinen Albernheit, Verwirrung und des Elends. Nach dieser verächtlichen Einschätzung sah Madison nur ein abschreckendes Beispiel einer Verfassungsordnung, die ihn bewog, andere Entwürfe zu bevorzugen. Die Vereinigten Staaten gelangten zu einem Verfassungsaufbau mit föderativen Grundsätzen, der dennoch einen straff geführten einheitlichen Staat begründete. Der amerikanische Präsident hat eine verfassungsrechtlich abgesicherte Machtvollkommenheit, wie sie die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, des Ersten Kaiserreiches, ja nicht einmal die Kaiser des Zweiten Reiches besessen haben. Die Kaiser des Zweiten Reiches konnten zwar den Reichskanzler ernennen und entlassen, ohne das Parlament, den Reichstag, zu befragen, um seine Zustimmung einzuholen. Ein Kaiser konnte dennoch nicht am Reichstag vorbeiregieren, der aufgrund des Wahlrechtes demokratisch legitimiert war. Kaiser Wilhelm II. hat solche Versuche unternommen und ist gescheitert, wobei der Reichstag solchen Versuchen mit einer schwachen Vorstellung begegnet ist. Kein Verfassungsorgan des Zweiten Reiches konnte am Reichstag vorbeiregieren. Der Reichskanzler war parteiunabhängig und musste sich die Mehrheiten über die Parteigrenzen hinweg suchen, denn der Reichstag verfügte

[376] Wilson, Peter H.: The Holy Roman Empire. A Thousend Years of Europe's History. First published 2016. Printed in Great Britain ba Clays Ltd. St. Ives plc. S. 1 f

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verfassungsrechtlich über das Gesetzgebungs-und Budgetrecht. Die Vereinigten Staaten können mit einer besonderen historischen Leistung aufwarten, sie haben aus den verschiedenen in der Hauptsache europäischen Nationalitäten, die nach Amerika eingewandert sind, eine Nation geformt mit einem stark ausgeprägten Selbstbewusstsein. Diese historische Tatsache hat die Frage entstehen lassen, ob die Vereinigten Staaten als Modellfall für ein Vereintes Europa gelten könnten. Ein solches Modell wäre politisch nicht zu realisieren, es stieße nicht nur auf den Widerstand der vielen verschiedenen Nationalitäten, es würde auch seine kulturelle und historischen Vielfalt einebnen, und zu einer geistigen Verarmung führen.

Die unten gezeigte Karte belegt das weiter oben gesagte.[377] Das Imperium war geradezu eingekreist. Eine historische Feststellung, die getroffen werden kann, die sich fortgesetzt hat, und die bestimmend wurde für die Geschichte seines Bestehens und darüber hinaus, wobei die Frage ungeklärt bleibt, wo die eigentliche Gefahrenquelle zu suchen ist: Im Zentrum oder bei den Mächten, die das Zentrum umgaben. Die Antwort, auf die Prinzipien von Schuld und Vergeltung zu begründen, hat sich als verhängnisvoll erwiesen. Europa braucht ein Geschichts-und Staatsverständnis, das eine wirkliche Einheit begründen könnte.

 

Bis zum Ende der Karolingerherrschaft

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Einfälle der Araber, Normannen und Ungarn (nach H. K. Schulze)

[377] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 386

 

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Was sich für Amerika als gut und richtig erwiesen hat, wäre für Europa undurchführbar. Es steht vor der Herausforderung, seine kulturelle und historische Vielfalt seiner verschiedenen Nationen und Völker zu einer wirkungsvollen und wirkmächtigen Einheit zusammenzufassen.

Madison stand mit seiner Beurteilung dieses Heiligen Römischen Reiches nicht alleine da. Samuel Pufendorf (1632-1694) und  John Locke (1632-1704), Philosophen und Staatsrechtler, der eine aus Deutschland, der andere aus England, waren nicht ohne Einfluss auf die Verfassungsdiskussionen, die auch Amerika bewegten. Pufendorf hatte es als „ein irreguläres Monstrum“, und Voltaire (1694-1778) konnte in diesem Staatsgebilde nichts Heiliges und nichts Römisches entdecken.[378] Mit dem Beginn der Neuzeit wurde das Heilige Römische Reich mit dem Zusatz „deutscher Nation“ versehen. Ein törichter Zusatz, erweckt er doch den Eindruck, als handele es sich um ein Nationalstaatsgebilde, das es nie gewesen war und auch nie sein wollte. Der Zusatz musste die Befürchtung entstehen lassen, eine Hegemoniestellung anzustreben, und damit Misstrauen auslösen.

Otto I. hat dieses Imperium im Sinne seiner eigentlichen Bestimmung in Anlehnung an Karl den Großen erneuert, obwohl ein deutscher Herrschaftsanspruch sich abzeichnete. Vieles hat er erreicht, aber die Teilung Westeuropas konnte er nicht überwinden, die Gräben der Trennung waren bereits zu tief ausgehoben. Die Frage, was hätte anders kommen können und müssen schließt sich hier an, es geht nicht darum Reminiszenzen zu pflegen, sondern der Geschichte einen Weg zur politischen Gestaltung zu eröffnen und zu einer gemeinsamen Bewusstseinsbildung. Aus den sächsischen Kaiser und Königen ragen die Ottonen heraus, den Otto I. hatte ebenbürtige Nachfolger, seinen Sohn Otto II. und seinen Enkel Otto III. Beide starben auf tragische Weise im Jünglingsalter. 1962 am 2. Februar wäre ein Tag gewesen einer tausendjährigen Wiederkehr des Tages, an dem Otto I. in Rom zum Kaiser gekrönt wurde. Der Tag blieb unerwähnt, als hätte diesen Tag in seiner Bedeutung nie gegeben. Die Ottonen haben so viel Desinteresse nicht verdient, ebenso wenig die Salier und die Staufer, die ihnen folgten. Ein tausendjähriges Jubiläum hätte das Jahr 1936 ergeben, dem Herrschaftsantritt Otto I. 936. Der Nationalsozialismus mit seinem heidnischen Germanenmythos, der sein Geschichtsbewusstsein aus einer noch weiter zurückliegenden Epoche herleitete, hatte diesem Ereignis ebenfalls einer Beachtung nicht für Wert erachtet. Geschichtsvergessenheit ist das besondere Merkmal der politischen Gegenwart. Dabei geht es nicht darum einer Epoche nachzutrauern, sie lässt sich nicht wieder zum Leben erwecken. Die andere Seite der Betrachtung wäre eine völlige Verleugnung dieser Geschichte, und sie zur Bedeutungslosigkeit verkommen zu lassen. Vom griechisch-römischen Historiker Polybios (200-120 v. Chr.) ist die Aussage überliefert: „Ein Mensch ohne Geschichte ist wie ein Gesicht ohne Augen“. Auf die geistige Ebene übertragen bedeutet es ein Umherirren in völliger Dunkelheit, und was für das Individuum gilt, trifft auch für das Kollektiv eines Volkes oder einer Nation zu. Die Herrscherpersönlichkeiten der erwähnten Dynastien sollten nach den angestrebten Zielsetzungen beurteilt werden, nicht nach Erfolg oder Misserfolg. Ihnen gelang es das von den schwächlichen Nachfolgern Karls des Großen hinterlassene Reich, das in Auflösung begriffen war, wieder zu ordnen und zu festigen. Das Leben der deutschen Cäsaren glich einem großen Drama. Seine Handlung wurde bestimmt von den menschlichen Leidenschaften, von Liebe und Hass, von Todesmut und der Furcht, von der Großmut und der Erbärmlichkeit; seine Personen waren Heilige und Ketzer, Ritter und Bauern, Priester und Narren, es ist angesiedelt in einer Zeit, die das „finstere Mittelalter“ genannt wird, ein (Vor-)Urteil, das der historischen

[378] Wilson, Peter H.: The Holy Roman Empire. S. 2

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Wirklichkeit nicht stand hält. Denn in dieser Menschheitsepoche verschmolz Antikes, Germanisches und Christliches zu einer neuen Einheit und besaß damit etwas, wonach wir Europäer in Ost und West uns nur sehnen können: Einen gemeinsamen Glauben, ein gemeinsames Bildungsideal, ein gemeinsames Weltbild. [379]

Zwischen der Krönung des Sachsen Otto I. in Aachen und der Hinrichtung des letzten Staufers Konradin 1268 in Nealpel liegen die Jahrhunderte, in denen der steile Aufstieg und der tiefe Fall des deutsche Kaisertums sich ereignete. Dreihundertzweiunddreißig Jahre und ebenso viele Blätter im Buch der Geschichte, auf denen die Taten der Kaiser Otto, Heinrich, Konrad, Friedrich in einer imponierenden Reihe verzeichnet stehen, wie sie in dieser Kontinuität über diesen Zeitraum in der Geschichte kaum zu finden sind.[380] Sie alle hatten sich Karl den Großen zum Vorbild genommen. Sie müssen an seiner Herrschaft und dem, was er angestrebt und erreicht hat, gemessen werden. Sie alle haben die Einheit Westeuropas, wie sie unter Karl dem Großen bestanden hatte nicht wieder erlangt. In einem anderen Punkt, indem auch Karl wenig vorzuweisen hat, muss das weiter gesteckte Ziel einer Verständigung und Vereinigung mit Byzanz, dem oströmischen Reich gesehen werden. Was hier unternommen wurde, ist, trotz mancher Bemühungen, nicht über Ansätze hinausgekommen. Mit dem faktischen Ende des Heiligen Römischen Reiches als Imperium Mitte des 13. Jahrhunderts begann ein vorher nie dagewesener Verfall, von dem es sich nicht wieder erholt hat. Kaiser und Papst, die das weltliche und geistliche Schwert führten, hatten ihr jeweiliges Schwert gegeneinander gerichtet, und damit die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses in einem geistigen und geistlichen Abgrund enden lassen. Das Imperium wurde umringt und auf einen Kernbestand zusammengedrückt, bis es nicht einmal mehr ein Schatten seiner selbst war. Nach einer Übergangszeit von rund zweihundert Jahren begann das Zeitalter der Entdeckungen und an den Rändern des alten Imperiums, im Westen und Osten Europas, entstanden neue Imperien, von denen das ehemals Heilige Römische Reich mit seiner Staatskonzeption ausgeschlossen blieb. Aber auch diese Imperien haben nicht überlebt, auch sie haben mit ihren Herrschaftsansprüchen und dem Einsatz von Mitteln und Methoden die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses ad absurdum geführt, und Europa in einem Zeitraum von fünfhundert Jahren zur Bedeutungslosigkeit geraten lassen, und Wege, um von dieser Politik Abstand zu nehmen, sind nirgendwo erkennbar. „Amerika, du hast es besser“, hat Goethe einmal verlauten lassen, Amerika hätte die einmalige historisch gebotene Möglichkeit ergreifen können, eine anders geartete Welt zu schaffen, aber es konnte der Versuchung nicht wiederstehen, und trat in die Fußstapfen seiner imperialen europäischen Vorbilder, viele Menschen, die das alte Europa verlassen und etwas auf gänzlich anderes und Neues gehofft hatten, wurden enttäuscht.

Europa, als Einheit gesehen, kann nicht auf einer zentralistisch ausgerichteten Staatsführung mit einem zentralistischen Fundament als Verfassungsordnung bestehen. Ein solches Projekt als Grundlage wird scheitern, weil es die eigenständige historische Entwicklung seiner verschiedenen Nationalitäten unberücksichtigt lässt. Ebenso scheitern wird ein Europa, das einer nationalstaatlichen Hegemonie unterworfen werden soll. Europa muss sich seiner universalen Staatsidee erinnern, und in Zusammenhang damit muss es aufgebaut werden auf föderative Prinzipien. Bestes Beispiel aus jüngster Vergangenheit ist das Brexit-Votum in Großbritannien am 23. Juni 2016, wo die Befürworter des Austritts aus der Europäischen Union einen Apell richteten, sich der Größe des Landes mit seiner Geschichte zu erinnern.

[379] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren: Triupf und Tragödie der Kaiser des Mittelalters. Locarno 1977. S. 13 f

[380] ebd. S. 14

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Ein legitimer Appell mit unschönen Begleiterscheinungen zwar, der dennoch ein bestimmtes Geschichtsbewusstsein ansprechen wollte. Großbritannien gelang es das größte Imperium der Menschheitsgeschichte zu errichten. Ein Resultat ist die Vorherrschaft englischen Sprache als Medium der sprachlichen Verständigung weltweit. Andere Nationen haben ebenso weitreichenden Einfluss ausgeübt. In Süd-und Mittelamerika wird Spanisch oder Portugiesisch gesprochen. In großen Teilen Afrikas ist Französisch Amtssprache. Französischer kultureller Einfluss findet sich auch im Nahen und Fernen Osten. In gleicher Weise hat sich russische Kultur und Sprache ausgedehnt. Nationale und kulturelle Eigenständigkeit mit ihrer historischen Entwicklung darf nicht einem europäischen Zentralismus geopfert werden, das muss für alle europäischen Nationen gelten, ob klein oder groß. Die vielfältigen Errungenschaften europäischer Geschichte sollen erhalten bleiben und gleichzeitig zu einer Einheit geführt werden. Das ist die alles bestimmende Herausforderung.   

Zwei Nationen weisen hier eine Besonderheit auf: Großbritannien und Deutschland. Zunächst ist da die geographische Besonderheit: Großbritannien ist vom Meer umgeben, und eine weise Politik hat mit der beginnenden Neuzeit dazu geführt, sich aus den kontinentalen Händeln herauszuhalten und auf eine Politik hingewirkt, die ihm die Rolle des Schiedsrichters einbrachte. Deutschland hingegen war von Land und Ländern umgeben, die ihm nicht immer oder auch nie wohlgesonnen waren. Deutsche Politik hat hierzu einen unrühmlichen Beitrag geleistet. Das Unrecht, das Deutschland in seiner Geschichte hinnehmen musste, wurde mit Unrecht vergolten. So war es im Ersten Weltkrieg und noch mehr im Zweiten Weltkrieg, und so geschieht es auch gegenwärtig. Deutschland nutzt seine überlegene ökonomische Stellung und erzwingt einen wirtschaftlichen Verlauf, der sehenden Auges in einem Verhängnis endet. Die Gegenseite sieht es naturgemäß aus anderer Warte und hält entsprechende Vergeltungsmaßnahmen für gerechtfertigt. Beide Seiten haben es vermieden nach einer Politik Ausschau zu halten, die Europa einen gedeihlichen Verlauf seiner Geschichte ermöglicht hätte.

1250 verstarb die letzte bedeutende Herrscherpersönlichkeit aus dem Geschlecht der Staufer, womit auch eine glanzvolle Epoche ein Ende fand. Sein Sohn und Nachfolger Konrad IV. überlebte seinen Vater, als Herzog von Schwaben, König des Heiligen Römischen Reiches (HRR), König von Sizilien und König von Jerusalem, nur um vier Jahre. Ihm folgte sein Sohn, bekannt unter dem Namen Konradin ein Diminutiv für den Namen Konrad, vergleichbar mit dem letzten Kaiser des weströmischen Reiches Romulus Augustulus (Kaiserchen). Konradin wurde 1268 auf Betreiben des französischen Herzogs von Anjou in Neapel öffentlich hingerichtet. Damit begann der Weg des HRR in die Bedeutungslosigkeit ideell und materiell. Das Schwergewicht kontinentaler Politik verlagerte sich nach Frankreich und erreichte mit Kaiser Napoleon seinen Höhepunkt. Französische Politik war dem universalen Staatsgedanken in den Jahrhunderten seiner Vorherrschaft abholt. Die letzten Stauferkaiser hatten ihren Herrschaftsbereich in den äußersten Süden verlegt mit Sizilien als Mittelpunkt. Sizilien geriet nach dem Ende der Staufer unter König Karl I. unter französische Dominanz, die aber schnell ein Ende fand. Im März 1282 kam es zu einem Aufstand der „Sizilianischen Vesper“ und der Herzog von Anjou wurde von der Insel vertrieben.

Sechshundert Jahre mussten von diesem Zeitraum an vergehen, bis Deutschland sich von dem Schlag erholte, der seinen Einfluss in und durch das HRR zum Erliegen brachte. 1871 wurde im Schloss von Versailles das Zweite deutsche Kaiserreich ausgerufen. Ein Akt der Demütigung für Frankreich, der mit viel Kritik auch innerhalb Deutschlands bedacht worden ist. Das Zweite Reich sah sich einem anderen Deutschland gegenüber. Die Reformation Martin Luthers und des reformierten Protestantismus hatten das Land grundlegend verändert.

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Darüber hinaus war es konfessionell gespalten, eine belastende Hypothek, die noch einmal zurückführte in die Zeit, wo es auf den Boden, auf dem seine Geschichte gewachsen, eine Zeit der Blüte erlebte, geistlich, geistig und an weltlicher Macht. Ein Wiederaufleben eines Staats-Glaubens- und Kirchenverständnisses aus mittelalterlicher Zeit war ausgeschlossen. Jede Andeutung in diese Richtung wäre im Europa der Nationalstaaten auf Ablehnung gestoßen und hätte in der bestehenden politischen Wirklichkeit keinen Nährboden gefunden. Der Architekt zur Gründung des Zweiten Reiches war Otto von Bismarck, seit September 1862 preußischer Ministerpräsident und nach 1871 Reichskanzler des von ihm konzipierten Deutschen Reiches. In der Konfessionsfrage hatte er eine unnachgiebige protestantische Haltung eingenommen. Das Zweite Reich stützte sich auf die protestantische Macht Preußens. Im italienischen Krieg 1859, in dem Frankreich die Italiener gegen Österreich unterstützte, stand ein Eingreifen Preußens auf österreichischer Seite in Aussicht. Bismarck ließ dazu ein Gedankenspiel einfließen: Die Preußen sollten die Grenzpfähle ausreißen, im Tornüster mit sich führen und dort wieder einrammen, wo das protestantische Glaubensbekenntnis aufhöre.[381] Diese Haltung hat sich nicht durchgesetzt. Das neu gegründete Reich hatte eine Belastungsprobe zu bestehen in einem Zusammenstoß mit der katholischen Kirche, der als Kulturkampf in die Geschichte eingegangen ist. Bismarck hat in mehreren Reichstagsreden Stellung bezogen, ein Auszug daraus lässt erkennen, in welchem Stil die Debatten ausgetragen wurden:

In einer Rede gehalten am 30. November 1881 im Reichstag zum Thema: „Über die Stellung Preußens zum Vatikan; der Kulturkampf und der Frieden“.:

„Über den materiellen Stand der Verhandlungen mit dem römischen Stuhle hier Ausdruck zu geben, beabsichtige ich nicht, ich teile, wie gesagt, die Ansicht des Herrn Vorredners nicht, dass es dem Reiche oder dem Lande nützlich wäre, wenn ich es täte.

„Der Herr Vorredner hat völlig Recht, wenn er sagt, dass dieser Kampf, den er selbst Kulturkampf genannt hat, seine wesentlich politische Seite hat. Die römische Kirche ist von jeher nicht bloß eine geistliche und kirchliche Macht, sondern auch eine politische Macht gewesen, und der Herr Vorredner hat uns dazu nichts Neues gesagt, die wir unsere deutsche Geschichte tausend Jahre rückwärts kennen. Das Papsttum ist, wie jede Kirche gelegentlich, eine sehr starke politische Macht gewesen. Rein konfessionelle Kämpfe würde ich überhaupt nicht führen; wenn der politische Beisatz, die Machtfrage nicht wäre, eine Machtfrage, die auch in der vorchristlichen Zeit sich zwischen Königen und Priestern kenntlich gemacht hat, - wenn die nicht da wäre, würde ich mit einer solchen Entschiedenheit in diesen Kampf nicht eingetreten sein, da ich konfessionelle Stellungen nicht bekämpfe.

Der Herr Vorredner hat mir vorgeworfen und hat auch darin wieder den üblichen Mangel an Konsequenz bei mir entdeckt, dass ich diesen Kampf nicht fortgesetzt hätte, dass ich ihn eine Zeit hindurch mit Lebhaftigkeit betrieben und nachher fallen gelassen hätte. Nun jeder Kampf hat seine Höhe und seine Hitze, aber kein Kampf im Innern zwischen Parteien und der Regierung, kein Konflikt, kann von mir als eine dauernde und nützliche Institution behandelt werden. Ich muss Kämpfe führen, aber doch nur zu dem Zweck, den Frieden zu erlangen; die Kämpfe können sehr heiß werden, dass hängt nicht immer von mir allein ab – aber mein Endziel ist immer noch der Friede….“[382]

[381] Angelow, Jürgen: Der deutsche Bund. Darmstadt 2003. S. 113

[382] zitiert in "Bismarcks gesammelte Werke", Drie Bände, 3. Band. Stuttgart 1915 S. 102

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Im Reichstag des Zweiten Kaiserreiches herrschte Redefreiheit, in mancher Hinsicht mehr Redefreiheit als im Reichstag der Weimarer Republik oder dem Deutschen Bundestag nachdem Zweiten Weltkrieg, denn das Deutsche Reich war nach 1871 ein souveräner Staat ohne Einschränkungen. Bismarck hatte in den achtundzwanzig Jahren seiner Regierungszeit, zuerst als preußischer Ministerpräsident, dann als Reichskanzler, etwas erreicht, wozu vergleichbare europäische Nationen Generationen und Jahrhunderte benötigten. In seiner Regierungszeit wurde Deutschland nach England und Frankreich drittgrößte Kolonialmacht. Berlin war diplomatischer Mittelpunkt in Europa geworden. Seinen Nachfolgern war das alles zu wenig, sie forderten für das Reich einen „Platz an der Sonne“, den es längst hatte, so musste in einem solchen Bestreben eine Unzufriedenheit mit dem Erreichten gesehen werden und ein Verlangen nach weiterer Ausdehnung, was außerhalb Deutschlands Misstrauen erweckte. Deutschland hat in einem Zeitraum von genau einhunderteins Jahren zwei Staatsmänner von besonderem Format hervorgebracht: Otto von Bismarck mit Amtsantritt 1862 und Konrad Adenauer mit Ausscheiden aus dem Amt 1963. Von Adenauer hat Sir Winston Churchill geurteilt, er sei der größte deutsche Staatsmann seit Bismarck gewesen. Bismarck und Adenauer, der eine strenger Protestant, der andere streng katholisch, ein Finderzeig der Geschichte. Beiden, Bismarck und Adenauer, ist die staatsmännische Leistung von dem Volk, für das sie politische Verantwortung getragen haben, ohne Anerkennung geblieben. Bismarck erfuhr in der historischen Rückschau nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zurücksetzung in der Geschichtsschreibung und auf Historikerkongressen dem Zeitgeist entsprechend, und Adenauer wird seit dem denkunwürdigen Jahr 1968 als Restaurator der NS-Herrschaft gehandelt. Beide wurden am Ende ihrer Regierungszeit mit hinterhältigen Intrigen aus dem Amt gedrängt. Ein Volk, das als Nation mit seiner Geschichte und Persönlichkeiten seiner Geschichte, wie Bismarck und Adenauer, so umgeht, stellt seine Existenzberechtigung in Frage. Es dürfte schwer fallen, in der Geschichte anderer Nationen vergleichbare Vorgänge zu finden. Was Adenauer aber noch besonders auszeichnet, war die Gründung einer politischen christlichen Partei über die Konfessionsgrenzen hinweg, was wenige Jahrzehnte zuvor noch undenkbar gewesen wäre.

In historischen Betrachtungen, die sich über seinen langen Zeitraum erstrecken, muss ein feines Gespür dafür entwickelt, und in den unterschiedlichen Epochen sorgfältig das Geschehen beobachtet werden. Es gilt den geographischen Kontext zu berücksichtigen, sowie Charaktereigenschaften, die zeitlos gültig sind, und nicht zuletzt den zeitlichen Rahmen. Analogien sind mit der Gefahr verbunden, ahistorisch zu wirken, wenn eine Epoche in eine andere verpflanzt und dann als Maßstab herangezogen wird. Alle historischen Vorgänge sind auch einer Kontinuität und Kausalität unterworfen und bedürfen daher einer Analyse, um Schlüsse zu ziehen, die eine nützliche Anwendung gewährleisten.

Was mit der Herrschaft Otto I. (936-973) glorreich begann, endete kläglich. Es kann dazu nicht Aufgabe sein, ein richtendes Urteil zu fällen, es muss die Zielsetzung einer Politik vorangestellt werden, ihre Berechtigung und Nützlichkeit, damit ein erstrebenswertes Ziel aufgezeigt werden kann. Ethischer Maßstab ist der christliche Wertekanon.  

Otto I. versuchte mit siebenunddreißig Jahren, lesen und Schreiben zu erlernen, hierin seinem Vorgänger und Vorbild Karl ähnlich, der damit auch seine Schwierigkeiten hatte. Schreiben die Sichtbarmachung des Gesprochenen, der geheimnisvolle Vorgang, gesagtes zu verewigen; er war ihm über lange Jahre als eine Kunst erschienen, die zu erlernen eines echten Mannes nicht würdig war. Dafür war der Kleriker zuständig, dem es auf der Klosterschule beigebracht worden war. Die Begegnung mit der Zivilisation Roms und die Bekehrung zum Christentum, hatte bei den Deutschen nur eine Art Tünche hinterlassen, unter der altgermanisches Wesen

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noch deutlich hervorschimmerte.[383] Otto hatte nicht nur den Mut, sich in dem fränkischen Schatten seines Vorgängers zu messen, er besaß die Kühnheit, in seine Fußstapfen zu treten. Aachen galt ihm als Symbol für seine ehrgeizigen Pläne, auch als Warnung gedacht an die in Frankreich immer noch regierenden Westfranken, seine Kreise nicht zu stören. Er wollte damit seinen Anspruch anzeigen, als Führer des einstigen Weströmischen Reiches angesehen zu werden, insgeheim schwebte ihm vor, sich als Imperator Augustus zum Kaiser des erneuerten Römischen Reiches aufzuschwingen. Otto, ein Mann von bäuerlichen Adel, ohne die Kenntnis der lateinischen Sprache und des Lesens und Schreibens unkundig, aus einem Lande stammend, das keine Hauptstadt besaß und damit auch kein kulturelles Zentrum vorweisen konnte, über keine umfassende effektive Verwaltung verfügte, schickte sich an, ganz große Pläne zu verwirklichen und ein Reich zu errichten, in dem Christentum und Antike sich vereinigten.[384] Das Unterfangen erschien vielen als Selbstüberschätzung. „Wie die Deutschen ein Volk geworden sind, das ist der köstliche und unvergängliche Inhalt der Geschichte Otto des Großen.[385] Hier nahm diese Geschichte ihren Anfang. Am Anfang stand das Krönungsfest in Aachen, dazu ausersehen als ersten Schritt auf dem Wege zu einem großen Ziel. Wer den geschilderten Aufwand mit seinen Zeremonien, und für die Zeit mit kostbarem Äußeren versehen, könnte den Gedanken nähren, es sei alles auf Schau angelegt gewesen. Zeremonien sind nichts Äußeres, nicht bloße Form, sie wirken von außen nach innen, sie schaffen Traditionen, und Tradition ist die Klammer, mit der die auseinanderstrebenden Kräfte eines Staates, einer Kirche oder eines Gemeinwesens zusammengehalten werden.[386] Otto war dennoch ein Mann, dem jede Pracht und Prunk unerwünscht war, sein Tagesablauf bestand aus Arbeit und Gebet.[387]

Widukind von Corvey (925-980), Historiker und Chronist der Zeit, dem die Nachwelt bis ins Einzelne gehende Schilderungen verdankt, kann als eine maßgebliche Quelle angesehen werden. Er war im jugendlichen Alter von fünfzehn Jahren in das Kloster Corvey eingetreten. Seine Sachsengeschichte besteht aus drei Bänden, und umfasst die Frühgeschichte bis zum Tode Heinrichs I. 936. Ihm ist auch die eingehende Wiedergabe der Königskrönung Otto I. 936 zu verdanken. Noch umfangreicher ist das Werk des Bischofs Thietmar von Merseburg (975-1018). Seine Chronik umfasst acht Bände und befasst sich mit dem Leben der frommen Kaiser und Könige Sachsens von Heinrich I. über die Ottonen bis Heinrich II. Quelle und Vorbild  für ihn war Widukind von Corvey. Thietmars Werk umfasst die Frühgeschichte bis zum Tode Heinrichs II. Ihm verdankt die Geschichtsschreibung ebenfalls die eingehende Schilderung der Krönung Ottos I. 936 in Aachen. Ausschließlich mit Kritik wird das Leben Heinrichs I. bedacht, seine Untreue gegen seine Ehefrau Hatheburg und seine Ablehnung zur Krönung auch die Salbung zu empfangen. Otto I. wird eine Vorbildfunktion für seine Zeit zuerkannt. Otto II. (973-983) wird die Aufhebung des Bistums Merseburg als Fehlentscheidung angelastet. Der frühe Tod Otto III. (983 - 1002) wird als Strafe Gottes für alle Menschen gedeutet. Heinrich II. hat er die Wiedererrichtung des Bistums Merseburg hoch angerechnet. Er erntete aber auch Kritik an Entscheidungen gegen den Episkopat und über Klöster. (Aus Wikipedia)

Schon Karl der Große hatte nicht die Absicht verfolgt, einen von Nationalitäten oder germanischen Völkern beherrschten Staat oder Imperium zu begründen, die zuvor in das

[383] Fischer-Fabian: Die deutschen Cäsaren. S. 17

[384] ebd. S. 25

[385] ebd. S. 26 zitiert nach dem Historiker Robert Haltzmann

[386] ebd. S. 26

[387] ebd. S. 27

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Römische Reich eingedrungen waren, und dort unter unterschiedlichen Voraussetzungen ihre Herrschaft aufgerichtet hatten, was sich auch als eine Unmöglichkeit erwies, da  die in dem späteren Großreich zusammengefassten Völker und Ethnien von so unterschiedlicher Herkunft waren, dass ihm das Imperium Romanum als Vorbild diente, das eben keine auf eine Ethnie oder Nationalität begründete Herrschaft zum Ziel hatte. Seine zusammenhaltende Identität ist auf geistiger und kultureller Ebene zu suchen und zu finden, wobei die antike griechische Geisteswelt einen wesentlichen Einfluss ausübte, während die ausdrücklich römische Leistung in der Technik und dem Staatsaufbau zu finden ist. In der nachrömischen Phase der europäischen Geschichte gelang es nicht, ein einheitliches Staatsgefüge wiederherzustellen, wie es im Römischen Reich gelungen war, gestützt auf eine überlegene Armee, die als unschlagbar angesehen wurde, wie viele Armeen davor und danach auch schon. Die staatlichen Einrichtungen und Kultur des Reiches, das Karl nach römischem Vorbild zu errichten gedachte, verband unterschiedliche Völkerschaften, nicht nur römische und germanische, als einigende Klammer war der christliche Glaube ausersehen.[388] Der Nationalstaatsgedanke, wie er in der späteren europäischen Geschichte Gestalt annahm, war dem mittelalterlichen Denken fremd, ebenso die Konstruktion einer ethnischen germanischen Überlegenheit. Dazu waren die verschiedenen Germanenvölker viel zu unterschiedlich, weshalb sie auch zu keiner Einheit finden konnten.  

Die Teilungen des Frankenreiches im 9. Jahrhundert ergaben zunächst drei selbstständige Teile. Es wäre aber verfrüht hier von Nation zu sprechen im heutigen Verständnis des Wortes. Die Herrscher der Befürwortung einer Teilung gingen eher von dynastischen und in Verbindung damit von kirchlichen Interessen als von Geographischen und völkischen Gesichtspunkten aus.[389] Bald bildete sich für Teile ein Sonderstatus heraus: für Burgund und Italien, womit erkennbar wird,  wie dieses Imperium neben einem deutschen auch aus einem französischen und italienischen Teil bestand.[390] Die Päpste hatten ein großes Interesse daran, die Thronfolge in Deutschland durch Wahl zu bestimmen. Die deutschen Könige verdankten zwar die Kaiserkrone nicht den Päpsten, sondern einer Vormachtstellung in Europa, die ihren Ausdruck darin fand, dass dieses Wahlrecht nur deutschen Fürsten zustand, selbst bei Bewerbern, die nicht einer deutschen Dynastie angehörten, im nationalen Sinne verstanden. Mit zunehmenden Einfluss der Päpste, was sich besonders im Investiturstreit zeigte, standen die Päpste auf Seiten der Fürsten.[391] Die Macht der Kirche gründete sich nicht auf Heeresmacht, womit deutlich wird, welche Einflussmöglichkeiten sich im geistlichen Bereich ergaben. In der Frühphase dieses Imperiums sahen sich die deutschen Könige und Kaiser, nachdem die karolingische Schwächeperiode überwunden war, als Träger und Verkörperung dieser Idee. Es erhöhte den Glanz der königlichen und kaiserlichen Stellung und gab ihr einen sakralen Charakter. Der „Rex et Sacerdos“, König und Priester, wurde bei der Königsweihe in den Klerikerstand aufgenommen, und diese Weihe galt in der frühen Zeit als Sakrament. Diese Auffassungen bedingten von Anfang manche Beschränkungen für den König. Staatsallmacht und absolutistisches Herrschertum waren mit ihm ebenso unvereinbar wie eine rein nationalistische Innen-und Außenpolitik und dem modernen Imperialismus.[392] Die Befugnisse der Herzöge, die nach dem König die mächtigste Position innehatten und der Grafen, denen als wichtigste Aufgabe die Bewahrung des inneren Friedens in ihrem Gebiet oblag, der Pfalzgrafen,

[388] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser nach zeitgenössischen Quellen. Leipzig 1924. S. 14

[389] ebd. S. 15

[390] ebd. S. 18

[391] ebd. S. 22

[392] ebd. S. 27

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die den König als obersten Gerichtsherrn vertraten, der Markgrafen, denen die Sicherung der gefährdeten Grenzlande anvertraut war, der Burggrafen, die besonders im eroberten Slawenlande einer größeren Burg und ihrer Umgebung vorgesetzt waren, können hier nicht näher umschrieben werden. Das Wesentliche ist, dass diese Herrschaftsbefugnisse im Verlaufe der Zeit den Charakter erblicher Lehen annahmen, und so dem König als obersten Lehensherren immer mehr entzogen wurden.[393]

Das mittelalterliche Staatswesen, wie es sich in Ostfranken und Westfranken teilte, und sein Schwergewicht nach Ostfranken, was in späterer Zeit als Deutschland angesehen wurde, war gekennzeichnet durch die Beschränkung der königlichen und kaiserlichen Macht in mehrfacher Hinsicht durch die fürstlichen Gewalten und dem Geltungsanspruch der päpstlichen Macht. Das Mittelalter hat Herrscherpersönlichkeiten hervorgebracht, die es verstanden den Reichköper, dessen Zentrum das spätere Deutschland war, als ein wirkliches Machtgefüge zu erhalten. Es ging ihnen nicht um ein Deutschland, wie es sich im Verlaufe der Geschichte herausgebildet hat. Sie verstanden sich als Bewahrer des Heiligen Römischen Reiches und dem Staatsziel, das damit verbunden war. Die Idee, diese Reichseinheit wiederherzustellen, haben sie niemals aufgegeben. Hieran knüpft sich der Streit an um Segen und Unsegen der Italienpolitik mit das Ziel Rom, als geistliches Zentrum, mit Heeresmacht zu erreichen, der Generationen von Historikern beschäftigt hat, bis hin zu der fragwürdigen These, die aufgewandten Kräfte der Italienzüge deutscher Kaiser hätten besser nach Osten gerichtet werden sollen. Wer so urteilt hat Sinn und Ziel der Italienpolitik nicht verstanden, die darauf beruhte, die Einheit des geistlichen und weltlichen Schwertes zu bewahren oder wiederherzustellen. Die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches haben sich im Zenit ihrer Macht nicht einem Imperialismus zugewandt, ihnen war daran gelegen, die Klammer und die Kernidee eines christlichen Imperiums zu gestalten und zu erhalten.[394] Die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches waren an gegebene Bedingungen geknüpft, die ihnen nicht in allen Belangen freie Hand ließen. Die Kirche mit der sie verbunden waren, musste nicht erst gegründet und ins Leben gerufen werden, sie konnte in dem zu betrachteten Zeitraum bereits auf eine mehr als tausendjährige historische Entwicklung zurückblicken. Sie war eine auf festen Grundlagen bestehende Organisation, gestützt auf Lehre und Disziplin, Bedingungen für ihren Zusammenhalt, der inzwischen einen Rückblick auf mehr als zweitausend Jahre erlaubt. Sie erhob und erhebt einen Anspruch auf Universalität, auf Geltung als Weltkirche. Katholische Kirche bedeutet allgemeine Kirche, was in einem unvereinbaren Gegensatz zu einer national ausgerichteten Kirche steht.[395] Das waren die Grundvoraussetzungen, denen sich die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gegenüber sahen, bis eine Entwicklung eintrat, die den universalen Staatsgedanken in den Hintergrund treten ließ. Diesen Herausforderungen sah sich Kaiser Otto I. als zweiter Erneuerer nach Karl dem Großen, des auf Rom und die renovatio imperii (Erneuerung des Imperiums, eines christlichen Imperiums) zurückgehenden Staatsverständnisses gegenüber gestellt.

Otto I. konnte auf ein gefestigtes Reich zurückgreifen, das sein Vater Heinrich I. ihm hinterlassen hatte, gegen den der Vorwurf erhoben worden war, er habe sich von Frömmigkeit und christlich begründeten Voraussetzungen entfernt. Der Chronist Thietmar von Merseburg gab hier den Ton an. Beide, Thietmar und sein Vorbild als Chronist, Widukind von Corvey, hatten der Geschichte der Sachsen ihre besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Die Sachsen erschienen dort in einem anderen Licht, nicht als Bösewichter und Rebellen. Wideukind von Corvey

nicht als Bösewichter und Rebellen. Widukind von Corvey

[393] Bühler, Johannes: die sächsischen und salischen Kaiser. S. 32

[394] ebd. S. 34 f

[395] ebd. S. 39

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wird nachgesagt, er habe seinen Namen gewählt, um an Widukind zu erinnern, den Karl der Große mit großen Mühen bezwingen konnte. Die Schilderungen seiner Sachsengeschichte haben etwas von biblischer Einfalt und Kraft, und wer könnte den Geist der Zeit besser übermitteln als der Zeitgenosse selbst.[396] Die sächsischen Kaiser und Könige nutzten die von ihnen errungene Herrscherstellung nicht, um Genugtuung zu erlangen für die Unbill die das Volk der Sachsen unter Karl erduldet hatte. Ihre Herrschaft war nicht von Gedanken an Genugtuung oder gar Rache getragen, im Gegenteil, für sie war Karl das Vorbild, dem es nachzueifern galt.  

Die Könige und Kaiser des HRR waren nicht nur ideell, sondern ebenso auch politisch an die Kirche gebunden. Im römischen Reich hatten die Bischöfe seit Konstatin dem Großen politisch und wirtschaftlich steigenden Einfluss gewonnen. Das Frankenreich übernahm auch darin das Erbe Roms, die kirchlichen Würdenträger wurden unter den Merowingern und noch mehr unter Karl dem Großen mit immer neuen Zuweisungen von Grundbesitz bedacht und blieben neben und über den weltlichen Großen vor allem ihrer höheren Bildung wegen ein unverzichtbarer Bestandteil bei der Heranziehung in den Staatsgeschäften. Unter den Schwachen Nachfolgern Karls des Großen gewann die geistliche Hierarchie vollkommen das Übergewicht im fränkischen Reich, zugleich aber bildeten sie eine wichtige Voraussetzung für den Zusammenhalt des Reiches. Als Ost-und Westfranken auseinanderfielen, trachtete Kaiser Konrad I. danach vornehmlich die geistliche Aristokratie und das vorübergehend erstarkte Papsttum zu stützen. Trotz der Hilfe erlag den Herzögen, die nach mehr Unabhängigkeit von der Königsgewalt strebten, unter denen sich der Sachsenherzog Heinrich als der stärkste erwies. König Heinrich verzichtete bei seiner Krönung auf kirchliche Weihen und Salbung, was ihm als eine Abkehr von der karolingischen Überlieferung angelastet wurde. Diese Einschätzung hat er im Rahmen seiner Herrschaft widerlegt. Er ließ seinen begabten Sohn Brun zum Kleriker ausbilden und zeigte dadurch, dass er dem geistlichen Herrschaftsbereich in seiner Bedeutung nicht geringer achtete.[397] Der als erster Bischof Reiches angesehene Heriger von Mainz machte Heinrich das Angebot zur Krönung und Salbung, die er nicht direkt zurückwies, sie aber auch nicht annahm, er gab die Antwort: „Mir genügt es, wenn ich, wie bisher keiner meiner Vorfahren (aus sächsischem Geschlecht) mit Gottes Gnade und eurer Huld zum König ernannt wurde, salben jedoch und krönen möge man Besseren als uns gewähren, solche Ehren halten wir uns nicht für würdig.“ Diese Worte fanden den Beifall des ganzen Versammelten Volkes, und mit zum Himmel emporgehobener Rechten wiederholte es unter gewaltigem Geschrei zum Zeichen der Begrüßung wieder und wieder den Namen des Königs.[398]

Im Frankenreich und unter Konrad I. war die Geistlichkeit Hauptvertreter des Einheitsgedankens im Reiche gewesen, wenngleich sie aus sich heraus nicht die Kraft besessen hatte, die Teilung des fränkischen Großreiches zu verhindern, so bot sie doch immer einen starken Stützpunkt in der Hand eines mächtigen und tatkräftigen Herrschers. Der weit ausgedehnte Kirchenbesitz, der nicht wie der weltliche Grundbesitz erblich, und nicht wie die Herzogtümer an Grenzen gebunden war, und untereinander eine selbstständige Organisation mit Abstufungen in Erzbistümer und Bistümer vorsah, bot den Königen durch das Besetzungsrecht in den Bistümern und Reichsabteien, dazu die höhere Bildung der Kleriker, die Möglichkeit ein Gegengewicht gegen auseinanderstrebende Herzogtümer zu bilden. Kaiser Otto I. nützte als einer der größten Staatsmänner in der deutschen Geschichte diese Möglichkeit

[396] fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 28

[397] Bühler, Johannes: die sächsischen und salischen Kaiser. S. 40 f

[398] ebd. zitiert S. 86

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in umfassendster Weise. Sein Herrschaftsaufbau stellt zwar weder in der Idee noch in den angewandten Mitteln etwas völlig Neues dar, aber die zielführende Hinwendung eines bisher planlos geübten Gewohnheitsrechtes auf den Staatsgedanken führte zu teilweise neuen Verhältnissen.[399] Aber wenn diese Kirchenpolitik unter Otto I. die einzige Möglichkeit bot, den Staat zu retten und sich unter seinen Nachfolgern eine geraume Zeit bewährte, so war der Konflikt mit der Kirche und dem Papsttum unter anderen Verhältnissen nicht zu umgehen. Die ostfränkischen (deutschen) Kirchenfürsten wünschten naturgemäß keine Veränderung. Ihr maßgebender Einfluss auf die Staatsgeschäfte, ihre Vorzugsstellung der weltlichen Aristokratie gegenüber, die stete Vermehrung des Kirchenguts, möglichste Unabhängigkeit von Rom, die gerade die angesehensten Inhaber der Bischofstühle erstrebten, machten sie zu den natürlichsten Bundesgenossen der Krone. Von dem sittlich tief gesunkenen und in die Hände des verwilderten römischen Adels geratenen Papsttum konnte der Anstoß zu einer Umgestaltung nicht ausgehen, der kam von ganz anderer Seite.[400] In der katholischen Kirche, wie später auch in den Kirchen anderer Konfessionen und Denominationen, sind immer die zwei Strömungen erkennbar, die eine weltflüchtig, asketisch, die andere mehr welt-und kulturfreudig. Trotz aller Verschiedenheit und nicht selten heftiger Befehdung laufen beide auf ein gleiches Ziel hinaus: weltbeherrschende Stellung. Die eine sucht sie mit den Mitteln dieser Welt, Politik, Reichtum, Kunst, Wissenschaft, die andere durch Verachtung der Welt und ihrer Güter zu erreichen. Beide Strömungen sind immer da, doch wechselt ihre Vorherrschaft periodisch. Im Brief an die Hebräer im christlichen Kanon der Heiligen Schrift heißt es dazu in Kapitel 13, Vers 14: (14) Denn wir haben hier keine bleibende Stadt (=Wohnstätte, Heimat), sondern die zukünftige suchen wir.[401] Von diesem archimedischen Punkt bewegte das Christentum die Welt, wurde aber später als Weltbeweger in den Strudel der Welt hineingezogen. Doch wenn die Kirche schon völlig darin unterzugehen scheint, besinnt sie sich auf ihren ersten Ausgangspunkt, und der Kreislauf beginnt von neuem.[402]

Im Frankenreich und daran anschließend durch das ottonische Herrschaftsgefüge hatte sich die weltliche Einstellung der Kirche uneingeschränkt durchgesetzt. Die Schäden, die daraus erwachsen waren, bedingten die Zurückdrängung des asketischen Ideals, die eine Gegenbewegung auslöste. Die Klosterreformen von Cluny in Burgund und Gorze in Niederlothringen waren getragen von einem asketischen Geist, der sich zu einem wirksamen Wegbereiter aufschwang. Die Bewegung litt aber an einer Engstirnigkeit und Engherzigkeit, die aber als unumgänglich angesehen wurde, denn das durch lange Kriegswirren verwilderte Europa konnte eine fanatische Einseitigkeit besser durchdringen. Die Reformbewegungen waren in dem Teil des westfränkischen (französischen) Reiches entstanden, das noch zum HRR zugerechnet wurde. Die deutschen Kaiser von Otto I. an haben diese asketische Richtung in jeder Weise begünstigt. In dieser Haltung sollte keine widersprüchliche Inkonsequenz gesehen werden, denn das innere Erstarken der Kirche hatte seine Ursache in der Reformbewegung. Hätten sich die Kaiser entschlossen, dagegen vorzugehen, hätten sie der sittlichen Ausrichtung der Reformer Hindernisse bereitet und die Institution Kirche, auf die sich ihre Herrschaft wesentlich stützte, geschwächt. An solchen kaiserlichen Herrschaftsverständnis wäre nicht nur die kirchliche Welt, sondern mit ihr auch die politische Welt irre geworden, woraus ersichtlich ist, auf welchen Rückhalt die Kirche, trotz ihres Niederganges, zurückgreifen konnte.

[399] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 41 f

[400] ebd. S. 43

[401] Übersetzung nach Hermann Menge (ev.)

[402] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 44

 

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Die Vertreter eines neu entstandenen christlichen Ideals konnten sich einer Aufmerksamkeit und Bewunderung erfreuen. Die Reformer hatten auch nicht das Ziel verfolgt, die kaiserliche Herrschaft in Frage zu stellen. Cluny hielt noch unter Heinrich IV. (1056-1106) die Beziehungen zum kaiserlichen Hof aufrecht, und versuchte zwischen Kaiser und Papst zu vermitteln in einer Zeit, wo die Gegnerschaft zwischen Kaiser und Papst mit dem Gang nach Canossa 1077 seinen Höhepunkt erreicht hatte. Die Reformer in Lothringen hatten sich schon in dem Zeitraum davor Ideen geöffnet und Thesen vertreten, die  eine Unterwerfung der weltlichen unter die geistliche Herrschaft befürworteten, Vorstellungen, die unter Papst Gregor VII. (1073-1085) kompromisslos nach Verwirklichung trachteten. Der sächsische Kaiser Heinrich II. (1002-1024)) und der salische Kaiser Heinrich III. (1039-1056) ließen die Reformer gewähren, und bereiteten dem reformerischen Eifer keine Hindernisse. Die Reformer hatten einen Wiederhall gefunden, die ein Vorgehen von kaiserlicher Seite, da hier die Machtfrage berührt wurde, keine Erfolgsaussichten bot. Kaiser Otto I. hatte noch Päpste ab-und eingesetzt, eine Methode, die in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts auf schwer zu überwindende Gegenwehr stieß.

Heinrich I. hinterließ seinem Sohn Otto I. ein gefestigtes Reich, der so ein Fundament vorfand, auf dem weiterführende ausbaufähige Pläne verwirklicht werden konnten. Eine andere Herausforderung hatte Heinrich zu bestehen durch die in Zeitabständen wiederkehrenden Einfälle der Ungarn, die sich mit ihrer Kampftechnik, gestützt auf Reiterformationen mit schnellen wendigen Pferden, als unüberwindbar erwiesen hatten, weil von sächsischer Seite nicht Vergleichbares entgegengesetzt werden konnte. Ein glücklicher Umstand in den wechselvollen Kämpfen hatte es gefügt und die Möglichkeit geschaffen, einen neunjährigen Waffenstillstand zu vereinbaren, verbunden mit der Verpflichtung einer jährlichen Tributleistung. Der Waffenstillstand galt nur für Thüringen und Sachsen, Bayern und Schwaben waren davon ausgenommen, diese Gebiete waren weiterhin schutzlos den Einfällen ausgeliefert, die nicht auf Eroberung und Herrschaft aus waren, sondern als Raubzüge eingestuft werden konnten, sie drangen zeitweise bis ins Westfrankenreich (Frankreich) vor und bedrohten St. Gallen, in der heutigen Schweiz gelegen, ein für die damalige Zeit geradezu geheiligter Ort.[403] Der neunjährige Waffenstillstand wurde emsig genutzt, ein anders geartetes Reiterheer wurde geschaffen, das sich den Ungarn als ebenbürtig erwies, befestigte und besetzte Verteidigungsanlagen, als Burgen bezeichnet, wurden erbaut, in denen die „Bürger“ im Falle herannahender Gefahr Schutz suchen konnten. Die Maßnahmen bestanden im Jahre 933 ihre Bewährungsprobe, und es gelang erstmalig die Angreifer zurückzudrängen. Kriegerische Verwicklungen ergaben sich nach Osten gegen slawische Völker und nach Norden gegen die Dänen, König Knut ließ sich im Zuge dieser Zusammenstöße 928 christlich taufen. Die Kriege wurden nicht unter ethnischen oder gar nationalen, sondern unter christlichen Gesichtspunkten ausgetragen, ob zum Vorwand oder aus ehrlicher Meinung bedarf unterschiedlicher Beurteilung. Schon zu Zeiten Karls des Großen waren hierzu Richtlinien erlassen worden. Im Jahre 806 wurde kriegerischem Eifer von Priestern mit einer Verordnung begegnet. Sie verbot Propaganda für den Krieg. Kein Kleriker durfte Blut vergießen oder dazu auffordern, die Todesstrafe wurde erstmals eingeschränkt.[404]  

Heinrich hatte seinen Sohn Otto zum Nachfolger bestimmt, der durch die Vorarbeit seines Vaters die Herrschaft unter günstigen Voraussetzungen übernahm. Widukind von Coryey

[403] Bühler, Johannes: die sächsischen und salischen Kaiser. S. 88

[404] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser von Karl dem Großen bis Wilhelm II. Frankfurt a. M. S. 27

 

 

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überliefert dazu: Nachdem also Heinrich der Vater des Vaterlandes und der beste und größte König gestorben war, erkor alles Volk der Franken und Sachsen dessen Sohn Otto zu seinem Fürsten, den bereits sein Vater zum Könige bestimmt hatte. Man erklärte, der Ort der gemeinsamen Wahl müsse die Pfalz zu Aachen sein…[405]

Die Königskrönung 936 in Aachen war begleitet von Rivalitäten unter den Erzbischöfen des Reiches in Köln, Trier und Mainz, die in der späteren Geschichte noch von Bedeutung sein werden als die drei geistlichen Vertreter der sieben Kurfürsten, die ab 1356 berechtigt waren den deutschen König zu wählen. Jeder von ihnen beanspruchte das Recht Otto zum König zu weihen und zu salben. Der Erzbischof von Trier begründete seinen Anspruch, indem er das auf die Apostel zurückgehende Entstehungsdatum seiner Kirche anführte, der von Köln wies daraufhin, dass der Krönungsort auf dem Gebiet seiner Diözese liege, und der von Mainz pochte auf sein hohes Ansehen. Der Kompromiss, der gefunden wurde, entbehrt nicht der Merkwürdigkeiten. Der Mainzer durfte salben und krönen, der Kölner die Krone halten, der Trierer mit zum Throne gehen. Der neue Herrscher wurde zum Altar geführt, auf dem die Insignien des Reiches lagen: das Schwert mit dem Gürtel, Mantel und Armspangen, Zepter und Stab – und die Krone. Kleinodien alles, gefertigt von den ersten Künstlern des Landes, gewirkt aus Silber und Gold, besetzt mit edlen Steinen. Man schrieb ihnen übernatürliche Kräfte zu, die sie ihrem Träger verliehen. Das Te deum laudamus erklang: „Dich Gott, loben wir“, man kniete zum Gebet nieder und erflehte den Segen Gottes. Der Erzbischof von Mainz nahm das Schwert, überreichte es Otto und sprach: „Nimm dieses Schwert, vernichte damit alle Feinde des Herrn, die Heiden wie die schlechten Christen, denn kraft der Gewalt Gottes ist Dir die Macht gegeben über das Reich, auf dass der Frieden herrsche in der Christenheit.“[406]

„Schwer ruht das Haupt, das eine Krone drückt“, heißt es bei Shakespeare(1564-1616), einem Dichter, der den Geschlechtern der Sachsen, Salier und Staufer nicht geboren wurde. Ihre Triumphe und Tragödien hätten ihm gleichermaßen die Größe einer Dichtung geliefert, die er in seinem Land bei den Häusern York und Lancaster fand.[407]

Shakespeare starb zehn Tage nach seinem großen spanischen Zeitgenossen Miguel Cervantes (1547-1616), der für Spanien das ist, was Shakespeare für England, und wurde in der Holy Trinity Church beigesetzt. Auf der Steinplatte, die sein Grab markiert, steht die Inschrift:

GOOD FREND FOR JESUS SAKE FOREBEARE;

TO DIGG THE DUST ENCLOSED HEAR.

BLEST BE THE MAN THAT SPARES THES STONES,

AND CURSED BE HE THAT MOVES MY BONES.

 

O guter Freund, um Jesu Willen grabe nicht

im Staube, der hier eingeschlossen liegt.

Gesegnet sei, wer schonet diese Steine,

verflucht sei, wer bewegt meine Gebeine.

[405] zitiert in Bühler, Johannes: die sächsischen und salischen Kaiser. S. 101

[406] zitiert bei Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 28 f

[407] ebd. S. 30

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Shakespeares ehemaligen Theaterkollegen, veröffentlichten unter dem Titel: „Mr. Shakespeare’s Comedies, Histories and Tragedies“ in einem großformatigen Buch, dem eine Würdigung vorangestellt ist:

Triumph my Britain, thou hast one to show
To whom all scenes of Europe homage owe.
He was not of an age, but for all time! …

Britannien, frohlocke, du nennst ihn dein eigen,

vor dem Europas Bühnen sich verneigen.

Nicht einer Zeit gehört er, sondern allen Zeiten! (Aus Wikipedia)

 

Am Beispiel dieser beiden Namen ist abzulesen, welche Vielfalt die europäische Kultur und Geistesgeschichte zu bieten hat, sie sollte nicht durch einen gesteuerten Zentralismus eingeebnet und überlagert werden.

 

Wie schwer eine Krone drückt, bekam König Otto sehr bald zu spüren durch Druck von außen und von innen. Die Glocken begannen bald Sturm zu läuten über dem HRR, das er zu erhalten und zu erneuern trachtete. Da Herrschaft ausschließlich gegründet war auf die Persönlichkeit des Herrschenden, wurde jeder Thronwechsel zu einem Test. Getestet wurde wie stark der „Neue“ war und wie weit man mit ihm gehen konnte. Es hat zu allen Zeiten Parteien gegeben, deren Blütenträume unter dem alten Herrscher nicht gereift waren, und die ihr Heil vom Nachfolger erhofften. So auch hier, es kam zu Intrigen, zu Verschwörungen, zu Landfriedensbruch und zu Aufständen jenseits der Grenze. Als erstes erhoben sich die Böhmen, denen Ottos Vater das Joch hoher Tribute auferlegt hatte. Jetzt erachteten sie die Zeit für gekommen, die Last abzuschütteln, und sie fanden in Bolislav einen Anführer, dem die Aufgabe zufiel. Er rechtfertigte zu Beginn das Vertrauen, das in ihn gesetzt wurde. Das erste Heer, das ihm entgegengesandt wurde, unterlag. Ein zweiter Anlauf zu seiner Überwindung wurde unternommen durch die Merseburger, eine Truppe aus Dieben, Räubern, Wegelagerern, Totschlägern und Mördern, alle für den Galgen bestimmt, denen um den Preis einer Frontbewährung die Freiheit winkte. Gleichzeitig mit den Böhmen empörten sich die Slawen an der Elbe. Hier griff Otto ein in eigener Regie. Er setzte sich an die Spitze seiner Soldaten, war aber klug genug, sie nicht zu führen. Das überließ er erfahrenen Berufssoldaten, die einem Jahrzehnte dauerndem Grenzkrieg ergraut waren, den Gegner und sein Land kannten. Die schwere Kunst, sich selbst zu bescheiden und Aufgaben an den besseren Mann zu delegieren, war in der Geschichte nicht allen Herrschern gegeben, die sich „groß“ nannten oder groß genannt wurden, Otto beherrschte sie in Vollendung. Es gelang in östlicher Richtung gegen slawische Völker, Böhmen und Ungarn sich Erleichterung zu verschaffen, da gab es reichlich Ungemach im Inneren. Sächsische Grafen, die dem Frankenherzog Eberhard dienstverpflichtet waren, verweigerten sich mit der Begründung, der König sei aus dem Volk der Sachsen, und nur ihm fühlten sie sich zur Treue verpflichtet.[408] Eberhard wandte sich gegen Bruning, einem sächsischen Adeligen und Lehnsträger Eberhards, nahm dessen Stadt Heilmern, brannte sie nieder und tötete alle Einwohner. Eberhard war im Recht, hatte aber zum Mittel der Selbstjustiz gegriffen, ohne vorher das Gericht des Königs anzurufen. Er wurde verurteilt, Pferde im Werte von hundert Talenten zu liefern. Pferdebesitz war zur der Zeit ein Zeichen von Macht und Besitz. Eberhards Unterführer mussten eine Strafe hinnehmen, die sie in aller Öffentlichkeit der Verachtung preisgab, sie bestand darin einen toten Hund bis zur Königsstadt Magdeburg zu tragen. Ein geflügeltes Wort erinnert daran, wenn jemand, bildlich gesprochen, „auf den Hund gekommen ist“. Mit dieser Strafe wurden insbesondere die Freien bedacht, wenn sie gegen

[408] fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 30 f

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ihren Lehensherrn unbotmäßig geworden waren, was sie in ihrem gesellschaftlichen Stand herabminderte.[409] Ungemach bereiteten auch die Bayern und die nachkommen ihres Herzogs Arnulf. Widerwillig hatten sie an den Krönungsfeierlichkeiten in Aachen teilgenommen. Karl der Große und König Heinrich I. hatten sie schon mit viel Mühe zur Anerkennung ihrer Herrschaft gebracht. Ein Vorgang, der sich in nahezu regelmäßigen Zeitabständen wiederholen sollte, unabhängig vom Herrschafts-oder Regierungssystem, und der Widerspenstigen Zähmung ist nach mehr als tausend Jahren immer noch nicht abgeschlossen.[410] 

 

Es kehrte keine Ruhe ein, es erhob sich weiterer Widerstand aus einer Richtung, aus der Otto am wenigsten erwartet hatte, es war sein Stiefbruder Thankmar, der sich um die Krone betrogen glaubte, weil er der ältere der drei Brüder war. Spross aus erster Ehe des Vaters, die für nichtig erklärt worden war. Schon mit der Wahl seiner Mittel, um ans Ziel zu gelangen, hatte sich Thankmar in einer Weise vergriffen durch eine Tat der Willkür, die ihn als möglichen Herrscher disqualifizierte. Er überfiel Heinrich den jüngsten Bruder, nahm ihn in Geiselhaft und lieferte ihn an den Mitverschworenen Herzog Eberhard von Franken aus, der ihn auf seiner Eresburg gefangen setzte. Otto hatte sich nur schwer entschließen können, um Härte zu zeigen, denn er hatte gegenüber seinem Stiefbruder ein schlechtes Gewissen. Aber Milde zu zeigen angesichts einer so ruchlosen Tat, für die keine Rechtfertigung gefunden werden konnte, wäre missverstanden worden. Otto zog mit Heeresmacht gegen die Eresburg, wo er einzog, ohne Widerstand zu finden, weil die Besatzung ihm die Tore öffnete. Thankmar, von seinen Anhängern verlassen, gelang es sich in die Kirche zu retten, seine Waffen und die goldene Kette als Zeichen des Thronfolgers legte er auf den Altar, um seine Unterwerfung anzuzeigen.[411] Der heilige Ort galt schon im alten Israel als Schutzzone, die dem Frieden Gottes unterworfen war. Als König David sein Ende nahen sah, und seinen Sohn Salomo zum König und Nachfolger ausrufen ließ, widersetzte sich ein anderer Sohn Adonja und erhob Anspruch auf den Thron. König David bestätigte vor Salomos Mutter Batseba die Nachfolge ihres Sohnes. Adonja wurde von seinen Anhängern verlassen und Furcht überkam ihn. Im 1. Buch der Könige im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift wird darüber berichtet. Im 1. Kapitel in den Versen 50-53 ist zu lesen: (50) Aber Adonja fürchtete sich vor Salomo und machte sich auf, ging hin und fasste die Hörner des Altars. (51) Und es wurde Salomo berichtet: „Sieh Adonja fürchtet den König Salomo und sieh er fasst die Hörner des Altars und sagt: ‚Der König Salomo schwöre mir heute, dass er seinen Knecht nicht töten wird mit dem Schwert.‘“ (52) Salomo sagte: „Wird er redlich sein, so soll kein Haar von ihm zur Erde fallen, wird aber Böses an ihm gefunden, so soll er sterben.“ (53) Und der König Salomo sandte hin und ließ ihn vom Altar herabholen. Und als er kam fiel er vor dem König Salomo nieder. Salomo aber sagte zu ihm: „Geh in dein Haus.“[412] Mit Thankmar verlief es nicht so glimpflich, seine Verfolger brachen den Frieden und ermordeten ihn auf den Stufen des Altars. Otto ist über diese Tat entsetzt, er hat sie nicht befohlen und auch nicht gebilligt. Aber die Täter zu bestrafen, kann er sich nicht entschließen. „Er beklagte seines Bruders Ende“, schreibt Widukind von Corvey, „und zeigte seines Gemütes Größe, indem er Thankmars kriegerischer Tüchtigkeit und seiner Tugenden lobend gedachte.“ Die Strafe traf die vier vornehmsten Anhänger Thankmars, die noch am selben Abend, nachdem sie ihr letztes Gebet gesprochen hatten, hingerichtet wurden.[413]

Eberhard von Franken sah sich in gleicher Weise einer Bedrohung ausgesetzt, ihn konnte als Mitverschworenen das Gericht ebenso treffen. Er fand sich allein gelassen und wollte Frieden mit dem König und sah die Möglichkeit in Heinrich, den er noch in seiner Gewalt hatte.

[409] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S 105

[410] Fischer-Fabian: Die deutschen Cäsaren. S. 32

[411] ebd. S. 32 f

[412] revidierte Übersetzung nach Martin Luther. Wollerau 2009

[413] zitiert in Fischer-Fabian, Siegfried. S. 33

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Kurz entschlossen handelte er, wandte sich an Heinrich, bat flehentlich um Verzeihung, für das Ungemach, das er ihm bereitet hatte, zugleich machte er ihm ein verlockendes Angebot, er werde, so versicherte er ihm, der sich die Sehnsucht nach Krone bewahrt hatte, denn er hielt sich als „Purpurgeborener“ als ihr rechtmäßiger Besitzer, bei günstigerer Gelegenheit den nötigen Rückhalt bieten auf dem Wege zum ersehnten Ziel. Heinrich sollte, so war der Plan, sich bei seinem Bruder Otto für ihn verwenden, um Vergebung zu erlangen. Heinrich, ein Jüngling von siebzehn Jahren, ging ein auf den „Deal“, kehrte nach Quedlinburg zurück und wurde von Otto aufgenommen, wie ein verlorener Sohn, „mit mehr Liebe und Treue, als er selbst mitbrachte.[414] Durch Heinrichs Fürsprache durfte Eberhard vor dem König erscheinen, wurde aus Gründen der Staatsraison für einige Monate ins Exil geschickt, und dann, nach einem Treueschwur, in seine alten Ämter und Ehren eingesetzt. Bis hierher war der hinterhältige Plan vollständig aufgegangen. 

Die Ausführung ließ nicht lange auf sich warten, Heinrich bedrohte nicht nur seinen Bruder Otto, er war ebenso auf einem Wege, die Reichseinheit zu gefährden. Er wünschte dem König eine lange und gesegnete Regierungszeit, während ein wohlerwogener Plan heranreifte, Bündnisfühler ausgestreckt und die Organisation eines Aufstandes betrieben wurde. Er bewog den Herzog Giselbert von Lothringen, Schwager des Königs, zum Abfall vom Reich, Maßnahmen, die den Segenswünschen und Treuebekundungen folgten. Er suchte Unterstützung im westfränkischen Reich und erinnerte Herzog Eberhard an sein gegebenes Versprechen. Otto geriet zunehmend in Bedrängnis und war der Verzweiflung nahe, musste er doch erleben, wie Freunde sich abwandten, selbst engste Familienbande ich gegen ihn erhoben und entgegengebrachtes Vertrauen missbrauchten. Otto wähnte sich in der Gewissheit ein Werkzeug der Gnade Gottes zu sein, und Gott hatte ihn nicht auserwählt, um ihn scheitern zu lassen. Er behielt in Gegebenheiten, die als ausweglos erscheinen mussten, seine königliche Würde, wie es seiner Überzeugung entsprach. Ein Schlüssel, der ihn die Kraft zu überwinden verlieh. Die tiefe Religiosität dieses Königs hat etwas Kindliches und Erschütterndes zugleich an sich. Die himmlischen Heerscharen, die schutzgewährenden Heiligen waren für ihn Mächte, die wirklich existierten, die geradezu verpflichtet waren, ihm zu helfen.[415]

Im Jahre 939 gab Heinrich in Saalfeld ein großes Fest, zu dem zahlreiche Gäste erschienen waren, an die Heinrich großzügig, als sei er schon der König, Gaben verteilte, wodurch er unter ihnen Anhänger gewann. Auf Anraten seiner Mitverschworenen ließ er in Sachsen feste Plätze mit Besatzungen einrichten, und begab sich mit Getreuen nach Lothringen. Die Nachricht rief allenthalben Bestürzung hervor, weil die Vorgänge Krieg bedeuteten. Der König selbst hielt entsprechende Berichte nicht für glaubwürdig, als aber über ihre Richtigkeit keine Zweifel mehr bestehen konnten, folgte Otto mit Heeresmacht seinen Bruder nach. Die Stadt Dortmund beherbergte hinter ihren Festungsmauern eine Besatzung Heinrichs, sie wagte es nicht beim Herannahen Ottos, Widerstand zu leisten, und zog unter ihrem Befehlshaber Hagen aus der Stadt und begab sich in die Hände des Königs. Er erhielt den Auftrag, nachdem er den Treueid geleistet hatte, Heinrich entgegen zu ziehen und ihn umzustimmen. Im Falle der Weigerung sollte Hagen zum König zurückkehren. Heinrich und Giselbert rüsteten sich zum Kampfe und zogen dem König an den Rhein entgegen. Hagen, getreu seinem Schwur, begab sich mit einer kleinen Zahl über den Rhein. Sie standen auf dem linken Rheinufer einer Übermacht Heinrichs gegenüber.[416]

Eine vernichtende Niederlage schien unabwendbar. Da stieg Otto vom Pferd und ließ sich die Heilige Lanze reichen. Diese Lanze war ein Zeichen der Herrschaft und gehörte zu den Reichskleinodien. Was ihr jedoch eine Ausnahmestellung sicherte, war ein goldverzierter Nagel, den sie in einer Aussparung in der Mitte des Lanzenblattes trug. Es war einer der Nägel,

[414] zitiert aus Quellen der Zeit bei fischer-Fabian. S. 33

[415] ebd. S. 34 f

[415] Bühler, Johannes: die sächsischen und salischen Kaiser. S. 106 f

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mit den man in Jerusalem Jesus ans Kreuz geschlagen hatte. Die Menschen der Zeit glaubten fest daran, technische Möglichkeiten, das Alter von Stoffen zu bestimmen, wie es heute möglich ist, gab es zu der Zeit nicht. 386 wurde der Handel mit Reliquien oder sie von dem gesicherten Ort zu entfernen durch Codex Theodosianus untersagt. Dieses Verbot wurde auf dem 4. Laterankonzil 1215 bestätigt und in kanonisches Recht überführt. (Aus Wikipedia) Dennoch kam es im Laufe der Jahrhunderte zu einem inflationären Handel mit Reliquien.

Ein Bericht aus den Quellen der Zeit ist überliefert, wie König Otto die Heilige Lanz in die Erde stieß, den Helm vom Kopf riss, die Arme zum Himmel emporhob und schrie: „Herr, der Du alles geschaffen hat und alles lenkst, siehe herab auf dieses Volk, an dessen Spitze Dein Wille mich gestellt. Rette jetzt vor unseren Feinden, damit alle Welt erfahre, dass es eitel ist, sich gegen das aufzulehnen, was Du gewollt!“ Der Bericht und das Gebet hätte auch aus dem Hebräischen Kanon der Heiligen Schrift über einen der Könige Israels stammen können.

Und ihm wurde geholfen! Dem kleinen Haufen Gewappneter auf dem linken Rheinufer, es heißt, es seien hundert Geharnischte gewesen, denen es durch Kriegslist gelang, die Übermacht zu zersprengen, wobei Heinrich einen Hieb erlitt, an dem er sein Leben lang zu leiden hatte.[417]

Nach der Kunde vom Abfall seiner Städte und durch des Königs Sieg entmutigt, kehrte Heinrich mit nur neun Rittern langsam nach Sachsen zur Stadt Merseburg. Daraufhin kehrte auch der König um und belagerte mit seinem Heere die Stadt, in der sich sein Bruder aufhielt. Nach zwei Monaten ergab sich Heinrich.[418] Er streckte die Waffen, unterwarf sich seinem Bruder und wurde nicht nur in Gnaden aufgenommen, er erhielt sogar durch Giselberts Tod das Herzogtum Lothringen. Was Zeitgenossen und die Nachfahren nach so viel Nachsichtigkeit in Erstaunen versetzte. Heinrich empörte sich erneut, und fand Unterstützung in unzufriedenen Heerführern, die jenseits der Elbe unter harten Umständen ihre Abwehrbereitschaft gegen Angriffe slawischer Völker beweisen mussten. Sie vermissten für den geleisteten Dienst eine entsprechende Anerkennung, und waren so für Heinrichs erneute Umsturzpläne zu gewinnen. 941sollte das Osterfest in Quedlinburg, einer von Ottos Lieblingsresidenzen, begangen werden. Der Plan sah vor, die Gelegenheit zu nutzen, während der in österlicher Stimmung versunkenen Versammlung, König Otto zu ermorden. Dieser Gipfel der Niedertracht nahm jedoch nicht den gewünschten Verlauf, weil ein Mitverschwörer Verrat übte. Otto wurde bedrängt, die Feierlichkeiten abzusagen, zu einem solchen Schritt aber war der König nicht bereit. Es wäre ein Eingeständnis von Furcht und Feigheit gewesen, unvereinbar mit der königlichen Würde. Am vorgesehenen Ablauf der Festlichkeiten wurde nichts geändert, nur die Zahl der Leibwächter wurde verdoppelt. Die Täter waren gewarnt, der Mordplan wurde fallen gelassen. Dafür wurde ein blutiges öffentliches Strafgericht in Magdeburg abgehalten. Otto verfuhr hier nach dem zu allen Zeiten geübten Grundsatz, die Kleinen hängen, die Großen schonen. Die wirklich Schuldigen wurden mit Verbannung und Einziehung der Besitztümer auf Zeit bestraft. Der Bruder, der den Bruder ermorden wollte, kam nach Ingelheim in Untersuchungshaft, bis ein Ehrengericht der Herzöge über ihn entschieden hatte. Heinrich entkam mit Hilfe eines bestechlichen Priesters und entfloh, aber nicht um erneut einen Aufstand zu entfachen. Zum Weihnachtsfest 941 im Frankfurter Dom erschien Heinrich als Büßer. Die „Frankfurter Weihnacht“ hat noch nach tausend Jahren ihren Widerhall gefunden in Werken der Maler und Dichter. Besonders beeindruckend aber ist der in Versform gehaltene Bericht der Zeitzeugin Roswitha von Gandersheim (935-1002).  Roswitha lebte als Nonne in einem Kloster zwischen Harz und Leine im niedersächsischen Bergland gelegenen Reichsstift, dessen Äbtissin, Gerberga, eine Nichte Ottos war. Roswitha von Gandersheim war daher stets gut informiert über Affären am Hofe der Ottonen. In ihrer „Gesta Oddonis Caesaris Augusti besang sie die Taten Ottos, dem neuen Cäsar Augustus, die sie ihm eigenhändig überreichen durfte. Albrecht Dürer (1471-1528) hat die Szene in einem Holzschnitt festgehalten, wie Roswitha auf den

[417] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren: S. 35

[418] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 108

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Knien Otto die von ihr verfasste Geschichte dem sitzenden Otto überreicht, neben ihm sitzend die Äbtissin Gerberga. (aus Wikipedia) Roswitha hat die Ereignisse der „Frankfurter Weihnacht“ herzbewegend in Hexametern festgehalten. Bei der Wiedergabe in deutscher Sprache handelt es sich um eine Übersetzung, denn Roswitha hat ihr umfangreiches literarisches Werk in lateinischer Sprache verfasst,[419] was auf einem beachtlichen Fundus an klassischer Bildung schließen lässt.

 

Hier ein Ausschnitt zu den Ereignissen in der „Frankfurter Weihnacht:“

 

Unter den heiligen Gesängen der hochehrwürdigen Weihnacht

Nackten Fußes betretend die heilige Schwelle des Domes

Scheut er sich nicht vor grimmigen Frost beim toben des Winters,

Sondern er warf sich nieder am heiligen Altar mit dem Antlitz,

Fest anschmiegend den adeligen Leib der gefrorenen Erde.

So mit der ganzen Gewalt des schmerzlich bewegten Gemütes

Flehte der Herzog darum, der Verzeihung Geschenk zu gewinnen.

Als es der König vernommen, besiegte die Liebe die Strenge,

und des nahenden Festes, das alle verehren, gedenkend,

bei dem Frieden der Welt verkünden die Himmelsbewohner,

ihres Königs froh von zarter Jungfrau geboren,

dass er liebend löse die Welt schon reif zum Verderben,

solchem Tage mithin, dem Bringer des Friedens zur Ehre,

fühlt er Erbarmen, gerührt vom Schuldbekenntnis des Bruders,

und gönnt liebend ihm wieder Besitz von seiner Geneigtheit

Nebst dem ersehnten Geschenk von seiner vollen Vergebung.[420]

 

Von Zerknirschung und Reue konnte nach diesem Vorfall keine Rede sein. Heinrich hatte eingesehen, dass er seinen Ehrgeiz nur mit seinem Bruder zufrieden stellen konnte, nicht gegen ihn. Seine Demütigung war ein politischer Schachzug. Ottos Rechnung ging scheinbar auf. „Nicht wie ein Bruder trat er auf von nun an“, schreibt Roswitha über Heinrich, „sondern wie ein Sklave suchte er Ottos Befehle zu erfüllen.“ Aus Trotz wurde Beflissenheit, aus Empörung bedingungslose Unterwerfung, und es galt die freigewordene Stelle des Herzogs von Bayern neu zu besetzen, und Heinrich erwies sich als geeigneter Kandidat. Gegen seinen König hat er nicht mehr integriert, dafür gegen des Königs Sohn Liudolf, den Liebling des Vaters. Eine Intrige, die Schuld war, das Land wieder in einen Krieg zu stürzen, der Söhne gegen den Vater.[421]

Bevor sich Roswitha dem Leben Ottos zuwandte, verfasste sie in Hexametern gehaltene Werke, die das Frömmigkeitsideal betonen, beginnend mit Maria der Mutter Jesu und weiteren Heiligen und Märtyrerinnen. In Abgrenzung dazu verfasste sie ein Dramenbuch, für das der römische Lustspieldichter Publius Terenz (195-159 v. Chr.) das Vorbild abgab in formaler, nicht in sittlicher Hinsicht. An Stelle schlüpfriger Liebesgeschichten trat die Darstellung keuscher und frommer Jungfrauen. Um den nötigen Kontrast zu erzielen zwischen Tugend und Verderbtheit und die Standhaftigkeit christlicher Frauen und Männer ins Licht zu setzen, bevölkerte sie die Szene mit Huren, Kupplerinnen, Sadisten und Masochisten. In ihrem Drama Sapientia werden die Heldinnen entjungfert, ausgepeitscht, schließlich schneidet man ihnen die Brüste ab, aus denen reine Milch nicht Blut fließt.[422]

[419] Fischer-Fabian, Siegfried: S. 37 f

[420] zitiert in Bühler, Johannes: S. 112

[421] Fischer-Fabian, Siefried: S. 38

[422] ebd. S. 37 f

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Die frühesten Zeugnisse epischer Dichtung in Hexametern (Sechsmaß) finden sich bei Homer in der Ilias und Odyssee (800 v. Chr.). Diese Literaturgattung war bestimmend für Roswithas literarisches Schaffen.

Roswitha, die in ihrer Zeit die Bezeichnung „helltönende Stimme aus Gandersheim“ gefunden hatte, ist als Frau eine herausragende Erscheinung in der Literaturgeschichte, und der Nachhall war daher beträchtlich, kann sie doch gleichgestellt werden mit männlichen Geistesgrößen durch die Kultur-und Geistesgeschichte über alle Zeiten hinweg. Im 15. Jahrhundert erhoben sich Stimmen, die sie als Verfasserin überhaupt in Frage stellten, bis hin zum Vorwurf der Fälschung. Ein Schicksal, das sie mit Homer und Shakespeare teilt, denn auch bei diesen beiden ist angezweifelt worden, ob ein Individuum fähig sein könnte, ein literarisches Werk solchen Ausmaßes zu schaffen. Für Roswitha tritt noch ein anderes hinzu: Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte, das eine Frau des Lateinischen in einer Weise mächtig war, die sie ebenbürtig erscheinen ließ neben den Großen der antiken Geisteswelt. Sie ist und bleibt als Frau eine große Ausnahmeerscheinung.

Vollends im 19. Und noch mehr im 20. Jahrhundert diente sie als Instrumentarium, um sie stilgerecht als Vorkämpferin für die Gleichberechtigung der Frau und Frauenrechte erscheinen zu lassen. Das „finstere“ Mittelalter hat Frauenpersönlichkeiten hervorgebracht wie selten davor und danach, die Spuren hinterlassen haben über ihre Zeit hinweg und entsprechende Würdigung verdienen: Adelheid von Burgund (931-999), Matilde von Quedlinburg (955-999), Theophano (960-991) und Hildegard von Bingen (1088-1179). Alle diese Frauen entstammten dem herrschenden Adel, und sie hätten sich nicht hergegeben zu einem Kampf für gesellschaftliche Veränderungen. Sie hätten dazu genauso wenig Verständnis aufgebracht wie die britische Königin Victoria (1837-1901), die kein Verständnis hatte für das Aufbegehren der Frauen, das sich zu ihrer Zeit abzeichnete. Die Geschichte Großbritanniens kann mit einer Besonderheit aufwarten, seine Geschichte hat zwei Frauen als Herrscherpersönlichkeiten hervorgebracht, die einer ganzen Epoche den Namen gaben, das Elisabethanische Zeitalter für die Herrschaft Königin Elisabeth I. (1558-1603) und das Victorianische Zeitalter, benannt nach Königin Victoria. Schon für das Zeitalter der Ottonen und sächsischen Kaiser (936-1024) spricht die Geschichtsschreibung im 19. Und noch mehr im 20. Jahrhundert von Deutschland und Frankreich, von Germanen und Slawen, um so ethnische und nationale Gegensätze herauszuarbeiten. Solche Denkkategorien waren in dem zu betrachtenden Zeitraum fremd. Es ist nicht ohne Risiko für den Historiker, Analogien von einer Geschichtsepoche auf die andere zu übertragen. Nationalstaatliches Denken passt nicht in die Zeit des HRR und kann auch nicht passend gemacht werden. Das gilt noch viel mehr für den von den Nationalsozialisten entfachten Germanenkult. Die Zeit des HRR blieb zur Zeit der NS-Herrschaft unerwähnt, und nicht nur das, die Zeit wurde mit betonter Nichtachtung übergangen bis hin zu der Feststellung, diese Zeit sei für Deutschland eine verlorene Zeit gewesen. NS-Ideologie und HRR sind unüberbrückbare Gegensatze. In den Kämpfen, die das HRR zu bestehen hatte, ging es nicht um Germanen oder um Deutschland als Nation. Die Germanenvölker, die auf den verschiedenen Gebieten des weströmischen Reiches ihrer Herrschaft errichteten, haben zu keiner Zeit eine ethnisch begründete Gewaltherrschaft angestrebt. Aus ihren Herrschaftsgebieten, die identisch sind mit dem heutigen Staatsgebiet Britanniens, Frankreichs, Italiens, Spaniens und später den Niederlanden, entstanden Staaten mit unverwechselbarer Identität, eigener Kultur und Sprache und somit gänzlich eigenständiger Entwicklung, mit nur einem verbindenden Grundgedanken: dem christlichen Glauben, der allerdings besonders nach der Zeit der Reformation, eher auseinander strebende, statt verbindende Kraft hervorbrachte, und daher zu schwach war, einen starken Zusammenhalt zu schaffen.

Eine Erneuerung des Staatsgedankens, der prägend gewesen war für das HRR, kam auf dem Wiener Kongress, wo 1814/15 nach der Niederringung Napoleons I. die Neuordnung Europas ausgehandelt wurde, nicht in Betracht, obwohl der Untergang des HRR, das formal bis 1806 bestanden hatte, noch keine zehn Jahre zurücklag. An seine Stelle trat die „Heilige Allianz“,

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gestützt auf den dynastischen Frieden des Wiener Kongresses. Bereits 1814 hatte der britischen Außenminister Viscount Castlereagh für ein regelmäßiges Treffen der fünf europäischen Großmächte (Pentarchie) geworben, was zusammen mit der Anregung des russischen Zaren Alexander I. (1777-1825), der bereits1804 erste Vorstöße in London unternommen hatte, zur Gründung der Heiligen Allianz führte. Alexander I. war es auch, der den Vertrag entwarf. Das Bündnis kam zustande, obwohl die drei Monarchen unterschiedlichen christlichen Konfessionen angehörten: Der russische Zar war orthodox, Kaiser Franz I. (1768-1835) von Österreich römisch-katholisch und König Friedrich Wilhelm III. (1797-1840) von Preußen evangelisch. Der Gründungsakt durch die drei genannten Monarchen geschah im September 1815 in Paris, 1818 schloss sich Frankreich der Allianz an, der sich mit Ausnahme des britischen Königs Georg III. (1738-1820), für den sein Sohn, später Georg IV. (1820-1830), die Regentschaft führte und des Papstes alle europäischen Monarchen anschlossen.  

 

Gründungserklärung der Heiligen Allianz vom 26. September 1815:

„Im Namen der heiligen und unteilbaren Dreieinigkeit! Ihre Majestäten, der Kaiser von Österreich, der König von Preußen und der Zar von Russland haben infolge der großen Ereignisse, die Europa in den letzten drei Jahren erfüllt haben, und besonders der Wohltaten, die die göttliche Vorsehung über die Staaten ausgegossen hat, deren Regierungen ihr Vertrauen und ihre Hoffnungen auf sie allein gesetzt haben, die innere Überzeugung gewonnen, dass es notwendig ist, ihre gegenseitigen Beziehungen auf die erhabenen Wahrheiten zu begründen, die die unvergängliche Religion des göttlichen Erlösers lehrt. Sie erklären daher feierlich, dass die gegenwärtige Vereinbarung lediglich den Zweck hat, vor aller Welt ihren unerschütterlichen Entschluss zu bekunden, als die Richtschnur ihres Verhaltens in der inneren Verwaltung ihrer Staaten sowohl als durch in den politischen Beziehungen zu jeder anderen Regierung alleine die Gebote der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens, die, weit entfernt, nur auf das Privatleben anwendbar zu sein, erst recht die Entschließung der Fürsten direkt beeinflussen und alle ihre Schritte lenken sollen, damit sie so den menschlichen Einrichtungen Dauer verleihen und ihren Unvollkommenheiten abhelfen.“

In dieser Gründungserklärung finden die kraftvoll ausgeführten Kernaussagen des Evangeliums von Jesus Christus keinen Niederschlag, darum wurden auch die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen und Reformen den Gegnern des Evangeliums überlassen.

Von Roswitha von Gandersheim ausgehend, lässt sich im 19. Jahrhundert eine Dichterin, Schriftstellerin und Komponistin ausmachen: Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848). Sie ist vergleichbar mit Roswitha, steht auch sie im Rahmen der Zeit als Frau ebenfalls eine Ausnahmeerscheinung dar. Die Novelle „Die Judenbuche“ und die Ballade „Der Knabe im Moor“ geben einen tiefen Einblick in das Wesen ihres Schaffens, geprägt von ebenso tiefer Religiosität. Sie entstammte Adelskreisen, wie überhaupt die Kultur und Geistesgeschichte in Deutschland mit ihren Höhepunkten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur durch die Stütze des herrschenden Adels eine so herausragende Stellung einnehmen konnte. Dieser Epoche, die Deutschland den Ruf einbrachte, das Volk der Dichter und Denker zu sein, ist nach dem Zweiten Weltkrieg das Zeugnis zuteil geworden, sie habe zu wenig revolutionären Geist aufzuweisen und habe daher dem obrigkeitsstaatlichen Denken Vorschub geleistet. Diese Einschätzung hält der historischen Wirklichkeit nicht stand, nur nimmt diese Geisteswelt Abstand von revolutionären Exzessen. In der britischen Geschichte ist es gelungen ausgleichend zu wirken nach innen wie nach außen, weshalb ihr die Verwerfungen, die den Kontinent erschütterten, erspart blieb, darum ist die Geschichte Britanniens um vieles glücklicher verlaufen. Von Goethe ist sinngemäß das Zitat überliefert: Die Geschichte sei im Grunde ein Kampf zwischen Glauben und Unglauben. Diese Aussage

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kann im übertragenen Sinne angewandt werden mit der Feststellung: Die Geschichte ist im Grunde ein Kampf zwischen Republik und Monarchie. In Britanniens Geschichte ist es gelungen, die Gegensätze aufzuheben, ganz im besten Sinne der Philosophie Hegels.

Schon unter Karl dem Großen gestalteten sich enge Beziehungen zur angelsächsischen Welt, die unter Otto dem Großen ihre Fortsetzung fanden 929 durch seine Heirat mit Edith, der Tochter eines angelsächsischen Königs Aethelstan. Die Angelsachsen waren die Vettern der Sachsen, sie hatten den Kontinent während der Völkerwanderung verlassen, der Kontakt mit ihnen war jedoch nie abgerissen, und eheliche Verbindungen bedeuteten einflussreiche Verschwägerungen in ganz Europa.[423] Mehr als tausend Jahre später hieß es von Königin Victoria, sie sei die Großmutter Europas.

Das Jahr 946 wurde durch ein Unglück, welches das ganze Sachsenvolk betraf, denkwürdig. Es starb nämlich die Königin Edith, seligen Andenkens. Ihren Sterbetag, den 26. Januar, begingen die Sachsen mit Seufzern und Tränen. Sie entstammte dem Volke der Angeln und war durch ihre große Frömmigkeit wie durch ihre hohe königliche Abstammung gleich berühmt. Zehn Jahre teilte sie mit dem König den Thron, im elften starb sie, nachdem sie neunzehn Jahre in Sachsen gelebt hatte. Sie hinterließ einen Sohn, Ludolf, den dazumal kein Mensch an körperlichen und geistigen Fähigkeiten übertraf, und eine Tochter, Luitgard, welche den Herzog Konrad von Lothringen heiratete. Die Königin wurde zu Magdeburg in der neuen Kirche begraben.[424]

Das überschwängliche Lob, das dem Lieblingssohn Ludolf (Liudolf) in diesem zeitgenössischen Bericht zu Teil wird, sollte bald bitterer Trauer und Enttäuschung weichen, doch bis es dahin kam, sollten noch andere Ereignisse von bedrohlichem Ausmaß stattfinden.

Hierzu ein zeitgenössischer Bericht über Kämpfe im Grenzgebiet mit verschiedenen slawischen Völkerschaften: In Folge unserer inneren Unruhen wurden die Slawen übermütig, sengten, mordeten und plünderten und suchten Gero, den der König über sie gesetzt hatte, tückisch zu beseitigen. Doch der kam ihrer List mit einer Gegenlist zuvor und ließ bei einem großen Festgelage in einer Nacht an die dreißig sinnlos betrunkene Barbarenhäuptlinge erschlagen. Da sich Gero allein gegen die zahlreichen Stämme nicht halten konnte – auch die Abodriten empörten sich damals und rieben eins unserer Heere auf –, so führte der König des Öfteren ein Aufgebot gegen sie, schädigte sie empfindlich, bedrückte sie schwer und bedrohte sie mit völliger Vernichtung. Trotzdem war ihnen der Krieg immer lieber als der Frieden, für die leidenschaftlich geliebte Freiheit achteten sie alles Elend für nichts. Dieser Menschenschlag ist hart, erträgt jede Not, ist an ganz kärgliche Nahrung gewöhnt, und worüber die Unseren als erdrückende Beschwerde stöhnen, das macht den Slawen noch eine Art Vergnügen. So verging Tag um Tag, Sieg folgte auf Niederlage und Niederlage auf Sieg: Hier ging es um Ruhm um das große weite Reich, dort um Freiheit oder tiefste Knechtschaft. Der Sachse war dazumal von zahlreichen Feinden umringt: von Slawen im Osten, den Franken im Süden, den Lothringern im Westen, den Dänen und weiteren Slawenvölkern im Norden. Das war auch der Grund, weshalb sich der Kampf mit den Slawen so in die Länge zog.[425] Deutsche oder Germanen im Gegensatz zu Slawen sind in diesem Bericht nicht zu finden, es ging eben nicht um ethnische oder nationale Gegensätze. Im Vordergrund stand der Kampf Heiden gegen Christen. Bezeichnend ist auch, wenn von Barbaren gesprochen wird. Dieser Begriff war offenbar aus der Antike herübergerettet worden, die Griechen und Römer benutzten ihn, um damit

[423] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 21

[424] Bühler, Johannes: die sächsischen und salischen Kaiser: S. 115 f

[425] ebd. S. 109

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die Überlegenheit ihrer  geistigen und kulturellen Errungenschaften hervorzuheben als Abgrenzung gegen die sie umgebenden Völker, die als rückständig, unfähig und unzivilisiert angesehen wurden. Völkische und religiöse Zugehörigkeit waren hierbei zweitrangig.

Nicht nur in östliche Richtung bewegten sich Ottos Heere. 946 sah er sich veranlasst ins Westfrankenreich einzudringen, um in die dort ausgebrochenen Kämpfe zwischen den Adelsgeschlechtern ein zugreifen. Seit 936 herrschte, von Hugo dem Großen (898-956) auf den Thron erhoben, der Sohn Karls des Einfältigen (879-929), Ludwig IV: (920-954), in Westfranken (Frankreich), der  noch dem Geschlecht der Karolinger angehörte, und sich von Hugo, dem eigentlichen Machthaber befreien wollte, ein Machtkampf wie zuvor zwischen den Merowingern und Karolingern. Beide waren mit Otto I. verschwägert und suchen seinen Beistand, dem so eine Rolle als Schiedsrichter und Vermittler zukam.[426] Der Sohn Hugos, Hugo Capet (941-996), wurde der Begründer einer neuen Dynastie und eines Dynastiewechsels von den Karolingern zu den Kapetingern. Die Kapetinger sind heute das älteste noch auf den Mannesstamm zurückgehende Herrschergeschlecht des europäischen Hochadels, und damit die älteste noch blühende Familie Europas, vertreten durch die Häuser Bourbon, Orléans und Braganz. Im Verlauf einer über tausendjährigen Geschichte stellte es neben den Königen Frankreichs eine große Anzahl von Monarchen bereits erloschener und noch bestehender Monarchien. Aktuell regierende Monarchen, die auf die Kapetinger zurückgeführt werden können, sind König Philipp IV. von Spanien und Großherzog Henri von Luxemburg. (aus Wikipedia)

Otto versammelte seine Heeresmacht bei Cambrai im äußersten Nordwesten des heutigen Frankreich gelegen. Hugo ließ Ludwig, gewarnt durch den Anmarsch Ottos, freie Hand, der ritt Otto entgegen und schloss sich ihm an. König Otto zog mit seinem Heer gegen das westwärts gelegene Laon und von dort nach Paris, um Hugo zu belagern. Ein Angriff auf Reims führte zur Absetzung des amtierenden Bischofs, der durch einen anderen; Ludwig gewogenen, ersetzt wurde. Eine Anzahl seiner Krieger wurde nach Rouen, eine Stadt in Küstennähe des Atlantiks gelegen, entsandt. In dieser Stadt hatten dänische Wikinger ihre Herrschaft errichtet, eine Belagerung erwies sich als undurchführbar. Nach drei Monaten führte Otto sein Heer zurück nach Sachsen. Die zuvor eingenommenen Gebiete und Städte wurden in die Hände Ludwigs gegeben. Im darauf folgenden Jahr verständigten sich Otto und Hugo und regelten die offen gebliebenen Fragen vertraglich.[427]

Ottos nächstes Unternehmen von wirklich historischem Ausmaß startete 951. Es war seine erste Italienreise, die mit einem wahren, filmreifen Abenteuer in Zusammenhang stand. In dem Jahr kam es in Como am Comer See zu einem skandalträchtigen politischen Zwischenfall, der im Nu in aller Munde war. Rompilger trugen die Neuigkeit auf ihrem Heimweg über die Alpen in das Reich Ottos. Die Einzelheiten der Berichte erregten die Gemüter und schufen ein Klima des Zornes und des Mitleids. Die Heldin des dramatischen Geschehens war eine Frau, was die Gemütsbewegungen zusätzlich steigerte. Eine Frau von Jugend und Schönheit, von hohem Adel, und darüber hinaus knüpften verwandtschaftliche Bande sie an das regierende Geschlecht des Sachsenkönigs, was die Brisanz des Falles weiter steigerte. Besonders ins Blickfeld geriet ein „welsches Pärchen“, mit Namen Berengar und Willa, was sich leicht zu einem verallgemeinerten Urteil ausweitete über eine bestimmte südländische Mentalität. In Italien herrschten seit Erlöschen der karolingischen, dynastischen Linie friedlose Zustände, die Zerstörung und Unsicherheit nach sich zogen. Unterschiedliche Fürstengeschlechter beanspruchten den Thron als König von Italien, und jeder war überzeugt, der von Gott berufene zu sein.

[426] Bühler, Johannes: die sächsischen und salischen Kaiser. S. 410

[427] ebd. S. 116 f

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Beteiligt waren fränkische, langobardische und italienische Geschlechter. Sie scheuten selbst ein Bündnis mit Sarazenen und Ungarn nicht, die immer wieder marodierend durchs Land zogen, um ans Ziel, die Königswürde über Italien, zu gelangen. Lothar, Sohn Hugos I. (887-947), König von Reichsitalien von 926-946, konnte sich in dem Streit gegen seine Gegner behaupten und die Krone Italiens für sich erringen. Gute Beziehungen zu den Schlüsselmächten der Zeit: Byzanz, dem päpstlichen Rom, Burgund und dem Hof Ottos halfen seine Herrschaft zu festigen. Ein ernst zu nehmender Mitbewerber war Markgraf Berengar gewesen, er zeigte wenig Bereitschaft, sich mit dem Ergebnis abzufinden. Da starb König Lothar 950 nach zwei Regierungsjahren. Markgraf Berengar trat die Nachfolge an und ließ sich unvermittelt zum König von Italien krönen. Lothar hatte eine Witwe hinterlassen, Adelheid von Burgund, die über großen Rückhalt verfügte, der ihr bescheinigte, nur ein von ihr erwählter Gatte könne König von Italien sein. Berengar wollte es soweit nicht kommen lassen, Adelheid wurde ausgeraubt, misshandelt und in ein Burgverließ geworfen. Fluchtmöglichkeiten von einem einsam gelegenen Bergschloss ergaben sich nicht. Ein Pater und eine Dienerin wurden ihr gelassen, neben der Möglichkeit, das Verließ in Zeitabständen zu verlassen, um sich auf einem Söller Erholung zu verschaffen. Die Zeit wurde genutzt, um die Umgebung auszuforschen nach einer Möglichkeit zu entkommen. Ein Burgbediensteter formt aus gehackten Holzscheiten Buchstaben, die das Wort GRABET ergeben. Die Gefangenen machen sich ans Werk und beginnen eine mühsame Wochen andauernde Auflockerung des im Verließ festgestampften Lehmbodens, bis sie an eine grottenähnliche Vertiefung gelangen, die in einen Gang mündet, der einmal als geheime Fluchtmöglichkeit gedacht war. Es beginnt eine mit Gefahren verbundene Flucht durch Wälder, Kornfelder und Sümpfen. Der Pater war vorausgeeilt, um die geglückte Flucht bei Personen des Vertrauens zu melden. Odilo, Abt des Klosters Cluny, von wo eine weit beachtete Reformbewegung ausgegangen war, hat sich dazu geäußert, ganz im Stile einer von Cluny ausgegangenen Frömmigkeit: „Gott wollte sie durch viele Schläge züchtigen, auf das nicht strafbare Fleischeslust das noch jugendliche Weib durchglühe und sie als Witwe lebendig in Lüsten erstürbe.[428] Diese bis in Einzelheiten gehende Schilderung wahrhaft dramatischer Ereignisse, steht im Gegensatz zur vielfach in der Geschichtsschreibung vereinfachten Darstellung, sie habe ihre Freiheit dem Eingreifen König Ottos zu verdanken, als Otto sie traf und sich mit ihr verband, war sie schon in Freiheit, wenn auch einer gefährdeten Freiheit. Der Abt Odilo war Adelheit schon zu Lebzeiten ein vertrauter Freund, fühlte sich berufen, ihr Andenken zu verherrlichen und, um die Erinnerung wachzuhalten, ihr eine Gedächtnisschrift zu widmen, die bis heute die Grundlage aller biographischen Versuche über die Kaiserin Adelheit geblieben ist.[429] Mutter der Herrschenden wurde Adelheid von Gerbert von Aurillac (946-1003) genannt, womit er das Höchste an Achtung und Ehrerbietung zum Ausdruck bringen wollte für die Frau, der Mutter wie der Herrscherin Adelheid, die ein halbes Jahrhundert zuerst als Gemahlin König Ottos I., dann als Kaiserin und später als Mutter zweier Imperatoren, Ottos II. (973-983) und Großmutter Ottos III. (983-1002) die Geschicke des Reiches entscheidend mitgestaltete.[430] Dem Urteil Gerberts von Aurillac kommt besondere Bedeutung zu, weil der Lebenslauf dieses Mönches in dem Umfeld der Zeit etwas Außergewöhnliches darstellt. Am Beginn seines Lebens, beheimatet in Aquitanien, im Südwesten des heutigen Frankreich gelegen, entstammte einfachen ärmlichen Verhältnissen, was ihn abhob von den Bischöfen und Päpsten seiner Zeit, die zumeist dem Hochadel angehörten. Von kleinen Anfängen, die mit der Aufnahme in einem Kloster begannen. Er wurde als Mönch geweiht, was nicht selbstverständlich war, denn er galt aufgrund seiner Herkunft

[428] zitiert bei Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 40

[429] Aus der Festschrift zur Jahrtausendfeier der Kaiserkrönung Ottos des Großen. Zweiter Teil. Die Lebensbeschreibung der Kaiserin Adelheit von Abt Odilio von Cluny. Bearbeitet von Herbert Paulhart. Graz/Köln 1962.

S. 7

[430] ebd. S. 7

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als Laienbruder. 967 fiel der junge Mönch dem spanischen Adeligen Borrel II. auf, der im Kloster zu Besuch war, ihn mitnahm nach Spanien, und dort zu mathematischen Studien bewegte. Er hielt sich zwei Jahre in Spanien auf, und studierte in der christlichen Stadt Barcelona Naturwissenschaften. Er wurde auch bekannt gemacht mit dem arabischen Zahlensystem, allerdings noch ohne die Null, ein System, das eigentlich durch arabische Vermittlung von Indien übernommen worden war. Mit diesen Studien wurde ihm die Möglichkeit eröffnet, einen Wissensstand zu erreichen, der im christlichen Resteuropa ungewöhnlich hoch war. 969 begleitete er Borrell II. auf eine Pilgerreise nach Rom, dort traf er Papst Johannes XIII. (Papst von 965-972) und Kaiser Otto I. Auf Anraten des Papstes wurde Gerbert als Tutor für den jungen Sohn, später Otto II. eingesetzt, von hier aus wurde er nach Reims entsandt, wo er seine Studien vervollständigte. Aus dieser Zeit sind Briefe erhalten, in denen Gerbert die Wichtigkeit mathematischer Studien hervorhob. 982 wurde er durch die Fürsprache Otto II., seinem ehemaligen Schüler, zum Abt von Bobbio in Italien ernannt, was aber bei den Mönchen auf Widerstand stieß und ihn daher bewog nach Reims zurückzukehren, wo er die Stelle eines Sekretärs des Erzbischofs übernahm und nach dessen Tode das Amt des Erzbischofs. Ab dem Jahr 997 war Gerbert Lehrer und politischer Berater des jungen Kaisers Otto III, der ihn 998 zum Erzbischof von Ravenna erhob, und aus dieser Position heraus 999 als Sylvester II. zum Papst. Eine Erhebung des römischen Adels zwang ihn 1001 Rom zu verlassen, wohin er kurz vor seinem Tode 1003 zurückkehrte. (Aus Wikipedia)

Das burgundische Königshaus förderte seit jeher die Cluniazenser durch Stiftungen und der Errichtung von Klöstern. Die angesehenen Reformmönche von Cluny drängten zur Ausbreitung ihrer Reformvorstellungen in die Welt. Sie pilgerten nach Rom, um sich als Mitarbeiter des Papstes zu betätigen, oder zogen durch die westfränkischen (französischen), später sächsischen Lande, um neue Richtlinien mit den Weltgeistlichen zu erörtern. Sie wollten vor allem in der Seelsorge praktisch tätig sein. Das heute wieder umstrittene Thema völliger Ehelosigkeit der Geistlichen vertraten sie ohne Einschränkung (s. o. Seite 72). Ihr Einsatz galt auch der Erhaltung des Landfriedens, in einer Zeit häufiger Fehden unter den Adelsherrschern. Adelheid verteidigte Cluniazenser-Kongregation, damit sie dem Papst direkt unterstellt blieb, ohne dass Diözesanbischöfe eingreifen durften.[431]

Als Otto nach Italien kam, war er seit fünf Jahren Witwer gewesen. Der Witwer Otto und die Witwe Adelheid trafen sich zum ersten Mal in Pavia, der Hauptstadt Reichsitaliens, des italienischen Königreiches. Adelheid hatte zuvor auf die ihr zugewiesene Burg Canossa Zuflucht gefunden, auf derselben Burg, auf der später Kaiser Heinrich IV. 1077 von Papst Gregor VII. die Loslösung vom Kirchenbann erflehte. Hier hatte sie ihre Gesundheit wiedererlangt und durch die darauf erfolgte Verbindung mit Otto eine Freiheit in Sicherheit. Aus der geschundenen Gefangenen wurde die Frau des mächtigsten Mannes im weströmischen Reich. Der ans märchenhafte grenzende Wiederaufstieg dieser Frau hat ihren Niederschlag gefunden, gleichsam die Helena der italienischen Volkssage. In Magdeburg wurde eigens eine Otto-Adelheit-Münze geprägt, heute für Münzsammler eine gesuchte Rarität.[432] Die höchste Würde erlangte sie 1097 durch die Heiligsprechung.  

Otto war mit einem schlagkräftigen Heer nach Italien gekommen, das Bewunderung hervorrief, zusammen mit einem repräsentativen Gefolge weltlicher und geistlicher Fürsten, was Erstaunen auslöste. Otto wurde von der Bevölkerung stürmisch begrüßt, er hatte Hoffnungen geweckt auf bessere Zeiten. So wurde in Pavia Ende 951 die Hochzeit der zwanzigjährigen Adelheid mit dem neununddreißigjährigen Otto gefeiert. Otto hatte zwar Adelheid die Freiheit gebracht,

[431] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser. S. 46 f

[432] Fischer-Fabian, Siegfried: die deutschen Cäsaren. S. 41

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durch den Schutz, den er gewährte, aber er verdankte ihr auch die Stellung als König von Italien als Witwe eines Mannes, der zu Lebzeiten König von Italien gewesen war. Die anfängliche Vernunftehe mündete bald in eine sehr erfüllte Verbindung. Es kam zu einer zweiten Krönungsfeier, bei der die Stadt Pavia zum militärischen Zentrum der Lombardei und zur Residenz des Sachsenkönigs erhoben wurde. Otto hatte damit auch einen zweiten Herrschertitel erworben als König der Langobarden. Er nannte sich Rex Langobardorum et Francorum, König der Langobarden und Franken, wie sein Vorbild Karl der Große.[433]

Das Eheglück wurde aber allzu bald ungewöhnlichen Belastungen ausgesetzt, die nicht im persönlichen Bereich Adelheids und Ottos zu suchen waren. Was die Hochzeitsfreuden trübte war die kühle Absage, die ihnen aus Rom entgegengebracht wurde. Der Papst war nicht frei in seinen Entscheidungen, er stand unter Druck und Einfluss römischer Senatoren und des Adels, die sich nicht Otto als Kaiser vorstellen konnten und ihre Abneigung offen kundtaten. Darüber hatten zuvor Verhandlungen stattgefunden, und die Delegation Ottos war von Friedrich, dem Erzbischof von Mainz, geleitet worden. Nachdem das Scheitern der Verhandlungen offenkundig geworden war, fiel Friedrich bei Otto in Ungnade, womit ihm ein weiterer Gegner erwachsen war. Friedrich war nie ein Freund der Krone gewesen. Er kehrte zurück ins thüringische Saalfeld, wo er andere Unzufriedene und zu kurz gekommene um sich versammelte, darunter der Prominenteste des Königs geliebter Sohn Liudolf, der sich zurückgesetzt glaubte. Seitdem sein Vater wieder geheiratet hatte, befürchtete er von der Thronfolge ausgeschlossen zu werden, wenn seine Stiefmutter Adelheid einen Sohn zur Welt brächte. Sein Onkel Heinrich, des Königs Bruder, der zwar keinen gewaltsamen Aufruhr entfachen wollte, nahm diesmal zum Mittel der Intrige seine Zuflucht und machte in Pavia diskrete Andeutungen gegenüber seinem Neffen Liudolf, der in engster Verwandtschaft einen anderen Enttäuschten, seinen Schwager, des Königs Schwiegersohn, Konrad, Herzog von Lothringen wegen seines roten Haarwuchses Konrad der Rote genannt. Den Aufstand, den beide entfachten, brachte Verwüstung und Ungemach für das Reich und die Bevölkerung. Die Gründe des Krieges gegen die Reichsgewalt des Königs durch die Stammesherzöge hatten ihre Ursache im familiären Bereich und nicht, um einer übermächtigen Zentralgewalt entgegenzuwirken. Der Krieg brachte Otto die Rettung in zweifacher Hinsicht: Die Schwäche, in die das Reich durch die inneren kriegerischen Verwicklungen geraten war, ließen die Ungarn nicht ungenutzt, nachdem sie mehrfach erfolgreich abgewehrt worden waren, drangen sie 954 über die Grenzen nach Bayern, Schwaben, Franken und Lothringen, um diese Gebiete mit ihren Raubzügen zu überziehen. Im Gegensatz zu den Zeiten davor, waren sie nicht überall unwillkommen. Liudolf ließ ihnen Hilfe angedeihen, und schickte ihnen ortskundige Führer, und Konrad der Rote schloss sogar einen Bündnisvertrag. Damit büßten sie jeden Rückhalt ein, den zuvor im Volk gefunden hatten. Angesichts der Gefahrenlage hatte Otto einen Sühnetermin einberufen, bei dem die gegnerischen Parteien erschienen. Die Rede Ottos ist in Widukinds Sachsengeschichte für alle Zeiten festgehalten: „Sehet meiner Söhne beraubt, sitze ich hier, kinderlos: habe ich doch den Sohn aus meinem Blut zum schlimmsten Feind und den anderen auch, den Tochtermann, den ich so geliebt und aus niederer Stellung zu hoher Macht emporgehoben. Das alles würde ich tragen, wenn nicht die Feinde Gottes und der Christenmenschen in diese Händel hineingezogen würden. Sie [die Ungarn] haben mein Reich verödet, mein Volk gefangen und getötet, die Städte zerstört, die Kirchen verbrannt, die Priester gewürgt. Noch triefen von Blut die Gassen, und die Feinde Christi kehren zurück in ihr Land mit dem Gold, das ich meinen Söhnen geschenkt. Welche Frevel, welche Treulosigkeit man mir noch antun kann, vermag ich nicht auszudenken.“[434] Otto hatte zuvor nach Berengars Vertreibung mit seinen Getreuen in Italien überwintert, beging das Weihnachtsfest in Pavia,

[433] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser. S. 47

[434] zitiert in Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 43

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regelte die Verhältnisse, solange er in Italien war. Im Frühjahr 952 kehrte er ins Reich zurück, zuvor hatte er Konrad dem Roten in Italien die Verfolgung Berengars anvertraut. Herzog Liudolf war seinem Vater ins Reich nach Saalfeld in Thüringen vorausgeeilt, und entfaltete dort mit königlicher Pracht ein Weihnachtsfest, das einer Hofhaltung glich, gemeinsam mit Erzbischof Friedrich und allen Großen des Reiches, die erschienen waren, hielt er sie in seiner Umgebung fest, was zu Misstrauen führte und Anlass gab zu Verdächtigungen. Die Verhandlungen, die sich bei diesen Zusammenkünften ergaben, ließen in ihrem Ergebnis Unheil erwarten. Herzog Konrad hatte in Italien Berengar angeraten, sich König Otto zu stellen. Im gleichen Jahre 952 wurde Mitte August ein Reichstag der Franken, Sachsen, Bayern, Alemannen und Langobarden  abgehalten, auf dem auch Berengar erschien, um sich mit seinem Sohn Adelbert der Herrschaft des König zu unterwerfen, der ihm mit einer huldvollen Geste Italien zurückgab, trotz der Intrigen, die er zuvor mit Herzog Heinrich, des Königs Bruder, gesponnen hatte. Nach seiner Ankunft in Italien verfocht er einen Herrschaftsstil, der ihn bald verhasst machte.[435]

In diese Zeit fällt ein Bericht Widukinds von Corvey über des Königs Frau Adelheid: Die erlauchte Königin schenkte ihrem Gemahl als Erstgeborenen den Heinrich, dann Brun und als dritten ihn, dem der Name seines erhabenen Vaters gegeben wurde und den nach dessen Hinscheiden der Erdkreis als seinen Herrn und Kaiser erhofft, dazu eine Tochter, die den Namen seiner heiligen Mutter erhielt und von der Näheres zu künden wir uns nicht anmaßen, da ihr Ruhm alles überstrahlt, was wir zu sagen oder zu schreiben vermöchten.[436]

Im Jahre 953 kam die Verschwörung Liudolfs zum Ausbruch, er sah sich gegenüber Heinrich von Bayern und Adelheid zurückgesetzt, ihm schloss sich Friedrich von Mainz an, der sich durch Erzbischof Brun in seinem Erzkanzlerposten beeinträchtigt sah, und Konrad von Lothringen, der wegen des Verhaltens Ottos zu Berengar zürnte. Auf einem Reichstag zu Fritzlar wurden Liudolf und Konrad ihrer Herzogtümer für verlustig erklärt. Lothringen und Schwaben fielen zum Teil dem König zu, Lothringen übergab er seinem Bruder Brun, dem es gelang, sein Herrschaftsgebiet zu befrieden. 954 fielen die Ungarn ein, von den Aufständischen begünstigt, wodurch sie jeden Rückhalt im Volke verloren. Zuerst unterwarfen sich Konrad und Friedrich, dann nach nochmaligen schweren Kämpfen um Regensburg auch Liudolf. Dieser fiel reuevoll mit bloßen Füßen vor seinem Vater nieder, als dieser in Subeldun in Thüringen dem Weidwerk oblag. Die flehentlichen Bitten rührten zuerst den König, dann alle Anwesenden zu Tränen. Die väterliche Liebe nahm ihn wieder in Gnaden auf, und Liudolf gelobte Gehorsam. Konrad und Liudolf behielten nur ihre Güter.

Otto betraute 953 Johannes von Gorze (900-974) mit der Leitung einer Delegation zu Verhandlungen mit dem Kalifen von Cordoba Abd ar-Rahmann nach Spanien. Als Mönch, Diplomaten und Klosterreformer sah Otto in ihm den geeigneten Überbringer einer Botschaft an den Kalifen. Die Mission stieß auf Schwierigkeiten, und er wurde für einige Zeit inhaftiert, weil Otto in einem überbrachten Schreiben den christlichen Glauben als den einzig wahren Glauben hervorgehoben hatte. Es gelang ihm aber das Vertrauen des Kalifen zu gewinnen. Nachdem Johannes die Vorzüge seines Königs hervorgehoben hatte, erwiderte der Kalif, König Otto zeige in einem Punkt wenig Klugheit, als Johannes fragte, wie das zu verstehen sei, erhielt er die Antwort: Er behält nicht die ganze Gewalt in seinen Händen, sondern lässt den Seinen große Selbstständigkeit und große Teile seines Reiches. Er glaubt wohl sie dadurch in größerer Treue und Ergebenheit zu halten, täuscht sich darin aber sehr, denn er nährt dadurch nur ihren Übermut und ihre Widerspenstigkeit. Das zeigte sich jüngst an seinem Schwiegersohn, der ihm

[435] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 119 f

[436] ebd. S. 120

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den eigenen Sohn treulos verführte, sich gegen den König empörte und das fremde Ungarnvolk mitten in seine Lande führte und so der Verheerung durch die Feinde noch seine Unterstützung lieh. Wie ersichtlich stieß diese Haltung Ottos in der mohammedanischen Welt auf wenig Verständnis, und trugen eher zu einer Missachtung bei, was durch die Inhaftierung Johannes von Gorze als Delegationsleiter seinen Ausdruck fand.[437]

Im Juli 955 hielt sich Otto in Sachsen auf, als eine Gesandtschaft der Ungarn erschien, um ihre Ergebenheit und Friedfertigkeit zu versichern. Ihre wahre Absicht sollte sich bald zeigen, sie wollten sich einen Einblick verschaffen über den Verlauf der Kämpfe im Innern des Reiches. Die Gesandtschaft verblieb einige Tage am Hofe Ottos, um dann in friedfertiger Aufmachung wieder abzureisen. Kaum war dies geschehen, da trafen Boten seines Bruders, des Herzogs von Bayern, ein und meldeten: „Die Ungarn fallen in hellen Haufen in deine Lande ein und wollen mit dir einen Waffengang wagen.“[438]

Die Ungarn waren trotz aller (kirchen)amtlicher Gräuelpropaganda keine Untermenschen, sondern nur andere Menschen von einer anderen Ethnie. Sie waren grausam, doch nicht grausamer als die Krieger des Reiches, die bei ihren Strafexpeditionen gegen die Slawen regelmäßig Tausende hinmetzelten. Sie waren erbarmungslos, doch nie so blutdürstig wie die Wikinger, die oft um des Mordens willen mordeten. Sie fühlten sich als Boten ihrer Götter, aber ihnen fehlte der religiöse Fanatismus, der den Sarazenen eigen war. Und was die Kirchen betraf, die sie plünderten, die Klöster, die sie anzündeten, so waren sie hier in bester Gesellschaft: In dem zu Ende gegangenen Krieg des Vaters gegen die Söhne blieben die christlichen Kirchen vor Brandschatzung durch Christen nicht verschont.[439]

Der Ungarneinfall in Bayern und Schwaben geschah im Juli 955, zur Invasion ermuntert durch Ottos soeben noch rebellierende Verwandte. Die Alarmnachrichten vom Einfall erreichte Otto in Magdeburg. Widukind von Corvey schildert die Schrecken des Krieges. Ein Teil der Ungarn beunruhigte die Lande durch handstreichartige Überfälle, plünderte in Franken, brandschatzte Worms, während der Hauptteil die Grenzstadt Schwabens, Augsburg am Lech, belagerte. Augsburgs fünfundsechzigjähriger Bischof Ulrich war der erste 993 heiliggesprochene Bischof. Er trat an die Spitze der Bevölkerung und des verhältnismäßig kleinen Verteidigungsheeres. Er teilte alle Gefahren, durch Predigten stärkte er den Mut der Bürger und Soldaten. Nonnen beteten auf den Straßen und in den Kirchen. Bei einem Ausfall am östlichen Barfüßlertor ritt Bischof Ulrich mitten unter ihnen, im Ornat, wie es ich gehört, ohne Waffen, ohne Helm und ohne Panzer. Die Ungarn hinhalten, die Häuser an der Stadtmauer befestigen, das waren bischöfliche Weisungen, bis Ottos Ersatzheer anrückte.440]

Ulrich blieb unverletzt, und als die Ungarn im Morgengrauen zum Sturm auf die Mauern antraten, ausgerüstet mit Rammböcken und Leitern, war die Moral der Belagerten gefestigt, die der Belagerer aber gesunken, denn die Anführer mussten die vorderen Reihen mit Peitschen antreiben. Mitten in den Angriff hinein ertönten plötzlich Hornsignale, und wie ein Spuk lösten sich die Angriffsreihen auf. Was von den wackeren Augsburgern als Wunder gefeiert wurde, war keines. Es war ein planmäßiger Rückzug, ausgelöst durch die Nachricht eines Landesverräters. Urheber war Graf Bertholt, der sich mit König Otto überworfen hatte, und von ihm enteignet und gebannt worden war. Bertholt verriet den Ungarn die Marschrichtung des von Otto aufgebotenen Heeres, was beinahe zu einer drohenden Niederlage geführt hätte.

[437] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 121 f

[438] ebd. S. 122

[439] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 46

[440] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser. S. 49 f

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Als in Ottos Heer die Nachricht überbracht wurde, die Ungarn hätten die Belagerung Augsburgs aufgehoben, breitete sich eine euphorische Stimmung aus, die verstärkt wurde durch einen morgendlichen Feldgottesdienst, eine Zeremonie, die Otto in Erkenntnis der Tatsache, dass Soldaten nicht nur gute Waffen, ebenso aber auch guten Mut benötigen, weshalb der Gottesdienst besonders eindrucksvoll gestaltet wurde. So wurde das Heer formiert, das gemeinhin als erstes gesamtdeutsches Aufgebot aufgefasst worden ist. An der Spitze marschierten die Bayern, dann die Franken, dann der König, schließlich die Schwaben. Der Schutz des Trosses oblag den verbündeten Böhmen. Die Sachsen mussten die Grenze nach Osten gegen die Slawen sichern, und waren daher nicht Teil des Aufgebots. Die denkwürdige Schlacht auf dem Lechfeld am 10. August 955 veränderte das Gesicht Europas. Sie wurde als ein Sieg des christlichen Glaubens über die heidnischen Götter angesehen. Gegen die Elite der starknochigen, schwerfälligen Panzerreiter im Heere Ottos hatte sich die leichtfüßige Kavallerie der Ungarn festgerannt, ihre Niederlage war vollkommen, und bedeutete das Ende aller Ungarneinfälle. Die Entscheidung hatte Ottos Schwiegersohn, Konrad der Rote, herbeigeführt, als das Heer Ottos bereits in Unordnung geraten war. Eine Tat, die auch als Sühneleistung betrachtet wurde, dafür, dass er zuvor seinem Schwiegervater reichlich Ungemach bereitet hatte.[441]

In der Geschichtsschreibung besonders des 19. Und 20. Jahrhunderts ist Otto der Große als der eigentliche Begründer des Deutschen Reiches und der deutschen Nationalstaates angesehen worden. Nichts lag den Herrschern und Menschen der Zeit ferner als ein Denken in nationalstaatlichen Kategorien, und wenn für die Ungarnschlacht von einem ersten gesamtdeutschen Aufgebot gesprochen wird, so kann hier ein irreführender Eindruck hervorgerufen werden. Allein in sprachlicher Hinsicht gab es Unterschiede zwischen den genannten ehemals germanischen Völkern, noch bis vor dem Zweiten Weltkrieg waren die einzelnen deutschen Dialekte so unterschiedlich, das eine Verständigung nur über die hochdeutsche Sprache möglich war. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging eine kulturelle Eigenart, die Deutschland zuvor ausgezeichnet hatte, verloren. Ein kultureller Verlust, geopfert einer Diskothekenkultur, bis hin zu einem besonders primitiven Sprachniveau. Die deutsche Sprache ist mit Angelismen durchsetzt. Es ist nicht die erste Verschandelung der deutschen Sprache durch englisch-deutsche Mischkonstruktionen aus Adjektiven, Infinitiven und Partizipien wie shoppen, recyceln oder gedownlowded. Im 18. Jahrhundert war es noch viel schlimmer, nur dass die deutsche Sprache in gleicher Weise mit französisch-deutschen Wortkonstruktionen angereichert war.

Der nördlich gelegene Teil des HRR fand die Bezeichnung Regnum Teutonicum (Deutsches Reich) oder Regnum Teutonicorum (Reich der Deutschen). Beide Begriffe sind weit entfernt von einem Streben zur Errichtung eines Nationalstaates, wie es sich nach der Reformation Martin Luthers, besonders aber nach der Französischen Revolution herausgebildet hat. Das HRR setzte sich zusammen aus drei Hauptteilen: Dem Regnum Teutonicum, dem Regnum Italicum (Reichsitalien) und dem Königreich Burgund, dem dritten französischen Reichsteil des HRR, insgesamt bestand dieses Reich in der Hauptsache aus einem deutschen, italienischen und französischen Teil, wenn es auch im Laufe der Zeit in Richtung Osten erweitert wurde. Es war also ein Staatsgebilde, das aus mehreren Völkerschaften zusammengesetzt war. Ein häufiger Gebrauch des Gebildes Regnum Teutonicum als Bezeichnung eines Territoriums ist ab Ende des 11. Jahrhunderts nachweisbar. Der Begriff deutsch taucht in seiner Mittelhochdeutschen Form ab dem 13. Jahrhundert zunächst vornehmlich als Bezeichnung der

[441] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 48 ff

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Sprache auf. Erst vom 16. Jahrhundert an wird die Bezeichnung Regnum Teutonicum zunehmend durch den Begriff Deutschland abgelöst (Aus Wikipedia).  

Ein Ereignis von richtungsweisender Bedeutung erlebte die Zeit mit der Kaiserkrönung Otto I. am 2. Februar 962. Vieler Persönlichkeiten wurde in diesem Jahr in Deutschland gedacht auch solcher, mit vergleichsweise geringerer Bedeutung Der 2. Februar 1962, die tausendjährige Wiederkehr der Kaiserkrönung Ottos, fand keine Beachtung. Dass dieses Datum der Vergessenheit anheimgefallen war, müsste befremden. Den Österreichern war dieses Datum ein prunkvoller Staatsakt wert. Die Italiener erinnerten sich mit einer feierlichen Veranstaltung in Rom. Aus Anlass dieses denkwürdigen Tages der Kaiserkrönung in Rom, veranstaltete das Institut für österreichische Geschichtsforschung in der Zeit vom 31. Januar bis 2. Februar 1962 eine Gedenkfeier. Der Akademische Festakt, zu dem Rektor und Senat die Einladungen ergehen ließen, fand am Mittwoch, den 31. Januar 1962, 10 Uhr, in dem mit der Krone des Heiligen Römischen Reiches geschmückten Großen Festsaal der Universität in Anwesenheit des österreichischen Bundespräsiden und anderer hoher Vertreter der Regierung und kirchlicher Würdenträger statt. Beachtenswert ist die Anzahl der Botschafter und hochrangiger diplomatischer Vertreter aus folgenden Staaten, die der Einladung gefolgt waren: Spanien, Niederlande, Großbritannien, Argentinien, Norwegen, Jugoslawien, Iran, Japan, Finnland, Israel, Bundesrepublik Deutschland, Griechenland, Peru, Rumänien, Brasilien, Thailand, Libanon, Vereinigte Arabische Republik, Apostolische Nuntiatur, Belgien, Portugal, Tschechoslowakei, Bulgarien, Cuba, Chile, Dänemark, Indonesien, Vereinigte Staaten von Amerika und Italien.[442]

Die Begrüßungsansprache wurde vom Rektor der Universität Wien, Prof. Frank Arnold, gehalten. Zunächst bemühte er sich zu versichern, die Gedenkveranstaltung sei nicht Ausdruck einer Sehnsucht nach Rückkehr in das Reich Ottos I. oder dem romantischen Traum einer Restauration des Sacrum Imperium. Es war in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts üblich, mit solchen Versicherungen, möglichen Verdächtigungen, die leicht aufkommen konnten, entgegenzuwirken, weil kurz zuvor die Geschichte, die im Wesentlichen vom Territorium, das schon Otto I. beherrscht hatte, ausgegangen war, einen so verhängnisvollen Verlauf genommen hatte, allerdings von einer Ideologie, die im krassen Gegensatz zu den Grundsätzen ottonischer Herrschaft gestanden hatte, weshalb diese Zeit während der NS-Herrschaft dem Vergessen anheim gegeben wurde. Die gegebene Versicherung von einer Rückkehr in jene Zeit Ottos, und sei es nur gedanklich, sei die Gedenkfeier weit entfernt, war eher in Richtung auf das übrige Deutschland gerichtet, denn unmittelbar darauf spricht Prof. Arnold von der ruhmreichen Vergangenheit Österreichs, das im 20. Jahrhundert gänzlich ausgelöscht worden war als einziger Vielvölkerstaat in Europa, der er bis 1918 gewesen war. Ein Vielvölkerstaat, der noch am meisten dem Staatsentwurf des HRR entsprochen hätte.[443]   

In der Bundesrepublik Deutschland war dieser Tag keines nennenswerten Andenkens Wert gewesen. Nur der Bundespräsident Heinrich Lübke hatte das Datum beiläufig erwähnt, anlässlich der Eröffnung der Landwirtschaftsausstellung „Grüne Woche“ in Berlin. Die Italiener erinnerten sich seiner in einer festlichen Veranstaltung in Rom. 1862, einhundert Jahre vorher war das in Deutschland noch anders gewesen. Allerdings auch in diesen Gedenkfeiern dachte niemand daran, das Reich im Sinne Ottos I. zu erneuern, obwohl das von ihm erneuerte und so geschaffene Reich erst wenige Jahrzehnte zuvor 1806 auch formell untergegangen war. 1862 war der Tag begleitet von einem Ringen um die deutsche Einheit, das zentrale Thema

[442] Mitteilungen des Institiuts für Österreichische Geschichtsforschung. Festschrift zur Jahrtausendfeier der Kaiserkrönung Ottos des Großen. Erster Teil. Festbericht, Vorträge, Abhandlungen. Graz/Köln 1962 S. 5 ff

[443] ebd. S. 14 

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nach dem Scheitern der Einheitsbestrebungen in der Frankfurter Nationalversammlung 1848. Kleindeutsch oder großdeutsch war zur alles entscheidenden Frage geworden. Es hätte auch heißen können Preußen oder Österreich, bis schließlich Österreich nach vollzogener Einheit 1871 nicht mehr dazugehörte. Deutschland hatte sich unter Preußens Führung zu einem deutschen Nationalstaat formiert. Gegen den Willen seines Königs Wilhelm I., der an dem denkwürdigen Tag der Ausrufung zum Kaiser am 18. Januar 1871  im Schloss zu Versailles nicht in dem allgemeinen Jubel einstimmen wollte. „Heute wird Preußen zu Grabe getragen“ hatte er in Euphorie des Tages vorahnend festgestellt, zu Grabe getragen wurde auch ein preußischer Grundsatz: Mehr sein als scheinen (esse quam videre).

Die verschiedenen Epochen der Geschichte mit ihren Wandlungen und Veränderungen, geistig, gesellschaftlich und technisch, haben gute, weniger gute, oder sogar besonders schlechte Erscheinungen hervorgebracht. Hier gilt das Wort des Apostels Paulus in deinem 1. Brief an die Gemeinde in Thessalonich, Kapitel 5, Vers 21: (21) Prüfet alles und das Gute behaltet.[444] Eine solche Prüfung kann nur aufgebaut werden auf dem Evangelium von Jesus Christus. Er ist der Felsen, alles was nicht auf diesem Felsen steht ist auf Sand gebaut. Die Geschichte kennt den Einsturz vieler Häuser, die ihr Fundament nicht auf diesen Felsen errichtet hatten. Das gilt besonders für den Bereich der als christlich angesehen wird.  

Das denkwürdige Jahr 955 hatte Otto in bis dahin nie gekannte Höhen politischer Auswirkungen getragen. Da fasste er im Mai 961 den Entschluss, nach Italien zu neuen Ufern aufzubrechen. Er rief seine Getreuen in großer Zahl nach Worms, wo er mit einmütiger Zustimmung der Großen des Reiches und des gesamten Volkes sein Sohn Otto zum König, gewählt wurde. Von Worms aus begab er sich nach Aachen, und hier wurde des Königs Sohn nach Anerkennung der Wahl auch durch die Lothringer zum König geweiht. Hierauf kehrte der Vater nach Sachsen zurück, erledigte die Reichsgeschäfte, vertraute seinen Sohn dem Erzbischof Wilhelm von Mainz zum Schutze und zur Erziehung an und ritt dann über Bayern nach Trient und Italien und zog, ohne auf Widerstand zu stoßen in Pavia ein. Er ordnete an, den von Berengar zerstörten Palast wieder aufzubauen. Berengar aber und Willa schlossen sich mit ihren Söhnen, wo sich die Gelegenheit bot in festen Plätzen und Burgen ein, ohne einen Ausfall gegen den König zu wagen.[445] Diese Ereignisse hatten eine Vorgeschichte. Berengar war von Papst Johannes XII. als Bedrohung angesehen worden und hatte darum Otto um Hilfe angerufen. Otto besuchte häufig die Pfalz in Regensburg, wo noch neben Magdeburg, Aachen und Rom eine Erinnerungskultur sichtbar ist, hier verbrachte er mehrfach christliche Feiertage, so auch Weihnachten 960, als zwei Gesandte des Papstes, mit Vollmachten versehen, um eine Audienz nachsuchten. König Otto wurde in einer Botschaft des Papstes bestätigt, dass ihm, dem Nachfolger der fränkischen Herrscher, ein Anrecht auf die Schutzherrschaft über Rom zustehe, ein Recht, das mit der Verpflichtung einherging, der Kirche Beistand gegen Bedrohung und Unterdrückung zu leisten. Johannes XII. stand in keinem guten Ruf, aber Otto sah nicht auf das Privatleben des Papstes, Vorrang hatte das Amt, von dem die Vergabe der Kaiserkrone abhing, so wurde es seit Karl dem Großen gesehen, und Otto war entschlossen in Fußstapfen seines großen Vorgängers zu treten, nicht Machthunger oder Repräsentationsbedürfnis waren der Ansporn, es ging um die Einheit von geistlicher und weltlicher Macht, auf die der Bestand des Reiches gegründet war. Der Papst war eine Macht, die nicht auf militärische Stärke gegründet war, aber dennoch nicht umgangen werden konnte. Noch Josef Stalin hatte die Frage gestellt: „Wieviel Divisionen hat der Papst?“ Otto hatte einen hohen Preis zahlen müssen für die Erfahrung, dass verwandtschaftliche Bande nicht vor Feindschaft schützte und Familienherzöge nicht zuverlässiger waren als fremde Herzöge, darum war er mehr und

[444] revidierte Übersetzung nach Luther. Wollerau 2009

[445] Bühler. Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser in Dokumenten. S. 127 f

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mehr dazu übergegangen, sein Reich mit Hilfe der Bischöfe zu regieren. In der Kirche fand er ein Gegengewicht gegen die weltliche Macht, fand er gebildete, des Lesens und Schreibens kundige Verwaltungsbeamte, fand er in den Klostergütern die wirtschaftliche Grundlage zur Bestreitung seines Staatshaushaltes, fand er schließlich, indem er den Bischöfen immer mehr weltliche Rechte gewährte und die Immunität gegenüber den Herzögen, auch die Männer, mit denen er seine Kriege führte. Das alles war nicht umsonst, doch das Land, das dafür zu Lehen gegeben wurde, hatte den ursprünglichen Sinn des Wortes verliehen bewahrt, es fiel nach dem Tod des Belehnten wieder an die Krone, dem Träger als obersten Lehnsherrn, zurück. Ihr Lehensgut konnte nicht an die Erben übergehen, weil die Diener der Kirche durch das Zölibat ohne legitime Erben waren. Dieser Reichskirche, die Heerfahrts-,Herbergs-, und Kanzleidienste leistete und damit das Reich am Leben erhielt, glaubte der König auf die Dauer nur sicher zu sein, wenn er sich des Papstes versicherte. Der Papst als Nachfolger des Apostels Petrus war den Bischöfen, bei aller Kritik, oberste Instanz geblieben. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht schien der Gang nach Rom von Nutzen. Der König und seine Herzöge im Norden des Reiches hatten in wirtschaftlicher Hinsicht nichts zu bieten, trotz des Schwergewichtes, das sie dem Reich durch militärische Stärke vermittelten, ging der internationale Handel an ihnen vorüber. Das große Geld verblieb überwiegend in Italien und der Handel konzentrierte sich auf Wirtschaftsmetropolen wie den Seestädten Venedig, Byzanz, Pisa und Genua. Aber nicht nur auf materielle Güter war das Streben gerichtet, geistige Güter waren ebenso begehrt. [446] Der Mittelmeerhandel hatte seine die damalige Welt beherrschende Stellung seit den Tagen des römischen Reiches nicht eingebüßt.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann eine umfangreiche Auseinandersetzung unter Historikern über Sinn und Zweck der mittelalterlichen Kaiserpolitik, die je nach kleindeutschen oder großdeutschen Standpunkt die Kaiserpolitik ablehnten oder verteidigten. In der Hauptsache begleiteten die Herzöge der Bayern, Schwaben, Franken und Lothringer den König/Kaiser nach Italien. Den Sachsen war vorwiegend die Aufgabe zugefallen, die wechselvollen Kämpfe mit slawischen Völkern zu bestehen. Von 951 bis 1111 zogen die Kaiser des Reiches achtzehnmal an Italien. Im Wechsel der Kaiserpersönlichkeiten wechselten auch die Kaiserideen. Der Teil des Heiligen Römischen Reiches, der das Zentrum bildete, griff nach allen Seiten hin aus, was nicht allein auf ideologische Ursachen zurückzuführen war, die geographische Lage war ebenso ausschlaggebend. Die Züge über die Alpen blieben ein grandioser Traum mit hohem Blutzoll, der jeweils nur für kurze Zeit Erfüllung brachte. Eine Frage knüpft sich dazu an: Bedurfte das geistliche Oberhaupt der christlichen katholischen Kirche oder die „gottgewollte Ewigkeit des römischen Reiches“ eines mächtigen Schutzes?[447]

Die Geschichtsschreibung des 19. Und 20. Jahrhunderts spricht vielfach von „den Deutschen“, die nach Italien zogen. Es gab keine „Deutschen“ im national verstandenen Sinne, der Begriff hatte zu der Zeit keine Bedeutung, nach Süden zogen die bereits erwähnten Völkerschaften, die sich eine Eigenständigkeit und Identität bewahrt hatten, was sich fortgesetzt hat bis ins 19. Jahrhundert. Die Staaten, die sich durch Bismarcks Politik 1871 zu einem Nationalstaat vereinten, hatten keine fünf Jahre zuvor noch als souveräne Staaten Krieg miteinander geführt, weshalb das von Bismarck etablierte Verfassungswerk dezidiert föderalistische Züge trug, wie schon die von der Frankfurter Nationalversammlung 1848  konzipierte Verfassung, was auch einer unterschiedlichen kulturellen Vielfalt Rechnung getragen hatte. Ebenso abwegig ist es in den Kämpfen mit slawischen Völkerschaften im Osten des HRR von „Deutschen“ oder gar „Germanen“ zu sprechen. Es ging nicht um ethnische (rassische) Vorlieben oder Vorherrschaft. Otto selbst hatte den Weg vorgegeben, sein Sohn Wilhelm, aus einer verehelichen Beziehung,

[446] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 54 f

[447] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser. S. 54 ff

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dem späteren Erzbischof von Mainz (954-968), entstammte einer Verbindung mit einer slawischen Fürstentochter.[448] Die ständigen kriegerischen Verwicklungen hatten ihren Ursprung im christlich-heidnischen Gegensatz, wie zuvor der Gegensatz zwischen Franken und Sachsen, diesmal ging die Stoßkraft von den Sachsen aus, und auch hier war Gewaltanwendung ein Mittel der Bekehrung, aber ebenfalls nicht in einer Ausschließlichkeit, es gab auch Missionierung, die auf Überzeugungsarbeit beruhte. Die Missionierung der Slawen wurde im Wesentlichen als eine organisatorische Frage verstanden. An den zentralen Burgorten der Heveller und Redarier, Brandenburg (Brennabor) und Havelberg, gründete Otto I. 948 slawische Bistümer. 968 und 972 kam das Bistum Oldenburg im Gebiet der Abodriten hinzu, im südöstlichen Bereich fungierten Merseburg, Zeitz und Meißen als Suffragane der neuen Kirchenprovinz Magdeburg. Die größte Aufmerksamkeit galt offensichtlich der Errichtung christlicher Kirchen und kirchlicher Strukturen sowie der Eintreibung entsprechender Abgaben. In diesem Rahmen behielt die slawische Bevölkerung offenbar die Möglichkeit ihren heidnischen religiösen Kult weiterzuführen. Davon zeugen nicht nur spätere Berichte Bischof Thietmars von Merseburg über die slawischen Angehörigen seines Bistums, sondern auch archäologische Befunde, die auf ein Nebeneinander von Kirchen und heidnischen Kultstätten hinweisen.[449] Auch die Ungarn hatten sich dem christlichen Glauben zugewandt. Stephan I. der Heilige (939-1038) war erster König des von ihm gegründeten Königreichs Ungarn. Er gilt als der Nationalheilige Ungarns. Er christianisierte die heidnischen Magyaren. Sein Gedenktag ist der 20. August, der in Ungarn Staatsfeiertag ist. Die römisch-katholische Kirche gedenkt seiner als apostolischen Heiligen eine Würdigung, die Menschen zu Teil wird, die sich um die Ausbreitung des christlichen Glaubens besonders verdient gemacht haben. (Aus Wikipedia)

Die Vorstellung, dass einem König, zuerst König Karl der Franken und des von ihm geschaffenen Reiches, dann dem mächtigsten Herrscher im HRR zustand, und das war der Sachsenherzog Otto, den die mächtigsten Herzöge im ostfränkischen Reich zu ihrem König gewählt hatten, die Kaiserwürde gehörte, war seit den Tagen Karls im Volk lebendig geblieben. Wie lebendig, das hatten die Krieger auf dem Lechfeld gezeigt, als sie spontan Otto nach dem Sieg über die Ungarn zum Imperator ausriefen. Die Idee eines Kaiserreiches war lebendig und es wurde als ein Mangel angesehen, dass die Länder, die einen Glauben hatten, nicht auch einen Herrscher haben sollten. Die Erringung des Kaisertitels wurde nicht nur als ein Recht angesehen, die wurde auch als Pflicht erachtet. Das Volk wollte es, und Gott gebot es durch den Mund des Propheten Daniel hatte er verkündet, das Römische Reich, das durch Konstantin ein christliches Reich geworden, und durch Karl an die Franken gelangt, werde bis ans Ende der Zeiten dauern, so stand es in dem Buch des Propheten Daniel im 7. Kapitel, und so wurde es geglaubt, und der zur Zeit mächtigste Mann war verpflichtet, es zu erneuern, und damit das von Gott gesprochene Wort zu erfüllen.[450]   

Über die vier Reiche aus dem 7. Kapitel des Buches des Propheten Daniel wir bereits im 2. Kapitel des Buches berichtet: Der König Nebukadnezar hatte große Teile des Volkes Israel aus Judäa nach Babylon in die Gefangenschaft geführt (586 v. Chr.). Der Gefangenenchor aus Verdis Oper Nabucco (Nebukadnezar) lässt die Zeit eindrucksvoll aufleben. Eines Nachts hatte er einen Traum, der seiner Erinnerung entfallen war, worauf er seine Magier und Chaldäer zusammenrief, ihn den Traum anzuzeigen und zu deuten. Die Magier verlangten vom König den Traum darzustellen, dann wären sie bereit ihn zu deuten. Der König sah in diesen Bedingungen nur Ausflüchte und sprach das Todesurteil, das auch den Propheten Daniel und seine drei Freunde treffen sollte, die ebenfalls gefangen aus Judäa weggeführt worden waren.

[448] Körntgen, Ludger: Ottonen und Salier. Darmstadt 2002. S. 14

[449] ebd. S. 24

[450] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 56

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Daniel erwirkte Zutritt beim König, und ließ ihn wissen, nur Gott der Höchste könne den Traum offenbaren und deuten. Nach erneutem Gebet ging Daniel zum König, schilderte den Traum und versprach ihn zu deuten. Das Bild, das Daniel dem König beschrieb, bestand aus vier unterschiedlichen Zusammensetzungen, die auf die Menschheitsgeschichte gedeutet worden sind, und findet sich im 2. Kapitel des Buches Daniel in den Versen 27-45: (27) Daniel stand vor dem König und sprach: Das verborgene Ding, das der König fordert von den Weisen, Gelehrten, Sternsehern und Wahrsagern, steht in ihrem Vermögen nicht, dem König zu sagen. (28) Aber es ist ein Gott im Himmel, der kann verborgene Dinge offenbaren, der hat dem König Nebukadnezar angezeigt, was in künftigen Zeiten geschehen soll. (29) Mit deinem Traum und deinen Gesichten, da du schliefest, verhielt’s sich also: Du, König, dachtest auf deinem Bette, wie es hernach gehen werde; und der so verborgene Dinge offenbart, hat dir angezeigt, wie es geschehen werde. (30) So ist mir solch verborgenes Ding offenbart, nicht durch meine Weisheit, als wäre sie größer denn aller, die da leben; sondern darum, dass dem König die Deutung angezeigt würde und du deines Herzens Gedanken erführest. (31) Du, König, sahest, und siehe, ein großes und hohes und sehr glänzendes Bild stand vor dir, das war schrecklich anzusehen. (32) Des Bildes Haupt war von feinem Golde, seine Brust und Arme waren von Silber, sein Bauch und seine Lenden waren von Erz, (33) seine Schenkel waren Eisen, seine Füße waren eines Teils aus Eisen und eines Teils aus Ton. (34) Solches sahest du, bis dass ein Stein herabgerissen ward ohne Hände, der schlug das Bild an seine Füße, die Eisen und Ton waren, und zermalmte sie. (35) Da wurden miteinander zermalmt das Eisen, Ton, Erz, Silber und Gold und wurden wie Spreu auf der Sommertenne, und der Wind verwehte sie, dass man sie nirgends mehr finden konnte. Der Stein aber, der das Bild schlug, ward ein großer Berg, dass er die ganze Welt füllte. (36) Das ist der Traum. Nun wollen wir die Deutung vor dem König sagen. (37) Du, König, bist ein König aller Könige, dem der Gott des Himmels Königreich, Macht, Stärke und Ehre gegeben hat (38) und alles, da die Leute wohnen, dazu die Tiere auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel in deine Hände gegeben und dir über alles Gewalt verliehen hat. Du bist das goldene Haupt. (39) Nach dir wird ein anderes Königreich aufkommen, geringer denn deines. Danach das dritte Königreich, das ehern ist, welches wird über die Lande Herrschen. (40) Und das vierte ward hart wie Eisen, denn gleich wie Eisen alles zermalmt und zerschlägt, ja, wie Eisen alles zerbricht, also wird es auch diese alle zermalmen und zerbrechen.

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, um Schädel zu zertrümmern, ob in länglicher oder runder Form, hat sich Eisen als das beste erwiesen, schreibt Sir Winston Churchill in: „A History of  the English-speaking Peoples“ zum Übergang von der Bronze-zur Eisenzeit.

(41) Dass du aber gesehen hast die Füße und Zehen eines Teils aus Ton und eines Teils Eisen: das wird ein zerteiltes Königreich sein, doch wird von des Eisens Art darin bleiben, wie du denn gesehen hast Eisen mit Ton vermengt. (42) Und dass die Zehen an seinen Füßen eines Teils Eisen und eines Teils Ton sind, wird’s zum Teil ein starkes und zum Teil ein schwaches Reich sein. (43) Und dass du gesehen hast Eisen und Ton vermengt: werden sie sich auch nach Menschengeblüt untereinander Mengen, aber sie werden doch nicht aneinander halten, gleichwie sich Eisen mit Ton nicht mengen lässt.

Nebukadnezars Traum stellt uns den Gegensatz von Weltreich und Gottesreich vor Augen. Das Weltreich ist nur eines, wenn auch seine Träger zu der von Gott bestimmten Zeit wechseln. Im Verlauf seiner Entwicklung wird es immer gefährlicher für die Menschheit, während seine Beschaffenheit von einem Zeitraum zum andern sich verschlechtert d. h.: die Fähigkeit, die einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammenschließen und zusammenzuhalten, nimmt ab.

(44) Aber zur Zeit solcher Königreiche wird der Gott des Himmels ein Königreich aufrichten, das nimmermehr zerstört wird; und sein Königreich wird auf kein anderes Volk kommen.

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Es wird alle diese Königreiche zermalmen und verstören; aber es selbst wird ewiglich bleiben; (45) wie du denn gesehen hast einen Stein, ohne Hände vom Berge herabgerissen, der das Eisen. Erz, Ton, Silber und Gold zermalmte. Also hat der große Gott dem König gezeigt, wie es hernach gehen werde; und der Traum ist gewiss, und die Deutung ist recht.

Was die Deutung der Weltreiche betrifft, so herrscht in Bezug auf das von einem starken Willen beseelte goldene Haupt keine Meinungsverschiedenheit; wohl aber gehen die Meinungen der Ausleger bei den drei anderen auseinander. Die, welche sich auf die Verwendung dieses und des in Kapitel 7 folgenden Ergänzungsgesichts in der Offenbarung des Johannes stützen, sehen in dem zweiten Weltreich das medisch-persische (Cyrus) in dem dritten das griechisch-mazedonische (Alexander), in dem vierten das römische (Augustus), das zuerst in ein weströmisches und ein oströmisches und hernach in eine Vielzahl von kleinen Staaten zerfiel, und in der Endzeit in eine Zehnzahl von Königreichen auseinandergehen wird. Anfangs eisenstark, hat es alle anderen Reiche unterworfen und zertrümmert, später aber die Elemente in sich aufgenommen, die sich mit dem römischen Wesen nicht verschmelzen ließen.[451] 

Zum Bild ist ein geflügeltes Wort über die Jahrtausende erhalten geblieben: Der Koloss auf tönernen Füßen. Peter Scholl-Latour hat diesen Satz in einem seiner Bücher diesen Titel gewählt. Zu allen Zeiten ist das Bild und die damit verbundene Prophezeiung auf das politische Tagesgeschehen angewandt worden, so auch in der politischen Gegenwart. Es ist nicht nur gefährlich, es muss auch als unzulässig angesehen werden in die Zukunft hinein, aufgrund prophetischer Aussagen der Heiligen Schrift, diese Aussagen zur Grundlage politischen Handelns zu machen. Der Apostel Paulus warnt ausdrücklich in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth in 1. Korinther, Kapitel 4, Vers 5: (5) Darum urteilt über nichts vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch das im Dunkel verborgene ans Licht bringen und die Gedanken der Herzen offenbar machen wird; und dann wird einem jeden das ihm gebührende Lob von Gott her zu Teil werden.[452]

Im Herbst 961 überschritt Otto eines aus allen Stämmen bestehenden Heeres den Brenner, selbst eine Abteilung Wenden war dabei. Über Mangel an Zulauf hatte er sich nicht beklagen können. Es folgten ihm die Herzöge, Bischöfe und Grafen. Auf ihn wartete in Rom die Kaiserkrone. Die mehrere Kilogramm schwere Krone, die Otto aufs Haupt gesetzt wurde, war von ihm bereits nach dem Ungarnsieg 955 bei einem Goldschmied in Reichenau in Auftrag gegeben worden. An der Krone sind auch zu einem späteren Zeitpunkt Änderungen vorgenommen worden. (Aus Wikipedia) Sie besteht aus acht Platten in reinem Gold, die durch perlenbesetzte Scharniere verbunden sind und wirken wie Mauern, die ein Heiligtum umgeben. Acht Ecken hat die Pfalzkapelle Karls des Großen, acht Menschen überlebten die Sintflut, acht ist die Zahl der Vollkommenheit, des Unendlichen, ist die Kaiserzahl. Vier der Platten sind mit Perlen und Edelsteinen besetzt, dabei ist die Zahl einem genau durchdachten System unterworfen: 240 Perlen stehen 120 Steinen gegenüber, darunter sind 144 größere Perlen und 96 kleinere, 84 größere Steine und 36 kleinere. Alles Zahlen, die durch zwölf teilbar sind. Überall taucht diese zwölf auf: zwölf Steine zieren die Stirnplatte und symbolisieren die zwölf Apostel; die auf der Nackenplatte stehen für die zwölf Stämme Israels. Die restlichen vier Platten tragen bildliche Darstellungen. Rechts vom Kreuz, vom Betrachter her gesehen, erscheint König Salomon, der einen Spruch aus seinen Weisheiten präsentiert: time Dominum et recede a malo (fürchte Gott und meide das Unrecht), die Platte links vom Kreuz drückt aus, dass die Könige im Namen Christi regieren: per me reges regnant (durch mich herrschen Herrscher). Anschließend ist

[451] Text der Heiligen Schrift in der Übersetzung nach Martin Luther. Jubliläumsbibel mit erklärenden Anmerkungen. Stuttgart 1954

[452] Übersetzung nach Hermann Menge (ev.)

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König Ezechias (Hiskija) dargestellt mit dem Propheten Jesaja, der ihm verkündet: ecce adiciam super dies tuos XV annos (wohlan, ich will zu deinen Lebenstagen noch 15 Jahre hinzufügen). Und auf der letzten trägt König David ein Sprechband: honor regis iudicium diligit (der ehrenhafte König liebt den Rechtsspruch). Dies sind die vier Bibelstellen, die während der Krönung dem Herrscher zugerufen wurden.[453] Die für die Anfertigung der Krone Verantwortlichen haben durch die Anordnungen, wie die Krone anzufertigen sei, eine tiefer greifende biblische Kenntnis und Erkenntnis erkennen lassen. Die Krone mit dem alles entscheidenden Symbolcharakter hat ihren Grund in das von Alkuin am Hofe Karls des Großen konzipierte „Davidische Königtum“, das im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift Ursprung und Verheißung hat, weit mehr als auf das Kaiserreich, wie es von Kaiser Konstantin und seinen Nachfolgern im 4. Jahrhundert begründete Reich mit dem Christentum als Staatsreligion mit einem Augustus/Kaiser an der Spitze. Von besonderer Bedeutung ist der Hinweis auf König Ezechiel (Hiskija) (716-687 v. Chr.). König Ezechias war, modern ausgedrückt, ein Reformkönig, denn auch die Geschichte Israels und später Judas ist begleitet von Zeiten des Abfalls und Hinwendung zu dem, was ethisch in den Geboten Gottes verankert war. Passend zur Abbildung in der Krone findet sich ein Bericht im 2. Buch der Könige im 20. Kapitel, in den Versen 1-7. (1) In jener Zeit war Ezechias todkrank gewesen. Da besuchte ihn der Prophet Isaias, des Amoz Sohn, und sprach zu ihm: „So spricht der Herr: ‚Bestelle dein Haus! Denn sterben musst du, und wirst nicht genesen.‘“ (2) Da wandte sich Ezechias mit seinem Antlitz zur Wand und betete zum Herrn. (3) Er sprach: „Ach Herr! Gedenke doch, dass ich vor Dir treu und mit ungeteiltem Herzen wandelte, und dass ich tat, was Dir gefiel!“ Dann brach Ezechias in lautes Weinen aus. (4) Aber noch war Isaias nicht aus dem mittleren Vorhof, da erging das Wort des Herrn an ihn: (5) „Kehr um und künde dem Fürsten meines Volkes, Ezechias: ‚So spricht der Herr, des David deines Ahnen Gott: Ich habe dein Gebet gehört und deine Tränen angesehen. So will ich dich heilen. Am dritten Tage kannst du schon in das Haus des Herrn gehen. (6) Ich füge deinen Lebenstagen fünfzehn Jahre hinzu, und rette dich aus des Assyrerkönigs Hand, dich und die Stadt. Ich schirme diese Stadt um Meinetwillen, und wegen meines Dieners David.‘“ (7) Isaias sprach: „Holt ein Feigenpflaster!“ Sie holten es und legten es auf das Geschwür. Da genas er.[454]

Nach vollzogener Krönung zum Kaiser gelobte ihm der Papst Johannes XII. Otto, zeit seines Lebens nicht von ihm abzuweichen. Als Gegenleistung verschaffte ihm Otto am 13. Februar 962 das Privileg, was danach viel umstritten war, aber letztlich für echt angesehen wurde. Es enthält die Bestätigung der päpstlichen Besitzungen und die Bestimmung, dass die Weihe eines neuen Papstes nicht stattfinden dürfe, ehe er dem Kaiser den Treueid geleistet habe, beides stützt sich auf karolingische Urkunden.[455]

Der Kaiser kehrte von Rom nach Pavia zurück und feierte hier Ostern. Berengar hatte sich erneut zum Widerstand entschlossen, und bezog mit seinem Heer den zur Festung ausgebauten Berg San Leone, nicht weit von dem heute kleinsten selbstständigen Staat San Marino. Willa, Berengars Gattin, hatte sich auf einer Insel im Lago Maggiore verschanzt, während ihr Sohn Adelbert bandenmäßig das Land durchstreifte und unsicher machte. Willa hielt sich auf ihrer befestigten Insel zwei Monate, wurde gefangen genommen, aber der Kaiser verzichtete auf eine Bestrafung, und entließ sie in seiner Milde in Freiheit. Das Entgegenkommen nutzte sie, begab sich zu Berengar, und überredete ihn, sich nicht dem Kaiser zu ergeben. Der Kaiser beging das Weihnachts- und Osterfest (963) in Pavia. Bergengar entschloss sich zum Widerstand. Der Kaiser verließ Pavia und belagerte Berengar, wodurch den Sommer über starke

[453] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 58 f

[454] Übersetzung nach Paul Riesler (kath)

[455] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 413

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Kräfte gebunden wurden. Der Papst brach sein Gelöbnis und schloss sich Berengar an, und öffnete Adelbert die Tore Roms. Otto brach die Belagerung San Leones ab, und begab sich mit einer Heeresmacht nach Rom. Angesichts des herannahenden Heeres spalteten sich die Römer, die einen hielten es mit dem Kaiser, andere suchten dem Papst zu gefallen. Eine weitere Entwicklung, die bestimmend werden sollte für das gesamte Mittelalter. Der Kaiser berief nun eine große Anzahl von Bischöfen zu einer Synode ein.[456] Luitbrand[457] berichtet darüber: Nachdem alle versammelten Bischöfe unter tiefsten Schweigen Platz genommen hatten, begann der heilige Kaiser: „Der Herr Papst Johannes sollte sich schicklich an diesem erlauchten und heiligen Konzile beteiligen. Wir fragen darum euch, heilige Väter, die ihr mit ihm zusammenlebt und gemeinsam mit ihm die Geschäfte erledigt, weshalb er ferne bleibt.“ Darauf antworteten die römischen Bischöfe, die Kardinalpriester und Diakone mit allem Volke: Wir wundern uns über eure hochheilige Weisheit, die von uns über Dinge Aufschluss wünscht, die weder den Bewohnern Spaniens noch selbst denen von Babylon und Indien unbekannt sind. Er ist ja nicht einer von jenen, die in Schafskleidern kommen, innen aber reißende Wölfe sind, sondern er wütet offenkundig, treibt in aller Offenheit Teufelsgeschäfte und sucht dies gar nicht zu verschleiern.“ Worauf der Kaiser: „Es scheint uns billig, dass die Anklagepunkte aufgeführt werden, dann wollen wir gemeinsam beraten, was zu geschehen hat.“[458]

Da riefen die Bischöfe, Priester, Diakone, der übrige Klerus und das ganze Volk der Römer wie ein Mann: „Hat der Papst Johannes nicht noch weit schändlichere und furchtbarere, eines Papstes durchaus unwürdige Verbrechen begangen, als eben der Diakon Benedikt verlas, so soll uns der heilige Apostelfürst nicht von unseren Sünden lossprechen…Und wollt ihr uns nicht Glauben schenken, so müsst ihr wenigstens dem Heere des Herrn Kaisers glauben, das ihn vor fünf Tagen in Waffen und Rüstung sah, nur die Tiber, die zwischen ihm und dem Heere floss, verhinderte es, dass er also gewappnet gefangen wurde.“ Hierzu bemerkte der Herr Kaiser: „Für diesen Vorgang gibt es so viele Zeugen wie Krieger in unserem Heere.“ Nun schlug die heilige Synode vor: „Wenn es dem heiligen Kaiser gefällt, soll an den Papst ein Schreiben mit der Aufforderung abgehen, dass er sich persönlich stelle und von diesen Anklagen reinige. Der Kaiser sandte also an den Papst einen Brief, der die angegebenen Anklagen enthielt und ihn zur Verantwortung aufforderte. Der Brief schloss: „Wir bitten Eure Paternität eindringlichst, doch nach Rom zu kommen und euch von diesen Anschuldigungen zu reinigen. Solltet Ihr euch aber vor Gewalttätigkeiten der erhitzten Menge fürchten, so versichern wir Euch eidlich, dass Euch nichts geschehen soll, als was in den heiligen Satzungen der Kirche für solche Fälle vorgesehen ist. Gegeben den 6. November.“ – Als der Papst diesen Brief gelesen hatte, schrieb er zu seiner Verteidigung nur diese Zeilen: „Bischof Johannes, Knecht der Knechte Gottes, an alle Bischöfe. Wir haben gehört, ihr wollt jemand anders zur Papste machen. Ich exkommuniziere euch durch den allmächtigen Gott, so dass ihr niemand mehr weihen und die Messe nicht mehr lesen dürft.

Des Papstes wahrer Charakter hatte sich sogleich nach der Krönung enthüllt. Er konspirierte mit seinen ehemaligen Gegnern, gegen die er Otto zu Hilfe gerufen hatte. Er unterhandelte sogar mit Ungarn und Griechen, die er jedoch sofort wieder an Otto verriet. Der Kaiser erfuhr davon durch abgefangene Briefe, durch Spione und geistliche Zwischenträger. Trotzdem ließ er noch Milde walten und meinte der Papst sei Verführungskünsten seiner Umgebung erlegen.

[456] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 128 f

[457] ebd. Anmerlkungen S. 443: Luitbrand war am italienischen Königshofe erzogen und Kanzler Berengars gewesen. Er trat dann in Ottos Dienste und wurde 961 Bischof von Cremona. Seine geschichtlichen Werke: "Das Buch der Vergeltung", eine Geschichte seiner Zeit bis 949, "Die Geschchte Ottos", und der "Bericht über Luibrands Gesandtschaft nach Konstantinopel", 968, sind zwar historisch nicht zuverlässig, von Hass und Parteileidenschaft verzerrt, aber doch ein unschätzbar lebensvolles Bild seiner Zeit.

[458] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 129 f

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Zuversichtlich ging er davon aus, das Beispiel rechtschaffener Männer werde ihn bessern. Otto täuschte sich, denn der Papst trieb sein Doppelspiel weiter. Er blieb ebenso infam wie treulos. Oktavian Johannes (Johannes XII.) verbündete sich mit den alten Feinden, die mit korsischen Freischärlern und angeworbenen Sarazenen anrückten. Er öffnete ihnen die Tore Roms, während der Kaiser in Oberitalien weilte, und die Burgen Berengars und seiner Mitstreiter berannte. Doch der Kaiser kam schneller nach Rom zurück, als der Papst es erwartete. Das Duell zwischen Kaiser und Papst begann vor aller Welt. Der heute noch gezählte 131. Nachfolger Petri mit Helm und Panzer, Schwert und Schild auf der Tiberseite! Er drohte dem durch ihn noch vor einem dreiviertel Jahr gekrönten kaiserlichen Haupt, um sich selbst zur Heldenfigur und seiner Sodalteska Mut zu machen. Dann verschwand er schnell mit seinen Verbündeten und dem Kirchenschatz. Im November 963 zog Otto wieder ein in die Ewige Stadt. Die Römer stellten Geiseln und schworen niemals wieder einen Papst, ohne Zustimmung des Kaisers und seiner Söhne zu wählen. Auf einer im gleichen Monat stattfindenden Synode in der Peterskirche wurde der Papst abgesetzt. Alles, was geschehen war, kam noch einmal zur Sprache. Alle hatten es geduldet, niemand vorher eingegriffen. Jetzt sprach man von einem Ungeheuer, das aus der römischen Kirche ausgestoßen wurde. Der Entweihung des Heiligen Stuhles durch Oktavian Johannes folgte eine unrechtsmäßige Erhebung. Der Kaiser entschied sich für einen Laien, den Vorsteher des päpstlichen Sekretariats, der alle Weihen des Priesters, Bischof und Papstes an einem Tag empfing. Er nannte sich Leo VIII. Draußen tobten die Politiker der Ewigen Stadt. Es bildete sich eine kaiserliche, außerrömische Partei und eine päpstliche und stadtrömische Partei. Die Rivalität brach offen aus, als zwei mächtige Geschlechter, die Tusculaner und die Creszentier, beide in der Tradition des Senators Alberichs II., Vater des abgesetzten Papstes, um die städtische und päpstliche Regentschaft kämpften. Der sechsundzwanzigjährige Oktavian Johannes übte eine entsetzliche Rache. Er ließ den Kardinälen, die gegen ihn gestimmt und ihn abgesetzt hatten, grausam verstümmeln im Gesicht oder durch Handabschneiden. Johannes zelebrierte die Messe, als wenn nichts geschehen wäre. Am 14. Mai 964 wurde er „vom Teufel erschlagen, als er Ehebruch trieb, berichtet ein Chronist.[459]

Aufschlussreich ist auch wie zeitgenössische Quellen darüber berichten: Da sich der Papst weigerte, nach Rom zurückzukehren und sich zu rechtfertigen, wählte das römische Volk einmütig den Protoskriniar Leo,[460] einen tüchtigen und eifrigen Mann, an Johannes‘ Stelle. An der Synode, auf der dies bestimmt wurde, beteiligten sich fast alle Bischöfe Roms und Italiens sowie der Patriarch von Aquileja. Aus dem Reich waren die Erzbischöfe Adaldag (von Hamburg-Bremen) und Heinrich (von Trier), sowie die Bischöfe Lantward (von Minden) und Otger (von Speyer) zugegen. Als sich Johannes abgesetzt sah, bereute er nur allzu spät sein Vorgehen und trennte sich von Adelbert, der sich abermals nach Korsika begab. Im gleichen Jahr (963) wurde die Feste Garda in Italien genommen. Das Weihnachtsfest feierte der Kaiser in Rom. Der auf dem Monte San Leone belagerte Berengar wurde gefangen genommen, und die Burg ergab sich dem Kaiser, und Berengar wurde mit Willa nach Bayern geschickt (964). Die Römer fielen wie üblich wieder vom Kaiser ab, verschworen sich mit verschiedenen Burgherren außerhalb der Stadt und suchten mit diesen den Kaiser zu töten. Ihr Anschlag wurde noch an dem Tage, an dem sie ihn ausführen wollten, aufgedeckt, der Kaiser kam ihnen zuvor, griff am 3. Januar 964 mit einer ganz kleinen Schar seiner Mannen die Verschwörer an und erschlug eine beträchtliche Zahl seiner Gegner in der Stadt. Am folgenden Tage erschienen die

[459] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser. S. 58 ff

[460] Bühler, Johannes: Anmerkungen S. 413. Protoskrinar war der Vorsteher und Schreiber, er gilt asl Kleriker, Leo hatte am Tage seiner Wahl noch nicht einmal die niederen Weihen, die nun entgegen den Kirchengesetzen, alle an einem Tage nachgeholt wurden.

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Römer vor dem Kaiser, stellten hundert Geiseln und gelobten über dem Körper des heiligen Petrus dem Kaiser und dem Papste (Leo) eidlich die Treue.

Der Kaiser blieb hierauf noch eine volle Woche in Rom, danach wandte er sich mit Heeresmacht nach Spoleto und Camerino, Gebiete westlich von Rom gelegen, um dort die Verhältnisse zu ordnen. Auf Bitten des Papstes Leo gab er die Geiseln den Römern wieder frei. Zum Dank für diese Wohltat ließen sie sofort den Papst Johannes wieder in die Stadt und brachen dem Kaiser und dem Papste Leo ohne Scheu die ihnen zugeschworene Treue. Papst Leo konnte, von einem kleinen Gefolge begleitet, nur mit knapper Not das nackte Leben retten. Er suchte den Kaiser in Camerino auf und feierte daselbst das Osterfest.[461]

Aus den Synodalakten: Johannes hielt noch Ende Februar 964 in Rom eine Synode ab, auf der also verhandelt wurde: Johannes der frömmste und mildreichste Papst der heiligen römischen Kirche, stellte die Frage: „Wie ihr wisst geliebteste Brüder, war ich durch kaiserliche Gewalt zwei Monate von meinem Sitze vertrieben. Ich frage deshalb, ob jene Synode, die während meiner Abwesenheit in meiner Kirche (am 10. Dezember 963) vom Kaiser Otto, seinen Erzbischöfen und Bischöfen abgehalten wurde, eine rechtmäßige war oder nicht?“ Das heilige Konzil antwortete: „Jene Synode kann nicht als rechtmäßig bezeichnet werden, weil eine solche durch die Satzungen der heiligen Väter durchaus verboten ist.“ Der frömmste und mildreichste Papst fuhr fort: „Welcher Rechtstitel kommt eigentlich jener Synode zu?“ Das heilige Konzil antwortete: „Es war eine Hurengeschichte zugunsten des Ehebrechers, des Eindringlings Leo, der sich der Braut (der römischen Kirche) eines anderen (des Papstes Johannes) ermächtigt hatte.“ Und weiter der frömmste und mildreichste Papst: „Ist demnach diese Synode von uns zu verdammen?“ Das heilige Konzil antwortete: „Sie ist laut Autorität der heiligen Väter zu verdammen.“ (Johannes belegte hierauf Leo, falls er sich noch weiterhin irgendwie päpstliche Rechte und Funktionen anmaße, ferner den Bischof Sico von Ostia, der diesen geweiht hatte, mit dem Banne. Die Gesandten, die in seinem Auftrage Otto nach Italien gerufen hatten, wurden schmählich verstümmelt).Bischof Otger von Speier, der gefangen genommen worden war, ließ er grausam geißeln und unter mancherlei Schwierigkeiten in seiner Nähe festhalten, entließ ihn aber dann plötzlich, in der Hoffnung, vom Kaiser Verzeihung zu erlangen. Durch Gottes Fügung sah er sich jedoch in dieser Erwartung getäuscht, da er am 14. Mai von hinnen schied.[462]

Die Hoffnung, beim Kaiser Verzeihung und Vergebung zu finden, war nicht unbegründet. Es hatte sich herumgesprochen, dass Otto über einen reuigen Sünder mehr erfreut war als über zehn Gerechte. Clementia (Barmherzigkeit) wurde diese Eigenschaft genannt, die Gnade gegenüber dem, der gefehlt hatte. Eine Eigenschaft, die ihm bereits das kopfschüttelnde Befremden des in Spanien herrschenden Kalifen eigetragen hatte, eines Herrschers, der ihn sonst über die Maßen bewunderte.[463]

Nach dem Hinscheiden des Papstes Johannes XII. erkoren die Römer, ohne die Ankunft des Kaisers abzuwarten, einen Diakon der römischen Kirche, Benedikt, weihten ihn und setzten ihn auf den apostolischen Stuhl. Die Nachricht von diesen Ereignissen, veranlassten Otto eine militärische Lösung herbeizuführen. Sein herangeführtes Heer bildete einen Belagerungsring um Rom. Im Juni öffneten die Römer dem Kaiser die Tore Roms. Leo VIII. wurde wieder als Papst bestätigt. Er berief mit zahlreichen Bischöfen eine Synode ein, die mit allgemeiner Zustimmung Benedikt seines Amtes enthob. Leo riss ihm das päpstliche Pallium vom Leibe und den Hirtenstab aus der Hand und zerbrach ihn vor der Versammlung in Stücke.

[461] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 132 f

[462] ebd. S. 134

[463] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 62

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Benedikt wurde auf Veranlassung des Kaisers seine Würde als Diakon belassen. Nach der Feier des Johannesfestes am 24. Juni 964 verließ der Kaiser Rom. Auf dem Rückmarsch wurde sein Heer von einer Seuche erfasst. An dieser Pest starben der Erzbischof Hinrich von Trier, Der Abt Gerrich von Weißenburg, der Herr Gottfried von Lothringen und eine ungezählte Menge Vornehmer und des gemeinen Volkes. Endlich, so der zeitgenössische Bericht, hörte durch Gottes Barmherzigkeit die Pest zu wüten auf. Das Weihnachtsfest 964 feierte der Kaiser in Pavia. Nach Erledigung der Reichsgeschäfte in Italien begab er sich ins immer noch ostfränkische Reich. An der Grenze von Schwaben und Franken empfingen ihn sein Sohn, König Otto, und Erzbischof Wilhelm. Von hier aus ging es weiter nach Worms, wo er mit seinem Bruder, Erzbischof Brun, zusammentraf. Die ganze Fastenzeit hielt sich der Kaiser in Franken auf und feierte Ostern in Ingelheim. Von da aus fuhr er zu Schiff nach Köln, wo er seine Mutter Matilde, ihrer Schwester, der westfränkischen Königin Gerberg und ihren Sohn Lothar begegnete. Er bewirtete sie alle mit der gebührenden Liebe und Ehrerbietung, und ritt danach in seine Heimat Sachsen. Den abgesetzten Benedikt nahm er von Rom mit nach Franken und übergab ihm zur Bewachung dem Erzbischof Adaldag. Den zwei Töchtern Berengas wies er einen ehrenvollen Aufenthalt in der Pfalz bei der Frau Kaiserin an. Im gleichen Jahr starb der Papst Leo. Die Römer sandten als Boten den Protoskriniar Azo und den Bischof Marinus von Sutri nach Sachsen zum Kaiser, damit er einen Mann seiner Wahl zum Papst ernenne. Die römische Abordnung wurde ehrenvoll empfangen und in ihre Heimat entlassen. Der Kaiser ließ mit ihnen die Bischöfe Otger von Speier und Luitbrand von Cremona nach Rom reisen. Johannes, Bischof von Narni, wurde vom ganzen römischen Volke erwählt und auf den päpstlichen Stuhl erhoben. Er behandelte die römischen Großen sogleich mit unbegründeter Hoffart, und machte sie sich dadurch zu erbitterten Feinden. Er wurde ergriffen, aus der Stadt vertrieben, nach Campanien und in Haft gehalten.[464]

In den hier aufgeführten zeitgenössischen Berichten wird vielfach bereits von „Deutschland“ und „Frankreich“ gesprochen, ein solcher Einschub mit der entsprechenden Interpretation wird der historischen Entwicklung der Zeit nicht gerecht. Es gab zu der Zeit, diese im nationalstaatlichen Sinne verstandenen Begriffe nicht. Darum ist es abwegig, von Deutschland und Frankreich zu sprechen. Die Herausbildung zu Nationalstaaten geschah Jahrhunderte später, Deutschland formte sich sogar erst im 19. Jahrhundert zu einem Nationalstaat, viel später als das übrige Europa. Deutschland hat hier etwas mit Italien gemeinsam, das seine Einheit als Nationalstaat auch erst 1861 erlangte.

Im folgenden Jahr 966 zog der Kaiser erneut nach Rom. Bei seinem Herannahen entließen ihn die Römer aus der Haft und er konnte wieder als Papst, als Papst Johannes XIII seine Amtsgeschäfte fortführen. Im gleichen Jahr starb Berenga, der frühere König von Italien, er wurde in Bamberg bestattet, seine Witwe Willa nahm den Schleier und wurde Nonne. Der Kaiser blieb sechs Jahre in Rom, „dem Haupt des Erdenkreises und dem Sitz der allgemeinen Kirche“. Es ging ihm um gesicherte Verhältnisse in Italien und im Patrimonium Petri. „Der von Gott gekrönte Cäsar!“ So titulierte ihn Johannes XIII. Oder überschwänglich: der „dritte Konstantin, der dreifach gesegnete und höchst Heilige“. Die Gegner sahen es anders: „Wehe Rom, dein Volk ist mit dem Schwerte hingerichtet. In Säcken tragen sie dein Gold und Silber fort“, warnte die Stimme eines Mönches von Soracte. Wie Otto in den politischen und militärischen Entscheidungen nach Osten und Süden auf den Spuren Karls des Großen blieb, so verfolgte er auch die gleichen dynastischen Grundsätze bei der Wahl der Erben. Am Weihnachtstage, des Jahres 967 führte Otto I. seinen zwölfjährigen Sohn nach Sankt Peter und ließ ihn durch Johannes XIII. zum kaiserlichen Nachfolger krönen und zum Cäsar und Augustus

[464] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 134 ff

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erheben.[465] Für das darauffolgende Jahr ist ein Bericht von Widukind von Corvey überliefert über kriegerische Verwicklungen mit dem byzantinischen Kaiserreich. Otto schrieb 968 dazu aus Italien an die Herzöge und Heerführer in Sachsen: „Otto, von Gottes Gnaden Kaiser und Augustus, wünscht den Herzögen und Präfekten unseres Reiches alles Liebe und Gute. Durch Gottes Huld steht es mit unserem Befinden und allen unseren Unternehmungen ausgezeichnet. Außerdem suchten uns Abgesandte des Königs von Konstantinopel auf, Männer in hohen Würden, die sich angelegentlich um Frieden bemühten. Nun, es mag kommen wie immer, sie werden es, will‘s Gott, unter keinen Umständen auf einen Krieg ankommen lassen. Die Provinzen Apulien und Kalabrien werden sie uns, falls es zu keiner anderen Vereinbarung kommt, überlassen müssen. Fügen sie sich unserem Willen, so werden wir diesen Sommer unsere Gemahlin mit unserem gleichnamigen Sohn nach Franken vorausschicken, während wir selbst unter Gottes Geleite über La Garde=Fraînet (im Südosten Frankreichs in der Provence gelegen, das damals zum Königreich Burgund gehörte) unseren Weg nehmen, um die Sarazenen in jener Gegend zu vernichten…Unser Sohn ist an Weihnachten vom heiligen Papste zum Kaiser gekrönt worden. Geschrieben den 18. Januar in Kampanien bei Capua.“

Als dieser Brief vor den Großen und zahlreichem Volke auf dem Landtage verlesen wurde, glaubte man doch den Frieden mit den Redariern aufrecht erhalten zu müssen, weil der Krieg mit den Dänen unmittelbar bevorstand, und nicht zwei Feldzüge gleichzeitig geführt werden konnten.

Der Kaiser hatte den Griechen zu viel Vertrauen geschenkt. Als er ihnen einen Teil seines Heeres entgegensandte, um die griechische Prinzessin für seinen Sohn abzuholen, wurde es von den Griechen hinterlistig überfallen, teilweise erschlagen oder gefangen genommen und zum Kaiser nach Konstantinopel gebracht. Daraufhin entsandte der Kaiser ein starkes Aufgebot nach Kalabrien. Die Griechen waren über ihren letzten Erfolg übermütig und ließen alle Vorsicht außer Acht. Sie fielen darum in die Hände der kaiserlichen Krieger, die eine ungezählte Menge von ihnen erschlugen, die übrigen nahmen sie gefangen, schnitten ihnen die Nasen ab und entließen sie so nach Konstantinopel. Dann erpressten sie von den Griechen in Kalabrien und Apulien Tribut und kehrten ruhmbedeckt mit reicher Beute beladen zu Kaiser Otto zurück (969).[466]

Es handelte sich hier um einen reinen Eroberungskrieg von Christen gegen Christen, nicht um einen Krieg zum Schutze der christlichen katholischen oder byzantinischen Kirche, der dazu noch erbarmungslos geführt wurde. Es sollte in der Geschichte des „christlichen Abendlandes“ bei weitem nicht der letzte sein. Am Beginn des Berichtes heißt es: „Otto, von Gottes Gnaden Kaiser und Augustus,…“ Diese Berufung auf die Gnade Gottes darf nicht verwechselt oder gleichgesetzt werden mit dem Gottesgnadentum absolutistischer Herrscher, wie es sich im 17. und 18. Jahrhundert herausgebildet hatte. Eine solche Machtbefugnis war den Herrschern des HRR nicht gegeben. Friedrich der Große, so ist überliefert, habe beim Anblick einer Regimentsfahne, auf der zu lesen stand: Pro Deo, pro Patria (für Gott und Vaterland), dazu gemeint: Das pro Deo sollte gestrichen werden, was hat Gott mit den Händeln der Menschen zu tun? Der als Deist und Spötter angesehene preußische König hatte hier mehr Gottesfurcht bewiesen als manche fromme Herrscher vor ihm und nach ihm, die allzu leichtfertig den Namen Gottes in Anspruch genommen haben.

Nach den Ereignissen im äußersten Süden Italiens empörten sich die Griechen in Konstantinopel gegen ihren Kaiser. Er wurde auf Anstiften seiner eigenen Frau ermordet und

[465] Mühr, Alfred: die deutschen Kaiser. S. 61

[466[ Bühler, Johannes: Die säcjsischen und salischen Kaiser. S. 139 nach einem Bericht von Widukind von Corvey

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ein neuer Herrscher eingesetzt. Der ließ die Gefangenen des kaiserlichen Heeres frei und entsandte das Mädchen Theophano mit einem stattlichen Heere und prächtigen Geschenke zum Kaiser Otto, der die Theophano seinem Sohn übergab (972).[467] Sie wurde zu einer der herausragenden Frauenpersönlichkeiten der Zeit.   

Die Hochzeit des sechzehnjährigen Otto mit der fast gleichalterigen griechischen Prinzessin Theophano fand statt am 19. April 972 ebenfalls in der Peterskirche! Die politische Eheschließung kann als ein Meisterstück der ottonischen Diplomatie angesehen werden. Sie bedeutete Annäherung und endlich Frieden mit Byzanz. Ost und West fanden sich nach fast zweihundert Jahren vorübergehend wieder zusammen. Was Karl der Große versucht hatte, und was ihm misslungen war – Zusammenschluss durch eheliche Verbindung – das gelang dem ersten Sachsenkaiser durch die Heiratspolitik mit seinem Sohn. Seit Jahren mischten sich in Byzanz die Proteste gegen den Barbaren Otto mit unverbindlichen Freundschaftserklärungen, so dass schließlich eine militärische Auseinandersetzung drohte. Otto blieb beharrlich und geschmeidig und entsandte einen Unterhändler nach dem anderen zur Hauptstadt an den Bosperus. Als das junge Paar, Otto II. und Theophano, eine Nichte des Johannes Tsimiskes, nicht etwa eine Tochter des Kaisers Romanos‘ II. wie fälschlich behauptet worden war, in Sankt Peter getraut wurden, erhob sich Papst Johannes XIII. zu einer weiteren Proklamation. Er krönte auf kaiserliche Anweisung die Griechin am gleichen Tag zur Kaiserin. Als ottonische Morgengabe empfing die kaiserliche Braut Ländereien an der Nordsee und am adriatischen Meer, im Harz und am Rhein. Wieder ein Beispiel der Heirat eines Sachsen mit einer Frau aus ausländischer Dynastie. Darüber hinaus Ottos I. geglücktes Diplomatenspiel um die Ehe seines Sohnes, zu dem höherem Zweck der endgültigen Anerkennung als römischer Kaiser und gleichberechtigter der Herrscher aus Byzanz.[468] Der Gedanke an die einstige Größe und Einheit des Römischen Reiches war noch nicht erloschen.

Als Otto im Spätsommer 972 ins Regnum Teutonicum zurückkehrte, traf er auf ein Land, das sich erstmals seit langer Zeit wieder eines tiefen Friedens erfreuen durfte. Die Bürgerkriege waren erloschen. An den Grenzen herrschte Ruhe. Städte wuchsen empor. Die Klöster waren zu Mittelpunkten der Kultur geworden. Ihre Schulen bildeten die kommende Elite des Reiches aus, entwickelten neue Techniken des Kunsthandwerks, lehrten die Bauern ihre Erträge zu erhöhen. Handel und Wirtschaft zeigten zaghafte, aber hoffnungsvolle Ansätze. Auf den Landstraßen herrschte Sicherheit, und wer auf sein Recht vertraute, konnte auf eine sichere Stütze hoffen. Dem Kaiser blieb nur wenig Zeit, sich seines Lebenswerkes zu erfreuen. Er hatte ein Alter von sechzig Jahren erreicht, ein Alter in dem heutige Politiker erst ihre eigentliche Laufbahn beginnen. In jener Zeit betrug das Durchschnittsalter vierzig Jahre. Während Otto durchs Land reiste, kümmerte er sich um Einzelheiten unterschiedlichster Art, er gewährte einem Kloster Zollfreiheit, maßregelte einen Bischof wegen ungebührlicher Übergriffe, dämpfte auf Gerichtstagen den Übermut der Ämter, ließ sich von Gelehrten der Zeit Vorträge halten, schlichtete den Streit um den Zehnten, ein Steuersatz nach Vorbild im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift.

Sein Handeln ist vergleichbar mit Preußens Friedrich (1740-1786), der in regelmäßigen Zeitabständen das vergleichsweise kleine Land bereiste und inspizierte. Er kümmerte sich um Schafzucht, Kartoffelanbau oder um den Schulbesuch der Kinder. Durch eine Aneinanderreihung vieler kleiner Dinge kommen bei uns die großen Dinge zustande, war eines seiner Maxime. Wie ganz anders ist die Geschichte Großbritanniens verlaufen, kein Alexander, kein Cäsar, kein Augustus, kein Konstantin, kein Karl, kein Otto, kein Friedrich, kein Napoleon,

[467] Bühler, Johannes: Die sächsischen un salischen Kaiser. S. 139

[468] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser. S. 61 f

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die Hauptakteure seiner Geschichte werden in den Blättern der Geschichtsbücher im Verhältnis nur beiläufig erwähnt. An den Höhepunkten seiner Geschichte stehen Frauen. Dennoch ist seine Geschichte erfolgreicher verlaufen, unter der Regie zweier Frauen entstand das größte Imperium der Menschheitsgeschichte. Englisch ist heute Weltsprache Nummer eins.

Die Chronisten schildern Ottos Erschütterung, die ihn befiel, wenn er an den Gräbern seiner Mitstreiter oder die ihm sonst nahe gestanden hatten stand. In St Alban bei Mainz besuchte er seine Tochter Liutgard, über ihrem Grab hing eine silberne Spindel als sinnreiches Andenken an ihren Fleiß. Er gedachte seines Sohnes Liudolf, Liebling des Volkes, Stiefkind des Schicksals und seines Ältesten, Wilhelm, mit dem Makel unehelicher Geburt behaftet, was zu der Zeit viel zählte, er stieg trotzdem auf als Erzbischof von Mainz zu höchsten Würden. In Köln erinnerte er sich seines Bruders Brun, in Magdeburg kniete er vor dem Sarkophag Edithas, der Engländerin, seiner ersten Frau. In jenem Dom, der seine ureigene Schöpfung war, zu dessen Bau er aus Ravenna Marmorsäulen geschickt hatte, Mosaiken, goldene Leuchter, edelsteinbesetzte Monstranzen und eingemauert in jedem Säulenkopf die Gebeine von Heiligen. In der Krypta des Domes zu Quedlinburg lag seine Mutter Matilde, mit der er lange Jahre in Unfrieden gelebt, da sie aus übersteigerter Frömmigkeit der Kirche mehr gab, als ihr nach Ottos Verständnis zustand.[469]

Von der Königin Matilde[470] ist ein zeitgenössischer Bericht überliefert, der das Frömmigkeitsideal der Zeit beleuchtet: Des Kaisers Mutter Matilde war von bewunderungswürdiger Heiligkeit. Jede Nacht erfüllte sie ihre Zelle, die sich in unmittelbarer Nähe der Kirche befand, mit dem Wohllaut von himmlischen Gesängen jeder Art. Sie ruhte nämlich in ihrer Zelle nur kurze Zeit, erhob sich jede Nacht und ging zur Kirche. In und vor ihrer Zelle sowie auf dem Wege zur Kirche hatte sie drei Chöre von Sängern und Sängerinnen aufgestellt, die Gottes Güte und Milde zu lobpreisen hatten. Sie selbst wartete in der Kirche unter Wachen und beten auf die Feier des Messopfers. Dann besuchte sie alle Kranken in der Nachbarschaft, von denen sie gehört hatte, und versorgte sie mit allem Nötigen, beschenkte hierauf die Armen mit offener Hand und nahm fremde Pilger auf, an denen es nie fehlte, niemand entließ sie ohne ein freundliches Wort und fast niemanden ohne Gaben und Unterstützung, deren er eben bedurfte. Oft übersandte sie auch Wanderern, die sie von ihrer Zelle aus in größerer Entfernung sah, was sie brauchten. Obwohl sie sich Tag und Nacht in tiefer Demut solchen Liebesdiensten widmete, vergab sie doch ihrer königlichen Würde nichts, und es galt von ihr das Wort der Schrift: „Saß sie auch einer Königin gleich inmitten des Volkes, das um sie stand, so war sie doch allezeit und allerorts der Trauernden Trösterin.“ Alle Diener und Dienerinnen ihres Hauses unterwies sie in mancherlei Künsten und den Wissenschaften, denen sie nach dem Tode des Königs mit gutem Erfolge oblag…So starb sie in der Fülle ihrer Tage, jeglicher Ehre, aller guten Werke und ihrer Almosen, nachdem sie alle ihre königlichen Reichtümer an die Knechte und Mägde Gottes sowie an die Armen verteilt hatte, legte sie am 14. März 968 ihre Seele in die Hände Christi zurück.[471]

Der Kaiser Otto der Große hat die Erneuerung des Heiligen Römischen Reiches betrieben, das unter den Nachfolgern Karls des Großen in gefährliches Fahrwasser geraten war und in die Bedeutungslosigkeit abzustürzen drohte. Er festigte das Reich, wenn es ihm auch nicht gelang, seine Einheit, wie sie unter Karl dem Großen bestanden hatte, wiederherzustellen.

[469] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 64 f

[470] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. Anmerkungen S. 414: Von Königin Mathilde besitzen wir eine ältere und eine jüngere Lebensbeschreibung, die nach Art der Heiligengeschichte verfasst sind und eine Reihe anziehender Schilderungen bringen.

[471] ebd. S. 140

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Das letzte große Ereignis in seinem Leben war der Hoftag in Quedlinburg, wo im März 973 der letzte Reichstag unter seiner Regie stattfand, begleitet von seiner Frau Adelheid und dem jungen bereits zum Kaiser gekrönten Otto II. mit seiner Mitkaiserin Theophano. Nicht nur die großen des Reiches waren gekommen, das ganze Abendland hatte sich eingefunden: Aus Böhmen Boleslav II., der Herzog Mieszko aus Polen schickte seinen Sohn; Russen und Bulgaren sandten ihre vornehmsten Leute und Ungarn zwölf hohe Adelige; Dänemarks König Harald war durch eine Delegation vertreten wie auch der neue Papst Benedikt VI. und der byzantinische Kaiser. Etwas später traf eine sarazenische Gesandtschaft der in Afrika und Sizilien herrschenden Fatmiden ein. Sie kamen, um Geschenke zu überbringen, um ihre Treue zu versichern, um die Grenzen der neuen Bistümer festzulegen, um einen Tribut zu entrichten, oder um den kaiserlichen Segen zu erbitten. Ein erhebender Eindruck in den Ostertagen in Quedlinburg mit bunten Trachten der fremden Völker, das vielstimmige Gewirr der Sprachen, in den Straßen drängte sich das Volk. Quedlinburg war für einige Tage zu einem Mittelpunkt geworden. Anfang Mai zieht der Kaiser von Quedlinburg nach Merseburg, in die Stadt, die er kraft eines Gelübdes vor der Schlacht auf dem Lechfeld zur Bischofsstadt gemacht hatte, geweiht dem heiligen Laurentius. Von Merseburg geht es nach Memleben an der Unstrut, wo sein Vater den Ungarn eine Schlacht geliefert hatte und dort später starb. Es war als zöge ihn eine von Emotionen bewegte Gewalt dorthin.[472]

Am 7. Mai 973 starb der Kaiser der Römer, der König der Völker, und hinterließ für alle Zeiten zahlreiche und ruhmvolle Denkmäler seiner Taten für Gott und die Menschen. In seiner letzten Stunde hatte er das Abendmahl verlangt des göttlichen Leibes und Blutes, das ihm gereicht wurde.[473] Widukind, zeitgenössischer Chronist, berichtet dazu: „…er nahm es, und übergab dann ohne Seufzer mit großer Ruhe den letzten Hauch dem barmherzigen Schöpfer aller Dinge…Das Volk aber sprach viel zu seinem Lobe und gedachte dankbar seiner Taten: wie er mit väterlicher Milde sein Volk regiert und es von den Feinden befreite, von den Ungarn, Sarazenen, Wikingern, Slawen; wie er Italien unterworfen, die Götzentempel der Heiden zerstört, Kirchen gebaut und Priester entsandt habe. Und noch manches brachten sie vor, als sie an der königlichen Leiche unter Tränen zum Gebet niederknieten.“[474]

Otto der Große erhielt auch Insonderheit einen Beinamen: Der „dritte Konstantin“, nach Kaiser Konstantin selbst und Karl dem Großen. Die Nachfolge war geregelt, dafür hatte Otto I. vorgesorgt, ihm folgte sein Sohn als Otto II. auf den Thron. Zwar war die Monarchie des HRR keine Erbmonarchie, und die Wahl eines Nachfolgers wurde durch ein dafür anerkanntes Fürstengremium durchgeführt und bestätigt. Dennoch waren die Kaiser der Sachsen, Salier, und Staufer in einer Art Erbfolge auf den Thron gelangt. Die Zusammenstöße und Gegensätze zwischen dem in Rom gekrönten weströmischen Kaiser und dem oströmischen Kaiser in Byzanz zeigen, dass das Römische Reich gerade auch von Byzanz aus immer noch als eine Einheit angesehen wurde, obwohl die Südhälfte mit Nordafrika, Ägypten, Syrien und Spanien bereits von der moslemischen Welt übernommen worden war. Es muss aber als eine Besonderheit angesehen werden für die Entwicklung des HRR, weil die Wahl zum König/Kaiser in Aachen auf dem Territorium des Regnum Teutonicum stattfand, und das Wahlgremium ausschließlich aus Fürsten bestand mit einem Herrschaftsbereich innerhalb des Regnum Teutonicum. Das weströmische Reich, wie es sich bei Karl dem Großen herausgebildet hatte, war also im vollen Umfang nicht bei dieser Wahl vertreten, ja nicht einmal Reichsitalien und Burgund. Diese Gebiete und das westfränkische Reich mussten das als Ausgrenzung empfinden. Der römische Kaiser des Mittelalters wird in der modernen

[472] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren: S. 65 f

[473] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 142

[474] zitiert bei Fischer-Fabian: Die deutschen Cäsaren. S. 66

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Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung oft als deutscher Kaiser bezeichnet; er war in seiner Schutzfunktion für die heilige römisch- katholische Kirche auch außerhalb des HRR anerkannt. Der Titel hatte oft aber mehr Symbolcharakter als Machtbefugnis. Die Kaiser und Könige aus sächsischem Hause von 919-1024 hatten das Reich gefestigt, und ihm ein tragfähiges Fundament verschafft, das zuvor von Auflösung und Zusammenbruch bedroht war. Dem Volk der Sachsen, das für das HRR in einer Phase seines historischen Werdegangs tonangebend war, hatte Karl der Große noch die Vernichtung angedroht; es hatte nicht nur das Reich wieder aufgerichtet, sondern ihm im Sinne der Zeit einen dezidiert christlichen Charakter verliehen.  

Als Otto II. 973 seinem Vater auf dem Thron folgte, konnte er, wie zuvor sein Vater Herrschaftspositionen übernehmen, die seine Vorgänger Heinrich I. und Otto I. erst hatten aufbauen müssen. Er war nicht nur zum König, er war auch als westlicher Herrscher nach byzantinischem und karolingischem Vorbild zum Mitkaiser gekrönt worden, verheiratet mit einer Byzantinerin, stand er deutlich über den Großen des Reiches und konnte einen Anspruch erheben, der sogar den westfränkischen Karolingern überlegen war. Eine solche Perspektive ist aber deutlicher von neuzeitlichen Erfahrungen mit machtstaatlichem Handeln und modernen Vorstellungen von Politik geprägt als von den Bedingungen, unter denen ottonische Königsherrschaft entstanden ist und immer wieder behauptet werden musste. Durch die spätkarolingische Entwicklung waren Herrschaftsrechte und Herrschaftsgrundlagen des Königtums zu einem großen Teil an die führenden Adelsfamilien übergegangen und häufig mit deren Eigenbesitz verschmolzen. Das Königtum der Ottonen hatte sich in einem Kontext gebildet, in dem der Herrschaftsanspruch des Adels selbstverständlich war; die Herrschaft des Königs war wesentlich durch Ausgleich mit den führenden Adelsfamilien möglich geworden und blieb auf die Akzeptanz durch den Adel angewiesen. Zwar konnte Otto der Große, nicht zuletzt durch die Krönung in Aachen, im Anspruch und im äußeren Erscheinungsbild seines Königtums an seine karolingischen Vorgänger anknüpfen, doch wurden dadurch die Grundlagen und der neue Rahmen der ottonischen Herrschaft nicht überschritten.[475]

978 war ein Jahr, das von einem besonderen Ereignis gekennzeichnet ist. In diesem Jahre stand der dreiundzwanzigjährige Kaiser Otto II. seit fünf Jahren als dritter Sachse an der Spitze des Reiches. Er hatte die üblichen Erfahrungen mit seinen verwandtschaftlichen Bindungen zu bestehen, die sich mehrfach zu ernsten Empörungen steigerten und sich schließlich zu Aufständen ausgeweitet hatten, bis im Vorfrühling auf dem Hoftag in Magdeburg sich die Versöhnung Bahn brach. Wie sein Vater hatte Otto II. gegenüber ränkesüchtigen Mitgliedern des Königshauses Gnade gewährt. Die Trennung vom bayerischen Herzogtum, das sich oft genug als besonders hartnäckig erwies, hatte als Ergebnis die Begründung einer eigenen Markgrafschaft Österreich, der als Beginn einer österreichischen Geschichte angesehen werden kann. Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch rivalisierende Fürsten, die zum Aufbruch der Bayern nach Kärnten und Tirol führte. An einem Sommertag des genannten Jahres verbrachten das junge Kaiserpaar Otto und seine byzantinisch-griechische Ehefrau Theophano in der Kaiserpfalz in Aachen. Theophano bevorzugte es, sich in byzantinischer Tracht zu kleiden, womit sie sich von der übrigen fürstlichen Versammlung abhob, ein Zeichen gesteigerten Selbstbewusstseins, das sich auch in bestimmender Weise in der herzoglich-fürstlichen Umgebung durch selbstsicheres Auftreten äußerte. Ihre Zurückhaltung, die sie noch zu Lebzeiten ihres kaiserlichen Schwiegervaters geübt hatte, war mehr und mehr von ihr gewichen und hatte selbstsicherem Auftreten Platz gemacht. Das kaiserlich-familiäre Idyll wurde je gestört, als reitende Boten die Ankunft feindlicher Heeresmacht ankündigten. Der westfränkische König Lothar hatte die Gunst der Stunde genutzt und bedrohte die

[475] Körntgen, Ludger: Ottonen und Salier. S. 26

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ahnungslose kaiserliche Gesellschaft, um sich handstreichartig des Kaiserpaares zu bemächtigen. Die Überraschung war gelungen, das Kaiserpaar flüchtete mit Gefolge nach Köln. König Lothar hatte die Kaiserstadt eingenommen. Die zuvor versammelte Gesellschaft um den Kaiser hatte sich ebenfalls zur Flucht gewandt, um einer möglichen Gefangennahme zu entgehen. Teile von Lothars Streitmacht kletterten zum Giebel der Kaiserpfalz, und drehten den ehernen Reichsadler, der nach Westen seinen Blick richtete, in östliche Richtung. Vielfach ist in der Geschichtsschreibung dieses Ereignis geschildert, und von Französisch und Deutsch gesprochen worden. Es war kein Zusammenstoß zwischen Deutschland und Frankreich im späteren dynastischen oder nationalstaatlichen Sinne. Es muss hervorgehoben werden, dass solche Denkkategorien  zu der Zeit zumindest nicht im Vordergrund standen. Ottos II. Antwort lies nicht auf sich warten. Der Anschlag bewirkte Solidarität unter den Herzögen und Fürsten, und es wurde eine Heerfahrt ausgerufen. Zeitgenössische Quellen berichten von einem „gewaltigen Heer“, den Berichten zufolge dreizigtausend Reiter. Die Gebiete um Reims, Laon, Soisson und der Compiègne wurden heimgesucht, die Kirchen demonstrativ verschont. Paris wurde belagert und Lothar musste fliehen. Die gegenseitigen militärischen Unternehmungen endeten mit einem Vergleich und Bündnis zwischen Otto und seinem Vetter Lothar. Im Mai 980 trafen sich beide an den Grenzen ihrer Reiche und bekräftigen ihre Freundschaft durch „Eidschwur“.[476] Lothar war der letzte westfränkische König aus dem Geschlecht der Karolinger.

Kaiser Otto II. hatte einen Vorzug gegenüber seinem Vater Otto I. und auch gegenüber dem Gründer des Heiligen Römischen Reiches, Karl dem Großen. Die beiden letztgenannten hatten mit Lesen und Schreiben große Schwierigkeiten, und somit auch einen eingeschränkten Zugang zu einer umfassenden Bildung. Die vornehme Adelsgesellschaft hatte insgesamt eine Abneigung, sich diese Gabe des Lesens und Schreibens anzueignen. Sie betrachteten die Vermittler von Bildung, die von den Klöstern ausgingen, die darauf geradezu ein Monopol innehatten, herablassend, und hielten es für unwürdig, sich damit zu befassen. Karl der Große und sein großer Nachfolger Otto I. hatten aber die Notwendigkeit einer Bildung im geistigen Sinne erkannt für Individuum und Gesellschaft auf breiter Grundlage. Darum waren sie bestrebt nicht nur den eigenen Mangel zu beheben, sondern auf größtmögliche Förderung bedacht, weshalb auch von einer Karolingischen und Ottonischen Renaissance gesprochen werden kann. Diese Renaissance verfocht zwar das Ziel das klassische Bildungsideal hoch zu halten, dominiert von christlich-katholischer Kirche und Glauben. Hierin unterschied sich diese Renaissance von der Renaissance des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit, wo die Prioritäten umfangreicher und umgekehrt gesetzt wurden.

Als Otto II. sechs Jahre alt war, hüllten sie ihn eines Tages in festliche Kleider, reisten mit ihm nach Aachen, führten ihn in den gewaltigen Dom aus den Zeiten Karls des Großen und erklärten ihm, er  solle hier zum König gekrönt werden. Als er zwölf Jahre geworden, machten sie ihn zum Kaiser. Dafür musste er eine noch längere Reise antreten zum Papst nach Rom, um in der Kirche des heiligen Petrus, die Krönung mit päpstlichen Segen zu empfangen, damit alles seine Ordnung habe im weltlichen Reich des Kaisers und dem geistlichen Reich des Papstes. Fünf Jahre nach der Krönung heiratete er Theophano die Prinzessin aus dem Morgenland, aus Byzanz, von wo oft märchenhafte Schilderungen in das bäuerlich robuste Regnum Teutonicum drangen. Mit achtzehn Jahren war Otto II. Kaiser nicht nur dem Titel nach, er erlangte 973 die wirkliche Herrschergewalt als Kaiser. Otto, wie er nach seinem Vater genannt worden war, erging es wie allen Söhnen großer Väter, sie haben es leichter und zugleich schwerer. Leichter, weil ihnen von der Geburt her die Wege geebnet werden, schwerer, weil sie an den Taten gigantischer Vorfahren gemessen werden, auch für von der Geburt her bevorzugte gilt Goethes Wort:

[476] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser. S. S. 64 f

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„Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“. Diese Prüfung und Herausforderung blieb auch Otto II. nicht erspart. Sohn Otto war bildungshungrig und unterschied sich hier von seinen königlichen und kaiserlichen Vorfahren, und sein Vater förderte diese Entwicklung,[477] wohl auch im Anbetracht und Erkenntnis eigener Defizite.

Der Mönch Ekkehard aus St. Gallen berichtet über einen Besuch beider Majestäten in dem herausragenden Kulturzentrum der Zeit, als Vater Otto lärmend seinen Stab fallen ließ, um die in Andacht versunkenen Mönche zu prüfen, meinte Sohn Otto nicht ohne Ironie: „Dass ihm etwas aus den Händen gleitet passt nicht zu ihm. Hält er doch sonst alles, was er eroberte, mit der Pranke des Löwen zusammen und hat selbst mir nicht ein Teilchen davon gegönnt.“[478]

Der siebzehnjährige Otto ließ sich die Bibliothek aufschließen, um sich stundenlang in die ledergebundenen, handgeschriebenen Bücher zu vertiefen. Eine wohlverbürgte Geschichte bezeugt den Wandel in der Erziehung des Prinzen. Dem Vater waren die Künste des Lesens und Schreibens vorenthalten worden, der zweite Otto wurde im Gegensatz dazu erzogen, als sollte er eher ein Wissenschaftler werden und nicht Herrscher eines Großreiches. Otto Sohn saß mit Schülern einfacher Herkunft zusammen, so lernte er die Welt der Bildung und der Gebildeten kennen und sich außerhalb der Adelsgesellschaft bewegen. Ottos Bildungsweg fiel auf fruchtbaren Boden, er wurde zum Mäzen, der sich mit Gelehrten und Künstlern umgab und wurde so zum Förderer der Ottonischen Renaissance. Dazu gehört auch seine Rolle als Veranstalter eines Streitgesprächs zwischen den beiden angesehensten Gelehrten seiner Zeit, zwischen Gerbert von Aurillac und Othrich von Magdeburg, der die Bezeichnung sächsischer Cicero fand. Schauplatz war die Stadt Ravenna, in der Europas geistige Elite sich zusammen fand. Es ging um die Einteilung der Philosophie und darum, ob die Physik ein Teil der Mathematik sei, oder ob beide Disziplinen gleichberechtigt der Philosophie untergeordnet werden sollten. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse in diesen Disziplinen waren im Verlauf der Geschichte einem kontinuierlichen Fortschritt unterworfen, daher wird manchem der Streit als müßig erscheinen. Die Siegestrophäe wurde Gerbert von Aurillac angeheftet. Er verfügte über die besseren Argumente und eine rhetorische Begabung, die überzeugender wirkte.[479] Der Kaiser hatte zuvor in einer Eröffnungsrede geäußert: „…wenn das Wesen der Dinge in entsprechender Ordnung durch wohlerwogene Reden gelehrter Männer beleuchtet wird.“[480] Spätere Geschichtsdarstellungen dieses Ereignisses haben, wie in anderen Zusammenhängen auch, daraus einen Schlagabtausch zwischen Deutschland und Frankreich oder Deutschen und Franzosen gesehen oder gar zwischen Romanen und Germanen, und so nationalstaatliches und ethnisch begründetes Denken in jene Zeit projiziert. Analogien solcher Art müssen sorgfältig abgewogen werden, weil sonst leicht ein falsches Bild entstehen kann. Die Disputation ereignete sich in Ravenna, zu der Zeit ein europäisches Bildungszentrum mit unbeschränktem Zugang. Das Mittel gemeinsamer Kommunikation war die lateinische Sprache.

Was mit der Ottonischen Renaissance wiedergeboren, wiedererweckt wurde, war das klassische Altertum mit seiner Literatur, seiner Malerei, seiner Baukunst und Plastik. Eine Wiederweckung, die sich nicht in Nachahmung erschöpfte, und den überkommenden Formen  ein eigenes Wesen verlieh. Die Ottonische Kunst kann als original und eigenständig angesehen werden, als eine vom heimischen Geist geprägte Epoche der Kunstgeschichte. Der Geschichtsschreiber Widukind von Corvey kannte seine antiken Vorbilder Sallust und Virgil eingehend. Seine Sachsengeschichte ist gekennzeichnet durch die Eigenart des Stammes.

[477] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutsche Cäsaren. S. 67

[478] ebd. zitiert S. 67 f

[479] ebd. S. 68

[480] zitiert ebd. S. 68

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Der gelehrte Mönch Notker (950-1022), den seine Zeitgenossen Labeo nannten, den Großlippigen, war seiner Heimat in besonderer Liebe verbunden, er übersetzte antike Autoren wie Virgil, Terenz, Aristoteles ins althochdeutsche mit einer Kongenialität, die moderne Philologen und Linguisten an die  sprachschöpferische Kraft eines Luther erinnert.[481]

Der Name Notker setzt sich zusammen aus den althochdeutschen Silben „nôt“ (Bedrängnis im Kampf) und „gêr“ (Speer) zusammen, bedeutet also wie im Englischen Shakespeare, einer der den Ger abwendet. (Retter in Not). Notker (950-1022) war der erste Aristoteles-Kommentator des Mittelalters und der bedeutendste Übersetzer vor Luther. (Aus Wikipedia)

Ein noch stärkerer Ausdruck fand sich in den bildenden Künsten, vor allem in der Baukunst. Wer einmal die Gelegenheit wahrnehmen konnte zu einem Besuch der Stiftskirche in Gernrode (Quedlinburg), dem am besten erhaltenen Baudenkmal aus ottonischer Zeit, der wird dieses Urteil bestätigen. Der Dom St. Michael in Hildesheim (UNESSCO-Weltkulturerbe) lässt den Geist der Zeit für die Gegenwart nur erahnen. Gottesburgen sind es, in ihrer Erhabenheit dazu bestimmt, dem Augenblick Ewigkeitswert zu vermitteln, entstanden zum Trotz und Abwehr gegen die christusfeindlichen Mächte, gegen den Feind der eigenen Seele, den ewigen Versucher. Nur wenige Dome der Ottonen stehen noch, und welche die Wut der Krieger nicht zerstörte, die wurden durch die Fahrlässigkeit der Gläubigen vernichtet. Oft wird in den Annalen von großen Feuern berichtet, verursacht durch die überall brennenden Kerzen, entfacht durch die Zugluft der unverglasten Fenster, genährt von den Holzdecken, die das Mittelschiff ausfüllten. So ging in wenigen Stunden ein Werk verloren, an dem Generationen gebaut, für das tausende Menschen Opfer gebracht hatten.[482] Wenn von Holzdecken die Rede ist, der denkt an die überwältigende Schönheit der Holzdecke im Hildesheimer Dom mit ihren unersetzlichen malerischen Verzierungen. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg ausgelagert, und so vom Feuer des Krieges verschont. 

Ein weiterer herausragender Mittelpunkt künstlerischen Schaffens ist auf der Insel Reichenau im Bodensee zu finden. Das Kloster St. Georg besaß als Kunstakademie und Manufaktur einen Ruf, der bis an die Grenzen der damaligen Welt reichte.[483]

St. Georg ist ein spätkarolingisches und ottonisches Kirchengebäude in Oberzell auf der Insel Reichenau, das heute noch bewundert werden kann, obwohl das Gebäude klein und unscheinbar wirkt und keine monumentalen Elemente aufweist, ist ein innerer inwendiger Inhalt von ungewöhnlicher einzigartiger künstlerischer Vielfalt. Das Kloster auf der Reichenau ist nicht nur ein Kleinod malerischen Schaffens, seine Baukunst ist von ebensolcher unübertroffenen Vielfalt auf vergleichsweise kleinem Raum. (Bilder in großer Zahl bietet dazu (Wikipedia)

Von den Wänden eines Kirchleins leuchtet es in malerischer Schönheit: Farben in weichem Blau, fahlem grün, in blutigem rot und in Purpur, in erdigem Ocker und mattem braun. Ein Meister hat es geschaffen, dessen Namen keiner kennt. Hier wurde die Reichskrone gefertigt. Es entstanden in jahrelanger Kleinarbeit Handschriften mit illuminierten Buchstaben, meisterlichen Miniaturen und elfenbeinernen Einbänden. Ihr Wert ist umso höher einzuschätzen, weil heute ihre Herstellung unmöglich wäre, es fehlen dazu die längst vergangenen handwerklichen Fähigkeiten, die unendliche Muße der Klostereinsamkeit und – der Glaube, der diese Menschen beflügelt hat. War die Insel Reichenau Kunstakademie, so zeigte sich St. Gallen als ein Hort der Geisteswissenschaften, geleitet von Gelehrten von

[481] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 69

[482] ebd. 69 f

[483] ebd. S. 70

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europäischem Rang, geographische und ethnische Herkunft waren hier nicht gefragt. Den Schülern war der Aufstieg allein schon dadurch gesichert, wenn sie sich St. Gallener nennen durften. Überall entstanden nach dem Muster der Reichenau und St. Gallen neue Kunstakademien und neue Schulen, auf denen eine Elite ausgebildet wurde, die das Reich dringend benötigte. Es hatte sich herumgesprochen, Macht war auf Dauer ohne die Macht des Geistes nicht zu halten. Was Krieger erobert hatten, war nicht allein durch Krieger zu bewahren, es bedurfte Persönlichkeiten, um die Glaubenslehre durch Theologie und Philosophie zu durchdringen, ein geistiger Überbau war erforderlich,[484] ein Überbau auf idealistischer Grundlage, von dem Karl Marx behauptete, er habe dieses Prinzip vom Kopf auf die Füße gestellt.

Überall war daher das Streben nach Bildung und mehr Wissen angesagt, eifrig wurde Latein gelernt, um die antiken Autoren lesen können, und um in ihr Wissen und ihre Erkenntnisse einzudringen. Selbst Söhne hohen Adels hatten erkannt, dass für die Macht des Geistes andere Voraussetzungen erfüllt werden mussten, sie drängten auf die Schulen und lösten sich von der Bildungsfeindlichkeit, die sonst in diesen Gesellschaftskreisen üblich war. Den Ruf, der ihr im Reich vorausging, einer primitiven Stufe des Krieger-und Bauernmilieus verhaftet zu sein, sollte abgeschüttelt werden, rührend wandten sie sich an die Welt der Gelehrten: „gegen die Rohheit unserer sächsischen Natur schonungslos zu verfahren, in uns aber zu beleben und auszubilden, was uns von griechischer Anmut und Zierlichkeit fehle.“[485] Diese Einstellung kann auch dazu geführt haben, Ottos II. griechischer Ehefrau und Kaiserin, die Achtung entgegenzubringen.

Griechische Anmut und Zierlichkeit, sprich eine klassische Bildung, im rauhen Regnum Teutonicum heimisch zu machen, darum hatte sich Otto I. bemüht, als er daran ging, seinen Sohn standesgemäß zu verheiraten, wenn ihn dabei machtpolitische Ziele leiteten, so war doch eine Vision damit verbunden, die hinzielte auf etwas, was noch nicht verloren gegeben war, besonders im fernen Byzanz, war der Gedanke an das einst mächtige Römische Reich, als es noch Ost und West zusammenfasste, noch nicht erloschen. Eine standesgemäße Ehe hieß passend zum Kaisersohn musste eine Kaisertochter gefunden werden. Die Auswahl war hier nicht groß, genau genommen bestand nur die eine Möglichkeit, denn es gab nur einen weiteren Kaiser, den oströmischen in Byzanz, den in Konstantinopel residierenden Basileus.

Diplomaten und Kaufleute, die Konstantinopel besucht hatten, wussten in einer Mischung aus Staunen und Schauder Wundersames zu erzählen. Es war eine Stadt mit über 200.000 Einwohnern und damit die größte in Orient und Okzident, schön wie das Paradies und reich wie die Hölle, bevölkert von Bischöfen und Bettlern, Millionären und Marodeuren, Priestern und Prostituierten, Generälen und Gangstern, Mätressen und Matronen. Die Reichen wohnten in Häusern mit Fensterscheiben aus Glas, ein unvorstellbarer Luxus, dazu Decken aus Zedernholz, die Wände mit Seide bespannt, die Fußböden mit Mosaiken verziert, in den Innenhöfen Marmorbrunnen, aus denen parfümiertes Wasser rann. Doch ihre Häuser waren bescheiden, verglichen mit der Residenz des Basileus, ein riesiges mit vergoldeten Bronzetoren verschlossenen Areals, ausgefüllt mit Gärten, Terrassen, Reitställe, Schwimmbäder, Pavillons, Palästen, Kirchen, Sporthallen, Poloplätze und Wachstuben, Speicher, Küchen, Kerker und Folterkammern. Residenz und Handelsplatz war diese Stadt, Mittlerin zwischen Orient und Okzident, ein Weltjahrmarkt, der den Westen, der von grobschlächtigen aus Sümpfen und Wäldern hervorgekommenen Bauern beherrscht wurde, mit Luxusgütern versorgte. Kamen die Byzantiner zu den Franken, einen Namen, der ihnen als ehemalige Beherrscher des west-und ostfränkischen

[484] Fischer-Fabian, Siefried: Die deutschen Cäsaren. S. 70

[485] ebd. zitiert auf S. 70

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Reiches immer noch zuerkannt wurde, dann strömte das Volk zusammen, um die fremden Männer zu bestaunen, die mit ihrer merkwürdigen luxusbefrachteten Tracht Geschenke übereichten, die einer allzu fernen Welt entstammten: Parfums, Seide, Perlen, Edelsteine, Emailarbeiten, Elfenbeinschnitzereien, Gewürze, Arzneien, exotische Pflanzen, wilde Tiere, Affen, Strauße, Löwen und Kamele.[486] Eine Welt, die weit entfernt schien, hinter der eine dekadente, dem Untergang entgegengehende Welt sich verborgen hielt.  

Eine solche reich beladene Gesandtschaft erschien 967 im Reiche Ottos I,, die mit Warnungen und Forderungen  an die Franken einhergingen, denn, was in Byzanz immer noch als das weströmische Reich angesehen wurde, beherrscht auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung von den Franken, weshalb die Bezeichnung Franken beibehalten wurde, was der tatsächlichen Entwicklung entgegenstand und von den politischen Realitäten längst überholt worden war, genauso wie das Festhalten an einem einheitlichen Römischen Reich, das längst dahingeschwunden war. Byzanz erhob Ansprüche auf Süditalien und erwartete hier fränkische Zurückhaltung. Otto I. begegnete solchen Ansprüchen mit dem Vorschlag, es sei besser zu heiraten als sich zu bekriegen, eine Vorwegnahme der späteren habsburgischen Politik: Bella gerant allii, tu, felix Austria, nube (andere mögen Kriege führen, du glückliches Österreich heirate). Die oströmische Reaktion war abweisend, für die Byzantiner galt Otto I. als ein Emporkömmling, aus den Sümpfen und Wäldern Germaniens emporgestiegen und sein Kaisertitel als Anmaßung. „Es wäre eine Schande“, so ließ Kaiser Nikephoros II. Phokas wissen, „wenn eine in Purpur geborene Tochter eines purpurgeborenen Kaisers unter die fremden Völker gegeben würde…“ Trotz dieser drastischen Abweisung signalisierte Nikephoros Bereitschaft zu einem Entgegenkommen, wenn „ihr uns dafür gebt, was sich ziemt, nämlich Ravenna und Rom mit allen Landen von dort an bis hierher“.[487]  

Krieg war die Antwort auf diese als Dreistigkeit empfundenen Bedingungen, um Nikephoros verhandlungsbereit zu machen drangen die „Franken“ in die byzantinischen Provinzen Apulien und Kalabrien ein, belagerten Bari, sengten, plünderten, mordeten, Gefangene wurden nicht gemacht, und wenn, dann wurden ihnen die Nasen angeschnitten und laufen gelassen, eine zu der Zeit übliche Methode der Bestrafung. Es war ein mit Grausamkeit geführter Krieg von Christen gegen Christen, es war nicht der erste und sollte auch nicht der letzte sein, die Wirkung nach außen im Hinblick auf das christliche Glaubenszeugnis wird entsprechend gewesen sein. Otto I. erreichte sein Ziel, Kaiser Nikephoros hatte sich standesgemäß in einer im byzantinischen Reich nicht unüblichen Weise verabschiedet, er war einer Mordtat zum Opfer gefallen. Ein Schicksal, das er mit neunundzwanzig von achtachtundachtzig byzantinischen Herrschern teilte. Die Liste der Opfer offenbart ein Kaleidoskop menschlicher Leidenschaften und grässlicher Tragödien. Die jeweiligen Todesarten erstreckten sich auf „verhungert“ über „gevierteilt“ bis zu „gepfählt“ und „lebendig begraben“. Nikephoros wurde von den Mördern, die seine eigene Frau nachts in den Palast geschmuggelt hatte, zu Tode gefoltert. Ein Ereignis, das sich in ähnlicher Weise schon zu Zeiten Karls des Großen in Byzanz ereignet, und was bei den Franken Entsetzen ausgelöst hatte. Es sollte sich im Verlauf der Kirchengeschichte erweisen, dass die genannten Foltermethoden weiter entwickelt und ausgeweitet wurden.

Haupt der Verschwörung und Nachfolger auf den Thron, Johannes Tsimiskes, zeigte sich verhandlungsbereit. Nachdem in Unteritalien die Einflusssphären abgesteckt und garantiert worden waren, war der Weg frei, die Beziehungen der beiden kaiserlichen Häuser durch eine eheliche Verbindung zu festigen. Der Erzbischof Gero von Köln erschien mit glänzendem Gefolge in Konstantinopel, um die Braut gebührend nach Rom zu geleiten. Der Jubel beim

[486] Fischer-Fabian, Siefried: Die deutschen Cäsaren. S. 71

[487] ebd. S. 72

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Empfang war groß, verebbte aber schnell, denn es hatte sich ergeben, dass die auserwählte nicht purpurgeboren war, was Otto I. erwartet und angestrebt hatte. Gewünscht hatte er sich Anna, die Tochter des verstorbenen Kaisers Romanos II., die eingetroffene Braut Theophano war die Nichte des Thronräubers Tsimiskes, damit musste als sicher gelten: Sie war nicht von Purpur. Der Gedanke, sie wieder in die byzantinische Heimat zu entlassen, wurde von Otto I. verworfen, Theophano durfte bleiben und mit Otto II. zur Hochzeit schreiten, denn die Ehe seines Sohnes mit einer byzantinischen Prinzessin bedeutete de facto die Anerkennung des sächsisch-ottonischen Kaisertums, und gesteigertes Ansehen der Dynastie. Byzanz war Ostrom, es war die griechische Hälfte des Imperium Romanum seit der Teilung des Reiches in zwei Hälften im Jahre 395. Das weströmische Reich hatte 476 ein Ende gefunden, als der germanische Heerführer Odoaker in Rom die Macht übernahm. Seither war die einst führende Metropole dem Siechtum und fortwährendem Niedergang unterworfen. Byzanz, auf sich allein gestellt bewahrte das Erbe der Antike für weitere tausend Jahre.[488]

In der untergegangenen Westhälfte, war der Gedanke an die einstige Größe ebenfalls nicht erloschen. Karl der Große hatte genau deshalb das politische Ziel einer Erneuerung des römischen Staatsgedankens verfolgt, der dann von Otto dem Großen wieder aufgegriffen wurde, nachdem der völlige Verfall des karolingischen Reiches gedroht hatte. Der Verlauf des oströmischen Reiches hatte neben Schaudergeschichten und einem wechselvollen Auf und Ab in seiner tausendjährigen Geschichte auch Bewunderns-und Nachahmenswerte zu bieten.

Konstantinopel/Byzanz war die Hauptstadt des Reiches und hatte im Gegensatz zu Rom alten Glanz bewahrt. Ihr wurde, wenn auch widerwillig, immer noch eine Vorbildfunktion zuerkannt. Hier fand sich alles, was in der westlichen Welt mit einiger Missgunst betrachtet wurde: Eine bis ins kleinste organisierte Verwaltung, eine auf dem römischen Recht basierende Justiz, ein taktisch geschultes kampferprobtes Heer, eine überlegene Kultur und eine Staatsverfassung, die den unseligen Dualismus von weltlicher und geistlicher Gewalt vermied, sie war auf dem Grundsatz aufgebaut: ein Staat – eine Kirche – ein Gesetz.[489]

Die Exzesse bestialischer Glaubenskriege, von denen Westeuropa im 16. Und siebzehnten Jahrhundert heimgesucht wurde, blieben der Kirche des Ostens, die sich nach Untergang des oströmischen Reiches nach Russland verlagert hatte, erspart.

Die griechische Prinzessin bedeutete den Ottonen viel, die Morgengabe, die bei den Verhandlungen von den Byzantinern dem römischen Kaiser abgerungen worden waren, machten Theophano zu einer der reichsten Frauen in Europa, was auch ihre Bedeutung unterstrich. Der Bräutigam hatte ihr nach der Eheschließung eine mit Goldtinktur beschriebene rosafarbene Pergamentrolle überreicht, ab da besaß sie die Hoheitsrechte über fünf Königshöfe, der über 100 Hektar großen Abtei Nivelles, der Grafschaft Pescara, Provinzen an der Nordsee und am Rhein und der gesamten Halbinsel Istrien. Sie konnte über diese Territorien nicht nach Belieben verfügen, ihr flossen aber mit den Hoheitsrechten Einnahmen zu aus Zoll, Münzrecht, Marktrecht und die Jagd, mit alledem waren hohe Einnahmen verbunden. Der griechischen Kaiserin am Hofe der Ottonen schlugen deshalb nicht überall die Herzen „froh und jauchzend entgegen“, wie die Hofchronisten artig zu berichten wussten. Missgunst schlug ihr entgegen ihrer kostbaren anders gearteten Kleidung wegen, sie hatte fremde Sitten eingeführt und bevorzugte die griechische Sprache dem Latein. Es gab geistliche, die ernstlich besorgt waren, ob sie die Sitten des als verderbt bekannten Hofes in Byzanz ohne seelische Schäden überstanden habe, und weil sie „viel eitlen Tand und schale Frauenzier, wie sie im Reiche der

[488] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsren. S. 72 f

[489] ebd. S. 73 f

                                                                                                              182

Ottonen bisher unbekannt gewesen und dadurch brave Frauen zur Sünde verleitet,[60] die nach Weiberart dasselbe besitzen wollten“. Es war die Begegnung einer verwöhnten an Luxus gewöhnten Großstädterin und biederen wackeren Provinzlern, begleitet von den üblichen beiderseitigen Vorurteilen. Theophano fühlte sich tief unglücklich in einem Land, dessen Klima sie als bedrückend empfand, dessen Sitten rau und dessen Bewohner ein Idiom sprachen, das sie nicht verstand. Es spricht für das Format Theophanos, wie sie die ersten schweren Jahre überstand, ihrem Mann von Jahr zu Jahr eine echte Gefährtin wurde, sich auch am Hof, wenn nicht Zuneigung, so doch Respekt erwarb. Niemand konnte im Vorhinein wissen, welche Herausforderungen sie noch zu überstehen und zu überwinden hatte, die darin bestanden, die Kaiserkrone für ihren unmündigen Sohn zu retten, was ihr gelang.[61] Mit einem Wort, sie war das Muster einer gelungenen Integration.

[490] Fischer-Fabian, Siegfiried: die deutschen Cäsaren. zitiert auf S. 75

[491] ebd. S. 75 f

 

 

 




 

 

 

 



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

                                                                                                    

Sozialdemokratische und andere Geschichtsbilder

 

 

                                                                                                  

"Labor is prior to, and independent of, capital. Capital is only the fruit of labor, and could never have existed if labor had not first existed. Labor is the superior of capital, and deserves much higher consideration." (Abraham Lincoln, president of the United States, 1860-1865)

 

"Arbeit war zuerst und ist unabhängig vom Kapital. Kapital ist nur die Frucht der Arbeit und könnte niemals existieren, wenn es nicht zuvor Arbeit gegeben hätte. Arbeit steht über dem Kapital und bedarf weit höherer Wertschäatzung."

(Abraham Lincoln, Präsident der Vereingten Staaten 1860-1865)

 

 

 

Inhaltsverzeichnis                                                                                                                       1                                                                                                                                                                                                          

Vorwort                                                                                                                        5                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    Einführung                                                                                                                   8

                                                                                                                                                                                                                                                       

1. Persönlichkeiten und Programme auf dem Wege zum Volksstaat                             15

2. Arbeitsweise und Intention                                                                                        27

Themenschwerpunkt 1. Soziale Missstände, Willkür und Machtmissbrauch                29

Themenschwerpunkt 2. Wissenschaftliche Abhandlungen besonders den

                                       Sozialismus betreffend                                                            30

Themenschwerpunkt 3. Beziehung der Sozialdemokratie zu Bismarck                         31

Themenschwerpunkt 4. Die Beziehung der Sozialdemokratie zur Politik

                                       Bismarcks                                                                                 31

Themenschwerpunkt 5. Die unterschiedlichen Epochen der Geschichte                        32

5. A. Die Antike, Israel, Griechenland und Rom                                                             33

5. B. Mittelalter, Feudalherrschaft, Lehnswesen, universaler Staatsgedanke                 35

5. C. Neuzeit                                                                                                                     37

5. C. I. Preußen, besonders aus der Sicht der Sozialdemokratie                                      67

5. C. II. Spanien                                                                                                                68

5. C. III. Niederlande                                                                                                        68

5. C. IV. Reformation, Dreißigjähriger Krieg, Westfälischer Friede                                68

5. C. V. Englische, Amerikanische und Französische Revolution                                     69

5.C. VI. Deutsche Kultur-und Geistesgeschichte (Varnhagen, Heinrich von Kleist

              Heinrich Heine)                                                                                                    69

5. C. VII. Napoleonische Herrschaft                                                                                  70

5. C. VIII. Befreiungskriege                                                                                               70

5. C. IX. Frankfurter Nationalversammlung                                                                      70

5. C. X. Bismarck-Reich (Zweites Reich)                                                                           71

5. C. XI. Einfluss der Sozialdemokratie auf die Geschichte nach dem Ende des

Bismarck-Reiches                                                                                                                71

Themenschwerpunkt 6. Politische, gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse

                                                                                                                                             72

Innerhalb und außerhalb Deutschlands

a) Amerika                                                                                                                            72

b) England                                                                                                                            73

c) Frankreich                                                                                                                        73

d) Spanien                                                                                                                             74

e) Österreich                                                                                                                          74

f) Pressefreiheit, Redefreiheit, Versammlungsfreiheit                                                            75

g) Lage inner-und außerhalb Europas in Portugal, Italien, Dänemark, Russland               75

7. Der Leipziger Hochverratsprozess                                                                                    76

8. Reichstagsreden                                                                                                                 76

9. Beziehung zu Christentum und Kirche                                                                              76

10. Pariser Kommune                                                                                                             77

11. Gegensätze ADAV-VDAV/SDAP                                                                                       77

12 Internationale Arbeiter-Assoziation                                                                                   81

13. Der Gründerkrach                                                                                                             82

14. Verfassungsfragen                                                                                                             82

15. Gewerksgenossenschaften                                                                                                 82

16. Nationalitätenpolitik mit Schwerpunkt Elsass-Lothringen                                                84

17. Karl Marx, Friedrich Engels, Michael Bakunin                                                                87

3. Ursprünge und Forschungsstand                                                                                         91

4. Fragestellungen                                                                                                                   105

4. 1. Welche Vorstellungswelt  zu einem Staatsaufbau verbindet die Sozialdemokratie

        in dem Zeitraum von 1869 bis 1876?                                                                              107

4. 2. Welche Alternative zur bisherigen Geschichte oder Weltgeschichte ist erkennbar?      110

Der Volksstaat                         Jahrgang 1 und 2                              1869/70                         111

Der Volksstaat                         Jahrgang 3                                        1871                              176

Der Volksstaat                         Jahrgang 4                                        1872                              192

Der Volksstaat                         Jahrgang 5                                        1873                              265

Der Volksstaat                         Jahrgang 6                                        1874                              297

Der Volksstaat                         Jahrgang 7                                        1875                              315

Der Volksstaat                         Jahrgang 8                                        1876                              336

Der Volksstaat-Erzähler          Jahrgang 1 bis 3                                1873/75                        357 

I. Die Welt der Antike                                                                                                             452

Griechenland in der Antike                                                                                                    454

Geschichtsschreibund, Geschichtsbewusstsein und Wirkungsgeschichte                              461

Verfassungen, Staatsaufbau mit ihren Auswirkungen                                                             467

Pseudo-Xenophon: Die Verfassung der Athener                                                                    469

Xenophon: Die Verfassung der Spartaner                                                                              474

Thucydides und der große Krieg                                                                                             485

Supermächte und ihre Alliierten                                                                                             501

Das antike Griechenland als Vorbild und Abbild                                                                   504

Religiöse, philosophischen und ideologische Grundlagen in der Staatenwelt

der griechischen Antike                                                                                                          524

Platon (427-347 v. Chr.)                                                                                                         525

Das Gesetz soll über die Regierenden herrschen                                                                   527

Das Höhlengleichnis                                                                                                              533

III. Das Römische Reich in der Antike                                                                                   539                                                                                                                                              

Die Bedeutung der Religion, ihre Entwicklung und der Einfluss auf die Geschichte            544

 

                                                                                                                

 

 

                                                                                                           5

                                                                                                    Vorwort

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) hat am 23. Mai 2013 ihres hundertfünfzigjährigen Bestehens gedacht in Erinnerung an das Gründungsdatum, den 23. Mai 1863, an dem unter der Leitung und der Vorarbeit von Ferdinand Lassalle in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) gegründet wurde. Darauf folgte am 6./7. Juni 1863 die Gründung des Verbandes Deutscher Arbeitervereine (VDAV) in Frankfurt a. M.

Aus kleinsten Anfängen gelang es der SPD im Verlauf von fünfzig Jahren sich zu einer Massenpartei zu formieren. 1912 wurde sie stärkste Fraktion im Deutschen Reichstag. Davor und in der Folgezeit gestaltete sie das politische Leben innerhalb und außerhalb Deutschlands an entscheidender Stelle.

Anteil an dieser Entwicklung hat das von 1869 bis 1876 erschienene Presseorgan „Der Volksstaat“ mit dem Untertitel: „Organ der sozial = demokratischen Arbeiterpartei und der Gewerksgenossenschaften“, später, ab der Ausgabe Nr. 53 Sonnabend, den 9. Juli 1870 „Organ der sozial = demokratischen Arbeiter Partei und der Internationalen Gewerksgenossenschaften“ und ab der Ausgabe Nr. 65 Freitag, den 11. Juni 1875, nach dem Zusammenschluss der beiden Arbeiterparteien ADAV und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), die auf dem Gründungskongress in Eisenach im August 1869 aus dem VDAV hervorgegangen war, im Mai 1875 mit dem Untertitel: „Organ der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ (SAP) erschien.

Der „Volksstaat“ erschien 1869/70 als Jahrgang 1 / 2 erstmalig am 2. Oktober 1869 als Ergebnis des Beschlusses auf dem Kongress in Eisenach im August 1869, dem das Presseorgan den Namen „Volksstaat“ verdankt.

Die einzelnen Jahrgänge enthalten eine unterschiedliche Anzahl von Ausgaben, je nach Häufigkeit der wöchentlichen Erscheinungen.

Jahrgang 1 / 2 1869 vom 2. Oktober bis 29. Dezember 1869 26 Ausgaben.

Jahrgang 1 / 2 1870 vom 1. Januar bis 28. Dezember 1870 104 Ausgaben.

Jahrgang 3 vom 3. Januar bis 30. Dezember 1871 104 Ausgaben.

Jahrgang 4 1872 vom 3. Januar bis 28. Dezember 1872 104 Ausgaben.

Jahrgang 5 1873 vom 1. Januar bis 31. Dezember 1873 130 Ausgaben.

Jahrgang 6 1874 vom 4. Januar bis 31. Dezember 1874 152 Ausgaben.

                                                                                                     6

Jahrgang 7 1875 vom 6. Januar bis 31. Dezember 1875 151 Ausgaben.

Jahrgang 8 1876 vom 5. Januar bis 29, September 1876 114 Ausgaben.

Die letzte Ausgabe des „Volksstaat“ enthält die Mitteilung für die Abonnenten:

Mit dem 1. Oktober a. c. hören laut Congressbeschluß unsere bisherigen zwei offiziellen Parteiorgane „Volksstaat“ und „Neuer Sozialdemokrat“ zu erscheinen auf und tritt an deren Stelle als einziges offizielles Parteiorgan der

                                                                        „Vorwärts“

Centralorgan der Sozialdemokratie Deutschlands.

Redakteure W. Hasenclever und W. Liebknecht. Ort des Verlages Leipzig.

Neben dem „Volksstaat“ erschien als wöchentliche Beilage der „Volksstaat – Erzähler“, wie schon der Name kundtut mit breiteren und ausführlicheren Beiträgen zu verschiedenen Themen, während die Beiträge im „Volksstaat“ vielfach kürzer, informativ und vorwiegend auf das aktuelle politische Geschehen ausgelegt sind.

Die Ausgaben des „Volksstaat – Erzähler“ enthalten die Jahrgänge 1 / 3 1873/75

Jahrgang 1 1873 vom 7. Dezember bis 31. Dezember 1873 4 Ausgaben.

Jahrgang 2 1874 vom 11. Januar bis 31. Dezember 1874 56 Ausgaben.

Jahrgang 3 1875 vom 10. Januar bis 19. Dezember 1875 52 Ausgaben.

Mit dem Jahreswechsel 1875/76 folgte an Stelle des „Volksstaat – Erzähler“ die „Neue Welt“

Alle die genannten Ausgaben enthalten in ihren Beiträgen unterschiedlichster Art und der Aufmachung nicht nur eine Fülle von Informationen, die das Zeitgeschehen betreffen, sondern es werden historische, philosophische, theologische, naturwissenschaftliche und volkswirtschaftliche Abhandlungen geboten, die den Diskussions – und Kenntnisstand der Zeit betreffen. Ein reichliches lyrisches Angebot mit zahlreichen Gedichten rundet alles ab.

In der folgenden Arbeit werden eine Auswahl von Quellentexten wiedergegeben, die ausdrücken, was zeitnah der „Arbeiterklasse in Form nicht nur zur Information und Wissensvermittlung, sondern auch zeitweise in polemischer Ausdrucksweise zum Zwecke der Agitation nahegebracht wurde.

                                                                                                       7

Die Auswahl der Texte konnte aufgrund der gebotenen Fülle nur ausschnittsweise erfolgen mit Schwerpunktthemen aus Sicht des Historikers. Aus diesem Grunde ist auch die Einführung besonders breit und ausführlich gehalten zum besseren Verständnis der Quellentexte, und um eine zusammenfassende Gesamtsicht und ein ganzheitliches Geschichtsbild über die verschiedenen Epochen der Geschichte hinweg zu ermöglichen. Das Qellenmaterial bietet dem Historiker einen Einblick in Geschichts – und Staatsverständnis, das der Arbeiterbewegung in der Frühphase der Entwicklung vermittelt wurde zum Zwecke und mit dem Ziel, eine Umformung der Gesellschaft und ihres Aufbaus herbeizuführen.

Wie schon das kommunistische Manifest erkennen lässt, das im Frühjahr 1848 von Marx und Engels in London veröffentlicht wurde, und das in der aufstrebenden Arbeiterbewegung einen dominierenden Einfluss erlangte, wird dem Geschichtsbewusstsein ein vorrangiger Stellenwert beigemessen, was schon an der Darstellung der einzelnen Geschichtsepochen im Kommunistischen Manifest greifbar ist.

Anders als in der Französischen Revolution, wo der Versuch gemacht wurde, einen radikalen Bruch mit aller historischen Vergangenheit zu vollziehen, bis zur Einführung eines neuen Kalenders. Ein Bestreben die Vergangenheit gänzlich abzuschütteln, und aus dem Gedächtnis der Menschen zu tilgen.

Sozialismus und Sozialdemokratie wollten zu einem Geschichtsverständnis hinführen, um durch vergleichende Betrachtungen ein anderes entgegengesetztes Geschichtsbewusstsein zu vermitteln, das einmündet in eine von Harmonie getragene Gesellschaft, wie es im Kommunistischen Manifest verheißen ist, wo dir freie Entwicklung des einzelnen, die Gewähr ist für die freie Entwicklung aller ist.

Die Darstellungsweise historischer Vorgänge in den genannten Presseorganen kann als beabsichtigte Wegmarkierung zu diesem Ziel angesehen werden.

Die Vorstellungswelt, die dazu in den oben genannten Presseorganen entwickelt wird, lässt sich untergliedern in zwei Bereiche, in eine abstrakt gehaltenen Darstellungsform und in eine mit pragmatischem Bezug zum aktuellen politischen Geschehen.

 

                                                                                                            8

Einführung

 

Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist eine Geschichte von Klassenkämpfen

 (Kommunistisches Manifest, veröffentlicht von Karl Marx und Friedrich Engels im Februar 1848 in London)

... prüfet aber alles, und das Gute behaltet. ( Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Thessalonich, Kapitel 5, Vers 21) ( nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1954)

 

Die frühe deutsche Arbeiterbewegung, die mit ihren Anfängen zurück reicht bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, gewann zunehmend Einfluss auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit, genauer von 1869 bis 1876, wurde „Der Volksstaat“ als „Organ der sozial – demokratischen Arbeiterpartei und der Gewerksgenossenschaften“ herausgegeben, der die Grundlage bildet für die nachfolgende Arbeit. In dem genannten Zeitraum geschahen zwei wichtige Weichenstellungen für den Zug der deutschen Geschichte: 1871 erlangte Deutschland seine Einheit nach mehr als zwei Jahrhunderten der Zersplitterung, und 1875 überwand die sozialdemokratisch orientierte Arbeiterschaft ihre Gegensätze und formierte sich zu einer Partei: Der SAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei)

In dieser Zeit gewannen Marx und Engels einen wegweisenden Einfluss auf die deutsche Arbeiterbewegung, der mit einem Geschichts- und Staatsverständnis einher ging, wie aus dem oben angeführten Satz aus dem Kommunistischen Manifest1 ersichtlich, wird Bezug genommen auf eine historische Entwicklung in einem gesamtgeschichtlichen Zusammenhang, der dann zu einem neuen Geschichts – und  Staatsverständnis führen sollte mit einer Zielsetzung, die in dem Satz ihren Ausdruck findet: „ An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassen = Gegensätzen tritt eine Association, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung Aller ist“.2 Es wird die absolute Freiheit des Individuums propagiert, die über ein zentralistisches Staatsverständnis mit seinem Staatsaufbau Verwirklichung finden sollte. Zwei Aussagen können das belegen: „Centralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol“.3 An anderer Stelle heißt es: „Das Proletariat wird seine Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktions = Instrumente in den Händen des Staats, d. h. des als herrschende Klasse organisirten  Proletariats, zu centralisiren und die Masse der Produktivkräfte möglichst

1 Manifest der Kommunistischen Partei, veröffentlicht im Februar 1848 durch Karl Marx und Friedrich Engels

Gedruckt in der Office der „BILDUNGS=GESELLSCHAFT FÜR ARBEITER“ von J.E.Burghard

46, Liverpool Street, Bishopsgate, London, versehen mit einem Vorwort von Thomas Kuczynski

2 ebd. S. 16, Zeile 38-40

3 ebd. S. 16, Zeile 15

                                                                                                           9

rasch zu vermehren“.4 Geschichts- und Staatsverständnis gehen eine Verbindung ein und durchziehen so das Kommunistischen Manifest.

Die frühe deutsche Arbeiterbewegung hat Geschichtsbilder entworfen, sie den gängigen Geschichtsbildern der Zeit entgegengestellt, und dabei Bezug genommen auf die unterschiedlichen Epochen der Geschichte.

Die Welt der Antike wird ebenso berührt wie Mittelalter und Neuzeit. Diesen Geschichtsbildern, die vergleichenden Bezug nehmen auf die unterschiedlichen Epochen der Geschichte, und auf den Zeitraum, in dem sich die Sozial - Demokratische Arbeiterpartei formierte, sollen andere Geschichtsbilder gegenüber gestellt werden, um Vergleichsmomente ohne wertenden Eingriff sichtbar zu machen.

Das Denken und dem damit verbundenen organisatorischen Aufbau, das aus dem sozialistischen und später sozialdemokratischen Bestrebungen hervorgegangen ist, haben ein Ziel: Der Gesamtgesellschaft Lebensbedingungen zu schaffen, frei von Unterdrückung, Willkür und sozialer Not. Der ganze Anlauf bildete ein Novum in der Geschichte. Zwar hatte es im späten Mittelalter und der beginnenden Neuzeit Bauernaufstände gegeben, die das bestehende Herrschaftsgefüge ins Wanken brachten. Das gilt besonders für den Deutschen Bauernkrieg mit seinem Höhepunkt 1525  zur Zeit der Reformation Martin Luthers.

Aufbegehren gegen unhaltbare soziale Missstände gab es im Altertum wie den Spartakusaufstand (73 bis 71 v. Chr.) der römischen Sklaven oder der Kampf,  den Tiberius und Gajus Gracchus (133 und 123 bis 122 v. Chr. ) führten, um als Volkstribunen auf gesetzlichem Wege soziale Ungerechtigkeit im römischen Reich zu überwinden oder den Aufstand der Heloten – im griechischen Sparta hörige Ackerbauern -  gegen  spartanische Unterdrückung im 3. Messenischen Krieg. (464 bis 455 v.Chr. ) Das sind nur einige Beispiele, die sich in der Geschichte vermehrt wiederfinden lassen.

Das Kommunistische Manifest sieht in der Französischen Revolution von 1789, und was daraus folgte, keine soziale Revolution: „Die aus dem Untergange der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle des alten gesetzt“.5 Klassengesellschaft, gesellschaftliche und staatliche Entwicklung und Staatsaufbau werden als eine Einheit gesehen, gegründet auf einen jeweiligen historischen Entwicklungsprozess.

Zwei andere bahnbrechende Ereignisse in der Geschichte finden im Kommunistischen Manifest keine Erwähnung wie die „Glorious Revolution“, die 1688 in England den

4 ebd. S. 15, Zeile 29-34

                                                                                                     10

endgültigen Sieg des parlamentarischen Systems über den absoluten Machtanspruch der Monarchie bedeutete.

Ebensowenig Anerkennung und Beachtung fand die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika mit der Unabhängigkeitserklärung von 1776, dem ein siebenjähriger Krieg um die Unabhängigkeit von der Britischen Krone folgte, und der ebenfalls als ein Durchbruch zur parlamentarischen Demokratie angesehen werden kann.

Während Karl Marx  in der parlamentarischen Demokratie nur ein Werkzeug der Bourgeoisie zur Herrschaft über die Arbeiterklasse sah,  nahm Friedrich Engels eine andere Haltung ein, als er seine Geschichte des deutschen Bauernkrieges in mehreren Folgen im „Volksstaat“ veröffentlichte.6 Darin heißt es: „Seit 1850 immer entschiedeneres Zurücktreten der Kleinstaaten, die nur noch als Hebel für preußische oder österreichische Intrigen dienen, immer heftigere Kämpfe zwischen Österreich und Preußen um die Alleinherrschaft, endlich die gewaltsame Auseinandersetzung von 1866, wonach Österreich seine eigenen Provinzen behält, Preußen den ganzen Norden direkt oder indirekt unterwirft und die drei Südweststaaten an die Luft gesetzt werden.

Für die deutsche Arbeiterklasse ist bei dieser ganzen Haupt- und Staatsaktion nur dies von Bedeutung:

Erstens, daß die deutschen Arbeiter durch das allgemeine Stimmrecht die Macht erlangt haben, in der gesetzgebenden Versammlung sich direkt vertreten zu lassen.“

Der Reichstag des Norddeutschen Bundes 1867 und des Deutschen Reiches 1871 waren demokratisch legitimierte Institutionen, sie wurden nach dem allgemeinen, freien, geheimen, gleichen und direkten Wahlrecht gewählt.

Dem Kampf um einen Staatsaufbau nach verfassungsrechtlich abgesicherten demokratischen Grundsätzen wird im Kommunistischen Manifest keine erstrebenswerte politische Zielsetzung zuerkannt. Demokratie wird darin als Herrschaftsinstrument des Bürgertums gesehen, gegründet auf Klassenherrschaft, die sich hinter den Begriffen Freiheit und Demokratie verbirgt.

„Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst reaktionäre Rolle gespielt.

Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen, und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose

5 Kommunistisches Manifest S. 4, Zeile 4-7

6 Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg. Veröffentlicht im „Volksstaat“ Nr. 27. 2. April 1870.

                                                                                                   11

„baare Zahlung“. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmuth in dem eiskalten Wasser egoistischer

Berechnung ertränkt.7 Und weiter: „Diese Despotie ist um so kleinlicher, gehässiger, erbitterter, je offener sie an den Erwerb als ihren letzten Zweck proklamirt.“8

Der Klassencharakter, dem alle geschichtliche Entwicklung unterworfen ist9 und den es zu überwinden gilt, kennt nur Unterdrücker und Unterdrückte. Demokratie gibt es erst, wenn das Proletariat, eben die bisher unterdrückte Klasse, sich als herrschende Klasse etabliert hat.

Es sollte etwas entstehen, was es bisher in der Geschichte noch nicht gegeben hatte.

„Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“10

Ohne Zweifel hat das Kommunistische Manifest, das nach allgemeiner Einschätzung neben der Bibel weltweit die größte Verbreitung gefunden hat, breitesten Bevölkerungsschichten ein Selbstbewusstsein vermittelt, das es zuvor so in der Menschheitsgeschichte in der Breitenwirkung noch nicht gegeben hatte.

Die Veröffentlichungen im „Volksstaat“ zu politischen Ereignissen der Zeit werden naturgemäß in dieser Arbeit einen breiteren Raum einnehmen als die Beziehungen und Darstellungen zu anderen Geschichtsepochen davor. Dazu wird es unerlässlich sein, die Ausgaben des „Volksstaats“ in ihrem ganzen Umfang zu vergleichenden Darstellungen der unmittelbaren historischen Vorgänge heranzuziehen. Dabei soll das historische Geschehen der Zeit und die verschiedenen Sichtweisen dazu für sich sprechen.

Aus diesem Grunde sollen vermehrt Originalzitate aus dem „Volksstaat“ und seinen Beilagen herangezogen werden, da nur so ein unverfälschtes Bild gewährleistet ist. Themenschwerpunkte werden einleitend dazu gesondert aufgeführt. In besonderer Weise herangezogen werden soll auch die Gegenwartsliteratur der Zeitepoche, die im Zentrum der Betrachtung steht.

In der kurzen einleitender Übersicht über Intention und Zielsetzung der Arbeit steht das Kommunistische Manifest von Marx und Engels von 1848 im Vordergrund. Beide haben ein literarisches Werk hinterlassen, was alle Bestrebungen in der Richtung davor und danach weit übertrifft. Beide haben die literarischen Erzeugnisse mit sozialistischen Charakter übertroffen und überlagert, wenn auch nicht gänzlich beherrscht. Der alles prägende Satz im

7 Kommunistisches Manifest, S. 5, Zeile 1-9

8 ebd. S. 8, Zeile 6 und 7

9 ebd. S 3, Zeile 24-34, S. 4, Zeile 1-3

10 Kommunistisches Manifest S. 10, Zeile 22-24

                                                                                                        12

Kommunistischen Manifest von Marx und Engels im Revolutionsjahr 1848, alle Geschichte sei eine Geschichte von Klassenkämpfen, ist durch historische Fakten überzeugend belegt.

Der Versuch, diese historische Tatsache zu übergeben, muss an den Gegebenheiten, von denen die ganze Menschheitsgeschichte durchzogen ist, scheitern. Zu allen Zeiten, schon am Beginn der Menschheitsgeschichte, in der Antiken Welt, gab es die Gesellschaftsschichten, die mit ihren weitaus größten Bevölkerungsteil ein Leben in Unterdrückung führten, rechtlos, sozial benachteiligt und der Willkür herrschender „Klassen“ ausgeliefert.

Allen Anläufen in der Antike, im Mittelalter bis hin in die Neuzeit ist es nicht gelungen, bestehende Machtstrukturen im Sinne einer Mehrheitsgesellschaft zu überwinden. Das sollte sich ändern mit dem Aufkommen sozialistischer Arbeiterbewegungen besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und danach, sei es auf parlamentarisch - demokratischer Grundlage, sei durch Revolution und Diktatur. Ursprung und Quelle eines solchen historischen Geschehens haben ihren Ausgang genommen im 19. Jahrhundert und hier wiederum, um das noch einmal zu wiederholen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gegründet auf sozialistisch orientierte Arbeiterbewegungen und den damit in Zusammenhang stehenden unterschiedlichen Theorien.

Militärtechnische Veränderungen, weiterführende Produktionsweisen und die damit verbundenen Veränderungen der Lebensverhältnisse schufen neue Schichtungen im Aufbau der Gesellschaft, weil Bevölkerungswachstum neue Erfordernisse nötig machten. Umwälzungen, die sich ergaben, bildeten neue und andere Machtverhältnisse, die wiederum den Ruf nach Veränderungen nach sich zogen. Herrschende Gesellschaftsschichten mit ihren Rangfolgen und Machtverhältnissen konnten nichts Bleibendes, Dauerhaftes begründen. Gerade, wenn eine Entwicklung fest stehendes gesellschaftliches Gefüge erkennen ließ, ergaben sich Notwendigkeiten zu einem Umbruch.11

Sind Produktionsweisen und die damit verbundenen Lebensverhältnisse die einzig treibenden Kräfte zur Bewegung von Geschichtsabläufen? Diese Fragestellung ergibt sich aus dem vorher gesagten und muss dazu in Beziehung gesetzt werden.

Mit dem Beginn der Neuzeit ereignete sich Bahnbrechendes: Die Buchdruckerkunst, erfunden in der Mitte des 15. Jahrhunderts, erschloss die Verbreitung von Wissen und Kommunikation in bisher nie dagewesenem Ausmaß. Bisherige Privilegien wurden überrollt, was bis zu dem Zeitpunkt den Klöstern und dem Mönchsstand vorbehalten war, floss in breitere Kanäle. Es entstand europaweit die „Gelehrtenrepublik“, in der über die Kommunikation durch die lateinische Sprache in Wissenschaft und Wissenstand ein Austausch stattfinden konnte.

11 ebd. S. 4, Zeile 15-41

                                                                                                     13

Es boten sich neue Entfaltungsmöglichkeiten, eröffneten sich neue Wissensgebiete mit ihren wissenschaftlichen Entdeckungen.

Der Übergang von der Antike vollzog sich auf unterschiedlichen Grundlagen. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus erkennt bei den Germanen eine ethische Haltung, die eine Überlegenheit schafft, der die römische Gesellschaft zu erliegen droht.12 Er hält der römischen Gesellschaft einen Spiegel vor, um ihrem Niedergang durch eine Darstellung, die aufrütteln sollte, entgegen zu wirken. Solche Entwicklungen hatten in der Antiken Welt immer neue Umwälzungen der Machtverhältnisse beschert. Genügsame Völker, an Entbehrungen gewöhnt, hatten Völker, die durch die Annehmlichkeiten kultureller zivilisatorischer Lebensumstände dem Dasein einen anderen Sinn gegeben hatten, der nicht auf Kampf und Krieg ausgerichtet war, aus ihren Machtpositionen verdrängt. Die Überlegenheit der römischen Zivilisation und Kultur, die sie ein Jahrtausend lang von Sieg zu Sieg schreiten ließ, erlag schließlich dem Ansturm der Germanenvölker mit einem andersgearteten gesellschaftlichen Aufbau, und einer damit verbundenen inneren Einstellung. Die Niederlage Roms kann nicht allein auf Klassengegensätze zurückgeführt werden, obwohl sie in dem genannten historischen Kontext nicht ausgeschlossen werden können, somit ergeben sich Fragestellungen.

Eine Volks- und Massenbewegung, mit dem Ziel soziale Missstände auf gesetzlicher Grundlage zu beseitigen, entstand durch die Gebrüder Tiberius Gracchus (133 v. Chr.) und Gajus Gracchus (126 v. Chr.), die als Volkstribunen durch eine Bodenreform für landlose Bevölkerungsschichten eine Existenzgrundlage schaffen wollten.13 Das als Reformvorhaben gedachte Unternehmen scheiterte am Widerstand der herrschenden Klasse, des römischen Adels. Es ließ sich aber nie mehr gänzlich unterdrücken in der Nachfolge des Gajus Gracchus wurde das in römischen Verfassung verankerte Volkstribunat das Herzstück einer revolutionären Bewegung.14

Die Geschichte sollte sich wiederholen. Im Zuge der Reformation Martin Luthers um 1524 traten die Bauern mit „ 12 Artikeln“ zur Reform gesellschaftlicher Wirklichkeit an die Öffentlichkeit. Der Buchdruck eröffnete ihnen die Möglichkeit damit eine Breitenwirkung zu

12 G. Friedrich Kolb: Culturgeschichte der Menschheit, mit besonderer Berücksichtigung von Regierungsform, Politik, Religion, Freiheits =und Wohlstandsentwicklung der Völker.

Eine allgemeine Weltgeschichte nach den Bedürfnissen der Jetztzeit. Leipzig 1869 S. 425

Leseempfehlung   im „Volksstaat – Erzähler“ einer Beilage zum „Volksstaat“ in der Ausgabe Nr. 16. Leipzig, 29. März 1874 mit dem Zitat: „Ist es auch nicht die beste allgemeine Culturgeschichte, welche geschrieben werden kann, so ist es doch die beste, welche geschrieben ist, weitaus die beste“.

13 Alfred Heuss: Römische Geschichte, Braunschweig 1960, S. 146f

14 ebd. S. 150

                                                                                                           14

erzielen. Das Reformangebot scheiterte an den gesellschaftlichen Machtverhältnissen, aus der Reformbewegung wurde Revolution.

Die Umwälzungen, die durch die Französische Revolution herbeigeführt wurden, hatten vor ihrem Ausbruch 1789 in der Aufklärung bestehende geistige Grundlagen, die ausgereicht hätten, wirksame Wege der Reform zu beschreiten. Erst als die Bereitschaft dazu nicht erkennbar war, kam es zum Bruch und revolutionärer Gewalt.

Karl Marx und Friedrich Engels schufen die geistigen Grundlagen, die 1917 zur Oktoberrevolution, zur Beendigung der Zarenherrschaft und zur Gründung der Sowjet- Union führten, nachdem Reformversuche des russischen Staatsmannes Sergej Witte 1905 durch den Widerstand des Zaren Nikolaus II ein Ende gefunden hatten.15

Reform und Revolution, dieses Begriffspaar begegnet uns in den genannten historischen Beispielen, die belegen, dass Reformunwilligkeit zu steigendem revolutionärem Aufbegehren und Gewaltausbrüchen führt.

Im Kommunistischen Manifest ist dieses eindeutig definiert. Heißt es doch: „Die unentwickelte Form des Klassenkampfes, wie ihre eigene Lebenslage bringen es aber mit sich, daß sie weit über jenen Klassengegensatz erhaben zu sein glauben. Sie wollen die Lebenslage aller Gesellschaftsglieder auch der bestgestellten, verbessern. Sie appeliren daher fortwährend an die ganze Gesellschaft ohne Unterschied, ja vorzugsweise an die herrschende Klasse. Man braucht ihr System ja nur zu verstehen, um es als den bestmöglichen Plan der bestmöglichen Gesellschaft anzuerkennen.

Sie verwerfen daher alle politische, namentlich alle revolutionäre Aktion, sie wollen ihr Ziel auf friedlichem Wege erreichen und versuchen, durch kleine natürlich fehlschlagende Experimente, durch die Macht des Beispiels dem neuen gesellschaftlichen Evangelium Bahn zu brechen“.16

Den völligen Gegensatz zu diesem beschriebenen politischen Weg finden wir am Schluss des Kommunistischen Manifestes: „Die Kommunisten arbeiten endlich überall an der Verbindung und Verständigung der demokratischen Parteien aller Länder.

Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer

15 Sergej Witte, russischer Staatsmann (1869-1915). Er war als Diplomat die treibende Kraft beim Bau der Transsibirischen Eisenbahn. Verhandelte 1905 unter amerikanischer Vermittlung den Frieden zwischen Japan und Russland. Erhielt vom Zaren Nikolaus II der Auftrag zur Reform des russischen Staatswesens, den er zurückgab, nachdem erkennbar war, dass der Zar zu einer gewaltsamen Unterdrückungspolitik seine Zuflucht nahm.

16 Kommunistisches Manifest S. 21, Zeile 48- 50 und S. 22, Zeile 1-8

                                                                                                            15

kommunistischen Revolution Zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.

Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“17

Wie soll der Gleichheitsgrundsatz, wie wir ihn im Kommunistischen Manifest vorfinden in der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestehen. Die Frage ist oft gestellt worden und ebenso oft verneint oder in Zweifel gezogen worden.

In der Heiligen Schrift in der Apostelgeschichte Kapitel 4, Vers 32 ist die Aussage zu lesen: „Der Menge aber der Gläubigen war ein Herz und Eine Seele; auch keiner sagete von seinen Gütern, daß sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemein“.18

Diese Einstellung ist sicher einer spontanen Hochstimmung entsprungen, in der nachfolgenden Kirchengeschichte findet sie keinen Niederschlag.

Die Mönchsorden des Mittelalters, in denen das Gelübde der Armut galt, könnten hierzu in Beziehung gesetzt werden. Die einzelnen Orden, in denen ebenso das Gelübde des Gehorsams galt, waren in sich streng hierarchisch gegliedert.

Am weitest gehenden ist kommunistische Gesellschaft im israelischen Kibbuz verwirklicht. Es ist ein Kommunismus auf freiwilliger Grundlage.

Die Beiträge in den Ausgaben des „Volksstaats“ in dem betreffenden Zeitraum seiner Erscheinung geben Aufschluss darüber, inwieweit Presse- Rede- und Versammlungsfreiheit gewährleistet waren. Die „Volksstaats- Ausgaben“ mit ihren Beilagen lassen auch erkennen, welche Geistesströmungen und Ereignisse eines historischen Zeitraumes bevorzugt werden oder Ablehnung erfahren, oder welcher geistige Spielraum unterschiedlichen Tendenzen in unterschiedlichen Geschichtsepochen zugestanden werden und welches Meinungsspektrum für die Sozialdemokratie als tragbar angesehen wurde, um ein Geschichts- und Staatsverständnis herauszuarbeiten.

 

1. Persönlichkeiten und Programme auf dem Wege zum „Volksstaat“

Das Presseorgan der sozial - demokratischen Arbeiterpartei und der Internationalen Gewerksgenossenschaften in der Zeit von 1869 bis 1876 trägt den Namen „Volksstaat“.

Der Name ist zugleich Programm.

Das Programm finden wir erstmals veröffentlicht in der Nr. 80 des Volksstaats am 4. Oktober 1871, und wird dann in den nachfolgenden Jahrgängen in Zeitabständen wieder in Erinnerung gerufen:

17 Kommunistisches Manifest S. 23, Zeile 36-44

                                                                                                          16                                                          

Programm der sozial = demokratischen  Arbeiterpartei      

 I. Die sozial = demokratische   Arbeiterpartei erstrebt die Errichtung des freien Volksstaats.

II. Jedes Mitglied der sozial = demokratischen Arbeiter = Partei verpflichtet sich, mit ganzer Kraft einzutreten für folgende Grundsätze:  

  1. Die heutigen politischen und sozialen Zustände sind im höchsten Grade ungerecht und daher mit der größten Energie zu bekämpfen.
  2. Der Kampf für die Befreiung der arbeitenden Klasse ist nicht ein Kampf für Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für gleiche Rechte und gleiche Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft.
  3. Die ökonomische Abhängigkeit des Arbeiters vom Kapitalisten bildet die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, und es erstrebt deshalb die sozialdemokratische Partei unter Abschaffung der jetzigen Produktionsweise (Lohnsystem) durch gesellschaftliche Arbeit den vollen Arbeitsertrag für jeden Arbeiter.
  4. Die politische Freiheit ist die unentbehrliche Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klasse. Die soziale Frage ist mithin untrennbar mit der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt und nur möglich im demokratischen Staat.
  5. In Erwägung, daß die politische und ökonomische Befreiung der Arbeiterklasse nur möglich ist, wenn diese gemeinsam und einheitlich den Kampf führt, giebt sich die sozial =demokratische Arbeiterpartei eine einheitliche Organisation, welche es aber auch jedem einzelnen ermöglicht, seinen Einfluß für das Wohl der Gesamtheit geltend zu machen.
  6. In Erwägung, daß die Befreiung der Arbeit weder eine lokale noch nationale, sondern eine soziale Aufgabe ist, welche alle Länder, in denen es moderne Gesellschaft giebt, umfaßt, betrachtet sich die sozial = demokratische Arbeiterpartei, soweit es die Vereinsgesetze gestatten, als Zweig der Internationalen Arbeiterassoziation, sich deren Bestrebungen anschließend.

III. Als die nächsten Forderungen in der Agitation der sozial = demokratischen Arbeiter = Partei sind geltend zu machen:

1) Ertheilung des allgemeinen gleichen direkten und geheimen Wahlrechts an alle Männer

    vom 20. Lebensjahr an, zur Wahl für das Parlament, die Landtage der Einzelstaaten, die

    Provinzial- und Gemeindevertretungen, wie alle übrigen Vertretungskörper. Den gewählten

    Vertretern sind genügende Diäten zu gewähren.

2) Einführung der direkten Gesetzgebung ( d. h. Vorschlags- und Verwerfungsrecht) durch

    das Volk.

3) Aufhebung aller Vorrechte des Standes, des Besitzes, der Geburt und der Konfession.

4) Errichtung der Volkswehr an Stelle des stehenden Heeres.

5) Trennung der Kirche vom Staat, und Trennung der Schule von der Kirche.

6) Obligatorischer Unterricht in allen Volksschulen und unentgeltlicher Unterricht in allen

    öffentlichen Bildungsanstalten.

7)  Unabhängigkeit der Gerichte, Einführung der Geschworenen = und Fachgewerbegerichte,

Einführung des öffentlichen und mündlichen Gerichtsverfahrens und unentgeltliche

Rechtspflege.

 8)  Abschaffung aller Preß, Vereins, und Koalitionsgesetze; Einführung des Normal-

       arbeitstages, Einschränkung der Frauen- und Verbot der Kinderarbeit. Beseitigung der

18 Nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1954

                                                                                                  17

     durch die Zucht- und Arbeitshausarbeit den freien Arbeitern geschaffenen Konkurrenz.

9) Abschaffung der indirekten Steuern und Einführung einer einzigen direkten progressiven

    Einkommenssteuer und Erbschaftssteuer.

10) Staatliche Förderung des Genossenschaftswesens und Staatskredit für freie Produktions-

      genossenschaften unter demokratischen Garantien.

Dieses Programm wurde beschlossen auf dem Kongress in Eisenach, der vom 7. Bis 9. August 1869 stattfand, der auch verbunden war mit einer neuen Namensgebung: der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). Zum Parteiorgan wurde das „Demokratische Wochenblatt“ bestimmt, das vom 1. Oktober 1869 an unter dem Titel: „Der Volksstaat“, Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der Gewerksgenossenschaften erschien. „Der Volkstaat“, so hieß es in der Satzung dazu, sei Eigentum der Partei, Abonnenten des „Volksstaat“ seien von der Parteibeitragspflicht befreit.19 Das Datum und die angeführten Beschlüsse markieren einen Höhepunkt in der Gründungsphase der Arbeiterparteien und Vereine.

Aus diesem Grunde ist angebracht zum besseren Verständnis des Gesamtzusammenhanges einen chronologischen Überblick über einen historischen Entwicklungsprozess zu gewähren, den die Arbeitervereine besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert genommen haben, bis sie sich zu Parteien und zu einer Partei formierten, und schließlich zu einem unübersehbaren politischen Faktor geworden waren.

Mit dem Ausbruch der Revolution am 18. März 1848 in Berlin, die zu Straßenkämpfen führte, waren die Opfer in der Mehrzahl Arbeiter und Handwerker.20 Auf einer Vollversammlung am 26. März 1848 in Berlin wird eine „Gemeinsame öffentliche Vertretung der Arbeiter“ gefordert.

In einer sich ausbreitenden revolutionären Stimmung stehen soziale Fragen in den sich formierenden Arbeitervereinen im Vordergrund.21 Am 1. Juni 1848 erschien die erste Nummer der „Neuen Rheinischen Zeitung“, Organ der Demokratie. Chefredakteur war Karl Marx, zur Redaktion gehörte auch Friedrich Engels. Die „Neue Rheinische Zeitung“ wurde am 26. September 1848 verboten, und Friedrich Engels musste Deutschland wegen drohender Verhaftung verlassen.22

19 Franz Osterroth/Dieter Schuster: Chronik der deutschen Sozialdemokratie, Daten- Fakten –Hintergründe, Band 1: Von den Anfängen bis 1945 S. 34f

 

20 Chronik der deutschen Sozialdemokratie S. 15

21 ebd. S. 15

22 ebd. S. 16

                                                                                                           18

Durch Beschluss des Bundestages werden am 13. Juni 1854 Arbeitervereine mit kommunistischen, sozialistischen und überhaupt politischen Zielen für das gesamte Gebiet des Deutschen Bundes verboten.23

Im September 1859 wurde der „Deutsche Nationalverein“ gegründet mit dem Ziel die deutsche Einheit auf freiheitlicher Grundlage zu fördern. Der Verein wurde von den Liberalen beherrscht, will aber den Arbeitern im Rahmen des Vereins eine politische Tätigkeit ermöglichen.24 Im Frühjahr 1861 besucht Karl Marx Ferdinand Lassalle in Berlin. Beide beraten über die Gründung einer Zeitung. Der Plan misslingt, weil ein Gesuch Ferdinand Lassalles, Karl Marx zu naturalisieren, abgelehnt wird. Im April 1862 spricht Lassalle in Versammlungen und Vorträgen „über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes“ und über „Verfassungswesen“. Der erste Vortrag wird als „Arbeiterprogramm“ veröffentlicht, aber sofort beschlagnahmt.25 Nach der Beschlagnahme des Arbeiterprogramms wird gegen F. Lassalle im Januar 1863 Anklage erhoben wegen der „Gefährdung des öffentlichen Friedens durch Anreizung der Angehörigen des Staates zum Hass und zur Verachtung gegeneinander“. Er wird zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. In einer Berufungsverhandlung wird das Urteil in eine geringe Geldstrafe umgewandelt. Seine Verteidigungsrede wird unter dem Titel: „Die Wissenschaft und die Arbeiter“ veröffentlicht. Im Februar 1863 spricht sich August Bebel in einer Festrede zum Stiftungsfest des „Dresdener Gewerblichen Bildungsvereins“ gegen das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht aus, mit der Begründung, die Arbeiter seinen dafür noch nicht reif.26 Ebenfalls im Februar 1863 wendet sich ein Leipziger Komitee an F. Lassalle und andere Nationalökonomen, um gutachterliche Ansichten zur Arbeiterfrage zu erwirken.

F. Lassalle antwortet mit einem „Offenen Antwortschreiben“, worin er die Bildung einer politisch selbständigen Arbeiterpartei fordert mit den zwei Kernpunkten:

Das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht und die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter durch Gründung von Produktivgenossenschaften mit Unterstützung des Staates.

Ab dem 12. oder 13. Mai 1863 kommt es zu mehreren Treffen und Unterredungen zwischen F. Lassalle und Otto von Bismarck, der im September 1862 von König Wilhelm I. zum preußischen Ministerpräsidenten berufen worden war, worin offensichtlich erneut die oben genannten Kernpunkte im Mittelpunkt der Gespräche gestanden haben.

23 ebd. S. 19

24 ebd. S. 20

25 ebd. S. 20

26 ebd. S. 21

                                                                                                        19

Am 23. Mai 1863 erfolgte die Gründung des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereines“ (ADAV).27

Gut zwei Wochen später, am 7. und 8. Juni 1863, kam es in Frankfurt a. M. zu einer weiteren Gründung: Die Vereinigung Deutscher Arbeitervereine (VDAV) formierte sich in einem Zusammenschluss von Arbeitervereinen zu einer umfassenderen Organisation.

Jetzt standen sich zwei in größerem Rahmen agierenden Arbeiterorganisationen gegenüber, denn beide verfolgten zunächst unterschiedliche Ziele in ihrem Staats- und Geschichtsverständnis, wie noch zu zeigen sein wird.

Ende September 1863 hält F. Lassalle in Barmen, Solingen und Düsseldorf Vorträge, die in Solingen in größerem Ausmaß zu Auseinandersetzungen mit der liberalen Fortschrittspartei führen. F. Lassalle wendet sich in einem Telegramm an Bismarck, das aber nicht zu dem gewünschten Ergebnis führt. Es kommt zu einem Gerichtsverfahren, und Lassalle wird zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.28

Karl Marx verhält sich zur Gründung des ADAV durch Lassalle zurückhaltend und rät Wilhelm Liebknecht zum ADAV, eine neutrale Haltung einzunehmen.

Mitglieder des ADAV wenden sich im September 1864 an Wilhelm Liebknecht, der zusammen mit August Bebel zunehmenden Einfluss auf den VDAV gewonnen hatte, mit dem Vorschlag an Karl Marx heranzutreten, die Leitung des ADAV zu übernehmen. Das Vorhaben stößt innerhalb des ADAV auf Widerstand. Einer der Gründe ist die Tätigkeit, die Karl Marx in der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) ausübt, die im September 1864 in London gegründet wurde.29

Im November 1864 werden Karl Marx und Friedrich Engels von Wilhelm Liebknecht und später von J. B. von Schweitzer zur Mitarbeit an dem Presseorgan „Der Sozialdemokrat“ aufgefordert. Lassalle war im August 1864 das Opfer eines Duells geworden. Er hatte B. Becker zu seinem Nachfolger bestimmt. Die Führungsrolle ging aber vermehrt über auf J. B. v. Schweitzer, der auch als Herausgeber des „Sozialdemokrat“ fungierte. Karl Marx war zur Mitarbeit bereit und stellte zwei Bedingungen: Kampf für eine deutsche Republik und Abschaffung der Herrschaft des Kapitals. Im Januar 1865 veröffentlichte der „Social-Demokrat“ eine programmatische Erklärung v. Schweitzers:

  1. Solidarität der Völkerinteressen und der Volkssache durch die ganze Zivilisierte Welt.
  2. Das ganze gewaltige Deutschland wollen wir, den freien Volksstaat.
  3. Wir hoffen zu erkämpfen, daß die Arbeit den Staat regiert.

27 Chronik der deutschen Sozialdemokratie S. 22

28 ebd. S. 23

29 ebd. S. 24

                                                                                                          20

Es kommt zum Bruch zwischen Karl Marx, Friedrich Engels und Wilhelm Liebknecht auf der einen Seite und v. Schweitzer auf der anderen Seite, weil er im „Sozialdemokrat“ einen Bismarck - freundlichen Artikel veröffentlicht hatte. Außerdem wurden Vorwürfe erhoben gegen den im ADAV betriebenen „Lassalle – Kult“.30

Im Frühjahr 1865 kommt es zu zahlreichen Streiks, die auch Repressalien von staatlicher Seite auslösen. Ein Name gerät dabei in den Vordergrund: Der Name des Staatsanwaltes H. v. Tessendorf, der sich durch eine weitgreifende und rücksichtslose Verfolgung und Unterdrückung der Arbeiterbewegung in ihren verschiedenen Ausformungen auszeichnet, so dass in dem Zeitraum das Wort von der „Ära Tessendorf“ geprägt wird.31

Der 3. Vereinstag der Arbeitervereine im September 1865 beschließt Maßnahmen, um den allgemeinen Bildungstand der Arbeiter zu heben.32

Im November 1865 wird J. B. v. Schweitzer Herausgeber des Presseorgans des ADAV „Der Sozialdemokrat“ wegen „Preßvergehens“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.33 Das Urteil ist deshalb bemerkenswert, weil die entgegenkommende Haltung des ADAV zu Bismarck und Preußen keine Anerkennung findet. Auf der 2. Generalversammlung des ADAV Ende November 1865 wird C. W. Tölcke auf ein Jahr zum Präsidenten gewählt. Ende 1865 formiert sich auch vermehrt die Internationale Arbeiterassoziation (IAA) in Deutschland. August Bebel und Wilhelm Liebknecht laden im August 1866 Vertreter sächsischer Arbeiterbildungsvereine, der kleinbürgerlichen Demokratie und Bevollmächtigte des ADAV aus Sachsen zu einer Versammlung nach Chemnitz ein, auf der die Gründung der „Sächsischen Volkspartei“ beschlossen wird. In der Präambel verpflichtet sich die Partei, die Feinde der „deutschen Freiheit und Einheit“ entschieden zu bekämpfen. J. B. v. Schweitzer fordert die Mitglieder des ADAV auf, sich dieser Parteibildung wegen ihrer antipreußischen Einstellung fernzuhalten.34

Am 30. Dezember 1866 veröffentlicht Der „Social – Demokrat“ ein „Programm der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf der Generalversammlung des ADAV in Erfurt“:

  1. Gänzliche Beseitigung jeder Föderation, jedes Staatenbundes, unter welchen Formen es auch sei, Vereinigung aller deutschen Stämme zu einer innerlich und organisch durchaus verschmolzenen Staatseinheit, durch welche allein das deutsche Volk einer glorreichen nationalen Zukunft fähig werden kann: Durch Einheit zur Freiheit!

30 Chronik der deutschen  Sozialdemokratie S. 25f

31 ebd.  S. 26

32 ebd.  S. 26

33 ebd.  S. 27

34 ebd.  S. 28

                                                                                                           21

  1. Einführung des allgemeinen, gleichen, und direkten Wahlrechts, mit geheimer Abstimmung und Diätenzahlung für die staatlichen Vertretungen im gesamten deutschen Vaterlande. Sicherstellung der freiheitlichen Volksrechte.
  2. Forderung, daß dem jetzt zusammengerufenen Parlament das Recht der beschließenden und nicht bloß beratenden Stimme in allen Angelegenheiten zustehe.
  3. Anbahnung der Lösung der sozialen Frage durch freie Arbeiter - Assoziationen und Staatshilfe nach den Prinzipien Ferdinand Lassalles.35

Für die Wahlen zum konstituierenden Norddeutschen Reichstag stellen ADAV und „Sächsische Volkspartei“ am 2. Februar 1867 eigene Kandidaten auf. A. Bebel, W. Liebknecht und H. Schraps in Sachsen und J. B. v. Schweitzer in Elberfeld – Barmen gegen Otto v. Bismarck und den liberalen Präsidenten des preußischen Abgeordnetenhauses M. Forckenbeck. Nur A. Bebel und H. Schraps werden gewählt.36

Am 15. April 1867 stimmen A. Bebel und H. Schraps im Norddeutschen Reichstag als Abgeordnete der „Sächsischen Volkspartei“ gegen die Bundesverfassung, weil sie keine Grundrechte, kein Steuerbewilligungsrecht, keine Ministerverantwortlichkeit kenne, dafür aber einen „eisernen Militärstaat“ und die Machtstellung Otto v. Bismarcks zulasse.37

Auf der 3. Generalversammlung des ADAV im Mai 1867 in Braunschweig wird J. B. v. Schweitzer zum Präsidenten gewählt.

Am 31. August 1867 werden zur ersten Legislaturperiode des Norddeutschen Reichstages A. Bebel, W. Liebknecht, H. Schraps, und F. Götz für die „Sächsische Volkspartei“ und J. B. v. Schweitzer, F. A. Reincke, für den später F. Fritsche nachrückt, und in einer Nachwahl W. Hasenclever für den ADAV gewählt.

Im September 1867 erscheint der erste Band „Das Kapital“ in einer Auflage von 1000 Stück, verlegt bei J. Meisner in Hamburg.

Im Herbst 1867 will J. B. v. Schweitzer einen aus 47 Paragraphen bestehenden Arbeiterschutzgesetzentwurf im Norddeutschen Reichstag einbringen. Er scheitert, weil es ihm nicht gelingt die nötigen fünfzehn Unterschriften dafür beizubringen. W. Liebknecht verweigert die Unterschrift mit der Begründung, er könne keinen Antrag unterschreiben, der den Norddeutschen Bund durch wichtige Entscheidungen aufwerte.38 A. Bebel versichert J. Ph. Becker im Juli 1868, er werde sich für die Ziele der IAA einsetzen, und auf dem geplanten Vereinstag dafür werben.

35 Chronik der deutschen Sozialdemokratie S. 28

36 ebd. S. 28

37 ebd. S. 29

38 Chronik der deutschen Sozialdemokratie S. 29

                                                                                                     22

Im Januar 1868 erschien erstmalig das „Demokratische Wochenblatt“ als Presseorgan des „Verbandes deutscher Arbeitervereine“.

Im Juli 1868 erhält Karl Marx von J. B. v. Schweitzer und den Vorstandsmitgliedern des ADAV eine Einladung als Ehrengast an der Hamburger Generalversammlung teilzunehmen als Anerkennung für sein Werk „Das Kapital“ und die damit verbundenen besonderen Verdienste für die Arbeiter in ihrem Kampf  auf dem  Wege zur Herrschaft des Proletariats. Karl Marx lehnte ab, weil ihn die Vorbereitung zum Kongress der IAA in Anspruch nahm.39

Als bedeutendes Ereignis auf dem Wege zu politischem Einfluss muss der 5. Vereinstag der Arbeitervereine im September 1868 in Nürnberg angesehen werden. A. Bebel wird zum Präsidenten des Kongresses gewählt. Kernforderungen waren die Überwindung der Knechtschaft in jeder Form, des sozialen Elends, der geistigen Herabwürdigung und der politischen Abhängigkeit. Der Kongress kommt zu dem Schluss, dass diese Ziele nur durch die arbeitenden Klassen selbst erreicht werden können. Als dann der Vereinstag noch den Anschluss an die Ziele der IAA erklärt, verlassen die liberalen Vertreter den Kongress.40

Im September 1868 löst die Leipziger Polizeibehörde den ADAV auf. Daraufhin berufen J. B. v. Schweitzer und F. W. Fritsche einen Arbeiterkongress nach Berlin ein. Die Zahl der Delegierten war mit 206 aus 110 Orten im Vergleich zu November 1867 auf das zehnfache angewachsen und die Zahl der Mitglieder mit 142000 nahezu auf das fünfzigfache. Der Kongress wählt J. B. v. Schweitzer zum Präsidenten. Er übersendet Karl Marx die erarbeiteten Statuten, die aber auf Ablehnung stoßen.41

An der 9. Generalversammlung des ADAV im März/April 1869 nehmen A. Bebel und W. Liebknecht als Gäste teil. Die beiden Gäste richten offen Angriffe gegen J. B. v. Schweitzer und machen ihm seine preußenfreundliche Politik zum Vorwurf.

Noch im April 1869 treffen sich daraufhin A. Bebel, W. Liebknecht und v. Schweitzer und kommen überein von Angriffen auf Personen und Organisationen der beiden sozialdemokratischen Parteien abzusehen.42

In einer Rede Ende Mai 1869 vor dem Berliner Demokratischen Arbeiterverein warnt W. Liebknecht, das allgemeine Wahlrecht zum Norddeutschen Reichstag in seinen Möglichkeiten und Wirkungen zu überschätzen. Es ginge, so führte er aus, auf Ferdinand Lassalle zurück, und sei zu einem Götzen geworden. Damit ging er auch auf Distanz zu Lassalle, die zunehmend für Verwirrung sorgt auch in den Reihen des ADAV selbst, als v. Schweitzer im

39 ebd. S. 30

 

40 ebd. S. 31

41 ebd. S. 32

42 Chronik der deutschen Sozialdemokratie S. 32

                                                                                                              23

Juni 1869 im „Social – Demokrat“ die Wiederherstellung der Einheit der Lassalleschen Partei aufgrund der Gründungsstatuten vom Mai 1863 fordert. Im „Demokratischen Wochenblatt“ rufen namhafte Mitglieder des ADAV gleichzeitig zu einem Einigungskongress der sozialdemokratischen Arbeiter auf. W. Bracke und Th. York treten aus dem ADAV aus, und begründen diesen Schritt mit v. Schweitzers autoritärem Führungsstil.43

Das Verlangen nach Einheit wächst und führt vom 7.-8. August 1869 zum Kongress in Eisenach, der in der Hauptsache auf Initiative des VDAV mit Bebel an der Spitze zurückging. Der Kongress beschließt die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) zu gründen. In ihrem neuen Programm erklärt sie sich ausdrücklich als Zweig der IAA, damit ist zugleich auch eine Abgrenzung zum ADAV vollzogen, der einer nationalen politischen Linie den Vorzug gibt. Hauptziel und Hauptforderung ist die Gründung des „Freien Volksstaates“, der hinführen soll zu einer alternativen Produktionsweise, die dem Arbeiter den vollen Arbeitsertrag sichern soll.

Zum Parteiorgan wird das „Demokratische Wochenblatt“ bestimmt, das ab 1. Oktober 1869 dreimal wöchentlich erscheinen soll unter dem Titel: „Der Volksstaat, Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der internationalen Gewerksgenossenschaften“.

Der „Volksstaat“ wird zum Eigentum der Partei erkärt.44

Anders ergeht es dem Presseorgan des ADAV, dem „Social – Demokrat“. Auf seiner 10. Generalversammlung im Januar 1870 lehnt es die Versammlung ab, den „Social – Demokrat“ in Parteieigentum zu überführen. Weitere Beschlüsse sind die Stimmenthaltung bei Wahlen zum Preußischen Landtag, um gegen das Dreiklassenwahlrecht zu protestieren sowie die Wahl des Präsidenten des ADAV nach dem allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrecht. Die Aufstellung der Reichstagskandidaten wird von der Zustimmung des Präsidenten und des Vorstandes abhängig gemacht.45 Wie schon mehrfach zuvor betont, wird hierin ein autoritärer Führungsstil erkennbar, der innerhalb des ADAV auf Unmut stößt.

Auf dem Kongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei vom 4. Bis 7. Juni 1870 in Stuttgart stehen drei Tagesordnungspunkte im Vordergrund: Die Genossenschafts- und Gewerkschaftsbewegung in Deutschland (Th. York), die politische Stellung der Partei (W. Liebknecht) und die Grund- und Bodenfrage (A. Bebel).

Zum Ergebnis dieses Kongresses gehört auch der Übertritt der bayerischen ADAV Mitglieder in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. (SDAP)46

43 ebd. S. 33f

44 ebd. S. 34f

45 Chronik der deutschen Sozialdemokratie S. 35

46 ebd. S. 36

                                                                                                        24

Am 21. Juli 1870 tagt der Reichstag des Norddeutschen Bundes nach der französischen Kriegserklärung vom 19. Juli 1870, um über die Bewilligung von Kriegskrediten zu beraten. A. Bebel und W. Liebknecht enthalten sich der Stimme mit der Begründung, Preußen habe diesen Krieg durch sein Vorgehen 1866 im Krieg gegen Österreich vorbereitet. Die Reichstagsmitglieder des ADAV stimmen für die Kredite.47

Am 1. September 1870, einen Tag vor der Kapitulation der kaiserlich französischen Armee, fordert Karl Marx zum Protest auf gegen die geplante Annexion Elsaß – Lothringens. Ein solcher Schritt, so begründet er seine Forderung, werde unvermeidlich zu einem Krieg zwischen Deutschland auf der einen Seite und Frankreich und Russland auf der anderen Seite führen.48

Am 21. Juli 1870 hatten Vertreter von SDAP und ADAV im Reichstag des Norddeutschen Bundes noch ein unterschiedliches Abstimmungsverhalten gezeigt, als es um die Bewilligung von Kriegskrediten ging, das änderte sich,  bei einer erneuten Abstimmung über Kriegskredite am 28. November 1870, jetzt stimmten Vertreter beider sozialdemokratischer Richtungen geschlossen gegen die Bewilligung weiterer Kriegskredite mit der Begründung, die eigentliche Kriegsursache sei mit der Gefangennahme Napoleons III. beseitigt.49

Im April 1871 stellt der „Social – Demokrat“ sein erscheinen ein, im darauf folgenden Monat wird W. Hasenclever zum Präsidenten des ADAV gewählt, nachdem sich v. Schweitzer weitgehend zurückgezogen hatte. Im Juli 1871 erscheint die erste Nummer des „Neuen Social – Demokrat“ als Presseorgan des ADAV und erklärt in einer Ausgabe im November 1871, der ADAV sei die einzige sozialdemokratische Partei.

Ein besonderes Datum wird am 25. Mai 1871 markiert. An diesem Tage solidarisiert sich A. Bebel in einer Reichstagsrede mit dem Pariser Kommuneaufstand, der am 18. März 1871 seinen Ausgang genommen hatte, und erklärt diese Revolution habe Vorbildfunktion für die Völker Europas. In mehreren Beiträgen nimmt Karl Marx zu diesem Aufstand Stellung unter dem Titel: „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ übersetzt von Friedrich Engels.50

Auf diese Rede A. Bebels nimmt Reichskanzler Otto von Bismarck in seiner Rede im Reichstag des Deutschen Reiches zum Sozialistengesetz am 17. September 1878  Bezug mit der Bemerkung, gerade diese Rede A. Bebels habe ihn von der Gefährlichkeit des Sozialismus überzeugt.51

47 ebd. S. 36

48 ebd. S. 36

49 ebd. S. 37

50 Volksstaat Jahrgang 2 /1871 Nr. 52-71

51 Chronik der deutschen Sozialdemokratie S. 38

                                                                                                           25

Im März 1872 werde A. Bebel, W. Liebknecht und A. Hepner in Leipzig vor Gericht gestellt. Die Anklage lautet auf Hochverrat. A. Bebel und W. Liebknecht werden jeweils zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt, A. Hepner wird freigesprochen. Prozessverlauf und Ergebnis werden im „Volksstaat“ als Erfolg für die Verbreitung sozialdemokratischer Prinzipien gewertet.52

F. Engels wendet sich auch im Namen von K. Marx an W. Liebknecht. Er fordert eine schärfere Abgrenzung zu den Ideen F. Lassalles, und ein entschlossenes Vorgehen gegen Einflüsse, die auf Lassalle zurückgehen.53

Im Januar 1874 wird der Staatsanwalt H. v. Tessendorf nach Berlin versetzt. Er hatte sich über die Grenzen seines Wirkungskreises hinaus für sein hartes Vorgehen gegen sozialdemokratische Bestrebungen einen Namen gemacht. Allein in Preußen werden in den ersten sieben Monaten 87 Mitglieder des ADAV zu insgesamt 211 Monaten Gefängnis verurteilt. Das unterschiedslos scharfe polizeiliche Vorgehen bewirkt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Sozialdemokraten, die zuvor im Gegensatz zueinander gestanden hatten.54

Im Januar 1875 erlässt W. Hasenclever einen Aufruf an die Mitglieder des ADAV, dass die Mehrheit der Lassalleanhänger für die Vereinigung beider Sozialdemokratischen Parteien sei. Es müsse aber sichergestellt werden, heißt es gleichzeitig, dass den Forderungen Lassalles der nötige Einfluss eingeräumt werde. Ebenso wird wert gelegt auf eine straffe zentralistische Organisation.55

„Zerstören wir die sozialistische Organisation, und es existiert keine sozialistische Partei mehr“, lässt H. v. Tessendorf im März 1875 in einem Satz verlauten.

Diese Zielsetzung diente als Grundlage zu einer Anklage gegen Leiter des ADAV. Sie wurden beschuldigt gegen das preußische Vereinsgesetz verstoßen zu haben. Er beantragte Auflösung des Vereins, dem das Gericht zustimmte. Das preußische Beispiel wurde in den meisten Ländern des Reiches übernommen, was einem weitgehenden Verbot gleichkam.56

Ein besonderer Höhepunkt in den politischen Kämpfen sozialdemokratischer Bestrebungen wurde vom 22. Bis 27. Mai 1875 erreicht. Das Datum markiert den Zusammenschluss der beiden sozialdemokratischen Parteien zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ auf dem Kongress in Gotha.

52 ebd. S. 39

53 ebd. S. 39f

54 ebd. S. 42

55 ebd. S. 43

56 Chronik der deutschen Sozialdemokratie S. 44

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Der ADAV ist mit 15.322 Mitgliedern (74 Delegierte) und die „Eisenacher“57 mit 9121 Mitgliedern (56 Delegierte) vertreten.

Die Delegierten verabschiedeten das „Gothaer Programm“, ein Kompromiss zwischen beiden Parteien. Einige Kernsätze daraus sollen das belegen: „Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums (...) Die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft (...) Die Befreiung der Arbeit muss das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber die anderen Klassen nur die reaktionäre Masse sind. Die Partei erstrebt mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit, die Errichtung von sozialistischen Produktionsgenossenschaften mit Staatshilfe unter demokratischer Kontrolle des arbeitenden Volkes.“

In „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ übt Karl Marx an diesem Programm besonders deutliche Kritik. Auf Wunsch des Parteivorstandes erfolgt die Veröffentlichung erst 1890.58

Ein Zeichen für die Befürchtungen, die  mit der Autorität von Karl Marx in Verbindung gebracht werden können.

Auf einem weiteren Parteikongress in Gotha vom 19. Bis 23. August 1876 wird der Zusammenschluss, der  mehr als ein Jahr zuvor statt gefunden hatte weiter gefestigt.

Diese als Sozialistenkongress einberufene Versammlung musste nach einem Verbot in Preußen nach Gotha ausweichen. 98 Delegierte vertraten 38.254 Mitglieder aus 291 Orten.

Auffällig ist eine Quotenregelung bei leitenden Funktionen. Auf der Tagesordnung stand die Stellung zu den bevorstehenden Reichstagswahlen, vertreten durch W. Liebknecht (vormals Eisenach) und W. Hasselmann (vormals ADAV).

Der Kongress beschließt, die beiden Zentralorgane „Neuer Social – Demokrat“ und „Volksstaat“ zu verschmelzen. Ab 1. Oktober erscheint der „Vorwärts“ dreimal wöchentlich mit dem Untertitel: „Central – Organ der Social – Demokratie Deutschlands“ in Leipzig. Seine Hauptredakteure sind W. Liebknecht und W. Hasenclever.

Eine Reform der Rechtsprechung wird zu einer zentralen Forderung erhoben mit der Begründung, in einem Klassenstaat könne keine Form der Gerichtsverfassung Recht und Gerechtigkeit verbürgen, darum seien freie Volksgerichte, auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechts zu begründen. 59

57 Die Bezeichnung „Eisenacher“ rührt her von dem Gründungskongress der SAP in Eisenach im August 1869

58 Chronik der deutschen Sozialdemokratie S. 44

59 Chronik der deutschen Sozialdemokratie S. 46
                                                                                                   27

2. Arbeitsweise und Intention

Mit dem „Volksstaat“ wurde ohne großen wissenschaftlichen Ballast eine Breitenwirkung erzielt, und es wird erreicht, was zahlreiche Theoretiker des Sozialismus nicht leisten konnten. Die Arbeiter wollten einen Ausweg erkennen, aus ihren alltäglichen sozialen Lasten und den damit verbundenen Leben nicht nur in einem Mangel am Notwendigsten, dem Bedarf an Nahrung, Kleidung und Wohnung. Aber nicht nur die materiellen Lebensbedingungen riefen nach Veränderungen und Verbesserung, sondern auch ideelle Werte sollten eine Hebung des Bewusstseins bewirken. Arbeiter und Arbeit werden in ihrer Bedeutung an die Spitze der Gesellschaft gestellt. Diese Entwicklung zu einem Umdenken in der herrschenden Abstufungen gesellschaftlicher Hierarchie kann und darf in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden. Eine solche Abstufung geschah auch unter dem „Arbeiterstand“ selbst. Es wurde ein Unterschied vorgenommen zwischen ausgebildeten Handwerkern, Fabrikarbeitern mit Qualifikation und der großen Masse der unqualifizierten und ungelernten Arbeiter, für die der Begriff Proletariat Anwendung fand.60

Fabrikordnungen aus der Zeit gewähren einen Einblick in die Arbeitsverhältnisse: „Der gewaschene und gekämmte Arbeiter macht sich in reinlicher Kleidung ehrerbietig grüßend auf den Weg zur Fabrik und geht pünktlich durch das Tor. Er verrichtet fleißig an seinem Arbeitsplatz seine Arbeit, raucht nicht, trinkt keinen Alkohol. In der Mittagspause kommen weder Frau und Kinder noch Freunde. Und nach dreizehn Stunden putzt er seinen Arbeitsplatz und geht ehrerbietig grüßend nach Hause.61

Der obrigkeitsstaatliche Charakter dieser Vorschrift lässt erkennen, dass es nicht nur um Vorschriften zur Arbeitsverrichtung ging. Die Lebensleistung der Menschen, die hier angesprochen sind, findet keine Anerkennung.

Die Lebensverhältnisse des Industrieproletariats waren durch Wohnungsnot, Unterernährung und Krankheiten gekennzeichnet.

Die Französische Revolution von 1789 hatte vor ihrem Ausbruch eine geistige Grundlage, geschaffen durch Menschen wie Voltaire, Jean – Jacques Rousseuau oder Charles de Montesquieu, auf den die Lehre von der Gewaltenteilung im Staatsaufbau zurückgeführt werden kann. Die deutsche Kultur – und Geistesgeschichte am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch deutliche Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen. Mozarts Oper „Die Hochzeit des Figaro“ mit deutlichem

 

 

60 Conze, Werner/Groh, Dieter: Die Arbeiter in der nationalen Bewegung, Stuttgart 1966 S. 26

61 Kuhn, Axel: Die deutsche Arbeiterbewegung, Stuttgart 2004, zitiert nach Rainer Wir

 

                                                                                    

                                                                                                    28

Hinweis auf die Willkür der Adelsherrschaft wird 1785 in Paris aufgeführt, nach dem sie zuvor mehrfach der Zensur anheim gefallen war, um nur ein Beispiel zu nennen.

Auch das Aufkommen und Aufbegehren der Arbeiterbewegung in der beginnenden Industriellen Revolution geschah nicht spontan, sondern hatte geistige Grundlagen als Rückhalt, geschaffen durch Menschen wie Karl Marx, Friedrich Engels, Saint Simon, Pierre Joseph Proudhon oder im angelsächsischen Raum den britischen Sozialreformer Robert Owen und eine Reihe weiterer sozialistischer Bestrebungen und Autoren. Frühzeitig und rechtzeitig war der soziale Sprengstoff erkannt worden, den das Industrieproletariat in sich barg, um mit Theorien und Reformen wirksam Abhilfe zu schaffen.

Proudhon lässt sich 1849 dazu vernehmen mit einer Äußerung: „Man wird die Ordnung in den Städten und auf dem Land mehr und mehr gefährden, solange man auf die Frage des Arbeiters nicht geantwortet hat. Denn im kapitalistischen System...gibt es kein anderes Mittel, dem Sozialismus ein Ende zu machen, als Geschützladung, Gift und massenhaftes Ersäufen.“[62]

Die Ausgaben des „Volkstaat“ umfassen in ihrer Gesamtheit die Jahrgänge:

Jahrgang 1 / 2 1869/70

Jahrgang      3 1871

Jahrgang      4 1872

Jahrgang      5 1873

Jahrgang      6 1874

Jahrgang      7 1875

Jahrgang      8 1876

Mit dem „Volksstaat – Erzähler Jahrgang 1 / 3 (1873 bis 1875) als Beilage zum „Volksstaat“ hat es eine besondere Bewandtnis, die einer besonderen Betrachtung bedarf.

Aus der Gesamtheit der Ausgaben ergeben sich folgende Schwerpunktthemen:

1.   Soziale Missstände, Willkür, Machtmissbrauch

2.   Wissenschaftliche Abhandlungen, besonders den Sozialismus betreffend

3.   Beziehung der Sozialdemokratie zu Bismarck

4.   Beziehung der Sozialdemokratie zur Politik Bismarcks

5.   Die unterschiedlichen Epochen der Geschichte:

A.  Die Antike, Griechenland, Rom und Geschichte des jüdischen Volkes

      B.  Mittelalter, Feudalherrschaft, Lehnswesen, universaler Staatsgedanke

      C . Neuzeit, Geschichtsbetrachtungen und Geschichtsbilder über:

  1. Preußen, besonders aus der Sicht der Sozialdemokratie
  2. Spanien
  3. Niederlande
  4. Reformation

 

 

[62] Hahn, Manfred: (Hrsg.); zitiert in: Vormarxistischer Sozialismus, Frankfurt a. M. 1947 S. 7

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                                                                                                                29

           V.  Französische Revolution

           VI. Deutsche Kultur-und Geistesgeschichte am Ende des 18. und dem beginnenden

                 19. Jahrhundert

          VII. Napoleonische Herrschaft

         VIII. Befreiungskriege, Wiener Kongress, Deutscher Bund

            IX. Frankfurter Nationalversammlung

 

    6.   Kritische Distanz der Sozialdemokratie zur gesellschaftlichen und politischen   

          Entwicklung im In-und Ausland, wie wir sie im „Volksstaat“ und „Volksstaat-Erzähler“

          Vorfinden, mit vergleichenden Betrachtungen und Berichten aus:   

  1. Amerika
  2. England
  3. Frankreich
  4. Spanien
  5. Österreich
  6. Pressefreiheit, Redefreiheit, Versammlungsfreiheit
  7. Lage in Europa, Portugal, Italien, Dänemark, Russland, europäische Gesichtspunkte7

7. Leipziger Hochverratsprozess

8. Reichstagsreden

9. Beziehung zum Christentum und Kirche

    10. Pariser Kommuneaufstand

    11. Gegensätze ADAV-VDAV

    12. Internationale Arbeiter- Assoziation

    13. Gründerkrach

    14. Verfassungsfragen

    15. Gewerksgenossenschaften

    16. Nationalitätenpolitik mit Schwerpunkt Elsaß- Lothringen

    17. Karl Marx, Friedrich Engels und Michael Bakunin

 

Die oben aufgeführten Themenschwerpunkte finden im „Volksstaat“ und der Beilage „Volksstaat = Erzähler“ ihren Niederschlag, und sollen auf der Grundlage vergleichender Betrachtungen und Darstellungen zu den angesprochenen historischen Vorgängen und Epochen in Beziehung gesetzt werden, woraus sich die Frage ergibt: Was ist neu in der Sichtweise der Sozialdemokratie zum Gang der bisherigen Geschichte?

Den Geschichtsbildern der Sozialdemokratie mit ihren Staatsentwürfen sollen andere Geschichtsbilder mit ihren Staatsentwürfen gegenüber gestellt werden, verbunden mit dem Stand der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung.

In Themenschwerpunkt 1 werden soziale Missstände, Willkür und Machtmissbrauch in ihren drastischen Ausformungen geschildert.

Ein Auszug aus Presseorganen, im „Volksstaat“ zitiert, soll das verdeutlichen:

  • Der „militärische Geist“! –  Wir lesen in bayerischen Blättern:

„Das Münchener Militärgericht verhandelte dieser Tage gegen den See – Lieutenant Frhr. V. Horix vom 13. Inf – Reg. Wegen Ueberschreitung der Dienstgewalt. Im Monat Febr. d. J. widerfuhr dem Soldaten Gemeinwiesen, als Frhr. v. Horix beim Exerziren „Richt Euch“

                                                                                                         30

kommandierte, die Ungeschicklichkeit seinen Blick nicht nach rechts zu wenden, und die Folge dieser Unterlassung war, daß er von dem kommandierenden Offizier, Frhrn. v. Horix einen Schlag ins Gesicht bekam. Frhr. v. Horix welcher vom Bataillons – Kommando als ruhiger  besonnener Mann (!) geschildert wird, hatte schon früher einmal einen Soldaten mit dem flachen Säbel über den Kopf geschlagen (!!), allein die deshalb eingeleitete Untersuchung wurde wieder eingestellt (!!!). Der königl. Staatsanwalt betonte bei Begründung der Anklage, daß, wenn man von den Soldaten unbedingten Gehorsam fordere,  es auch die Pflicht des Vorgesetzten sei, die Mannschaft anständig und würdig zu behandeln. Der Vertheidiger Herr Acc. Pailler, welcher in der Handlung des Frhrn. v. Horix keine Ueberschreitung der Dienstgewalt, sondern streng genommen nur eine Beleidigung erblickte, bezeichnete die Beorfeigung als einen „lobenswerten Diensteifer“. Die Schuldfrage, ob im konkreten Falle eine vorsätzliche und rechtswidrige Handlung vorliege wurde von den Geschworenen verneint, was die Freisprechung des Angeklagten zur Folge hatte“.

Die Jammerseufzer „liberaler“ Blätter welche sich an diese Affäre knüpften, verstehen wir nicht. Dieselben großen Politiker, welche die Annahme des Militärstrafgesetzes befürwortet haben, beklagen Vorgänge, die vom „Geiste“ dieses Gesetzbuchs völlig angemessen sind. Nach den verschiedenen „Theorien“ Moltke’s verdienten Horix wie Pailler sogar einen Orden, denn im Grunde sind sie Nichts weiter als talentierte Schüler des großen „Schweigers“, welche die famose Theorie von „den Spitzbuben in Waffen“ völlig begriffen haben. Nachträglich erhalten wird den Bericht des „liberalen“ „Tag und Anzeigenblatt für Kempten und Allgäu“, derselbe schließt mit dem Seufzer: „Derlei Vorkommnisse können nur geeignet sein, der Sozialdemokratie noch mehr auf die Beine zu helfen!“ Jedenfalls nicht den „liberalen“ Speichelleckern“ des Berliner Blut- und Eisenmannes.63

Themenschwerpunkt 2. Wissenschaftliche Abhandlungen besonders den Sozialismus       betreffend:

                                             Darwin und der Sozialismus.

                                                  (Aus der „Gleichheit“)

Der beste Beweis für die Berechtigung der sozialistischen Ideen ist wohl der, daß unsere Partei die einzige ist, welche die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft nicht zu scheuen braucht, deren Folge sie ja theilweise ist. Allerdings ist es richtig, daß viele Gelehrte unseren

 

63 zitiert aus „Volksstaat“ Jahrgang 6 (1874) Nr. 63 Mittwoch, 3. Januar 1874

 

                                                                                                       31

Prinzipien abhold sind, das hat uns aber wenig zu kümmern. Mögen diese friedliebenden Gemüther auch vor den Konsequenzen der Wahrheit zurückbeben, uns erschrecken dieselben nicht, wir sind Männer der That, was andere gedacht, wir wollen es ausführen.64

Themenschwerpunkt 3. Die Beziehung der Sozialdemokratie zu Bismarck:

Die Sozialdemokratie stand nicht nur der Politik Bismarcks ablehnend gegenüber. „Der Volksstaat“ ließ oft scharf gewürzte polemische Angriffe auf die Person Bismarcks ergehen:

- „Bismarck – Pfeifen“. Nicht genug, daß das „Denker – Volk“ nach der Pfeife des „Genialen“ tanzen muß; er raucht auch aus solchen, die seinen Namen tragen. Im „Leipziger Tageblatt“ empfiehlt ein Friedrich Böger solche Pfeifen und veröffentlicht dazu folgenden Originalbrief Bismarcks:                                                                     Varzin, 1.November 1872

Euer Wohlgeboren dank ich verbindlichst für die mir übersandte Pfeife. Ich habe eine von so zweckmäßiger Einrichtung seit meiner Studienzeit nicht besessen und werde sie mit Vergnügen in Gebrauch nehmen.

Die Studiengenossen des „Genialen“ mögen sich freuen.65

4. Themenschwerpunkt: Die Beziehung der Sozialdemokratie zur Politik Bismarcks:

Unter dem Titel: „Zum 2. September“, heißt es dazu:

Wir geben in dem nachfolgendem Aufsatz eine geschichtliche und wahrheitsgetreue Darstellung der wahren Ursachen und der wahren Urheber des deutsch – französischen Krieges und bemerken dabei, daß dieser Aufsatz, wie schon der Eingang zeigt, bereits seit länger als einem Jahr geschrieben war, danach aber wegen Mangel an Platz zurück gesetzt,

heute seinen rechten Platz finden dürfte, und bei der bevorstehenden Feier des 2. September dem arbeitendem Volk aufs neue zu zeigen, wie es betrogen und hintergangen, wie mit seinem Gut und Blut gespielt wird.66

Bismarck – daß erhellt aus dem vorhandenem Material67 und dem Verlauf des Krieges zur Evidenz – hat den Krieg mit langer Hand vorbereitet, die spanische Thronkandidatur spielte er in dem Moment, in welchem ihm der Erfolg am sichersten schien, und er hat sich wie die Erfahrung lehrt, nicht verrechnet. Daß Bonaparte auf den Leim ging, beweist, daß er Bismarck nicht kannte. Aber dem deutschen Volk soll man nicht länger Sand in die Augen streuen, und ihm nicht von einem „heiligen“ Krieg vorreden, der doch absichtlich und mit den unheiligsten Mitteln herbeigeführt wurde, ausschließlich im Hohenzollern’schen Sinne und Hausinteresse.68

 

64 Zitiert aus „Volksstaat – Erzähler“ , zweiter Jahrgang, Nr. 46 Leipzig, 28. November 1875

65 Zitiert aus „Der Volksstaat“ Jahrgang 5, Nr. 127. Sonntag, 21. December 1873

66 Zitiert aus „Der Volksstaat“ Jahrgang 5, Nr. 73. Sonntag, 17. August 1873

67 zitiert aus „Der Volksstaat“  Jahrgang 5, Nr. 73 Sonntag, 17. August 1873

68 Zitiert aus „Der Volksstaat“ Jahrgang 5, Nr. 74. Mittwoch, 20. August 1873

 

                                                                                                    32

Diese Darstellung der historischen Abläufe finden sich durchgehend von Anbeginn bis zum Ende der Volksstaatsausgaben. Der Deutsch – Französische Krieg hat eine Vorgeschichte im Krieg von 1866 zwischen Preußen und Österreich, und dieser Krieg wiederum hatte eine Vorgeschichte 1864 im Krieg von Preußen und Österreich gegen Dänemark. Diese Kontinuität gilt es aufzuzeigen. Einige Autorinnen und Autoren verdienen es neben anderen genannt zu werden: Anni Meetz69 in Zusammenhang mit den Ursachen, die 1864 zum Krieg   führten, indem Preußen und Österreich sich gegen Dänemark verbündeten. Bemerkenswerte Aussagen zum Krieg zwischen Preußen und Österreich lassen sich bei Jürgen Angelow70 und Lothar Gall71 finden. Als umfangreich und umfassend kann das Werk des Historikers Eberhard Kolb72 angesehen werden

5. Themenschwerpunkt: Die unterschiedlichen Epochen der Geschichte

Sozialismus und Sozialdemokratie haben in ihren Agitationen von Anbeginn, von dem Zeitpunkt an, als sich die Einflussmöglichkeiten abzeichneten, und das war der Zeitpunkt, der mit Beginn der 60er Jahre des 19. Jahrhundert gesetzt werden kann, auf Geschichtsbewusstsein ausgerichtet. Sie hatten erkannt, welchen Stellenwert der für das Staatsverständnis, den Staatsaufbau und den Aufbau einer Gesellschaftsordnung, die sich von aller bisherigen gesellschaftlichen Wirklichkeit unterscheiden sollte, besaß.

Das Kommunistische Manifest, von Thomas Kuczinski als die Geburtsurkunde sozialistisch – kommunistischen Politikwissenschaft bezeichnet,73  gibt selbst dazu das beste Beispiel. Es liefert zu den Geschichtsepochen des Altertums, des Mittelalters und der modernen Neuzeit
 

68 Zitiert aus „Der Volksstaat“ Jahrgang 5, Nr. 74. Mittwoch, 20. August 1873

69 Meetz, Anni: Johann Gustav Droyens politische Tätigkeit in der Schleswig - Holsteinischen Frage, Erlangen

    1930 

   

70 Angelow, Jürgen: Von Wien nach Königgrätz

                                 Die Sicherheitspolitik des Deutschen Bundes im europäischen Gleichgewicht 1815-1866

                                 München 1996

 

71 Gall, Lothar: Bismarck Der weiße Revolutionär

                         Franfurt a. M.

72 Kolb, Eberhard: Der Kriegsausbruch 1870

                              Politische Entscheidungen der Verantwortlichen in der Julikrise 1870

                              Göttingen 1970

    Kolb, Eberhard (Hrsg): Europa und die Reichsgründung

                                           Preußen – Deutschland in der Sicht der großen europäischen Mächte 1860-1880

                                           München 1980

    Kolb, Eberhard/ Müller- Luckner, Elisabeth: Europa vor dem Krieg 1870

                                                                             Mächtekonstellation- Konfliktfelder- Kriegsausbruch

                                                                             München 1987

   

Kolb, Eberhard: Der Weg aus dem Krieg

                               Bismarcks Politik im Krieg und die Friedensanbahnung 1870/71, München 1989

 

 

73 Thomas Kuczynski in einem Vorwort vom 5. Dezember 1994 zu der bereits bezeichneten Ausgabe des Kommunistischen Manifestes, S. IX.

 

                                                                                                  33

eine Beschreibung der jeweiligen, unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichtungen. Die Gesellschaft der römischen Antike wird unterteilt in Patrizier, Ritter, Plebejer und Sklaven, es folgt das Mittelalter mit seinen Feudalherren, Vasallen, Zunftbürgern, Gesellen und Leibeigenen, um dann überzuleiten in die moderne Neuzeit mit den zwei großen Gegensätzen vom bürgerlichen Kapitalismus und dem Proletariat, vertreten durch die breiten Bevölkerungsschichten der Arbeiter.74 Es setzt nicht auf Bruch oder Neuanfang, sondern wahrt die Kontinuität in der Darstellung des Ablaufes der Menschheitsgeschichte, um so einzumünden in eine Welt gesellschaftlicher Harmonie. Sollte dieser Fluss mit revolutionärer Gewalt gesteuert werden, gleichbedeutend mit einem Eingriff in den natürlichen Lauf des Flusses, oder sollte der Fluss in seinem natürlichen Lauf belassen werden, bis er einmündet in das Meer einer neuen und anderen Gesellschaftsordnung. Ein Lauf, der einer Gesetzmäßigkeit folgend, unaufhaltsam seinem historischem Ziel zufließt, so wird es im Dialektischen Materialismus vorgezeichnet.75 Geschichte folgt der Entwicklung einer ökonomischen Gesetzmäßigkeit. Das gesellschaftliche Bewusstsein sollte sich aus einem historischen Entwicklungsprozess ergeben, der mit einem Geschichtsbewusstsein verknüpft war. Das System ist dem Dreischritt der Philosophie Hegels entlehnt und umgewandelt: These (Kapitalismus), Antithese (Proletariat), Synthese (klassenlose Gesellschaft), wobei nach materialistischen Ideologie- und Philosophieverständnis die Begriffe der Logik und der Realphilosophie zu dem Ergebnis geführt haben, daß bei Hegel das Verhältnis von Logischem und Historischem bestimmt ist durch die Verkehrung  der Relation von Sein und Bewusstsein.76

Sozialisten unterschiedlichster Richtungen haben sich in der Geschichte sozialistischer Ideen und Theorien einen ideologischen Meinungsstreit geliefert, der im Verlaufe der Geschichte hin zu extremen Gewaltausbrüchen geführt hat.77

5. A. Die Antike, Griechenland, Rom und Israel

Die europäische Geschichte mit all ihren Errungenschaften ethischer und wissenschaftlicher Wertschöpfungen hat in der vorhergehenden Geschichte zwei Stützpfeiler, die sein Dach tragen und zurück geführt werden können auf Baumeister des Staates und der Religion: Auf Griechenland, Rom und Israel in der weitreichenden Geschichtsepoche der antiken Welt.

 

74 Kommunistisches Manifest S. 3, Zeile 33-35 und S. 4, Zeile 1-7

75 Schmidt, Heinrich: Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 1982 S. 127

76 Hofmeister, Elmar: Die „Logik“ in der Geschichte

                                    Zum Problem von materialistischer und idealistischer Dialektik, Köln 1980 S.99

77 Schaefer, Alfred: Kritik des dialektischen Materialismus durch den Historischen Materialismus, Berlin 1988,  

                                S. 10

 

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Es hat Hochkulturen gegeben, bevor Griechenland und Rom zum fundamentalen und kulturellen Bestandteil der europäischen Geschichte wurden. Der Einfluss dieser vorausgegangenen Kulturen hat aber keine entscheidende Prägung in der europäischen Geschichte hinterlassen in der Zeit, als Europa bestimmend wurde für den Gang der Menschheitsgeschichte.

Im politischen Denken von Hannah Arendt ist eine Fragestellung enthalten.78 Die Fragestellung könnte hinführen zu einer anderen Frage: Wann hat die neuzeitliche Entwicklung Einfluss und Bahnen der antiken Welt verlassen? Israel und die antike Welt der Griechen in einer Geschichtsepoche danach, haben in der europäischen und deutschen Geschichte besonders deutliche Spuren hinterlassen, durch das Christentum und die klassische Dichtung, die in der kulturgeschichtlichen Entwicklung im Griechenland der Antike ihr Vorbild suchte. Christentum gründete sich nach Zeugnis der Heiligen Schrift selbst, dem christlichen Kanon, dem Neuen Testament, auf die vorhergehende Geschichte Israels. Im Brief des Apostels Paulus, dem herausragenden Gründer christlicher Gemeinden in der Anfangsphase der christlichen Religion, an die Gemeinde in Rom heißt es: Paulus, Knecht Jesu Christi, berufen zum Apostel, ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes, welches er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der Heiligen Schrift, von seinem Sohn Jesus Christus, der geboren ist von dem Samen Davids nach dem Fleisch, und nach dem Geist der da heiligt eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft durch die Auferstehung aus den Todten (...)79

Alle wissenschaftlichen Grundlagen, die schließlich das moderne Zeitalter der Neuzeit in großen Dimensionen in eine neue Welt technischer Errungenschaften führte haben ihren Ursprung im Griechenland der Antike.

Alle ethischen Grundlagen sind gesucht und gefunden worden im Christentum, hervorgegangen aus der Geschichte Israels davor.

Ein Weiteres haben Griechenland und Israel dem abendländisch - europäischen Kulturkreis vermittelt, sie haben Geschichte geschrieben, eine anders geartete Geschichtsschreibung, als die Hochkultur am Nil oder des Zweistromlandes, die über eine Aufzählung historischer Reminiszenzen  nicht hinaus gekommen ist80 Ihr Blickfeld war eingeengt, auf Einzelheiten gerichtet, eine zusammenhängende Gesamtschau fehlt, und damit fehlt auch das Bewußtsein als Bedingung für den historischen Fortbestand. Was die Hochkulturen am Nil und im Zweistromland hinterlassen haben, so eindrucksvoll es auch immer ist, bleibt wesentlich nur noch für die Archäologie von besonderem Interesse. So haben nur zwei Völker, Griechenland
 

78 Romberg, Regine: Athen, Rom oder Philadelphia? Die politischen Städte im Denken von Hannah Arendt, Würzburg 2007.

79 Nach der revidierten Luther – Übersetzung, Stuttgart 1954

80 von Rad, Gerhard: Gesammelte Studien zum Alten Testament, München 1965, S. 149

 

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und Israel, ihre Existenz aus dem Altertum hinüber gerettet und Früchte getragen, die über ihre eigene Existenz hinausreicht, ohne diese Früchte ist der Baum, der daraus gewachsen ist, nicht denkbar. Griechenland und Israel und ihre Geschichtsschreibung und das damit verbundene Bewusstsein ist weiter vererbt worden81 und bleibt der Menschheit in ihrem Gesamtverständnis erhalten. Es ist eine geistige Substanz, worauf Geschichtsverständnis beruht, die Bedingung ist auch für das Fortbestehen der materiellen Substanz.

Die Frage, wem die europäische Zivilisation ihre kulturgeschichtliche Entwicklung und Existenz verdankt, ob der Griechisch – Römischen Antike oder dem jüdischen Christentum82 stellt sich nicht in einer Ausschließlichkeit, weil beide in ihrer kulturellen Wirkungsgeschichte auf unterschiedliche Quellen zurückgehen. Beide, Juden und Griechen, haben in den Stürmen der Geschichte ihre Identität bewahrt, sie waren tief verwurzelt in einer Geschichtsschreibung, die in sich eine geistige Grundlage schuf. Griechenland ist geographisch auf dem Platz geblieben, den es in der Antike innehatte. Israel musste auch seinen geographischen Ursprung aufgeben und war zweitausend Jahre in alle Welt verstreut, die geistigen Wurzeln, die ihm seine Identität bewahren halfen, waren zu tief, um ausgerissen zu werden. Hier wird noch einmal deutlich, was Geschichtsbewusstsein, das in einer Geschichtsschreibung gegründet ist, zu bedeuten hat.

5.B. Mittelalter, Feudalherrschaft, Lehnswesen, universaler Staatsgedanke

An dem antiken und dem romanischen Element hat sich der deutsche Geist von jeher entwickelt.83 ( Leopold von Ranke)

Der Übergang von der Antike zum Mittelalter ist unterschiedlich bestimmt worden, ein genaues Datum lässt sich nicht bestimmen, es kommt darauf an, welche Kriterien zugrunde gelegt werden, eine grobe Einteilung kann vorgenommen werden von 400 n.Chr. bis 1500 n. Chr.84 Einige beginnen mit Konstantin dem Großen und der Einführung des Christentums (324) andere mit der Völkerwanderung, herbeigeführt durch das Eindringen der Hunnen nach Europa (375) die meisten Interpreten neigen zum Zeitpunkt, an dem das Weströmische Reich sein Ende fand. (476)  Zum Ende des Mittelalters wurden ebenso unterschiedliche Vorstellungen entwickelt. Sie reichen vom Untergange des Oströmischen Reiches (1453),
 

81 ebd. S. 148f

82 Kaltenstadler, Wilhelm: Griechisch – Römische Antike oder jüdisches Christentum, wem verdanken wir die europäische Zivilisation? Hamburg 2005

83 Zitiert nach Leopold von Ranke in: Schneider, Friedrich (Hrsg): Universalstaat oder Nationalstaat, Innsbruck 1943, S. IV

84 Kleinpaul, Rudolf: Das Mittelalter: Bilder aus dem Leben und Treiben der Stände in Europa, unveränderter Nachdruck von 1895, Würzburg 1998 S. 2f

 

                                                                                                         36

dem Beginn der Renaissance der Erfindung der Buchdruckerkunst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, der Entdeckung Amerikas (1492) oder dem Beginn der Reformation Martin Luthers (1517). Schließlich noch der Westfälische Friede (1648). Alles Marksteine einer gänzlich neuen Entwicklung. Ab dem Untergange der Westhälfte des Römischen Reiches richteten sich germanische Völkerschaften auf diesem Gebiet ein. Der eigentliche Beginn eines Staatsaufbaus und einer staatlichen Entwicklung ist in der Herrschaft Karls des Großen zu suchen, die ihren Höhepunkt mit der Kaiserkrönung am Weihnachten des Jahres 800 fand. Karl wurde an diesem Tage nicht nur zum Kaiser gekrönt, auf dieses Ereignis gründete sich das Staatsverständnis, das bestimmend war für das gesamte Mittelalter, Das „Heilige Römische Reich“, das damit begründet wurde, verstand sich als Fortsetzung des Römischen Reiches. Nach vollzogener Krönung huldigte das bei der Krönungszeremonie anwesende Volk: „Karl dem Augustus, dem von Gott gekrönten und friedebringenden Kaiser der Römer, Leben und Sieg“. Der Bericht geht auf Einhard zurück, dem Hofschreiber und Biographen Karls des Großen.85 In zahlreichen Geschichtswerken ist die Szene nacherzählt und mit vielen Fragen und Interpretationen versehen worden. Es war die Geburtsstunde des Heiligen Römischen Reiches. Neu gestiftet, und damit für das gesamte Mittelalter gefestigt, wurde es von Otto dem Großen, dem Enkel des Sachsenführers Widukind, Karls hartnäckigster Gegner in den Sachsenkriegen von 772-804. Am 2. Februar 962 ließ sich Otto als deutscher König zum römischen Kaiser krönen. Er hätte diesen Schritt sicher nicht getan, wenn nicht das Vorbild Karls des Großen vor ihm gestanden hätte.86 Das Heilige Römische Reich ist später mit dem Zusatz „deutscher Nation“ versehen worden. Damit wurde diesem Reich ein nationaler Anstrich gegeben, den es nicht besaß, und auf dem seine Herrscher nie einen Anspruch erhoben hatten. In offiziellen Verlautbarungen der Zeit ist dieser Zusatz darum auch nicht zu finden. Noch im Jahre 1462 heißt es in einer Belehnungsurkunde Kaiser Friedrichs III., obschon in deutscher Sprache: „Wir Friedrich von gottes gnaden Römischer kayser, zu allen zeiten mehrer des reichs, (...)87

Die sozialdemokratische Sicht vermittelt ein ganz anderes Bild. Ein historischer Rückblick auf die Zeit Karls des Großen wird unter die Überschrift gesetzt: Karl der „Große“.88

Als herausragendes Merkmal für die Gesellschaft des Mittelalters wird das „Lehnswesen“ angesehen. Viele Laien die das Wort Lehnswesen hören, denken an Fernes, Mittelalterliches: an böse Herren und arme Bauern, an Leibeigenschaft und Hörigkeit, Ausbeutung und Gewalt.

 

85 Kleinpaul, Rudolf: Das Mittelalter Würzburg 1998 S. 94

86 ebd. S. 94

87 Spieß, Karl-Heinz unter Mitarbeit von Willich, Thomas:

Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter

Zweite verbesserte Auflage. Stuttgart 2009 S. 156

88 Volksstaat – Erzähler in der Ausgabe Nr. 56, 31. Dezember 1874

 

                                                                                                        37          

an böse Herren und arme Bauern, an Leibeigenschaft und Hörigkeit, Ausbeutung und Gewalt. Sogar manches Schulbuch präsentiert leibeigene Bauern als Basis einer „mittelalterlichen Lehnspyramide“. All das ist Unfug! Das Bild der Pyramide führt in die Irre. Mit Bauern haben Lehen wenig zu tun, und mit Unfreiheit und Ausbeutung gar nichts, und sie sind auch keine Institution, die mit dem Mittelalter untergegangen wäre.89 Diese Definition gibt Steffen Patzold, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Tübingen in einem Band über das „Lehnswesen“. Er erläutert darin die Beziehung von Herren und Vasallen, erklärt die Begriffe Treue, Schutz und Schirm, Lehen, feudum und beneficium. Er stellt das lange Zeit als sicher angenommene Wissen über das Lehnswesen in Frage.90

5. C. Neuzeit

Mit dem ausgehenden Mittelalter begann der Zerfall des Heiligen Römischen Reiches. Es hatte besonders noch einmal seine universelle Bedeutung erlangt unter der Herrschaft des Stauferkaisers Friedrich II. (1215-1254), nach Jacob Burckhardts Urteil der erste moderne Mensch auch dem Thron.91 Auch das Papsttum wurde in den allgemeinen Verfallsprozess hineingezogen. Es geriet im 14. Jahrhundert unter französische Herrschaft. Von 1309 bis 1384 residierten die Päpste in Avignon und nicht in Rom. Es gab zeitweise drei Päpste, die über sich gegenseitig den Bann aussprachen. Beide, Kaiser und Päpste hatten sich in einem Zeitraum von mehr als zweihundert Jahren im Investitursstreit92 in einem Machtanspruch eine Auseinandersetzung  geliefert, und sich gegenseitig aufgerieben.

Damit verbunden war auch eine Abkehr von der christlichen Botschaft; sie war in den endlos währenden Machtkämpfen und Machtansprüchen zwischen Kaiser und Papst unglaubwürdig geworden, und in der Übergangsphase vom Mittelalter zur Neuzeit begann die Hinwendung zur Kultur der klassischen Antike, die zunächst in Italien ihren Höhepunkt hatte,93 und dann den übrigen europäischen Kontinent, besonders auch Deutschland erfasste. Der Übergang vom christlich geprägten Mittelalter zum Humanismus, der Hinwendung zur klassischen Antike, war fließend, bildete zugleich den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Damit begann auch ein Einstieg in naturwissenschaftliche Forschungen und Erkenntnisse. Die Kirche, mit ihrem Machtanspruch über jede einzelne Seele, wurde als Hindernis angesehen für Fortschritt und Wissenschaft.

„Der von der alles beherrschenden Kirche gehegte religiöse Fanatismus erlaubte nur theologische Untersuchungen. In allen naturwissenschaftlichen Dingen galt die Bibel mit der mosaischen Schöpfungsgeschichte als Richtschnur. Kirchenbann und Verfolgung bedrohten

 

89 Patzold, Steffen: Das Lehnswesen, München 2012 S. 6

90 Patzold, Steffen: Das Lehnswesen S. 2

91 Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien, Stuttgart 1976 S. 5

92 Verbot der Laieninvestitur. Die Einsetzung in geistliche Ämter sollte nur noch dem Papst gestattet sein.

93 Burckhardt,Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien, Stuttgart 1976, 538 Seiten

 

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den Andersdenkenden. Die Entwicklung des menschlichen Geistes schien um ein Jahrtausend unterbrochen.“94

Denker und Naturforscher wie Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543), Giordano Bruno (1548 – 1600), Gallileo Gallilei (1564 – 1642), Johannes Kepler (1571 – 1630) wurden verfolgt oder fürchteten das Risiko einer Verfolgung.

Ein Herausragender Vertreter des Humanismus nördlich der Alpen war Erasmus von Rotterdam( 1466 – 1536). Der überragende Einfluss seines Werkes überdauerte und behielt zeitlose Gültigkeit.95 Er legte die Fundamente zum Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit.96 Erasmus lässt sich nicht in einem nationalen Rahmen darstellen. Seine über mehrere Jahre dauernden Aufenthalte in England, Frankreich, Italien und schließlich im schweizerischen Basel belegen, dass Erasmus in der Kirche zu Hause war.97

Wenn auch der Humanismus von Italien insgesamt seinen Ausgang genommen hat, so ist dennoch eine konzentrierte Betrachtung von Florenz als Mittelpunkt notwendig.

Die höchste politische Bewußtheit, den größten Reichtum an Entwicklungsformen findet man vereinigt in der Geschichte von Florenz, welches in diesem Sinne wohl den Namen des ersten modernen Staates der Welt verdient, so urteilt Jacob Burckhardt.98

Hier ist noch einmal besonders verdichtet alles zu finden, was diese Zeit in allen Bereichen der Kunst, Philosophie und Wissenschaft bietet: Von Michelangelo (1475-1564) über Rafael (1483-1520) und Botticelli, (1444- 1510) von Masellino Ficino (1433-1499) über Lorenzo Valla (1407-1457) und Pico de la Mirandola (1463-1494) und schließlich Nicolo Macchiavelli. (1469-1527)

Die genannten drei Bereiche finden sich bei Leonardo da Vinci (1452-1519) noch einmal konzentriert ihren Ausdruck und höchste Ausformung.

Aber auch eine Gegenbewegung entstand in der Gestalt des Girolamo Savonarola. (1452-1498) Er trat den von ihm erkannten und bezeichneten Missständen, besonders dem sittlichen Verfall, im Lichte der christlichen Botschaft, in Staat, Kirche und Gesellschaft, entgegen. In ihm hatte Martin Luther einen Vorläufer.

So ist in Florenz, geographisch begrenzt, das zu finden, was sich später im europäischen und Weltmaßstab in den verschiedenen protestantisch – reformatorischen Bestrebungen wiederfindet.

 

94 Zitiert aus dem „Volksstaats – Erzähler“ in der Ausgabe Nr. 16 vom 29. März 1874

95 Erasmus ehedem und heute 1469 – 1969. Gedenkrede von Werner Kaege an der Universität Basel am 17. Juni 1969, mit einleitenden Worten des Rektors Kurt Eichenberger. Basel 1969 S. 3

96 ebd. S. 3

97 ebd. S. 16

98 Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien, Stuttgart 1976 S. 70

 

                                                                                                        39

Die Sprachgewalt Savonarolas wird erst wieder bei Martin Luther erreicht.99 In seiner Stellung zum Humanismus vertrat Savonarola die Ansicht, Bildung mache den Menschen von der Religion abwendig.100 Klassische Lektüre sollte auf Homer, Virgil und Cicero beschränkt bleiben. Eine völlige Abkehr war damit nicht vollzogen, betont wurde aber der Gegensatz von Humanismus und den Grundsätzen christlicher Botschaft, die in der Feststellung bestand, ein altes Weib verstünde mehr vom Glauben als Platon, der herausragende Vertreter antiken philosophischen Denkens.101 Humanismus bedeutete nicht die gänzliche Abkehr von der christlichen Botschaft, es bestand vielmehr das Bemühen Gemeinsamkeiten herauszufinden, die dann zu Abgrenzungen unterschiedlichen Ausmaßes führten.102 Erasmus selber stand antiker Philosophie aufgeschlossen gegenüber, betonte aber zugleich die Überlegenheit der christlichen Botschaft.

Ein entscheidendes Kriterium bildete der Gegensatz zwischen Luther und Erasmus, hieran anknüpfend, schieden sich die Geister und forderten eine eindeutige Position. Luther konnte sich humanistischen Einflüssen nicht gänzlich entziehen, war aber ebenso auf einen Standpunkt der Unabhängigkeit bedacht.103 Luther vollzog eine Trennung zum Humanismus, wie sie auch Savonarola vollzogen hatte. 1523 gab er dessen Auslegung des 31. und 51. Psalms heraus. Anhänger der Reformation sahen in Savonarola den Märtyrer und Luther Italiens.104 Auf Betreiben Papst Alexander VI. endete er 1498 auf dem Scheiterhaufen.

Obwohl die Reformation ihre Vorläufer hatte wie John Wygliff (1324-1387) in England und Joahnn Hus (1370-1415) in Böhmen,105 gelang der große Durchbruch erst durch Martin Luther. Sie erschütterte nicht nur die bisherigen Grundlagen des christlichen Glaubens und der einen einheitlichen katholisch – christlichen Kirche, sie hatte auch tiefgreifende Umwälzungen besonders des mittelalterlichen Staatsverständnisses und Staatsgefüges zu Folge.

Was geographisch als das Zentrum des Heiligen Römischen Reiches angesehen werden konnte, solange der Kaiser einem deutschen Herrscherhause entstammte, rückte enger zusammen, und mit ihm verkleinerte sich die Reichsgewalt und wurde geschwächt. Kaiser Maximilian I. (1493-1519) nahm in den kaiserlichen Titel erstmals die Bezeichnung
 

99 Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien, Stuttgart 1976 S.448

100 ebd. S. 480

101 ebd. S. 451

102 Erasmus ehedem und heute 1469-1969, Gedenkrede von Werner Kaegi am 17. Juni 1969, Basel 1969 S. 19

103 Pesch, Hermann Otto (Hrsg): Humanismus und Reformation – Martin Luther und Erasmus von Rotterdam in den Konflikten ihrer Zeit. München und Zürich 1985 S. 36, 47 und 120.

104 Girolamo Savonarola aus größtentheils handschriftlichen Quellen hergestellt von Fr. Karl Meier, Berlin 1836 S.322.

105 Erwähnung im „Volksstaat“ in der Ausgabe Nr. 32 vom 20. April 1870

 

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„Rex in Germania“106 auf. Der Reichsverband lockerte sich zusehends. Durch die Bibelübersetzung in die jeweiligen Landessprachen trat auch der Einfluss der lateinischen Sprache zurück und damit ein wesentliches Element des Universalstaatsgedankens. Der Weg zum Nationalstaatsgedanken war damit eröffnet. Aber nicht nur deshalb erlitt die päpstliche Zentralgewalt Einbußen. Die Spaltung der Christenheit führte zur Inquisition in Spanien, den Hugenottenkriegen in Frankreich, und in England schuf König Heinrich VIII. die Anglikanische Kirche als Nationalkirche. Höhepunkt bildete der Dreißigjährige Krieg mit seinen verheerenden Folgen für Deutschland, der 1648 mit dem Westfälischen Frieden seinen Abschluss fand. Die Verfassungslage des Reiches vor dem Westfälischen Frieden war gekennzeichnet durch den Streit zwischen Kaiser und Papst, den Kurfürsten, Fürsten, Städten, Reichsständen und nichtständischen Reichsunmittelbaren untereinander.107 Dieser Zustand findet sich wieder in einer Darstellung aus dem „Volksstaat-Erzähler“ in der Ausgabe Nr. 56 vom 31. Dezember 1874. Die Gegensätze wurden verschärft durch die Reformation und Gegenreformation ab Mitte des 16. Jahrhunderts. Das Heilige Römische Reich verstand sich als ein christliches Reich mit dem Kaiser an der Spitze, es wurzelte im Christentum und in der römischen Tradition.108 Mit der Spaltung der Christenheit war sein wesentlicher Inhalt erschüttert109 und der Auflösung preisgegeben. Mit dem Westfälischen Frieden veränderte sich das Reichsstaatsrecht, die Bestimmungen des Westfälischen Friedens wurden denn auch vielfach als Grundgesetz des Heiligen Römischen Reiches angesehen.110 Zunehmende Kritik erfuhr dieses Grundgesetz im 19. Jahrhundert durch das Aufkommen nationalstaatlicher Bestrebungen, weil darin ausländischen Mächten ein entscheidendes Mitspracherecht in deutschen Angelegenheiten eingeräumt worden war.111 Zur verfassungsrechtlichen Stellung des deutschen Staatengebildes sind unterschiedliche Auffassungen zum tragen gekommen. Der amerikanische Diplomat Henry Wheaton spricht in seiner 1853 erschienenen Geschichte des Völkerrechts von einem „Deutschen Reich“, das sich nach 1648 aus dreihundertfünfundfünfzig souveränen Staaten zusammengesetzt habe.112 In einer Veröffentlichung zur Völkerrechtsfrage des Heiligen Römischen Reiches sieht Albrecht Randelshofer darin einen völkerrechtlichen Staatenbund.113 Der Westfälische Frieden ist der erste Friedensschluss von europäischen Zuschnitt,

 

106 Schröder, Meinhard (Hrsg) : 350 Jahre Westfälischer Friede

Verfassungsgeschichte, Staatskirchenrecht, Völkerrechtsgeschichte, Berlin 1999 S. 11 von Prof. Dr. P.Krause

107 ebd. S. 9

108 ebd. S. 9

109 ebd. S. 10

110 Schröder, Meinhard (Hrsg) 350 Jahre Westfälischer Friede S. 9 zitiert von Prof. Dr. P. Krause

111 ebd. Zitiert auf S. 100 von Prof. Dr. Karl-Heinz Ziegler

112 ebd. Zitiert auf S. 107

113 ebd. Zitiert auf S. 107

 

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an dem auch unbeteiligte Staaten mitgewirkt haben.113 Wichtige Mächte wie Spanien und Großbritannien waren am Friedensschluss allerdings nicht beteiligt.114 Der Westfälische Friede hat in der Geschichte der europäischen Völkergemeinschaft fortgewirkt und eine europäische Dimension erlangt.115

Im 17. Jahrhundert ereignete sich in der englischen Geschichte Bahnbrechendes, das sich in der Geschichte über Großbritannien hinaus als wegweisend erwies.117 Im Zentrum eines historischen Entwicklungsprozesses, der hinführte zum Sieg des Parlamentarismus über die absolute Monarchie,118 stand Oliver Cromwell (1599-1658), ein Landadeliger und Puritaner, wurde aus religiöser Überzeugung zum Führer des Parlamentsheeres gegen den absolutistischen Machtanspruch König Karl I. (1625-1649). Cromwells militärischer Sieg endete mit der Hinrichtung Karls I. 1649 Cromwell versuchte auf vielfältige Weise eine puritanische Theokratie aufzubauen.119

In der Kirchengeschichte des Protestantismus traten zwei Gegensätze besonders in Erscheinung, begründet in der Theologie der Reformatoren Martin Luther und Johannes Calvins,120 die nicht ohne Auswirkungen auf spätere politische Entwicklungen blieben.

Dieser Gegensatz hat in der Geschichte des angelsächsischen Raumes eine besondere Bedeutung gewonnen. Vermehrt versuchten Menschen, die in Europa um ihres Glaubens oder ihrer politischen Überzeugung Willen verfolgt wurden, in Nordamerika Freiheit und eine neue Heimat zu finden. Die Landung der „Mayflower“ 1620 mit aus England geflohenen Puritanern wurde im Verlauf der nachfolgenden Geschichte vielfach als Identität stiftend angesehen.121

Ein weiteres epochemachendes Ereignis wurde durch den Unabhängigkeitskrieg der 1776 gegründeten Vereinigten Staaten von Nordamerika gegen die britische Krone122 herbeigeführt, der nach einem siebenjährigen Ringen mit dem Sieg der Vereinigten Staaten endete, der zu einem demokratisch parlamentarischen Staatsaufbau führte.122

 

114  ebd. Von Prof. Dr. Meinhard Schröder S. 122

115  ebd. Von Meinhard Schröder S. 124

11 6 ebd. Von Meinhard Schröder S. 126

117 Picus, Steven C. A. 1688 the first modern Revolution, New Haven 2009

    

118 Oncken, Herrmann: Cromwell  Vier Essays über die Führung einer Nation, Berlin 1935

119 Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd IV. Vom Konfessionalismus zu Moderne, hrsg. von Martin  Greschat, Neukirchen – Vluyn 1997 S. 10

120 Pfannkuche, August: Genf oder Wittenberg? Die weltanschaulichen Grundlagen des gegenwärtigen Völkerringens, Langensalza 1927

 

 

121 Maurois, André: Geschichte Amerikas. Zürich 1947 S. 44ff

 

122 Lerg, Charlotte A.: Die Amerikanische Revolution. Tübingen 2010

 

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Der nächste große tiefe Einschnitt, der das europäische Geschichts – und Gesellschaftsbild umgestaltete, war die Französische Revolution, die einen Anstoß gab zur Entwicklung eines demokratischen Verfassungsstaates und zur Überwindung eines Aufbaus der Gesellschaft, die noch im Mittelalter verhaftet war. Feudalismus und Adelsherrschaft hatten sich in die Neuzeit hinüber gerettet. Der Feudalismusbegriff hat unterschiedliche Deutungen erfahren.

Eine ausgeprägt juristische Definition erfährt der Begriff von Mediävisten besonders der westlichen Welt als besondere Form des herrschenden Adels, die auf der einen Seite eine Investitur in ein Lehen durch den Lehnsherrn, für das vom Lehensmann oder Vasallen Treue und Übernahme von Pflichten erwartet werden. Eine andere Deutung wird von Marxisten und Sozialisten vorgenommen. Für sie steht Feudalismus für Ausbeutung und Unterdrückung, was sich auch mit der Sicht, während der Französischen Revolution deckt, die als ein Wesensmerkmal die Abschaffung der „féodalité“ beinhaltet.123 Die Französische Revolution war umfassendste Umwälzung einer Staats – und Gesellschaftsordnung seit der Zeit der Reformation, aber die christlichen Kirchen standen außerhalb dieser einschneidenden Veränderung, sie hatten ihre Glaubwürdigkeit verloren durch den Missbrauch vom Gottesgnadentum der absolutistischen Herrscher und den damit begründeten Herrschaftsformen.124 Einen Standpunkt und eine Überzeugung, die ein Pfarrer Meslier während seiner Dienstzeit als katholischer Pfarrer gewonnen hatte, und sie in einem Testament der Nachwelt überlassen hatte. Voltaire sorgte 1762 für die Verbreitung unter dem Titel: „Das Testament des Pfarrers Meslier“. Im „Volksstaat-Erzähler“, der Beilage zum „Volksstaat“ wird in der Ausgabe Nr. 2 vom 14. Dezember 1873 darauf Bezug genommen. Pfarrer Meslier wird darin zitiert, eine Religion, die Tyrannei und Absolutismus duldet und begünstigt, könne nicht die wahre sein.

Die Französische Revolution führte in ihrer Anfangsphase zu Exzessen der Gewalt und mündete in die Napoleonische Herrschaft über weite Teile Europas, die mit der Anstrengung der übrigen europäischen Großmächte in den Befreiungskriegen 1813/14 ihr Ende fand.

Unter dem Titel: „Ursprung und Verlauf der Revolution“ wird die protestantische Bewegung als ihr Vorläufer angesehen.125 Es werden die Namen ihrer führenden Repräsentanten genannt, wie John Wycliffe, Jan Hus, Martin Luther und Johannes Calvin ausführlich dargestellt. In Martin Luther findet der Individualismus seinen Ausdruck,
 

122 Lerg, Charlotte A.: Die Amerikanische Revolution. Tübingen 2010

123 Kuchenbuch, Ludolf/ Michael, Bernd (Hrsg): Feudalismus – Materialien zur Theorie und Geschichte. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1977. S. 10

124 Strauß, David Friedrich: Voltaire sechs Vorträge. Leipzig 1870 S. 256

125 Blanc, Louis: Histoire de la Révolution FranVaise. Paris 1847

dargestellt. In Martin Luther findet der Individualismus seinen Ausdruck, der sich einem mächtigen Kollektiv entgegen wirft. Aber die Zukunft gehörte weder dem Papsttum noch Luther, beide sollten daher in der Französischen Revolution keine Bedeutung erlangen.126

Durch die Reformation war ein neues Prinzip in die Geschichte eingeführt worden: Der Individualismus, dem die industrielle Entwicklung folgte, ohne Wissen ihrer eigentlichen Initiatoren.127 Eine Sicht die im Grundsatz später von Max Weber aufgegriffen wurde.128

 

 

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der sich einem mächtigen Kollektiv entgegen wirft. Aber die Zukunft gehörte weder dem Papsttum noch Luther, beide sollten daher in der Französischen Revolution keine Bedeutung erlangen.126

Durch die Reformation war ein neues Prinzip in die Geschichte eingeführt worden: Der Individualismus, dem die industrielle Entwicklung folgte, ohne Wissen ihrer eigentlichen Initiatoren.127 Eine Sicht die im Grundsatz später von Max Weber aufgegriffen wurde.128

Den Befreiungskriegen gegen Napoleon folgte 1814/15 der Wiener Kongress in der Absicht, das von der Französischen Revolution und der napoleonischen Herrschaft hinterlassene politische Trümmerfeld neu zu ordnen.129

Die Hauptverhandlungen waren für den 1. Oktober 1814 festgesetzt worden. Alle Mächte, die zuvor an den Kriegen teilgenommen hatten oder betroffen waren, erhielten Einladungen zum Kongress, der damit zur zweiten europäischen Großveranstaltung seit dem Westfälischen Frieden heranreifte.130 Wien war zur Hauptstadt Europas geworden.131  Die historische Entwicklung im 19. Jahrhundert hat eine Vorgeschichte, die in drei Phasen gegliedert werden kann: Mit dem Ausgang des Mittelalters beginnt der Zeitabschnitt eines sich herausbildenden Absolutismus’, der sich bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts hinzog, dem der aufgeklärte Absolutismus folgte und mit der Bildung des modernen verfassungsrechtlichen Nationalstaates in der Französischen Revolution abgelöst wurde. Eine Entwicklung, die aus gesamteuropäischer Sicht abgeschlossen wurde durch die Bildung eines deutschen Nationalstaates 1871 durch Otto von Bismarck. Das Nationalitätenprinzip, gegründet auf eine Volkssouveränität, trat an die Stelle des dynastischen Prinzips. Die Hoffnungen der Völker, die damit verbunden waren, wurden gedämpft durch den Massenvernichtungskrieg des Ersten Weltkrieges von 1914 bis 1918, der nicht mehr als ein dynastischer Krieg angesehen werden konnte.132  Die Volkssouveränität gründet auf einen Verfassungsstaat, der die individuellen Freiheiten festlegt, die Mitwirkung breiter gleichberechtigter Volksschichten und Individuen vorsieht, und den liberalen Staatsgedanken zur Grundlage hat. Diese Staatsbildung stand im Gegensatz zur vorgehenden monarchischen Staatsgestaltung. Beide Staatsformen gingen in der konstitutionellen oder parlamentarischen Monarchie Verbindungen ein.133 Solche Verbindungen stießen bei Anhängern der reinen Republik als Staatsform auf konsequente Ablehnung, was auf dem europäischen Kontinent im 19. Jahrhundert zu einem ständigen Auf
 

126 ebd. S. 11

127 ebd. S. 58

128 Weber, Max: Die protestantische Ethik. Winckelmann, Johannes (Hrsg.) Schleswig 1969

129 Dytoff, Hans – Dieter: Der Wiener Kongress 1814/15. Die Neuordnung Europas. München 1966. S. 7

130 ebd. S. 18

131 ebd. S. 19

132 Hünerwadel, Walter: Allgemeine Geschichte vom Wiener Kongress bis zum Ausbruch des Weltkrieges. Erster Band Vom Wiener Kongress bis zum Frieden von Frankfurt 1814-1871. Aarau und Leipzig 1933 S. 3 f

133 ebd. S. 4

 

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und Ab von Revolutionen und Gegenrevolutionen führte in einem Maße, wie sie der britischen Geschichte nach der „Glorious Revolution“ von 1688 erspart blieben.134 

Der Wiener Kongress brachte zwei herausragende Ergebnisse für die Neuordnung Deutschlands und Europas: Die Gründung des Deutschen Bundes, niedergelegt in der Bundesakte vom 8. Juni 1815, 135 darin heißt es: Art. 1. Die souveränen Fürsten und freien Städte Deutschlands mit Einschluß Ihrer Majestäten des Kaisers von Österreich und der Könige von Preußen, von Dänemark und der Niederlande, und zwar der Kaiser von Österreich und der König von Preußen beide für ihre gesamten vormals zum Deutschen Reich gehörigen Besitzungen, der König von Dänemark für Holstein, der König der Niederlande für das Großherzogtum Luxemburg, vereinigen sich zu einem beständigen Bunde, welcher der Deutsche Bund heißen soll.

Art. 2. Der Zweck desselben ist: Erhaltung der äußern und innern Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit der einzelnen deutschen Staaten.

Die Angelegenheiten des Bundes sollten durch eine Bundesversammlung mit Sitz in Frankfurt a. M. geregelt werden.

Der von den Beschlüssen des Wiener Kongresses enttäuschte preußische Reformer Freiherr von Stein äußerte sich dazu in einer Denkschrift vom 24. Juni 1815:

Unsere neueren Gesetzgeber haben an die Stelle des alten Deutschen Reiches mit einem Haupte, gesetzgebender Versammlung, Gerichtshöfen, einer inneren Einrichtung, die ein Ganzes bildete, einen Deutschen Bund gesetzt, ohne Haupt, ohne Gerichtshöfe, schwach verbunden für die gemeine Verteidigung. (...) Der Deutsche wird also sein Blut vergießen für seinem Lande fremde Streitigkeiten, wenn sein Fürst sich mit Frankreich oder England gegen eine andere Macht verbündet – er wird sogar verpflichtet sein, seinen Landsmann zu bekämpfen, wenn dessen Fürst sich mit dem Gegner verbündet hat.136

Eine so weitgehende Zersplitterung, wie sie das Heilige Römische Reich durch den Westfälischen Frieden hinnehmen musste, wurde mit der Gründung des Deutschen Bundes vermieden. Es war ein Staatenbund der Fürsten und Freien Reichstädte, der sich aus vierunddreißig souveränen Bundesstaaten und vier ebenso souveränen Freien Reichstädten zusammensetzte. Die Vorarbeit war schon 1803 geleistet worden unter dem Druck Frankreichs und Russlands im Reichsdeputationshauptschluss, mit dem eine Mediatisierung ihren Anfang nahm, um deutsche Fürsten für die Verluste linksrheinischen Gebietes zu
 

134 ebd. S. 5

135 Teubners Quellensammlung für den Geschichtsunterricht, herausgeben von P. Rühlmann und E. Wilmanns

Vom Wiener Kongreß bis zur Märzrevolution 1815-1849 Leipzig 1930 S. 4

136  Teubners Quellensammlung S. 5

 

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entschädigen, das von Napoleon I. annektiert worden war. Dadurch wurden die bis dahin bestehenden Grundlagen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zerstört.137 Seine endgültige Auflösung erfolgt, nachdem 1806 sechzehn deutsche Fürsten aus dem Reichsverband ausschieden und in Paris unter Führung Napoleons den Rheinbund gründeten. Kaiser Franz II. legte daraufhin am 6. August 1806 die römisch – deutsche Kaiserwürde nieder und nahm als Franz I. den Titel eines Kaisers von Österreich an. Der Tag markiert das Ende des Ersten Deutschen Kaiserreiches.

Zwischen der Neuordnung Deutschlands und der Neuordnung Europas bestand ein enger Zusammenhang, das eine ließ sich ohne das andere nicht verwirklichen. Was für die Neuordnung Deutschlands der Deutsche Bund, das war für die Neuordnung Europas insgesamt die „Heilige Allianz“. Entwurf und Initiative zu dieser Allianz gingen vom russischen Zaren Alexander I aus. Nach der endgültigen Fassung und Umgestaltung des Textes durch Clemens Fürst Metternich wurde dieser Bundesvertrag am 26. September 1815 vom russischen Zaren Alexander I., dem österreichischen Kaiser Franz I. und dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. unterzeichnet. Mit Ausnahme Englands, des Vatikans und der Türkei traten alle europäischen Mächte dem Vertrag bei, der als betont 139christliches Gegenstück zu Revolution und Volkssouveränität darstellen sollte. Der Bundesvertrag begann mit den Worten: Im Namen der Allerheiligsten und Unteilbaren Dreieinigkeit. (...) Und weiter in: Art. 1. Entsprechend den Worten der Heiligen Schrift, welche alle Menschen heißt, sich als Brüder zu betrachten, werden die drei Monarchen vereinigt bleiben durch die Bande einer wahren Brüderlichkeit, indem sie sich als Landsleute ansehen und sich bei jeder Gelegenheit und an jedem Orte Hilfe und Beistand leisten; indem sie sich ihren Untertanen und Heeren gegenüber als Familienväter betrachten, werden sie sei im gleichen Geiste der Brüderlichkeit lenken, von dem sie erfüllt sind, um Religion, Frieden und Gerechtigkeit zu schützen.138 Im Angesicht dieses Zitates wäre es gewagt, die Heilige Allianz als einen Völkerbund anzusehen, denn den Völkern wurde kein Mitspracherecht zuerkannt. Nach dem Wiener Kongress folgte die Zeit der Restauration, in dem Bestreben die Verhältnisse, wie sie vor 1789, dem Ausbruch der Französischen Revolution, bestanden hatte, wieder herzustellen. Geistiges Haupt und treibende Kraft waren der österreichische Staatskanzler Metternich. Einer seiner Regierungsgrundsätze lassen sich in den Sätzen wieder finden: „Mein Temperament ist ein historisches, jeder Art von Romantik widerstrebendes. Meine Handlungsweise ist eine prosaische und nicht eine poetische. (...)
 

137 Ploetz Lexikon der deutschen Geschichte, bearbeitet von Beate Braitlind, Freiburg im Breisgau 1999 S. 404

 

138 Teubners Quellensammung  Vom Wiener Kongress bis zur Märzrevolution 1815- 1848 S. 1

 

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Das Wort Freiheit hat für mich nicht den Wert eines Ausgangs -, sondern eines tatsächlichen Ankunftspunktes. Den Ausgangspunkt bezeichnet das Wort Ordnung. Nur auf dem Begriff von Ordnung kann jener der Freiheit ruhen. Ohne die Grundlage der Ordnung ist der Ruf nach Freiheit nichts weiter als ein Streben irgendeiner Partei nach einem ihr vorschwebenden Zweck“139.

Als Zeitraum mit der Bezeichnung Restauration gelten die Jahre von 1815 bis 1830. Die Französische Revolution hatte einen Entwicklungsprozess angeschoben, innenpolitisch und außenpolitisch, der nicht in seiner Gänze rückgängig gemacht werden konnte. Die rechtlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen hatten eine Wandlung erfahren, die auch mit staatlichen Repressalien nur mühsam eingedämmt werden konnten. Den gesellschaftlichen Spannungen konnten sich auch die Gegner der Revolution nicht verschließen, sie waren, trotz der Versuche das alte vorrevolutionäre Gesellschaftsbild zu erhalten, gezwungen sich dem Neuen, wenn auch widerwillig, zu öffnen.140 Bewegung auf wirtschaftlichem Gebiet kam, auf den genannten Zeitraum betrachtet, regte sich schon früh, angeregt durch eine Denkschrift von Friedrich List vom 20. April 1819. Ein Zitat daraus: (...) „Um von Hamburg nach Österreich, von Berlin in die Schweiz zu handeln, hat man zehn Staaten zu durchschneiden, zehn Zoll – und Mautordnungen zu studieren, zehnmal Durchgangszoll zu bezahlen.“141 (...) Nach mehreren Zwischenstationen schlossen sich die Nord – und Süddeutschen Staaten 1834 unter Ausschluss Österreichs zum Deutschen Zollverein zusammen. Die politische Entwicklung war nicht stehen geblieben, und das restaurative System erhielt einen Stoß durch die Julirevolution 1830 in Frankreich mit Auswirkungen auch über die Grenzen Frankreichs hinaus. Das Datum 1830 markiert einen Zeitabschnitt bis zum nächsten tieferen Einschnitt, der für Deutschland 1848 zu dem Versuch führte, die seit dem Wiener Kongress gehegte Sehnsucht Deutschlands, in der Frankfurter Nationalversammlung die Einheit in Freiheit auf der Grundlage eines demokratischen Verfassungsstaates herbeizuführen. Anstoß zu dieser Entwicklung war die Februarrevolution in Frankreich, die im März 1848 zu Umwälzungen auch im Gebiet des Deutschen Bundes führte. Darum hat der Zeitraum von 1830 bis 1848 in der Geschichte die Bezeichnung Vormärz gefunden.

Der Historiker Karl Jürgens, Zeitzeuge und Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, trat der Auffassung entgegen, die deutsche Märzbewegung sei eine Frucht der Pariser Februarrevolution gewesen. Sie habe, so führt er aus, den Gang der Dinge beschleunigt, aber noch mehr von dem verdorben, was in Deutschland längst vorbereitet und zur Reife gediehen
 

139 ebd. S. 3

140 Hünerwadel, Walther: Allgemeine Geschichte vom Wiener Kongress bis zum Ausbruch des Weltkrieges. Erster Band, Aarau und Leipzig 1933 S. 43

141 Teubners Quellensammlung: Vom Wiener Kongress bis zur Märzrevolution 1815-1848 S. 11

 

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war.142 Von langer Hand und von verschiedenen Seiten hatte es Vorbereitungen gegeben, Deutschland eine bessere staatliche Ordnung zu geben, ehe noch die Pariser Revolution gedacht worden war.143 Friedrich Wilhelm IV. hatte sich als preußischer König unmittelbar nach seinem Regierungsantritt 1840 an den österreichischen Staatskanzler Metternich gewandt, der bis dahin als das geistige Haupt und die treibende Kraft der Restauration gegolten hatte, und ihn auf die Notwendigkeit hingewiesen, den bisherigen Weg in Angelegenheiten des Deutschen Bundes zu verlassen. Als 1840 in Zusammenhang mit der Orientkrise eine Kriegsgefahr drohte, gerieten die Bestrebungen zu einer Bundesreform in den Hintergrund. Dennoch hatte der preußische König gleichzeitig seinen Abgeordneten General von Radowitz, seinen späteren Außenminister, nach Wien und andere deutsche Höfe gesandt, um die Pläne zur Notwendigkeit einer Reform des Deutschen Bundes anzumahnen.144 Metternich war den preußischen Bemühungen gegenüber nicht abgeneigt.145 Der Historiker Karl Jürgens findet Erwähnung in „Varnhagens146 Tagebücher“, veröffentlicht im „Volksstaat-Erzähler“ in der Ausgabe Nr. 54 vom 20. Dezember 1874. Ein Zitat aus der Tagebucheintragung vom 25. Februar 1857, nach dem Varnhagen sich anerkennend über die Arbeit von Karl Jürgens geäußert hatte: (...) Die Frankfurter Nationalversammlung scheiterte an demselben Fehler, woran die französische früher scheiterte, an ihrer eigenen Gutmütigkeit und Zurückhaltung, an ihrer freiwilligen Entwaffnung. Sie hatten keine anderen Waffen, als den Schrecken, ihm allein verdankten sie ihr Dasein; sie verzichteten auf ihn, sie beruhigten die Regierungen, sie gaben diesen sogar Truppenverstärkungen, sie suchten ihre Ehre in „Ruhe und Ordnung“. Da war es aus mit der Macht der Nationalversammlung, die beruhigten Regierungen gehorchten nicht mehr, Der Reichverweser machte Ränke, Gagern und seine Genossen machten Ränke, suchten in geheimen Verhandlungen zu erlangen, was ihr öffentliches Verhalten versäumt hatte, sie mussten nun mehr und mehr zugestehen und erlangten nichts als ihr eigenes Verderben (…)

Zwischen Mai 1848 und Mai 1849 tagte in der Frankfurter Paulskirche das erste gesamtdeutsche Parlament, das aus freien Wahlen hervorgegangen war.

Die Frankfurter Nationalversammlung hat die Aufmerksamkeit nicht nur der Geschichtsschreibung, sondern auch in der Politik in dem Zeitraum danach gefunden.
 

142 Jürgens, Karl: Zur Geschichte des Deutschen Verfassungswerkes 1848-49 In zwei Abteilungen.

     Erste Abteilung

     Vom Frühjahr bis Dezember 1848, Braunschweig 1850 S. 1

143 ebd. S. 1

144 ebd. S. 1

145 ebd. S. 2

146 Karl August Varnhagen von Ense heiratete Rahel Varnhagen geb. Levin, eine der jüdischen Frauen, die in ihren Salons  um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Geistesgrößen der Zeit  versammelten.

 

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Die Politik Bismarcks oder der Ursprung der deutschen Parteienlandschaft ist ohne den Rückgriff auf die Frankfurter Nationalversammlung nicht darstellbar.147

Am 27. März 1849 wurde das allgemeine Wahlrecht mit großer Mehrheit angenommen, nachdem zuvor die Entscheidung gefallen war, das Erbkaisertum einzuführen. Das Verfassungswerk der Frankfurter Nationalversammlung kam nicht zur praktischen Ausführung. Erst eine halbe Generation später übernahm Bismarck dieses Wahlrecht für den Norddeutschen Bund und nach 1871 für das Deutsche Reich.148

Die große Debatte vor der Verabschiedung der Verfassung hatte vom 17. bis 21 März 1849 gedauert. Die Tage waren der Höhepunkt eines parlamentarischen Ringens, das sich über Monate hingezogen hatte. Die preußische Regierung hatte bis zum Schluss die Forderung aufrechterhalten, die Fürsten in die Vereinbarungen mit einzubeziehen. Der Verfassungsausschuss hatte dieses Ansinnen verworfen. Österreich hatte ohnehin einen unitarischen Bundesstaat mit einer einheitlichen Volksvertretung abgelehnt. Der Ausschuss fasste daraufhin den Beschluss, Österreich auszuschließen und dem preußischen König die Kaiserwürde anzutragen.149 Zuvor war an die Abgeordneten der Rechten der Appell ergangen, dem allgemeinen Wahlrecht die Zustimmung nicht zu versagen. Die linke Seite des Hauses war aufgefordert worden, das Erbkaisertum anzuerkennen, da die Mehrheit der Deutschen Anhänger der Monarchie seien.150 Der preußische Vertreter Radowitz zeigte die Bereitschaft, das geschaffene Verfassungswerk hinzunehmen. Er warnte aber vor innen – und außenpolitischen Gefahren. Das Recht der Bundesakte von 1815 bliebe weiterhin bestehen, und die Signatarmächte dieser Bundesakte konnten mit einem Einspruch ein Hindernis aufrichten, bis hin zu einer Kriegsgefahr. Ebenso warnte er vor der Möglichkeit eines Bürgerkrieges.151 Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. hatte die Kaiserwürde zurückgewiesen, die ihm von der Frankfurter Nationalversammlung angetragen worden war. Damit fand der Versuch, Deutschlands Einheit in Freiheit herbeizuführen, ein baldiges Ende. Der Verfassungsentwurf blieb ein politisches Programm, dennoch bildete er einen Orientierungspunkt für spätere Verfassungen.152 Der Berater des preußischen Königs und preußischer Außenminister, Josef Maria Radowitz, wollte die nationale Reform auf dem Wege der Vereinbarungen mit den deutschen Fürsten erreichen.
 

147 Eyck, Frank: Deutschlands große Hoffnung.

     Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. Heilbronn 1980 S. 59

148 Bohnert, Dieter: Die Behandlung der sozialen Frage in den Debatten der Frankfurter Nationalversammlung.

                                Heilbronn 1980 S. 59

149 Ribhegge, Wilhelm: Das Parlament als Nation.

                                       Die Frankfurter Nationalversammlung. Düsseldorf 1998 S. 121

150 ebd. S. 122

151 Ribhegge, Wilhelm: S. 124 f

152 Angelow, Jürgen: Der Deutsche Bund. Darmstadt 2003 S. 89

 

                                                                                                     49

Den Schwung der Revolution wollte er nutzen und den Bruch mit Österreich vermeiden.153 Radowitz schlug die Gründung einer „engeren“ und einer „weiteren Union“ vor. Die weitere Union sollte Österreich und die nichtdeutschen Gebiete der Habsburger Monarchie umfassen. Ein Mitteleuropäischer Zollverein sollte die Handelsschranken beseitigen und zu einer gemeinsamen Handelspolitik führen.154 Die engere Union sollte den Namen „Deutsches Reich“ erhalten. Die deutschen und nichtdeutschen Länder der Habsburger Monarchie sollten nicht dazu gehören. Wie schon in den Beratungen der Frankfurter Nationalversammlung türmte sich ein Hindernis auf. Erneut zeigte sich das schwierige Unterfangen den Vielvölkerstaat der Habsburger Monarchie, in welcher Gestalt auch immer, einzugliedern. Den Plan einer Zollunion von der Nordsee bis zur Adria verfocht auch der österreichische Finanzminister Karl Anton von Bruck.155 Der weitere Bund war von Radowitz als Staatenbund gedacht, der engere Bund als Bundesstaat unter preußischer Dominanz. Österreich wandte sich gegen dieses Vorhaben und auch die größeren Mittelstaaten wie Bayern, Württemberg, Hannover, und Sachsen lehnten eine Mitgliedschaft ab. Die verbliebenen Staaten hielten gemeinsam mit Preußen am Unionsplan fest und wählten nach dem preußischen Dreiklassenwahlrecht ein Unionsparlament, das im Januar 1851 zusammentrat und im April eine Verfassung verabschiedete, die als konservativer Ableger der Frankfurter Nationalversammlung angesehen werden konnte.156 In dieser Phase zeigte Österreich die Bereitschaft das Projekt nötigenfalls durch Krieg zu Fall zu bringen. Es kam zu Mobilmachungen und Truppenaufmärschen. Russland stützte die österreichische Position und es konnte daher zusätzlich Druck auf Preußen ausgeübt werden. In der Punktation von Olmütz wurde Preußen zum Nachgeben und zur Aufgabe des Unionsprojektes gezwungen. Nahezu gleichzeitig hatte Österreich seine Vorstellungen zur Reform des Deutschen Bundes eingebracht, die auf den österreichischen Ministerpräsidenten Schwarzenberg zurückgingen. Die Habsburger Monarchie sollte darin mit ihrem Gesamtbestand in den Deutschen Bund überführt werden. Es war an ein Mitteleuropa umspannendes Reich mit siebzig Millionen Einwohnern gedacht.157

Die Bemühungen zur Reform des Deutschen Bundes stießen jeweils auf Ablehnung einer der beiden Großmächte.

Preußen wollte die Hindernisse überwinden, in dem es die als Alternat bezeichnete Geschäftsführung des Bundes in Vorschlag brachte.
 

153 ebd. S. 89

154 Holborn, Hajo: Deutsche Geschichte der Neuzeit.

      Reform und Restauration, Liberalismus und Nationalismus 1790 – 1871 S. 320

155 Angelow: Der Deutsche Bund. S. 93

156 ebd. S. 90

157 Angelow S. 93 ff

 

                                                                                                        50

Ein Ansinnen, das auf keine österreichische Gegenliebe stieß.158 Die übrigen europäischen Großmächte begnügten sich nicht mit einer Zuschauerrolle, sondern handelten entsprechend ihrer Interessenslage. Ende Februar 1851 ließ Frankreich in einer schroff formulierten Note, die in Wien überreicht wurde, seine Ablehnung zu den Plänen Schwarzenbergs durchblicken. In die gleiche Richtung zielte die wenig später eingereichte Note Großbritanniens. Die Ablehnung wurde nach allem auch von Russland geteilt.159 Der Radowitz – Plan wurde in seinen Grundzügen durch die Politik Otto von Bismarcks verwirklicht,160 allerdings unter andren inneren und äußeren Voraussetzungen.

Als preußischer Außenminister hatte Radowitz bereits im Oktober 1850 gegenüber dem österreichischen Gesandten in Berlin Preußens Entschlossenheit zum Kriege erkennen lassen.161 Bismarck bot in einer Rede vor der preußischen Abgeordnetenkammer am 3. Dezember 1850 eine andere Einschätzung, aus der bereits Grundzüge späterer Politik Bismarcks hervortreten: „Zeigen sie mir, meine Herren, ein des Krieges würdiges Ziel, und ich will Ihnen beistimmen. Es ist leicht für einen Staatsmann, sei es in dem Kabinette oder in der Kammer, mit dem populärem Winde in die Kriegstrompete zu stoßen, und es dem Musketier, der auf dem Schnee verblutet, zu überlassen, ob sein System Sieg und Ruhm erwirbt oder nicht. Es ist nichts leichter als das, aber wehe dem Staatsmann, der sich in dieser Zeit nicht nach einem Grund zum Kriege umsieht, der auch nach dem Krieg noch stichhaltig ist. Ich bin der Überzeugung, Sie sehen die Fragen die uns jetzt beschäftigen anders an, wenn Sie rückwärts durch eine Perspektive von Schlachtfeldern und Brandstätten, Elend und Jammer, von hunderttausend Leichen und hundert Millionen Schulden blicken werden. Werden sie dann den Mut haben, zu dem Bauern auf der Brandstätte seines Hofes, zu dem zusammengeschossenen Krüppel, zu dem kinderlosen Vater hintreten und sagen: ,Ihr habt viel gelitten, aber freut euch die Unionsverfassung ist gerettet‘…Haben sie den Mut, das den Leuten dann zu sagen, dann beginnen Sie diesen Krieg…“162

Die Zeit von 1850 – 1859 ist in der Geschichtswissenschaft vielfach als Phase der Reaktion“ umschrieben worden. Soziale Errungenschaften der Revolution wie Bauernbefreiung und Abschaffung gutsherrlicher Privilegien blieben unangetastet. Die Zeit der Reaktion war nur von kurzer Dauer.163 Im Sommer 1851 trat der Bundestag wieder vollständig in Frankfurt zusammen. Die ersten Maßnahmen galten der Rechtsrevision,
 

158 ebd. S. 97

159 ebd. S. 100

160 Holborn, Hajo: Deutsche Geschichte der Neuzeit S. 321

161 Angelow S. 91

162 Aus „Bismarck Reden“ bearbeitet von Eugen Kalkschmidt. Berlin 1934 S. 31 f

163 Angelow: Der Deutsche Bund. S. 102

 

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gestützt auf die Wiener Bundesakte von 1815. Unter dem Druck der revolutionären Entwicklung hatte sich der Bundestag am 12. Juli 1848 aufgelöst. Nach Olmütz hatten Österreich und Preußen wieder zu einer gemeinsamen Linie gefunden. Wegweisend diente dazu ein Beschluss des Bundestages vom 23. August 1851, der dadurch zu einer obersten Kontrollbehörde für alle einzelstaatlichen Verfassungszustände wurde.164

Der Weg zur deutschen Einheit 1871 führte über drei Kriege: 1864 mit Österreich und Preußen gegen Dänemark, 1866 Preußen gegen Österreich, das mit dem „dritten Deutschland“, den deutschen Mittelmächten an seiner Seite, in den Krieg zog und zuletzt 1870/71 gegen Frankreich. Verbunden mit diesen Kriegen war das Aufwerfen einer Schuldfrage, die nach vollendeter Einheit von sozialdemokratischer Seite, auch im „Volksstaat“, zunehmend in den Vordergrund gerückt wurde. Aber nicht nur dort. Die These vom „deutschen Sonderweg“165 ist in Politik und Historiographie auch und besonders in Zusammenhang mit historischen Ereignissen im 20. Jahrhundert Gegenstand ausführlicher Betrachtungen gewesen. Genährt wurde diese These durch eine Aussage Bismarcks, die zwar nicht öffentlich, aber im Budgetausschuss des preußischen Landtages gefallen war: „ Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht – Preußen muß seine Macht zusammenhalten, auf den günstigsten Augenblick, der schon einige Male verpaßt ist; warten. Preußens Grenzen sind zu einem gesunden Staatsleben nicht günstig. Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der Fehler 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut.“166 Die drei genannten Kriege, die während der Zeit, als Bismarck preußischer Ministerpräsident war, geführt wurden, sind nicht vergleichbar mit den Kriegen, die davor und danach, flächendeckend über Europa ausgebreitet worden sind.

Was in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 seinen Anfang nahm, hat sich kontinuierlich in mehr als einhundertsechzig Jahren fortgesetzt.
 

164 Siemann, Wolfram: Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland von 1849 – 1871. Frankfurt a. M. 1990 S.27

165 Deutscher Sonderweg – Mythos oder Realität. München , Wien 1982. S. 20, S. 21, S. 27 und S. 30.

Am 26. November 1981 veranstaltet das „Institut für Zeitgeschichte“ ein öffentliches Kolloquium zu dem Thema: Deutscher Sonderweg – Mythos oder Realität? In Redebeiträgen wurden unterschiedliche Positionen bezogen, und es entwickelte sich eine Kontroverse zwischen dem Historiker Thomas Nipperdey und dem Politologen Kurt Sontheimer.

Nipperdey hatte ausgeführt, die Diskussion über die Sonderwegthese sei „unabschließbar“ (S. 20), zugleich aber betont, es sei eine „Kurskorrektur“ notwendig. (S. 21) Kurt Sontheimer hob dagegen hervor, sie Sonderwegthese sei Gemeingut „der großen Mehrzahl“ inländischer und ausländischer Historiker zwischen 1871 und 1945 gewesen (S.27) und drückte seine Verwunderung aus, wie es darüber unter Gelehrten noch Streit geben könne. Die These, so führte er aus, erfülle die notwendige Funktion für das Selbstverständnis für die Bundesrepublik Deutschland. (S. 30)

 

166 Zitiert bei Holborn, Hajo: Deutsche Geschichte der Neuzeit. Reform und Revolution, Liberalismus und Nationalismus (1790 – 1871)  Band 2 S. 395 f

 

                                                                                                     52

Das gilt für das Parteienspektrum wie für den verfassungsrechtlichen föderalistischen Staatsaufbau, an dem auch nach Abschaffung der Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg keine wesentlichen Veränderungen vorgenommen worden sind. Diese Kontinuität wurde unterbrochen durch die Zeit der NS – Herrschaft von 1933 bis 1945.

Die Frankfurter Nationalversammlung bestand in ihrer Zusammensetzung aus einem Fünfparteiensystem, das von der liberal – konstitutionellen bis zur äußersten radikal – demokratischen Linken ein weit gespanntes Spektrum umfasste.167 Alle Parteien im Paulskirchenparlament stützten sich auf das liberale Bürgertum, Arbeiter waren in diesem Parlament nicht durch eine Partei repräsentiert.

Die Verfassungen des Kaiserreiches nach 1871, der Weimarer Republik von 1919 bis 1933 und der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 haben alle ihren verfassungsrechtlichen und verfassungsgeschichtlichen Ursprung in der Frankfurter Nationalversammlung. Das föderalistische Prinzip, das sich hier zeigt, reicht aber noch weiter zurück in die deutsche Geschichte.168 Der Verfassungsaufbau und sein Grundprinzip, das hier seinen Anfang nahm, blieben in den jeweiligen Geschichtsepochen erhalten, mit Ausnahme von Kompetenzverschiebungen für die einzelnen Verfassungsorgane. Darum kann auch nicht einfach von einem Scheitern der Frankfurter Nationalversammlung gesprochen werden.169

Die Frankfurter Nationalversammlung hat in ihrem Verlauf eine innen – und außenpolitische Komponente. Es kann leicht zu einem Fehlurteil führen, wenn der geographische und politische Kontext der Zeit unberücksichtigt bleiben, und so einer isolierten Betrachtung der Vorzug gegeben wird. Diplomatisch anerkannt war sie nur von den Vereinigten Staaten von Amerika, von den europäischen Mächten, und das gilt besonders für die Signatarmächte des Deutschen Bundes, wurde dem Ereignis und sein Ergebnis keine Beachtung geschenkt. Für den Erfolg des Vorhabens fehlten also entscheidende Voraussetzungen.170

Die Verfassungen des Norddeutschen Bundes und  nach 1871 des deutschen Kaiserreiches und der Verfassung der Frankfurter Nationalversammlung lagen, wie sie ausformuliert vorgelegt wurden, dicht beieinander, eine bedeutsame Feststellung, weil oft der Eindruck erweckt worden ist, als habe hier ein unüberbrückbarer Gegensatz bestanden.171

Der sozialdemokratische Politiker Carlo Schmidt, der nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich an der Abfassung des Grundgesetzes mitgewirkt hat,
 

167 Eyck, Frank: Deutschlands große Hoffnung. S. 237

168 Weber – Fas, Rudolf: Deutschlands Verfassung vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart. Tübingen/Basel

                                         2001 S. 273

169 ebd. S. 51 f

170 Weber – Fas S. 49

171 ebd. S. 56 f

 

                                                                                                     53

das am 23. Mai 1949 als Verfassung der Bundesrepublik Deutschland in Kraft trat, würdigt das angesprochenen Werk des kanadischen Historikers Frank Eyck mit einem Geleitwort. Er stellt fest, der Autor habe mit seiner Darstellung der Frankfurter Nationalversammlung eine Lücke gefüllt,172 und Gesichtspunkte einbezogen, die bisher nur unzureichend berücksichtigt worden seien. Am Schluss des Geleitwortes heißt es dazu im Hinblick auf den Autor: „Im Übrigen ist er der Meinung, daß die Ausschlagung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. nicht aus Verachtung des Volkswillens erfolgt sei, sondern aus der Erkenntnis heraus geschehen ist, daß die Annahme durch den König von Preußen Deutschland und möglicherweise Europa in einen Krieg gestürzt hätte.173

Carlo Schmidt

Das Jahr 1848 versetzte Europa in revolutionäre Unruhe, und wieder kam der Anstoß dazu aus Frankreich. Am 22. Februar 1848 wurde der Bürgerkönig Louis Philippe entmachtet. Seine Herrschaft war bereits im Zuge der Orientkrise 1840, aus der die Rheinkrise hervorging, in Gefahr geraten. In der Orientkrise hatte Frankreich gegenüber den anderen europäischen Großmächten eine diplomatische Niederlage erlitten. Das entfachte die nationalen Leidenschaften, und es wurden Forderungen laut nach der Rheingrenze als „natürliche“ Grenze Frankreichs, worauf sich auch in Deutschland eine nationale Stimmung ausbreitete.174

In Deutschland kam neben der verfassungsrechtlichen Umgestaltung, die Forderung nach nationaler Einheit hinzu. Nach dem Sturze Louis Philippes, wurde Louis Bonaparte, ein Neffe Napoleon I., im Dezember 1851 zum Präsidenten der Republik gewählt und sicherte sich darauf die Präsidentschaft auf zehn Jahre. Ein Jahr später wurde durch Plebiszit das Erbkaisertum wieder hergestellt.

Anders verlief die Entwicklung in Deutschland. Die Revolution, die im März 1848 die Staaten des Deutschen Bundes erfasste, war der Beginn einer neuen Ära und die Grundlage zur Schaffung einer neuen Staatsordnung, während für Frankreich die Februarrevolution als romantische Episode angesehen wurde.175 In seiner Schrift „Zum Jubeljahr der Märzrevolution“, die 1898 veröffentlicht wurde, spricht Liebknecht von der Grundlage einer neuen Staatsordnung, die geschaffen worden war durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, das im März 1848 erkämpft worden sei und damit auch die Anerkennung des Prinzips der Volkssouveränität, der sich Bismarck nicht habe entziehen können und gezwungen war, dieses Wahlrecht für den Reichstag des Norddeutschen Bundes zu übernehmen.

 

172 Eyck, Frank: Deutschlands große Hoffnung. S. 9 f

173 ebd. S. 11

174 Angelow: Der Deutsche Bund. S. 68 f

175 Liebknecht, Wilhelm: Zum Jubeljahr der Märzrevolution. Berlin 1898 S. 7

 

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Die latente Unzufriedenheit, die sich nach dem nochmaligen Sieg der Restauration 1834 in Deutschland aufgestaut hatte, gewann bahnbrechend die Oberhand. Anfang März 1848 setzte sich die liberale Bewegung, die in Süddeutschland ihren Ausgang genommen hatte, in fast allen deutschen Staaten durch und verdrängte die alten Eliten von den Schalthebeln der Macht.176 Zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen kam es in Wien und Berlin. Am 13. März 1848 trat Metternich zurück und ging nach England. In Berlin kam es am 18. März zu Straßenkämpfen. Liberale Politiker übernahmen in den meisten deutschen Staaten die Macht, die Monarchie blieb jedoch erhalten.

An der Revolution von 1848 war die vermehrte Beteiligung aus den Arbeitervereinen erkennbar, wenngleich die Hauptinitiative immer noch vom Bürgertum getragen wurde, war die Mitwirkung aus den Reihen der Arbeiter nicht zu übersehen. Unter den 254 Opfern der Straßenkämpfe in Berlin befanden sich überwiegend Handwerker und Arbeiter.177 In Paris wurde der Versuch unternommen eine bewaffnete Freischar aus Deutschen zusammenzustellen. Karl Marx und Friedrich Engels, die Ende Januar 1848 das Kommunistische Manifest verfasst und Ende Februar 1848 in London veröffentlicht hatten, wandten sich gegen diesen Plan.178 Es begann in dieser Zeit der Prozess des Umdenkens, den Engels später als die „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ bezeichnete. In der praktischen Politik bedeutete das die Entwicklung der sozialistischen Bewegung von der Sekte zur Partei.179 Der Weg zur Partei stand 1848 an seinem Anfang, der sich in Vereinsgründungen niederschlug, die ein buntes Bild boten. Zwischen 1848 und 1850 entstanden in fast allen Staaten des deutschen Bundes Arbeitervereine, deren Vorläufer sich bis in die 1830er Jahre zurückverfolgen ließen.180

Die Frankfurter Nationalversammlung hatte sich in ihren Beratungen auch der sozialen Frage zugewandt. Den Beginn einer Sozialpolitik markierte in Preußen das preußische Landrecht von 1794. Der aufgeklärte Staat verpflichtete sich darin vor Armut zu schützen. Schon Immanuel Kant hatte auf diese Aufgabe des Staates hingewiesen. Hegel forderte in seinen Vorstellungen eine planende Zukunftsvorsorge, wenn der Selbststeuerungsmechanismus der „bürgerlichen Gesellschaft“ versagen sollte. Hardenberg hatte 1817 ein Rundschreiben an die Oberpräsidenten fabrikreicher Provinzen gerichtet, und darin das „prophetische Bild“ einer drohenden Proletarisierung“ entworfen. In der Folgezeit gewann die liberale Schule die
 

176 Angelow: Der Deutsche Bund. S. 80

177 Kuhn, Axel: Die deutsche Arbeiterbewegung. S. 44

178 Osterroth/Schuster: Chronik der Sozialdemokratie. Von den Anfängen bis 1945. Bonn 2005 S. 14 ff

179 Bernstein, Eduard: Von der Sekte zur Partei. Die deutsche Sozialdemokratie einst und jetzt. Jena 1911 s. 2

180 Grebing, Helga: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Berlin 2007 S. 15

 

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drohenden „Proletarisierung“ entworfen. In der Folgezeit gewann die liberale Schule die Oberhand, die sich Hardenberg Darstellung widersetzte, was dazu führte, dass der Staat sich von den ihm zugedachten Aufgaben zunehmend zurückzog.181 Der Gedanke an ein soziales Verfassungsverständnis wurde in frühsozialistischer Zeit mit der Monarchie in Verbindung gebracht. Der französische Frühsozialist Saint – Simon fordert in seinem Werk: „Du système industriel“ den König auf, eine Allianz zwischen dem Königtum und den Industriellen zu errichten. Saint – Simon wollte vor allem die arbeitenden Klassen einbeziehen. Der König sollte nach seinen Vorstellungen das „feudale und theologische System“, gestützt auf diktatorische Vollmachten, vernichten.182

Solchen Gedankengängen wurde in der Frankfurter Nationalversammlung keinen Raum gegeben, verhandelt wurde in den Debatten die Wahlrechtsfrage als Verfassungsgrundlage. Verknüpft wurde damit neben der konstitutionellen Ausrichtung ein soziales Verfassungsverständnis. Die Mehrheit der Abgeordneten wandte sich dem bürgerlichen Konstitutionalismus zu und wollte lediglich die politische Seite der deutschen Verfassung regeln, und die Sozialverfassung und damit auch die soziale Frage der Selbstregulierung im Wirtschaftsprozess überlassen. Soziale Grundrechte verfassungsrechtlich festzuschreiben gehörte demzufolge nicht zu den Obliegenheiten des Staates.183 Die Abgeordneten hatten mit ihren Debatten zu einer verfassungsrechtlich abgesicherten Sozialpolitik ein Problembewusstsein aufgezeigt und geschaffen, mehr nicht. Die Vorgeschichte sozialpolitischer Vorstellungen lassen die Hinwendung Bismarcks zu sozialpolitischen Konzeptionen als die Fortsetzung bereits bestehender Entwürfe erscheinen.184 Im Vorparlament, das nicht aus Wahlen hervorgegangen war, sondern sich aus einem Gremium von 574 Mitgliedern zusammensetzte, das von den Landständen der Staaten des Deutschen Bundes beschickt wurde, ließen sich Gegensätze ausmachen zwischen den Vertretern des eingeschränkten Wahlrechts und des unbeschränkten Wahlrechts. Der Verfassungsausschuss nahm die Argumente zum Anlass, das Wahlrecht auf den Begriff der Selbstständigkeit zu beschränken, wodurch die Definition des Begriffs erforderlich wurde. Vom Wahlrecht ausgeschlossen waren in dieser Konzeption „Dienstboten“, „Handwerksgesellen“, „Handwerksgehilfen“, „Fabrikarbeiter“ und „Tagelöhner“. Das waren mehr als die Hälfte der Bevölkerung.185 Die Einschränkung auf Besitz und Bildungsgrad galten als Kriterien der

 

181 Bohnert, Dieter: Die Behandlung der sozialen Frage in den Debatten der Frankfurter Nationalversammlung. Heilbronn 1980. S. 59

182 ebd. S. 59 f

183 ebd. S. 64

 

 

184 ebd. S. 65

185 Bohnert, Dieter: S. 79

 

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Selbstständigkeit.186 Zum Vergleich können das Wahlrecht in England und Amerika zu dem Zeitpunkt herangezogen werden. In England galt ein Zensuswahlrecht, das von Einkommen und Besitz abhängig war. In Amerika wurde das Wahlrecht von Staat zu Staat unterschiedlich gehandhabt. Es war abhängig vom Besitzstand und Steuerzahlung.187

In Frankfurt fanden liberale und demokratische Strömungen zueinander und einigten sich auf das allgemeine Wahlrecht. Das Vorparlament erklärte die Verbindlichkeit für die einzelnen Bundesstaaten. Zehn Monate nach dieser Entscheidung; im Februar 1849 wurde das Wahlgesetz in der Frankfurter Nationalversammlung beschossen und trat einen Monat später in Kraft. In bürgerlichen Kreisen hatte sich eine Kehrtwenden vollzogen.188

Erstmalig Anwendung fand dieses Wahlrecht in den Wahlen zum Reichstag des Norddeutschen Bundes.

Der „Volksstaat“ berichtet darüber in seiner Ausgabe Nr. 118 vom 30. November 1873 und zitiert Otto von Bismarck dazu in einer Rede, versehen mit einem Kommentar und Hinweis auf den Mann von „Blut und Eisen“: Wir haben schon öfters angeführt wie Herr von Bismarck seiner Zeit das preußische Dreiklassenwahlsystem verurtheilt hat, und das allgemeine, gleiche und directe Wahlrecht befürwortet habe. Da es unsere Leser jedenfalls schon wegen der letzten Vorgänge im preußischen Landtage interessirt, in welcher Form Bismarck einmal nach dieser Richtung  hin „liberal“ gewesen ist, so bringen wir den betreffenden Passus seiner Rede zum Abdruck. Der „Geniale“ sprach in der Sitzung des „norddeutschen Reichstag“ vom 28. März 1867.

„Das allgemeine Wahlrecht ist uns gewissermaßen als ein Erbtheil der Entwicklung der deutschen Einheitsbestrebungen überkommen; wir haben es in der Reichsverfassung gehabt, wie sie in Frankfurt entworfen wurde, wir haben es im Jahre 1863 den damaligen Bestrebungen Österreichs entgegengesetzt, und ich kann nur sagen: ich kenne kein besseres Wahlgesetz. Was wollen denn die Herren, die das anfechten, und zwar in der Beschleunigung, deren wir bedürfen, an dessen Stelle setzen? Etwa das preußische Dreiklassenwahlsystem? Ja, meine Herren, wer die Wirkung und die Constellationen, die es im Lande schafft, etwas in der Nähe betrachtet hat, muß sagen, ein widersinnigeres, elenderes Wahlgesetz ist nicht in irgend einem Staate ausgedacht worden.“

Soweit was dieser Mann, damals noch Junker von Blut und Eisen, heute Schnaps – und Papierfabrikant von Varzin, über das allgemeine, gleiche und directe Wahlrecht und über das preußische Dreiklassenwahlrecht gesagt hat. (…)

 

 

186 ebd. S. 80

187 ebd. S. 90

188 ebd. S. 75

 

                                                                                                       57

Beide, das 1871 auf nationalstaatlicher Grundlage geschaffene und geeinte Deutschland, und die aus zwei Parteien hervorgegangene Sozialdemokratische Arbeiterpartei gingen getrennte Wege. Der Gegensatz verschärfte sich noch, und ein Brückenschlag schien aussichtslos.189

Mit der deutschen Einheit von 1871 gelangte das monarchisch – dynastische Prinzip in den Vordergrund, aber die Verfassung dieses Staates hatte sich mit dem allgemeinen Wahlrecht einen Reichstag als Parlament geschaffen, das demokratisch legitimiert war, und als demokratisches Element in seiner Bedeutung oft unterschätzt worden ist.

Die Naherwartung, den Staat, in dem sich die Sozialdemokratie wiederfand, mittels einer demokratischen Revolution in einen Volksstaat zu gestalten, hatte sich als ein Ideal erwiesen, dem die politischen Gegebenheiten weder innerhalb noch außerhalb Deutschlands entsprachen. Die Naherwartung, die sich nicht erfüllt hatte, schlug um in eine Fernerwartung, womit das zuvor gesteckte Ziel nicht aufgegeben wurde, es wich nur pragmatischen Zielsetzungen.190

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfasste Bebel seine „Erinnerungen“, in denen er rückblickend einräumt, Marx und Engels und auch er selbst hätten eine preußische Niederlage gegen Österreich erwartet und auf eine Revolution gehofft. Ein unter Österreich geeintes Deutschland, so die Argumentation Bebels, hätte nicht die Kraft gehabt, einer demokratischen Revolution zu widerstehen. Die Entwicklung habe einen anderen Verlauf genommen, und zehn Millionen Deutsche in eine trostlose Lage versetzt.191

Das Zweite Deutsche Kaiserreich war keine Anknüpfung an das Mittelalterliche Kaiserreich, im historischen Rückblick auch mit der Bezeichnung „Erstes Reich“ versehen, war 1806 endgültig erloschen. Es gründete sich auf den universalen Staatsgedanken, mit Kaiser und Papst als den beiden Hauptrepräsentanten. Das Zweite Reich war ein Nationalstaat und wurde als solcher auch empfunden und gewollt, ganz im Sinne der Zeit davor und danach. Das Zweite Reich setzte auf die protestantische Macht Preußen.

Im italienischen Krieg, den Österreich 1859 gegen Italien und Frankreich zu bestehen hatte, stand ein Eingreifen Preußens auf Seiten Österreichs in Aussicht. Bismarck ließ dazu ein Gedankenspiel einfließen: Die Preußen sollte die Grenzpfähle ausreißen, im Tornüster mit sich führen und dort wieder einrammen, wo das protestantische Glaubensbekenntnis aufhöre.192

 

189 Conze/Groh S. 114

190 ebd. S. 115

 

191 ebd. S.63

192 Zitiert bei Angelow, Jürgen: Der Deutsche Bund S. 113

 

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Die Arbeiterbewegung konnte sich den 1866 geschaffenen Realitäten nicht entziehen, obwohl sie in dem Zeitraum davor die großdeutsche Lösung unter Einschluss Österreichs auch mit seinen nichtdeutschen Gebieten befürwortet hatte, wie es Ferdinand Lassalle 1863 als Ziel formuliert hatte: „Großdeutschland moin les dynasties“ (Großdeutschland unter Abzug der Dynastien).193 Das war eine Absage und Lossage von einer ungeliebten Tradition. Aus anderen Beweggründen, wie in den zuvor gezeigten Staatsentwürfen, mit seinen vorwiegend  kleindeutsch und protestantisch geprägten Staatsaufbau, ging die katholische Seite von anderen Vorstellungen aus.194 Am 14. Mai 1872 in einer Rede im Reichstag den später oft zitierten Satz einfließen: „…nach Canossa gehen wir nicht…“195 Zwangsläufig wurden hier Erinnerungen geweckt, die aber keinen Rückfall in alte Denkmuster nach sich zogen.

Das allgemeine Wahlrecht, das von Anbeginn zu den Hauptforderungen Lassalles gehört hatte, brachte der Sozialdemokratischen Partei bereits in der Frühphase ihrer Geschichte einen ständig steigenden Anteil an Wählerstimmen und Sitzen im Reichstag. Trotz des Sozialistengesetzes vom Oktober 1878, mit all den Einschränkungen einer Wirkungsmöglichkeit, stieg der Stimmenanteil von 7,6% im Jahre 1878 auf 19,8% im Jahre 1890,196 dem Jahr in dem der Reichstag das Sozialistengesetz nicht erneuerte.

Auf dem Kongress in Erfurt 1891 wurde der Parteiname in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) umbenannt, die 1912 zur stärksten Fraktion im Deutschen Reichstag aufstieg. Bis zu diesem Erfolg war nicht alles ohne innerparteiliche Konflikte verlaufen. Die Verfolgungsmaßnahmen hatten aufgehört und waren dem Versuch gewichen, die SPD in den Staat, dem sie immer noch mit Abneigung gegenüber stand, zu integrieren und für seine politischen Ziele zu gewinnen. Das Programm, das auf dem Erfurter Parteitag beschlossen wurde, ist vielfach als Dualismus von Theorie und Praxis angesehen worden, es wird darin ein Widerstreit zwischen revolutionärer Theorie und reformerischer Praxis gesehen. Eine eindeutige Definition, ob die politische Macht auf revolutionärem Wege oder auf dem Boden einer parlamentarischen Demokratie vollzogen werden sollte, war so nicht erkennbar.197 Vorsichtige Annäherungsversuche an die Nation ließen sich in einer Rede vernehmen, die August Bebel am 7. März 1904 im Reichstag hielt: „Wir haben sogar das allergrößte Interesse, wenn wir in einen Krieg gezerrt werden sollen – ich nehme an, daß die deutsche Politik so sorgfältig geleitet wird, daß sie selbst keinen Grund gibt, einen Krieg hervorzurufen, – aber, wenn der Krieg ein Angriffskrieg werden sollte,
 

192 Zitiert bei Angelow, Jürgen: Der Deutsche Bund S. 113

193 An Rodbertus 01. 05. 1863. Nachgelassene Briefe und Schriften. Band 6 S. 335

194 Schmidt – Vollmer, Erich: Der Kulturkampf in Deutschland 1871 – 1890 Göttingen S.7

195 Fürst Bismarcks Reden. Ausgewählt und erläutert von Friedrich Purlitz. Leipzig/Wein 1895 S. 114

196 Aus Ploetz: Lexikon der deutschen Geschichte. Freiburg i, Br. 1999 S. 411

197 Grebing, Helga: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. S. 37 ff

 

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ein Krieg, in dem es sich dann um die Existenz Deutschlands handelte, dann – ich gebe Ihnen mein Wort – sind wir bis zum letzten Mann und selbst die ältesten unter uns bereit, die Flinte auf die Schulter zu nehmen und unseren deutschen Boden zu verteidigen, nicht Ihnen, sondern uns zuliebe, selbst meinetwegen Ihnen zum Trotz.“ (Sehr wahr! Sehr richtig! Bei den Sozialdemokraten)198

Eine Rede Bebels am ersten Pfingsttag 1866 zum drohenden Krieg mit Österreich zeigt welche politische Wegstrecke von dem Zeitpunkt an zurückgelegt worden war: „Wer hat in Baden die Freiheitskämpfer zu Hunderten niedergeknallt…? Preußen! Wer hat in Dresden den Maiaufstand niedergeschlagen…? Preußen! Und dieses Preußen will man an die Spitze Deutschlands stellen…? Was die gegenwärtige Krise anbelangt, so wird niemand leugnen, daß Preußen sie hervorgerufen hat, und nur dadurch, dass das übrige Deutschland sich wie ein Mann erhebt und zeigt, dass es nicht gewillt ist, ruhiger Zuschauer eines Bürgerkrieges zu sein, kann dieser verhütet und Preußen in seine Schranken verwiesen werden…Bricht aber dennoch derselbe aus, so möge sich das ganze Volk erheben, um gegen Preußen als Friedensbrecher zu marschieren.“199

Das Zweite Kaiserreich trachtete danach einen homogenen Nationalstaat zu errichten. Das führte zu Nationalitätenkonflikten mit nationalen Minderheiten an drei Brennpunkten: Im Westen mit der französischen Minderheit in Elsass – Lothringen, im Norden mit der dänischen Minderheit in Nordschleswig und im Osten mit der größten, der polnischen Minderheit.200

Der Historiker Dieter Groh greift in seinem Werk: „Emanzipation und Integration die These vom „deutschen Sonderweg“ auf. In einem Kapitel dazu heißt es: „Der Sonderweg der deutschen Geschichte zwischen 1848 und 1945: Mythos oder Realität“?201 Darin ist eine ausführliche Liste aufgeführt mit Autoren und Themen, die sich mit der Hinwendung zur „Sonderwegthese“ befassen.202 Ein wichtiger Gesichtspunkt wird über den verschiedenen Betrachtungsweisen innerhalb und außerhalb Deutschlands übersehen: Deutschlands geographische Lage. Im Zentrum Europas, war es um seine Grenzen herum von unterschiedlichen Nationalitäten und Kulturen umgeben. Sprach – und Kulturgrenzen waren nicht immer identisch mit den Staatsgrenzen. In den Grenzgebieten war die Bevölkerung gemischt. Deutschlands Geschichte ist daher  mit der Geschichte
 

198 Zitiert ebd. S. 33

199 Zitiert bei Conze/Groh S. 63

200 Wehler, Hans – Ulrich: Sozialdemokratie und Nationalstaat. Nationalitätenfragen in Deutschland 1840 – 1914

                                            Göttingen 1971 S. 14

201 Groh,Dieter: Emanzipation und Integration: Beiträge zu Sozial – und Politikgeschichte der deutschen  Arbeiterbewegung und des 2. Reiches. Konstanz 1999 S. 171 ff

202 Groh, Dieter: Emanzipation und Integration. S. 177

 

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seiner unmittelbaren Nachbarnationen naturgemäß eng verflochten. Die enge Verflechtung war besonders augenfällig erkennbar an der Geschichte Österreichs, der Donaumonarchie, ein Staat, der zeitweise zehn verschiedene Nationalitäten umfasste. Für die Gründung eines homogenen Nationalstaates in der Mitte Europas bestanden also gänzlich andere Voraussetzungen. Eine solche Gründung konnte nicht vollzogen werden, ohne mit den Nachbarn unter dem Gesichtspunkt eines Nationalstaates in eine Konfliktsituation zu geraten.

Zur Bearbeitung diese Problemfeldes ist noch einmal ein Rückgriff in die Geschichte erforderlich: In die Zeit des ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Neuzeit.

In diese Zeit fällt ein wirtschaftlicher Zusammenschluss über kulturelle Grenzen hinweg: Dem Hansebund, dem auf dem Höhepunkt seiner wirtschaftlichen Entfaltung zweihundert Städte angehörten.203 Die „dudesche Hanse“ war eine Supermacht des Geldes, Geldgeber für europäische Herrscherhäuser.204 Dieser nordeuropäische Handelsverbund hatte sich über ganz Nordeuropa ausgebreitet, ein Handelsnetz aufgebaut, das die Handelsmärkte von Russland bis Flandern, von Island bis Venedig umspannte. Es war ein visionäres Imperium von Kaufleuten und Städten über politische Grenzen hinweg.205 Dem Hansebund ist ein Vorbildcharakter zuerkannt worden für den wirtschaftlichen Zusammenschluss der Europäischen Gemeinschaft (EG) aus der die Europäische Union (EU) hervorgegangen ist.206 Großes Interesse an der Geschichte und Aufbau der Hanse findet sich in Korea und Japan. An der Universität Kioto wird an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät Hanseforschung betrieben. Koreanische Filmgesellschaften waren bereits mehrfach in Lübeck zu Dreharbeiten in Stadt und Archiv.207

Am 25. September 1604 lehnt König Jakob I. (1604 – 1625) von England Vorschläge zur Wiederherstellung der Privilegien der Hansestädte endgültig ab. Bereits 1494 wurde das Kontor des Hansebundes in Nowgorod vom russischen Zaren Ivan III. (1462 – 1505) geschlossen.208 Ein weitergehender Ausschluss vom Welthandel ergab sich durch den Westfälischen Frieden 1648, in dem das Gebiet, von dem einmal die Hanse ihren Ausgang genommen hatte, der Zugang zu den Weltmeeren abgeschnitten wurde.

Im Westfälischen Frieden gelangten die Mündungen der Oder und der Elbe unter schwedische Herrschaft. Dieser Tatbestand wurde im ganzen Reich als ökonomischer Würgegriff angesehen. Kurfürst Friedrich Wilhelm I (1640 – 1688) hatte großen publizistischen Erfolg, als 1658 in einer gegen Schweden gerichteten Flugschrift
 

203 Graichen, Gisela/Hammel – Kiesow, Rolf: Die Deutsche Hanse. Eine heimliche Supermacht Reinbek bei Hamburg 2013 S. 5

204 ebd. S 5

205 ebd. S. 6

206 ebd. S. 7 f

207 ebd. S, 8

208 Graichen/Hammel S.341 ff

 

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alle „ehrlichen Teutschen“ fragen ließ: „Was sind Rhein, Weser, Elbe oder Oderstrom nunmehr anders als fremder Nationen Gefangene? Was ist deine Freiheit und Religion mehr, als das andere damit spielen?“209

Das System des Westfälischen Friedens wurde erstmals durchbrochen von König Friedrich II. von Preußen, (1740 – 1786) der in einem ungewöhnlichen militärischen Kraftakt im Siebenjährigen Krieg von 1756 bis 1763 Preußen als fünfte europäische Großmacht etablierte.

Sir Winston Churchill bezeichnet diesen Krieg in seinem Werk: „A History oft he English – Speaking Peoples“ als ersten Weltkrieg, da dieser Krieg auf allen Weltmeeren in Nordamerika und Indien zwischen den um Ausdehnung ihrer Herrschaft bestrebten Kolonialmächten geführt wurde. Churchill spricht in Zusammenhang damit vom preußischen König als „Frederick the Great“210Von 1756 bis 1761 wurde Preußen finanziell von England unterstützt.

Der Westfälische Friede von 1648 und der auf dem Wiener Kongress geschaffene Deutsche Bund sicherten den entsprechenden Signatarmächten ein Mitspracherecht in innerdeutschen Angelegenheiten. Diese Einschränkung der Souveränität fand mit der deutschen Einigung durch Otto von Bismarck 1871 ein Ende.

Deutschlands Ausgangsstellung unterschied sich grundlegend von den Ausgangsstellungen der Randstaaten Europas wie Spanien. Portugal, Frankreich, die Niederlande oder Großbritannien. Alle diese Mächte schufen sich auf Nationalstaatlicher Grundlage große Kolonialimperien von subkontinentalen Ausmaßen. Russland konnte sich ungehindert nach Osten ausdehnen, und schuf sich ein Herrschaftsgebiet von bis dahin nie gekannter Größe.

Das Deutsche Reich stand vor einer Herausforderung, die ihm die Möglichkeit bot, eine alternative Politik gegenüber seinen nationalen Minderheiten zu verwirklichen. In Elsass – Lothringen, in Nordschleswig und in den Gebieten mit überwiegend polnischer Bevölkerung.

Es wurde eine Eindeutschungspolitik betrieben, die als abstoßend und rücksichtslos gegenüber kulturellen Belangen der Nationalen Minderheiten verstanden werden musste. Wenn Deutschland eine andere Nationalitätenpolitik hätte verwirklichen wollen hätte es dem Nationalstaatsgedanken überhaupt entgegentreten müssen. Eine solche Politik hätte als ein Hineinregieren in Nachbarstaaten aufgefasst werden können.

„Alles Schlechte kommt aus Preußen“ hatte Bebel sich 1906 vernehmen lassen. Das Wort stand in Zusammenhang mit der deutschen Nationalitätenpolitik in Nordschleswig.211

Die preußische Polenpolitik unterschied von der nach der deutschen Einheit betriebenen Politik der Eindeutschung.
 

209 Zitiert bei Gloger, Bruno: Friedrich Wilhelm Kurfürst von Brandenburg. Berlin (DDR) 1985 S. 75

210 Winston Churchill: A History of the English – Speaking Peoples Band 3 London 1937 S. 123 f

211 Wehler, Hans – Ulrich: Sozialdemokratie und Nationalstaat. S. 100

 

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Preußen wollte allenfalls dem deutschen Kulturelement auf friedlichem Wege, ohne Repressalien, Geltung verschaffen.212 Die polnischen Teilungen fanden auf dem Wiener Kongress ihre Bestätigung. In den fünfzehn Jahren nach 1815 nahm das Großherzogtum Posen – ein wesentlicher Bestandteil Polnisch – Preußens – einen spürbaren Aufschwung, und die Zusagen, die Friedrich Wilhelm III. gegeben hatte, die eine Gleichberechtigung der Nationalität, Religion und der Sprache zum Inhalt hatten, wurden eingehalten. Polnisch wurde auch zur Gerichtssprache erklärt und 1819 wurde der preußische Bauernschutz eingeführt.213 König Friedrich Wilhelm IV. hielt noch an dem „übernationalen preußischen Staatsgedanken fest, als er von „preußischen Brüdern unserer deutsch, litauisch und wallonisch redenden Untertanen---als preußische Landeskinder unter einer Krone“ sprach.214 Der übernationale preußische Staatsgedanke erfuhr seine erste Einschränkung in der Frankfurter Nationalversammlung. Die Gegensätze zwischen Polen und Deutschen prallten aufeinander, und die Polen fanden sich einem nationalliberal und nationaldeutsch gesinnten Staatsvolk gegenübergestellt.215

In einer Reichstagsrede vom 26. November 1870 unterzog Bebel die sich abzeichnende Annexion Elsass – Lothringens durch die deutsche Politik einer warnenden Betrachtung.216

Die allgemeine Auffassung fand sich wieder in einer Thronrede, die König Wilhelm I gehalten hatte, die Frankreich und seiner zukünftigen Politik den politischen Willen zu einem dauerhaften Frieden absprach. Darum wurde die Annexion aus militärstrategischen Gesichtspunkten betrieben. Das war der Punkt, wo Bebels ablehnende Haltung ihre Begründung fand. Die Aussicht Frankreich werde Verbündete suchen, um das Verlorene zurück zu gewinnen, veranlasste Bebel eine Mahnung an die Abgeordneten des Reichstags zu richten. Er forderte Abstand zu nehmen von einer Politik, die verletzend wirke und Rachegelüste hervorrufe. (Das Reichstagsprotokoll verzeichnete große Unruhe und Gelächter)

Wörtlich heißt es weiter:

„…Das Selbstbestimmungsrecht ist die Hauptgrundlage, auf welcher wir von unserem Standpunkte fußen müssen, und wenn wir heute das Selbstbestimmungsrecht mit Füßen treten, wenn wir heute, was uns beliebt, ohne Ausnahme nehmen können, dann vergeben wir damit das eigene Selbstbestimmungsrecht, dann müssen wir es uns ebenso gut gefallen lassen, wenn andere, wo die Gelegenheit sich bietet, auch Stücke unseres Landes nehmen, (Protokoll: Große Heiterkeit) dieselben Gründe, die sie jetzt für die Annexion angeben, sie können eines Tages gegen uns geltend gemacht werden.
 

212 ebd. S. 105

213 ebd. S. 104

214 Zitiert bei Wehler S. 106

215 ebd. S. 107

216 August Bebel. Sein Leben in Dokumenten, Reden und Schriften von Helmut Hirsch Köln/Berlin 1968 S.157 f

 

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Das Nationalitätsprinzip ist meiner Meinung nach ein durchaus reaktionäres Prinzip; wollen wir das Nationalitätsprinzip in Europa wirklich unverfälscht zur Geltung bringen, dann werden Sie zugeben wäre des Krieges kein Ende abzusehen, dann wäre der Beruf der Völker nur, immer Krieg zu führen, zu arbeiten, nur, um den Krieg möglich zu machen. Auf Grund des Nationalitätenprinzips wäre es notwendig, das wir Polen abtreten, das wir Nordschleswig wieder abgeben, das wir Südtirol und Trient abstoßen, daß wir soundso viele slawisch sprechende Länderteile preisgeben, daß wir dagegen Stücke der Schweiz, Hollands und Belgiens annektieren. Mit dem Nationalitätenprinzip also, wie gesagt, würden wir aus dem Kriege nicht herauskommen. Es würden die Völker sich gegenseitig zerfleischen bis an das Ende aller Dinge. Die Nationalität hat nur wenig zu bedeuten, sie hat nur einen untergeordneten Wert in meinem Augen für das Staatsleben…“

Die Voraussagen Bebels erfüllten sich nach dem Ende des ersten Weltkrieges mit dem Friedensschluss von Versailles. Am 19. Januar 1919 wurde für das neu entstandene Deutsche Reich die verfassungsgebende Nationalversammlung gewählt, nach dem reinen Verhältniswahlrecht, im Gegensatz zum Reichstag des Kaiserreiches, der nach einem Mehrheitswahlrecht mit Stichwahl gewählt wurde. Frauen erhielten erstmalig das Wahlrecht, vor anderen Staaten mit demokratischer Tradition, einschließlich den Vereinigten Staaten. Die klassischen Oppositionsparteien im Reichstag des Kaiserreiches die SPD, das Zentrum und die Fortschrittspartei (DDP) bildeten mit einem Stimmenanteil von 76 % die Weimarer Koalition, die nach Bekanntwerden der Versailler Friedensbedingungen auseinander fiel. In den Pariser Friedensverhandlungen wurde die dritte Neuordnung Europas ausgehandelt. Es war eine Konferenz bereits im Weltmaßstab, entscheidendes Gewicht brachten die Vereinigten Staaten von Amerika mit an den Verhandlungstisch, die den ersten Weltkrieg in seiner Schlussphase die entscheidende Wende gegeben hatten.

Für die SPD verliefen die Wahlen enttäuschend, sie erreichte zwar den höchsten Stimmenanteil, musste aber die Macht mit anderen Parteien teilen. Bei den Wahlen zum Reichstag am 6. Juni 1920 ging ihr Stimmenanteil auf 21.7% zurück gegenüber den Wahlen zur Nationalversammlung mit noch 37,5%217 Keine der von 1919 bis 1933 gebildeten Koalitionsregierungen erreichten jeweils das Ende einer Legislaturperiode.

Erster Präsident der Weimarer Republik wurde Friedrich Ebert. Dem Reichspräsidenten war eine starke verfassungsrechtliche Kompetenz zugedacht, die bei Friedrich Ebert noch nicht so zum Tragen kam wie in den späten Tagen der Weimarer Republik, wo dem Parlament als oberstes Verfassungsorgan die Macht entglitt, weil eine regierungsfähige Mehrheit nicht zustande kam, und so dem Reichspräsidenten und der Reichsregierung die
 

217 Nach Ploetz Lexikon der deutschen Geschichte. S. 413

 

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Entscheidungsbefugnis zufiel. Das republikanische Staatsoberhaupt verfügte über eine Verfassungskompetenz, vergleichbar seinem monarchischen Vorgänger im Bismarck – Reich.218 Anders als der Präsident der Vereinigten Staaten wurde der Reichspräsident in direkter Wahl vom Volk gewählt, war aber verfassungsrechtlich nicht mit der gleichen Machtfülle ausgestattet wie der amerikanische Amtsinhaber.219

In seiner Rede am 22. Oktober 1918, der letzten im alten Reichstag, fordert Friedrich Ebert, dem vom letzten Reichskanzler des Kaiserreiches, Prinz Max von Baden, die Reichsgeschäfte angetragen worden waren, die Entmachtung des „Großen Generalstabs“ und seine Unterordnung unter den Reichskanzler und den Reichstag.220 Einen Tag danach macht der amerikanische Präsident Woodrow Wilson Friedensverhandlungen von der Ausschaltung der „monarchischen Gewalten“ und der „militärischen Beherrscher“ abhängig.221 Ebert es hat gleichzeitig mit dem amerikanischen Präsidenten befürwortet, der Obersten Heeresleitung Macht – und Entscheidungsbefugnis zu entziehen und, damit verbunden eine Neuordnung der Regierungsverhältnisse. Die monarchische Tradition wollte er bewahrt wissen. Noch volle zwei Wochen verteidigt er die Monarchie als die für Deutschland erhaltenswerte Staatsform.222

Als Philipp Scheidemann am 9. November 1918 vom offenen Fenster des Reichstages vor einer aufgebrachten Menschenmenge die Republik ausrief, kam es hernach zu einer ernsten Verstimmung zwischen Ebert und Scheidemann. Ebert hatte diesen Schritt missbilligt. Das Verhältnis beider blieb belastet, selbst über Eberts Tod hinaus.223

Die politischen Gegebenheiten der Weimarer Republik von Anbeginn bis zu ihrem Ende boten ein Bild der Instabilität, und seine Geschichte war durchzogen von Wirrnissen, die keine Zuversicht aufkommen ließen. Preußen hob sich ab von dieser Entwicklung, es erwies sich unter der Führung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun als ein Bollwerk der Republik224. Am 20. Juli 1932 wurde Otto Braun entmachtet, dem es bis dahin gelungen war mit seiner Regierung der Weimarer Koalition ein Bild der Geschlossenheit zu bieten.225 Das größte Land der Weimarer Republik wurde den aufkommenden Nationalsozialisten überantwortet, die am 30. Januar 1933 auch die Macht im ganzen Reich übernahmen. Durch offenen und versteckten Terror erreichten
 

218 Weber – Fas. Deutschlands Verfassung vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart. . 157 ff

219 ebd. S. 120 f

220 Maser, Werner: Friedrich Ebert der erste deutsche Reichspräsident. München 1987 S. 164

221 ebd. S 164 f

222 ebd. S. 165

223 ebd. S. 181

224 Grebing, Helga: Geschichte der Arbeiterbewegung. S. 77

225 ebd. S. 100

 

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sie am 23. März 1933 einen weiteren Höhepunkt in ihren Herrschaftsabsichten. An diesem Tag wurden Hitler und der NSDAP durch ein Ermächtigungsgesetz diktatorische Vollmachten zuerkannt. Dieser Tag war auch eine große Stunde der SPD, sie verweigerte als einzige Partei im Deutschen Reichstag die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz. Diese historische Tat ist weder innerhalb noch außerhalb Deutschlands angemessen gewürdigt worden. Schon im Vorfeld zu den letzten noch halbwegs demokratischen Wahlen am 5. März 1933 kam es zu Massenverhaftungen von Sozialdemokraten im ganzen Reich.

Am Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgte im Februar 1945 in Jalta und im August 1945 in Potsdam die vierte Neuordnung Europas. Die europäischen Mächte, die noch wenige Jahrzehnte zuvor eine weltbeherrschende Stellung eingenommen hatten, fungierten nur noch als Zuschauer. Das oft und übel beleumdete Preußen wurde am 25. Februar 1947 durch alliierten Kontrollratsbeschluss als Staat aufgelöst, und seine Geschichte auf die zwei Begriffe „Reaktion“ und „Militarismus“ reduziert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hoffte die Sozialdemokratie erneut auf die Übertragung einer Machtbefugnis zur Verwirklichung der Ideale und Ideen, die hundert Jahre überdauert hatten.226 Auch diesmal blieb nur Enttäuschung. Der wirtschaftliche Erfolg des Modells der sozialen Marktwirtschaft führte zu einem Umdenken. 1959 verabschiedete sich die SPD von traditionellen Vorstellungen und formierte sich neu. Wirtschaftskonjunktur ließ keinen Raum für Konzeptionen, die ein Absinken in der Wählergunst nach sich gezogen hätte. Eine vergleichbare Entwicklung, wie sie nach 1896, nach dem Ende einer Wirtschaftsrezession, die nach zwanzig Jahren in einen konjunkturellen Aufschwung mündete, und in der SPD die Revisionisten stärker in Erscheinung traten.

In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann in Europa eine Annäherung und Hinwendung zu Zusammenschlüssen der Staaten, die sich zuvor in Rivalitäten gegenüber gestanden hatte.

Der Frieden, der 1815 auf dem Wiener Kongress ausgehandelt wurde, war ein von Dynastien geschlossener dynastischer Friede. Der Friede, der nach dem Ersten Weltkrieg geschlossen wurde, hatte andere Voraussetzungen zur Grundlage. Dieser Friede wurde nicht von Dynastien geschlossen, sondern von parlamentarischen Demokratien. Mit dem Aufkommen des demokratischen Verfassungsstaates wuchs auch der Nationalstaatsgedanke. In Schleswig – Holstein hatten Deutsche und Dänen vierhundert Jahre friedlich unter der dänischen Krone zusammengelebt, bis ihnen ins Bewusstsein gepflanzt wurde, sie seien entweder Deutsche oder Dänen, beides zusammen ginge nicht.
 

226 ebd. Kapitel VI. „Nach Hitler – wir!“ Die Arbeiterbewegung in Deutschland von 1945 – 1959. S. 128 ff

 

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Innerhalb dynastischer Grenzen hatten kulturelle Unterschiede einen anderen Stellenwert als innerhalb nationalstaatlicher Grenzen. In dynastischen Kriegen wurden Schuld und Verantwortung auf den jeweiligen Herrscher übertragen. In Kriegen, die nationale Leidenschaften zum Ausgangspunkt hatten, wurden Schuld und Verantwortung auf ein Kollektiv übertragen. Auf dem Wiener Kongress wurde die französische Delegation als gleichberechtigter Verhandlungspartner anerkannt und durfte Einfluss nehmen auf den Gang der Verhandlungen. Alles Ungemach, was zuvor über Europa hereingebrochen war, wurde Kaiser Napoleon I. angelastet. Trotzdem wurde er glimpflich behandelt, durfte seinen Kaisertitel behalten, und die Insel Elba wurde ihm als Herrschaftsgebiet überlassen. Erst sein erneuter Versuch die Macht an sich zu reißen, führte zu seiner Verbannung nach St. Helena. Kein europäischer Herrscher hatte seit Karl dem Großen eine solche Machtfülle in sich vereinigt wie Kaiser Napoleon I. Es wäre ihm möglich gewesen, den universalen Staatsgedanken des Mittelalters zu erneuern, und so Tradition und Moderne miteinander zu verknüpfen. Er hat diesen Weg nicht beschritten, sondern wollte dafür auf nationalstaatlicher Grundlage eine französische Herrschaft begründen, was dann eine Gegenbewegung ausgelöst hat. Hitler hat seine Herrschaftsabsicht noch einmal rassisch überhöht. Es ist aber nicht gerechtfertigt zwischen Hitler und Napoleon I. Analogien herzustellen. Die nationalsozialistische Ideologie hat oft mit dem Begriff „Volksstaat“ operiert, der Name des Presseorgans, dem diese Arbeit zugrunde liegt. Analogien verbieten sich aber, denn die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und eine große Zahl ihrer Mitglieder haben von Anbeginn unter Einsatz von Leib und Leben der NS – Herrschaft widerstanden. Der NS – Ideologie war es gelungen, die Menschen zu täuschen, und den Eindruck zu erwecken, als habe sie die Gegensätze von national und sozial versöhnt.

Der erste Bundesvorsitzende der SPD nach dem Zweiten Weltkrieg, Kurt Schumacher, hielt am Vorabend der SED – Gründung, am 20. April 1946, eine Rede, in der er die Konturen der Partei eindeutig umriss und für die Zukunft festlegte: „Wenn das, was wir im Osten erleben, tatsächlich Sozialismus wäre, dann wäre vor der europäischen Menschheit das Todesurteil über den Sozialismus gesprochen. (…) Wir müssen erkennen, dass die Freiheit des Erkennens und die Freiheit der Kritik, wie auch der gesamten Geistesgüter der englischen und der französischen Revolutionen und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ihren einzig sicheren Hort in der Sozialdemokratie hatten. Das hat dazu geführt, dass ein europäischer und speziell deutscher Sozialismus Bestandteile in sich trägt, die, ohne den Marxismus als Methode auch nur im geringsten zu beeinträchtigen, die ganze Idee des Sozialismus erst lebendig machten. Das bedeutet, dass es keinen Sozialismus ohne Demokratie gibt. Weiter ist

 

                                                                                                        67

der Sozialismus ohne Menschlichkeit nicht denkbar und ohne Geistesfreiheit in all ihren Konsequenzen nicht.228

Zur Erfassung objektiver Kriterien ist die Methode einer isolierten Betrachtung und Darstellung historischer Vorgänge, losgelöst vom geographischen und politischen Umfeld, ungeeignet. Mit dieser Methode lässt sich kein Geschichtsbild und Geschichtsbewusstsein, das Verständnis und Versöhnung schafft, verwirklichen.

Ein solches Geschichtsbild bedeutet die Darstellung und narrative Wiedergabe, das dem Betrachter versöhnlichen Geist vermittelt.

5. C. I. Preußen, besonders aus Sicht der Sozialdemokratie.

Die preußische Geschichte wird im „Volksstaat – Erzähler“ ausführlicher abgehandelt, während im „Volksstaat“ kleiner Beiträge mit aktuellem Bezug zu finden sind.

Mit der Ausgabe Nr. 7 Leipzig, den 25 Januar 1874 beginnt im „Volksstaat – Erzähler“ unter dem Titel: „Zur Charakteristik des Alten Fritz“, die in acht weiteren Folgen einmal wöchentlich bis zur Ausgabe Nr. 15 Leipzig, den 22. März 1874 fortgesetzt wird.

Unter dem Titel: „Ein paar Züge aus der Geschichte des Jahrhunderts 1640 bis 1740“ (Aus der „Frankfurter Zeitung“) erschienen, beginnend mit der Ausgabe Nr. 19 Leipzig, den 19. April 1874, wöchentlich in vier weiteren Folgen bis zum 17. Mai 1874 Beiträge zu den Herrscherpersönlichkeiten des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. (1640 – 1688), Friedrich III als Kurfürst und als König Friedrich I. „in“ Preußen (1688 – 1713) und schließlich der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. (1713 – 1740) und ihrer Regierungszeit. In der Ausgabe Nr. 16 Mittwoch, den 23. Februar 1870 erschienen zwei Beiträge, die beispielhaft die Sicht des „Volkstaat“ auf Preußen wiedergeben:

 

Politische Uebersicht.

Der preußische Cäsarismus, unfähig auf eigenen Füßen zu stehen, stützt sich einerseits auf das französische Empire, andererseits auf das russische Czarenreich; in ersterem hat es seine Garantie gegen die Revolution, in letzterem seinen Rückhalt gegen das übrige Deutschland, namentlich gegen Oesterreich. Von dem Bestand des Empire und des Czarenreiches hängt der Bestand des heutigen Preußen ab, so sehr, daß im Falle eines Krieges mit Frankreich ein entscheidender Sieg, der in Paris die Revolution hervorriefe, den Untergang Preußens weit sicherer herbeiführen würde als ein zweites Jena. Was aber Rußland betrifft, so fühlt der preußische Junker instinktmäßig, daß es dem Preußen der Manteuffel und Bismarck unentbehrlich ist, und verehrt daher den Czar als seinen eigentlichen Souverän, dessen gekrönter Statthalter der sogenannte König von Preußen nur ist.

 

Aus Preußen                                                                                                Berlin 21 Februar.

Aha! Die Süddeutschen sträuben sich mit Händen und Füßen gegen den Eintritt in den Nordbund = Mordbund – so nennt ihn die „Demokratische Correspondenz“ – und niemand

 

228  zitiert bei Helga Grebing: Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. S. 129

 

                                                                                                       68                                                                                                    

wird es den Leuten verdenken, außer den Nationalliberalen. Trostlosere Zustände auf sozialem, politischem und religiösem Gebiete giebt es in ganz Deutschland nicht, und darum ist Preußen der Hauptfeind aller Deutschen.

 

 5.  C. II.  Spanien.

Mit der Ausgabe Nr. 43 vom 3. Oktober 1874 beginnt im „Volksstaat-Erzähler“ in mehreren Folgen die Darstellung eines Abschnittes spanischer Geschichte, wo nicht nur der behandelte Zeitabschnitt vorgestellt, sondern auch die Begründung geliefert wird, die zum Niedergang Spaniens in den Jahrhunderten bis zum Zeitraum vor der im „Volksstaat-Erzähler“ vorgenommenen Geschichtsbetrachtung  geführt hat. In wöchentlichem Abstand erscheinen vier weitere Folgen bis Ausgabe Nr. 47 Leipzig, 1. November 1874.

In der Ausgabe Nr. 48 vom 10. Oktober 1874 erschien ein Beitrag zu einem Abschnitt spanischer Geschichte unter dem Titel: Die spanischen Fueros.

 5.  C. III.

Die Niederlande.

Mit der Ausgabe Nr. 22 Leipzig, 3. Juni 1975, beginnt die Schilderung, die in weiteren drei wöchentlichen Fortsetzungen bis Ausgabe Nr. 25 fortgesetzt wird, über die Geschichte der Niederlande, die sich außerhalb politischer Ereignisse und Entwicklungen bewegt: Den Kampf gegen die Naturgewalten, und wie die Niederländer, herbeigeführt durch die geographische Lage des Landes, weil das Land nur durch Eindeichung und ein System von Kanälen, die Bedrohung durch Überflutung überwinden konnte. Es ist beeindruckend, wie die Niederländer in Zeitabschnitten in dem Kampf gegen die Naturgewalten zu unterliegen drohten, dennoch sich das Land erhalten haben. Zusätzlich haben die Niederländer in politischen  sich als Handelsnation einen führenden Platz in politischen, militärischen und maritimen Kämpfen gegen   Großmächte wie Frankreich und Spanien und auf den Meeren gegen England bewahrt.

 

5. C. IV.

Reformation, Dreißigjähriger Krieg, Westfälischer Friede.

Der Dreißigjährigen Krieg, und der Westfälischen Friede finden keine besondere Beachtung. Umso ausführlicher wird eingegangen auf die Zeit der Reformation, und zwar mit besonderem Bezug zum Deutschen Bauerkrieg, gestützt auf das Werk von Friedrich Engels: „Der deutsche Bauerkrieg“, das im „Volksstaat“ in siebenundzwanzig Folgen, beginnend am 2. April 1870 bis 15. Oktober 1870 fortgesetzt wird. Friedrich Engels erblickt in diesem Krieg einen reinen kriegerischen Gewaltausbruch mit klassenspezifischen Hintergrund. Engels sieht Martin Luther nicht als Kämpfer für die Belange des Glaubens, sondern für gesellschaftliche Klasseninteressen.

 

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In der Ausgabe des „Volksstaat“ Nr. 74 vom 14. September 1872 wird die Bartholomäusnacht vom August 1572 in Paris, wo die Ermordung französischer Hugenotten ihren Ausgang nahm, rückblickend gedacht. Der „Volksstaat“ hält der protestantischen Entrüstung im Gedenken an dieses Ereignis Luthers Äußerungen zum Bauerkrieg 1525 entgegen.

 

5. C. V.

Englische, Amerikanische und Französische Revolution.

Im Gegensatz zum Kampf zwischen Krone und Parlament im 17. Jahrhundert in England und dem Unabhängigkeitskrieg der  dreizehn amerikanischen Neuenglandstaaten gegen die britische Krone von 1776 bis 1783, die im „Volksstaat“ keine nennenswerte Erwähnung finden, wird die Französische Revolution ausführlicheren Betrachtungen unterworfen, darin wird diesem historischen Ereignis mit seinen Auswirkungen ein  Vorbildcharakter zuerkannt.

 

5. C. VI.

Deutsche Kultur – und Geistesgeschichte (Varnhagen, Heinrich von Kleist, Heinrich Heine)

Im „Volksstaat-Erzähler“ wird den Tagebüchern des Diplomaten und Schriftstellers Karl August Varnhagen von Ense breiter Raum eingeräumt. Er ehelichte 1814 Rahel Levin, neben Henriette Herz und Dorothea Veit eine von den jüdischen Frauen, in deren Salons sich um die Jahrhundertwende vom 18. Zum 19. Jahrhundert die Geistesgrößen der Zeit trafen. In seinen Tagebüchern erwähnt Varnhagen seine Frau, die 1833 verstarb.

Heinrich von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ erscheint Fortsetzungsfolgen wöchentlich im „Volksstaat-Erzähler“. Erstmals in der Nr. 24 Leipzig, 24. Mai 1874 bis Nr. 37 Leipzig, 23. August 1874.

Von Nr. 2 Leipzig, 11. Januar 1875 bis Nr. 9, 14. März 1875 erscheinen Auszüge aus dem Buch von Hermann Ebert, Verlag Fritz Opik & Comp. 1874 über den plattdeutschen Dichter und Schriftsteller Fritz Reuter. Die Folgen werden vom „Volksstaat = Erzähler“ überschrieben mit „Ein Blatt preußischer Geschichte“ und kommentiert: Der (kürzlich verstorbene) Humorist Fritz Reuter war eine weiche harmlose Natur, was die an ihm verübten Schandthaten umso niederträchtiger macht, es aber auch erklärt, wie er in seinen alten Tagen zum Bewunderer der Stieber – Bismarck’schen Wirthschaft werden konnte.

Von Heinrich Heine erscheinen Gedichte und Beiträge.

Der Vorwurf, der oft gegen die deutsche Kultur und Geistesgeschichte erhoben worden ist, die zum Ausgang des 18. und zum Eingang des 19. Jahrhunderts ihre Höhepunkte erreichte, sie habe zu wenig revolutionären Geist entwickelt, und somit einem obrigkeitsstaatlichen Denken Vorschub geleistet, findet sich in den Ausgaben des „Volksstaat-Erzähler“

 

                                                                                                              70

und des „Volksstaat“ nicht. Im Gegenteil, der „Volksstaat-Erzähler“ muss mit seinen Beiträgen als eine Anknüpfung an eine Tradition in dem angesprochenen Zeitraum davor angesehen werden.

Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die Schillerfeiern zur hundertsten Wiederkehr des Geburtstags Friedrich von Schillers am 10. November 1859. Diese Feiern gerieten zu einer Demonstration und Massenbewegung für die deutsche Einheit, an der überwiegend  Handwerker und Arbeiter teilnahmen. Es war die erste Volksdemonstration nach zehn Jahren Unterbrechung, Diese Feiern waren über ganz Deutschland verbreitet, und dienten auch als Ausgangspunkt zum Zusammenschluss von Arbeitervereinen.229

 

5. C. VII.

Napoleonische Herrschaft.

Kaiser Napoleon I., seine Herrschaft und sein Wirken im militärischen und zivilen Bereich finden in den Ausgaben des „Volksstaat – Erzähler“ und des „Volksstaat“ keine nennenswerte Beachtung.

 

5. C. VIII.

Befreiungskriege.

Was für die Napoleonische Herrschaft gilt, kann auch für die Zeit der Befreiungskriege von 1813 bis 1815 gesagt werden. Im Gegenzug wird die preußische Niederlage gegen Napoleon 1806 und 1807 im „Volksstaat“ sehr ausführlich abgehandelt.

Mit der Ausgabe Nr. 55 vom 16. Juli 1871, beginnt eine Serie unter dem Titel: „Zur Erinnerung an die deutschen Mordspatrioten 1806 – 1807“, die in dreiundzwanzig Folgen bis Ausgabe Nr. 76 vom 10. September 1971 fortgesetzt wird, unterbrochen in den Ausgaben Nr. 60, 63, 64 und 65. Die Serie beginnt mit einer Einleitung, um das Geschehene   erklärend zu begleiten:

Zur Erinnerung an die deutschen Mordspatrioten. 1806 – 1807.

Es ist männiglich bekannt, daß Preußen 1806 in jämmerlicher Weise zu Fall gekommen ist. Die schmutzige Kette der schmachvollen Einzelheiten des Zusammensturzes ist den Blicken des ganzen Volkes aufs Sorgsamste entrückt worden. Die Geschichtsbücher gehen hurtig in kindisch – dummer Vaterlandsliebe und Unwissenheit über diesen Zeitpunkt hinweg. (...)

Den Franzosen konnte nie daran gelegen sein, die innere Fäulnis ihrer damaligen Gegner zu enthüllen, weil sie sonst ihre eigene „Gloire“ mit in den Koth zogen.

 

                                                                                              

5. C. IX.

Frankfurter Nationalversammlung

 

229 Conze/Groh: Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung. S. 44 f

 

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Die Frankfurter Nationalversammlung erfährt in den Veröffentlichungen des „Volksstaat“ eine Beurteilung, die sie in den Gegensatz stellt zum Bismarckreich und seinem verfassungsrechtlichen Aufbau.

Im Kaiserreich war der 18. März ein doppelter Feiertag: Der Ausbruch der Revolution 1848 in Berlin und die Proklamation der Pariser Kommune 1871. Er wurde von der Sozialistischen Arbeiterpartei als Gegengedenktag organisiert. Konservative und Liberale feierten den Sedanstag, den Tag des Sieges über das französische Kaiserreich.

Sozialdemokratische Arbeiter stießen am 18. März Hochrufe aus auf das französische Volk und die deutsch – französische Freundschaft aus. Hinzu kam die Kritik der Linksliberalen und der Zentrumspartei an der Nationalitätenpolitik in den „Reichslanden“ Elsass – Lothringen.230

Bismarcks Politik war begleitet von zwei Alpträumen: Den einer inneren Revolution (cauchemar des révolutions) und einer möglichen Koalition europäischer Mächte gegen Deutschland (cauchemar des coalitions). Bebels Solidaritätserklärung mit dem Kommuneaufstand in Paris hatte diese Angst genährt.231

5. C. X.

Bismarck – Reich (Zweites Reich)

Bevor die beiden Arbeiterparteien ADAV und SDAP im Mai 1875 zu einer Einheit gelangten und sich zu einer Partei zusammenschlossen, standen sie sich in der Beurteilung der Politik Bismarcks und des durch seine Politik geeinten Deutschland in einem Gegensatz zueinander, der unüberbrückbar schien, wenn die Veröffentlichungen im „Volksstaat“ und dem Gegenstück dem „Neuen Sozialdemokrat“ dazu in Betracht gezogen werden. Der ADAV und seine Führungspersönlichkeiten hatten die Hoffnung aufrechterhalten und waren beharrlich bemüht vom preußischen Staat ein Zeichen der Zustimmung zu erhalten. Die Hoffnung wich für Lassalle und seine Nachfolger im ADAV der Enttäuschung, weil die Signale der Hinwendung zum preußischen Staat unbeantwortet blieben, und sie genauso Repressalien ausgesetzt waren wie ihre innerparteilichen Gegner.232

5. C. XI.

Einfluss der Sozialdemokratie auf die Geschichte nachdem Ende des Bismarck – Reiches.

Mit dem Auslaufen des Sozialistengesetzes 1890 formierte sich die Partei neu, die sich 1891 auf einem Parteikongress in Erfurt den Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) gab.

 

231 Conze//Groh: Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung. S. 114

232 Conze/Groh: S. 82

 

                                                                                                          72

Die Verfolgungsmaßnahmen hatten aufgehört, und in dem Zeitraum danach wurde die Partei von einer Erfolgsgeschichte begleitet, die sie 1912 an die Spitze im Deutschen Reichstag führte, sie hatte sich bis zur stärksten Fraktion gesteigert. Die Entwicklung wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 unterbrochen, der 1918 verloren ging, was zugleich auch das Ende der von Bismarck geschaffenen Reiches bedeutete.

Den erhofften politischen Einfluss erlangte die SPD in der Folgezeit in der Weimarer Republik nicht. Die Weimarer Republik fand 1933 durch die NS – Diktatur ein Ende.

Mit Rückblick auf die Veröffentlichungen im „Volksstaat“ und „Volksstaat-Erzähler“ ist die Feststellung unumgänglich, das nationale und soziale Bewegung zu keiner Einheit gelangten, was sechzig Jahre später propagandistisch ausgenutzt wurde durch eine „Bewegung“ die sich den Namen „nationalsozialistisch“ gab. Die SPD war die einzige Partei im Deutschen Reichstag, die dieses Täuschungsmanöver durchschaut hatte, und eine konsequente Abgrenzung vollzog.

6. Politische, gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse außerhalb Deutschlands.

Der VDAV und später die SDAP, geführt von Bebel und Liebknecht, hatten sich auch der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) angeschlossen, um den internationalen Charakter der von ihnen verkörperten Arbeiterbewegung in Deutschland zu unterstreichen, wurde auch das politische Geschehen außerhalb Deutschlands mit einbezogen.

a) Amerika

Im „Volksstaat-Erzähler“ gelangen ausführlichere Darstellungen über amerikanische Zustände mit äußerst kritischen Beiträgen zur Veröffentlichung. Der amerikanischen Geschichte werden darin Fehlleistungen aus sozialistischer, aber auch aus republikanischer Sicht angelastet. Unter dem Titel „Wiederum voran“ wird auf eine Rede des Herrn Alexander Jona Bezug genommen in der Ausgabe Nr. 17 Leipzig, 5. April 1874 und unter gleicher Überschrift auf eine Rede von Frau Lilienthal in der Ausgabe Nr. 18 Leipzig, 12. April 1874.

Alle acht Jahrgänge von 1869 bis 1876 enthalten von Beginn an Situationsberichte aus Amerika, auffallend häufiger als aus den europäischen Nachbarländern.

In der Ausgabe des „Volksstaat“ Nr. 81 14, Juli 1876 wird Bilanz gezogen zur hundertjährigen Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.

Ein Beispiel aus dem „Volksstaat“ Nr. 49 Mittwoch, 19. Juni 1872:

Aus Amerika.                                                                                   Chicago, im Mai 1872

Schon oft hat es sich bewahrheitet, daß kleine Ursachen große Folgen hatten! Dieses hat sich jetzt wieder einmal gezeigt.

Bisher war das Interesse der Deutschen hier in sehr geringem Grade erweckt für die Bestrebungen derjenigen Parteien in Europa, in Deutschland besonders, deren Zweck es ist, das Volk aufzurütteln aus dem Dusel,

 

                                                                                                        73

in den es durch die blutigen Erfolge der Armeen gestürzt worden; derjenigen Parteien, die unverrückt für das Höchste ringen, für Freiheit und Volksrechte. Auch hier war die Masse der Deutschen geblendet durch die „Erfolge“ von 66 und 70 und 71; ja sogar die „Gebildeten“ sahen in dem Wirken der Sozialdemokraten zum größten Theil nichts als die gefährliche Agitation von „landesverrätherischen Communisten, nur wenige Stimmen wagten es, laut zu werden und der herrschenden Meinung entgegen darzustellen, daß die soziale Bewegung in Deutschland vor der Hand nichts im Werke habe, als auf friedlichem Wege das Volk dahin zu bringen, daß es durch gesetzliche Mittel sich das verschaffe, was es bisher nur der Form nach besitzt. (…)

 

b) England

Nr. 7                                               Sonnabend, 23 Oktober                                                 1872

Aus England                                                                            London, den 18. Oktobr.

Während sich Hunderte und Tausende den Kopf zerbrechen, wie der täglich mehr um sich greifenden Verarmung zu steuern ist und wie die nothwendigsten Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung innerhalb der bestehenden Verhältnisse befriedigt werden können, bereiten sich die Londoner Arbeiter vor, einen Feldzug gegen die Verhältnisse selbst zu unternehmen. Sie sind zu der Überzeugung gelangt, daß die ökonomischen Grundlagen der heutigen Gesellschaft die Wurzel aller Uebel, daher jede politisch – soziale Kesselflickerei vergebens ist.

Vorigen Mittwoch ward eine Versammlung abgehalten, in welcher 400 Vertreter von Arbeitern (selbst sämmtlich Arbeiter) zugegen waren. In Folge dessen vollständige Abwesenheit von weißen Westen und Glacéhandschuhen, Kennzeichen der begüterten Schutzpatrone, die sich in neuerer Zeit in Arbeiter = Versammlungen breit machen. Sie bilden die Blitzableiter, welche das Einschlagen des patriotischen Ungewitters verhüten sollen. Während sie auf der einen Seite die Arbeiter = Bewegung als berechtigt anerkennen, verlangen sie auf der anderen Seite, daß der Arbeiter behutsam zu Werke gehen soll und wenigstens dem wohlhabenden Theil der Besitzenden kein Ärgerniß gebe, noch an den Grundfesten der bestehenden Eigenthumsverhältnisse rüttele. (…)

 

c) Frankreich

Nr. 81                                                     Freitag,  14. Juli                                                  1876

C. Pariser Briefe.

8. Juli. Die Deputirtenkammer hat den Antrag von Madier de Montjan auf Widerruf des  Staatsstreich = Dekrets von 1852, auf Grund dessen die Droit de l’Hommes jüngst zu schweren Geldstrafen verurtheilt worden sind, mit großer Mehrheit angenommen, trotz der Opposition des Justizministers. Dies ist das erste Mal, daß die Kammer es gewagt hat, nicht mit dem Ministerium zu gehen. Allein das Votum hat keine Gesetzeskraft und schützt also die Presse keineswegs vor wiederholter Anwendung der Dekrete Louis Napoleons.

Die „Tribüne“ setzt ihre Agitation auf Bestrafung der Mitschuldigen des 2. Dezembers unermüdlich fort und veröffentlicht täglich neue Zustimmungserklärungen aus den Provinzen.

Bei dieser Gelegenheit wird constatirt, daß der Justizminister Dufaure, nachdem er1871 die Richter, die sich zu Mitgliedern der Deportationsausschüsse hingegeben hatten, auf der Tribüne der Nationalversammlung mit pathetischen Worten brandmarkte, nichtsdestoweniger bald darauf solche „unwürdigen Richter“, wie er sie genannt hatte, an höhere Stellen beförderte.

Für die Nachwahlen zum Pariser Gemeinderath, die demnächst stattfinden, ist in einer Versammlung im 20 Arrondissement folgendes Programm angenommen worden: 1) volle Amnestie, 2) unentgeltlicher consessionsloser, obligatorischer Unterricht, Streichung des  

Amnestie, 2) unentgeltlicher consessionsloser, obligatorischer Unterricht, Streichung

 

                                                                                                       74

des Cultusbudgets, gleichmäßige Vertheilung der städtischen Unterstützungen ohne Rücksicht auf den Glauben der Hilfsbedürftigen,…

 

d) Spanien

 

Nr. 18                                                    Sonnabend, 1. März                                               1873

 

Die Republik in Spanien.    

Es ist schwer zu sagen, welche von beiden seit drei Jahren mehr herunter gekommen ist, die Monarchie oder die Republik. Die Monarchie – auf dem europäischen Kontinent wenigstens – geht überall mit stets raschen Schritten in ihre letzte Form, den Cäsarismus, über. Scheinkonstitutionalismus mit dem allgemeinen Stimmrecht, eine überwuchernde Armee als Stütze der Regierung, Kauf und Bestechung als Hauptregierungsmittel und Bereicherung durch Korruption und Schwindel als einziger Regierungszweck, schieben sich überall unwiderstehlich allen jenen schönen konstitutionellen Garantien, jenem künstlichem Gleichgewicht der Gewalten unter, von denen unsere Bourgeois träumten in den idyllischen Zeiten Louis Philippes, wo selbst die allerkorruptesten noch Engel der Unschuld waren, im Vergleich zu den „großen Männern“ von heute. Wie die Bourgeois täglich mehr den Charakter  einer im gesellschaftlichen Organismus zeitweilig unentbehrlichen Klasse verliert, ihre eigentlichen sozialen Funktionen abstreift, sich in eine Reine Bande von Schwindlern verwandelt, so verwandelt sich ihr Staat in ein Institut zum Schutz, nicht nur der Produktion, sondern des offenen Diebstahls der Produkte. Dieser Staat trägt nicht nur seine eigene Verurtheilung in sich, er ist sogar schon durch die Geschichte verurtheilt worden in Louis Napoleon, aber er ist zugleich die letzte Form der Monarchie. Alle anderen Formen der Monarchie sind zerschlissen und veraltet. Nach ihm ist als Staatsform nur noch möglich die Republik.

 

e) Österreich

 

Nr. 19                                                  Sonntag, 15. Februar                                                1874

 

Die soziale Frag und der österreichische Reichsrath

Dem gesetzgebenden Körper im österreichischen „Kaiserstaat“ ist von Wiener Arbeitern ein Memorandum (Denkschrift) vorgelegt worden. „Ueberall im Reiche“ heißt es darin, „insbesondere aber in den industriellen Bezirken von Böhmen, Mähren und Schlesien nimmt die Sterblichkeit in erschreckendem Maße zu. Der Hungertyphus fordert täglich neue Opfer. Dazu kommt, daß aller Orten die Zahl der Arbeitslosen in stetem Steigen begriffen ist“. (…)

Voran steht das allgemeine Wahlrecht; da aber der Reichsrath vermuthlich eine so „tiefgreifende Verfassungsänderung“ nicht sofort vornehmen kann, so liegt doch kein Hinderniß vor bis zur Durchführung derselben „die Errichtung von Arbeiterkammern in allen Handelskammer = Bezirken  vermittels einer  kurzen Gesetzesnovelle zu votiren. (…)

Der österreichische „Reichsrath“ mit Gruppensystem, der aus einem Klassenwahlsystem hervorgegangen ist und zum weitaus überwiegendem Theile aus adeligen Groß = Grundbesitzern, politischen Strebern, Paffen und „auswärtigen“ Großbauern besteht – welch letztere nur ausnahmsweise deutsch verstehen und deshalb bei Verhandlungen, die ihnen geradeso verständlich sind, wie der Nachtgesang der Hottentotten, „aufs gerathewohl“ mit ja oder nein stimmen – wird sich also zum ersten Mal  mit der sozialen Frage ausführlich zu beschäftigen haben, vorausgesetzt, daß der hohe Reichsrath so anständig ist dem Memorandum die Aufmerksamkeit zu schenken, zu welcher er als „Volksvertretung“ verpflichtet ist. (…)

 

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f) Pressefreiheit, Redefreiheit, Versammlungsfreiheit

Die dieser Einführung folgenden Quellentexte aus dem „Volksstaat“ und dem „Volksstaat – Erzähler“ ermöglichen eine Einschätzung zu den drei genannten Kriterien, durch die beiden Presseorgane selbst, durch die Veröffentlichung der stenographischen Berichte der Reichstagsreden und durch die Zitate aus Presseorganen der Zeit und der verschiedenen politischen und weltanschaulichen Richtungen und nicht zuletzt die Verfolgungsmaßnahmen, den die deutsche Arbeiterbewegung insgesamt in dem vorwiegend zu betrachtenden Zeitraum

ausgesetzt war.

 

g) Lage inner - und außerhalb Europas, Portugal, Italien, Dänemark, Russland.

 

Italienische Briefe an den „Volksstaat“.                                Mailand, den 13. Sept. 1871

Wenige Leser des „Volksstaat“ haben gewiß Gelegenheit, italienische Reisebeschreibungen zu lesen, wie sie von sentimentalen  Frauenzimmern oder überspannten herumziehenden Roman – Schmierern geschrieben werden; wer aber derartige gelesen hat, der wird finden, daß nachstehende Schilderungen gewaltig verschieden sind von den ersteren. Warum findet diese Verschiedenheit statt? Ich will es Euch sagen: Der reisende Bourgeois, mit dem rothem Buch unter dem Arm, und den tausenden seinen Arbeitern ausgepreßten Franken, bewundert nur die „Schätze und Denkmäler“ der Zeit des finsteren Fanatismus und des üppigen Schwelgerthums, was je die Welt erlebt, Schätze hervorgebracht durch unumschränkte Gewalt über das Leben und die Arbeitskraft des Volkes, die Milliarden und aber Milliarden gekostet haben, und mit deren Geldwerth man das Volk seit Jahrhunderten hätte lehren und bilden können! Diese Schätze und deren Werth umgewandelt in nützliche Arbeit und angewandt im Sinne der Humanität, würden die Mittel geliefert haben, den sozialen Krisen und Revolutionen vorzubeugen, ein Meer von Blut, Schmerz und Thränen in den Adern der unglücklichen Bevölkerung zum Wohle Aller zur weiteren Nützlichkeit werden zu lassen, – Doch zurück zu unserem Bourgeois = Reisenden. Er geht in die feinen Hotels, die ihm sein Handbuch anweist, er sieht nicht das Elend der Bettler und Vagabunden, die außerhalb der Stadtmauer herumliegen und für 20 – 30 Pfennig ihr Läuse – und Lumpenleben fristen, er lernt nicht die Verhältnisse der Arbeiter kennen, die hier nach einem viel grausameren System ausgesaugt und mit Füßen getreten werden als bei Euch zu Hause, weil dem Arbeiter hier die euch schon in der Jugend zu Theil gewordene Bildung abgeht, weil er und sein Weib, von Kindesbeinen in der Gewalt der Pfaffen, von letzteren nur zu einem kriechenden Gehorsam gegen seinen Signor erzogen wird, weil ihm der gesunde Sinn, sich mit seinen Lebensgefährten zu verbinden, abgeht, weil er sich nicht denken kann, daß es ein Menschenrecht, eine Gleichheit, eine Brüderlichkeit giebt! (…)   

 

Nr. 38                                                  Sonnabend, 11. Mai                                                 1872

 

Zur internationalen Reaktionswirtschaft.  III.

Auch das kleine Zaunkönigreich Dänemark hat der Versuchung nicht widerstehen können, mit einzuspringen in den internationalen Reaktionsreigen. Wie ein Telegramm aus Copenhagen besagt, wurde daselbst eine von den Mitgliedern der Internationalen auf vorigen Sonntag anberaumten Versammlung, „als die öffentliche Ruhe und Sicherheit gefährdend“, polizeilich verboten, und in der Nacht vom 4. Auf den 5. d. M., vier Mitglieder der Internationalen verhaftet: Der Redakteur des „Sozialisten“, Pio und drei Vorstandsmitglieder des Arbeitervereins. Wir danken der Copenhagener Regierung für den Dienst, den sie unserer Sache in Dänemark leistet.

 

Nr. 34                                                 Sonnabend, 27. April                                                1872

 

                                                                                                        76

Die traurige Lage belgischen Kohlenarbeiter.

Aus der Brüsseler „Liberté“ übersetzt.

Jeder weiß, daß die Grubenarbeiten in Arbeiten über und unter Tage zerfallen. Die Dauer der Arbeit über der Erde beträgt im Allgemeinen in den sieben Kreisen zwölf Stunden, von 6 Uhr Morgens bis 6 Uhr Abends und von 6 Uhr Abends bis 6 Uhr Morgens.; in der Provinz Namur erreicht sie sogar dreizehn Stunden. Die Arbeiter sind demnach in zwei Brigaden getheilt. Ein Gruben = Ingenieur hat im Jahre 1869 den seltenen Muth gehabt, diese Arbeitsdauer besonders für die Maschinisten übertrieben zu finden. Das einzige Heilmittel liegt darin, daß man die Zahl der Brigaden auf drei erhöht und den Normaltag auf acht Stunden beschränkt. (…)  

 

7. Der Leipziger Hochverratsprozess.

Die Berichterstattung über den Leipziger Hochverratsprozess gegen Bebel, Liebknecht und Hepner beginnt mit der Ausgabe des „Volksstaat“  Nr. 21 Mittwoch, 13. März 1872, mit der Veröffentlichung der Anklageschrift.

Die Anklage wird begründet mit Kontakten und organisatorischer Verbindung zur Internationalen Arbeiterassoziation (IAA). Zitiert wird aus dem „Felleisen“, dem Presseorgan der IAA mit Sitz in Genf. Der Vorwurf richtet sich gegen das, aus Sicht des Gerichts, darin zum Ausdruck gekommene Bestreben, die Monarchie zu beseitigen, und ihre Stelle einen „europäischen Freistaatenbund“ zu errichten. Die Mitglieder Organisation werden verpflichtet mit vollem Einsatz an diesem Ziel mitzuarbeiten.

Die Anklageschrift nimmt Bezug 5. Vereinstag der deutschen Arbeitervereine im September 1868, wo ein Zusammengehen mit der IAA beschlossen wurde, und unter Bezugnahme der Ausgabe Nr. 33 des „Demokratischen Wochenblattes“, in dem die Zielsetzung einen „freien Volkstaat“ zu begründen ihren Ausdruck fand.

Es folgen Zitate aus dem „Volksstaat“ der Jahrgänge 1870 und 1871 und ein Hinweis auf die Solidaritätserklärung mit dem Aufstand der Pariser Kommune.

In den Ausgaben, die auf die Anklageschrift folgen, wird ohne Unterbrechung täglich in allen Einzelheiten über den Prozessverlauf berichtet, bis zu seinem letzten Verhandlungstag, dem 25. März 1872, der mit den Verteidigungsreden der Anwälte endet.

Bebel und Liebknecht werden jeweils zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt, Hepner wird freigesprochen. Über die Festungshaft selber finden sich keine Berichte.

In den folgenden Wochen und Monaten werden Urteile der Presse der Presse im In – und Ausland zum Inhalt, Verlauf und Ergebnis des Prozesses oft im Originaltext wiedergegeben.

 

8. Reichstagsreden.

 

Reichstagsreden werden weniger häufig in den Volksstaatsausgaben wiedergegeben. Die Beurteilung der Reden muss vor dem Hintergrund der Einschätzung gesehen werden, die von der Sozialdemokratie gegenüber dem Reichstag als Verfassungsorgan vorgenommen wurde

 

9. Beziehung zum Christentum und Kirche

 

Es finden sich in den Ausgaben des „Volksstaat – Erzählers“ uns des „Volksstaat“ breit angelegte Abhandlungen philosophischen und theologischen Inhalts, die im Gegensatz stehen zur Ablehnung der Kirchen und christlichen Konfessionen. Die Diskussionskultur zu philosophischen und theologischen Themen, lässt kein Bestreben erkennen, einen Weltanschauungsstaat zu begründen oder gar diktatorisch zu verfügen.

 

                                                                                                     77

10. Pariser Kommune.

Die Solidaritätsbekundungen des ADAV und der SDAP gleichermaßen für die Pariser Kommune von März bis Mai 1871 hatten viel Unmut und Befürchtungen ausgelöst.

Ein Bericht dazu aus dem „Volksstaat“ Nr. 37 Mittwoch, 7. Mai 1873:

Die Commune ist todt!

Rief jubelnd die internationale Assoziation der Ausbeuter, Unterdrücker und Volksverdummer, als in der „blutigen Maiwoche“ 1871 die Pariser Commune mit 40,000, von den Söldnern der heutigen Unordnung ermordeten Proletariern.

Nicht volle zwei Jahre sind seitdem vergangen. Die „Sieger“ nutzten ihren Sieg mit unerbittlicher, durch keine Rücksichten der Humanität abgeschwächte Consequenz aus. Unter der Führung eines „Staatsmannes“, mit dessen Erfahrung und Scharfblick sich kein „Staatsmann“ in Deutschland messen kann, wurde die systematische Ausrottung des Sozialismus in Angriff genommen. „Geniale“ Polizeispitzel, verglichen mit denen „unser“ Stieber ein töpelhafter Stümper ist, durchschnüffelten Paris und Frankreich. Die Gefängnisse reichten nicht aus für die Masse der Eingekerkerten. Tausende von Proletariern sind auf den Pontons und in dumpfigen Löchern verfault; Tausende auf die trockene Guillotine geschickt worden. Ohne Unterlaß bis auf den heutigen Tag haben die Kriegsgerichte „gearbeitet“, und ihre „Energie“ wird bezeugt durch die lange Liste der Märtyrer, die auf der Ebene von Satory den gesellschaftsrettenden „Pulver und Blei“ – dem wahren Gott der modernen Zündnadel = und Chassepot = „Cultur“ zum Opfer gefallen sind. Die Vertreter des heutigen Klassenstaats strengten ihr Hirn an, um möglichst wirksame Gesetze zur Vertilgung der sozialistischen Idee zu erfinden – die eiserne Faust des Kriegsrechts hält seit 23 Monaten die Mutterstadt der Revolution umspannt. – (…)

 

11. Gegensätze ADAV – VDAV/SDAP von Schweitzer, Hasenclever, Bebel, Liebknecht

 

Nr. 88                                               Sonnabend, 2. November                                            1872

 

Beilage zum Volksstaat Nr. 88.

 

Der „Neue Sozial = Demokrat“

antwortet unter dem 19. Oktober auf unsere von ihm so genannte „Schmähschrift“, und macht dabei wiederum das alte hinterlistige Manöver, sich als das Lämmchen und uns als den Wolf hinzustellen, der mit allem Mitteln die deutschen Arbeiter zerreißen wolle. (…)

 

Aus diesen wenigen Sätzen lässt sich entnehmen, wie die Stimmung unter den beiden Arbeiterparteien zu dem Zeitpunkt noch war. Dazu ist es angebracht, die Hauptakteure ins Licht zu rücken.

 

Johann Baptist Schweitzer und Wilhelm Hasenclever.

Wenn Johann B. Schweitzer und Wilhelm Hasenclever zusammen genannt werden, so geht es um ihre Bedeutung in der Arbeit für den ADAV, in dem sie beide als Führungspersönlichkeiten zur Bedeutung gelangt sind.

Nach dem Tode Lassalles arbeitete sich Schweitzer langsam in den Vordergrund, sie Nachfolger Lassalles hatten als Führungspersönlichkeiten nicht die Erwartungen erfüllen können, das galt auch für den letzten Präsidenten August Perl, bevor Schweitzer am 19. Mai 1867 auf der Generalversammlung zum Präsidenten gewählt wurde.

 

                                                                                                       78

Der Verein war zu dem Zeitpunkt in einem schlechten Zustand.233 Es verbanden sich daher mit der Wahl Schweitzers Hoffnungen, er könne den Verein aus der Krise führen. Schweitzer entsprach diesen Erwartungen und brachte Stabilität, allerdings für einen Preis, den manche Mitglieder als zu hoch erachteten, den Verein verließen und sich als LADAV neu formierten. Schweitzer  wurde ein diktatorischer und autoritärer Führungsstil angelastet. Im ADAV herrschte ein Grundsatz, der mit dem Begriff „Diktatur der Einsicht“ umschrieben wurde. Was zu Anbeginn seiner Präsidentschaft erfolgreich verlief, in dem er die Möglichkeiten einer demokratischen Willensbildung einschränkte und die Organisation straffer gestaltete. Es zeigten sich aber im Verlauf seiner Präsidentschaft die nachteiligen Folgen seines Führungsstils.234 Als Herausgeber der Parteizeitung „Social – Demokrat“ hatte er sich einen beherrschenden Einfluss geschaffen, den er zusätzlich zu nutzen wusste.235 Sein Demokratieverständnis orientierte sich an einer plebiszitären – diktatorischen Form. Er besänftigte seine Kritiker und relativierte seinen diktatorischen Führungsstil:

„Der Präsident soll nicht ein absoluter Diktator sein – er soll diktatorische Gewalt haben nur soweit dies zur Herstellung und Erhaltung einer kampffähigen und machtvollen Partei nötig ist. Der größte Vorzug der Lassalle’schen Organisation ist der: dass sie das strenge Prinzip in der praktisch – wirksamen Einrichtung verkörpert. (…) Ja. Wir haben eine Diktatur in unserem Verein, und weil die Gegner diese am meisten fürchten, richten sie gerade hiergegen ihre wütenden Schmähungen. Aber wir haben die Diktatur nur soweit, als sie zur Kraft und Tragfähigkeit der Partei durchaus notwendig ist; die Diktatur darf nicht eine unbegrenzte sein und sie muss unter Überwachung liegen.236 Schweitzer sah sich selbst als idealen Führer innerhalb des Vereins und auch in der nach seinen Vorstellungen zukünftigen Gesellschaft. Die Beurteilung Schweitzers durch Zeitgenossen fiel durchweg nachteilig aus – zunächst vor allem von Seiten des VDAV und SDAP, nach Schweitzers Rücktritt aber auch zunehmend vom ADAV selbst – weshalb er insgesamt auch nicht als idealer Arbeiterführer, sondern eher als Negativbeispiel galt. Einige differenzierten ihre Kritik und honorierten, wie Bebel, die guten Seiten Schweitzers Jahre später: „Nach wie vor erkenne ich an, dass in Bezug auf Talent und Geschick er der bedeutendste Führer war, den bis heute die Sozialdemokratie hatte, aber seine schlimmen Charaktereigenschaften und seine Leidenschaften führten ihn auf Abwege.

 

233 Stangl, Christine: Sozialismus zwischen Partizipation und Führung.

                                  Herrschaftsverständnis und Herrschaftsbild der sozialistischen deutschen

                                  Arbeiterbewegung von den Anfängen bis 1875. Berlin 2002 S. 209

234 ebd. S. 209

235 ebd. S. 210

236 Zitiert bei Stangl S. 210

 

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Wäre er wirklich ein ehrlicher Mann gewesen, der ehrlich der Bewegung dienen wollte, er wäre bis zum letzten Tage seines Lebens der erste Führer seiner Partei geblieben. (…Es kommt in der Sozialdemokratie) auf den Charakter der Führer an. Es steht für die Masse zu viel auf dem Spiel, und da traut sie mehr der Ehrlichkeit als der Genialität.“237

Schweitzer trat auf der Generalversammlung im Mai 1871 von seinem Amt zurück und gab gleichzeitig die Einstellung des „Social – Demokrat“ bekannt. Mit seinem Rücktritt war die Zeit zu Ende, in der die Organisation offen zum Zwecke der Machterhaltung benutzt und die Mitwirkungsmöglichkeiten der Mitglieder weitgehend beschnitten wurden.238

Am Tage des Rücktritts von Schweitzer wurde Wilhelm Hasenclever auf derselben Generalversammlung zum Präsidenten des ADAV gewählt. Er war auf Ausgleich bedacht und versuchte die verschiedenen Strömungen im ADAV zu integrieren. Er war beliebt, besondere Beliebtheit erlangte er durch seine Gedichte, die literarisch zu den hochwertigsten in der Arbeiterliteratur gewertet werden können.239 Wilhelm Hasenclever kannte keine diktatorischen Gelüste. Die Änderung der Statuten im Sinne einer Demokratisierung nahm er nicht in Angriff, was seinem Persönlichkeitsbild entsprochen hätte. Die Mitwirkungsmöglichkeiten der Mitglieder verbesserten sich zusehends, und es konnte eher von einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit gesprochen werden. Seine Vermittlertätigkeit erstreckte sich auch auf die beiden Parteien der Arbeiterbewegung, die sich zeitweise über einen langen Zeitraum bekriegt hatten. Während der Präsidentschaft Hasenclevers geschah der Mitgliederzuwachs am erfolgreichsten. Er bildete aufgrund seiner gewinnenden Persönlichkeit und Integrationsbereitschaft wichtige Voraussetzungen für die Vereinigung der beiden Parteien in Gotha 1875.240

August Bebel und Wilhelm Liebknecht.

Liebknecht und Bebel haben von frühester Jugend den Kampf für die Sozialdemokratie aufgenommen.

Wie Liebknecht hat Bebel von den kleinsten Anfängen bis zum VDAV über die SDAP zur SAP den Weg dieser drei Organisationen und den Aufstieg der Sozialdemokratie mit gestaltet.241

Über die Schriften von Lassalle, die Freundschaft mit Liebknecht und den Schlagabtausch mit dem ADAV entwickelte sich Bebel zum kämpferischen Sozialisten. Er lehnte es ab Modellbeschreibungen über den sozialistischen Staat der Zukunft  

 

237 Stangl S. 212 f

238 ebd. S. 213 f

239 ebd. S.214

240 ebd. S. 214 f

241 Stangl: Sozialismus zwischen Partizipation und Führung. S. 230

 

                                                                                                          80

und den Aufbau seiner Gesellschaft zu liefern.242 Ein historischer Entwicklungsprozess sollte hinführen zu einer anderen Staats – und Gesellschaftsordnung. Bebel war überzeugt vom bevorstehenden „Kladderadatsch“ der kapitalistischen Ordnung und damit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Ihr Zusammenbruch würde die Tür öffnen zu einer besseren Welt.243

Bebel war kein Anhänger der Monarchie oder des sozialen Königtums. In einer Reichstagsrede am 3. April 1871 äußerste er sich entsprechend. Es sei für ihn unvorstellbar, dass Fürsten und Könige sich für soziale Belange verwenden könnten.

„Der Staat ist das Volk, und wohl ohne Fürst, nicht aber ohne Volk denkbar; die Regierung ist die Dienerin des Volkes.“ Mit diesem Satz umreißt Bebel seine Vorstellung, er sprach gegen Einzelherrschaft, und war ein Gegner diktatorischer Ambitionen.244

Es gibt bei Bebel keine genaue Wegbeschreibung für eine Übergangsherrschaft hin zum neuen Staat der Zukunft, die im Kommunistischen Manifest über die Diktatur des Proletariats führen sollte. Bebel hat die oben genannten drei Organisationen maßgeblich mitgestaltet und hat Aussagen über verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten zum Aufbau einer Partei gemacht. Er entwickelte seine Vorstellungen in der praktischen Arbeit für den VDAV und zog Lehren in den Zusammenstößen mit dem ADAV. Die Leitung einer idealen Partei wäre nach Bebels Vorstellungen nicht eine „Führung“, sondern ein mit organisatorischen Aufgaben betraute Verwaltungsstelle.245 Bebel war der populärste Führer der vereinigten Sozialdemokratie, mit ständig zunehmender Autorität. Er wandte sich gegen Führerkult und Persönlichkeitsrummel. In solchen Tendenzen sah er Gefahren für reges politisches Leben. Autorität müsse auf Vorbild und Leistung gegründet sein.246

Wilhelm Liebknecht und August Bebel sind zwei Namen, die unzertrennlich miteinander durch ihre gemeinsame organisatorische Tätigkeit und Parteiarbeit miteinander verbunden sind wie die Namen von Marx und Engels. Liebknecht war stets ein Verfechter der Theorien von Marx und Engels. Über den Staat der Zukunft, den „freien Volksstaat“ hat Liebknecht keine genauen Definitionen verbreitet, und sich auch nicht in Diskussionen darüber eingelassen. Liebknecht befand sich in einem Punkt im Gegensatz zu Marx und Engels und nach dem Sozialistengesetz auch im Gegensatz zur Partei. Dass der Staat „absterben“ würde konnte sich Liebknecht nicht vorstellen.247

 

242 ebd. S. S. 231

243 ebd. S. 232

244 Zitiert bei Christine Stangl unter Hinweis auf Bebels Rede zum Entwurf der Verfassung für das Deutsche  Reich am 3. 4. 1871.entnommen aus Bebels ausgewählte Reden, Band 1 (1970) S. 138

245 Entsprechendes Zitat bei Christiane Stangl: S. 237

246 Entsprechendes Zitat bei Christiane Stangl entnommen bei Wolfgang Abendroth: August Bebel. Der

    Volkstribun in der Aufstiegsperiode der deutschen Arbeiterbewegung in Frankfurter Hefte, Jg. 10 1963

247 ebd. S. 218

 

 

                                                                                                  81

Er war ein dezidierter Gegner der Monarchie. Den Gedanken an ein mögliches soziales Königtum, wie er bei Lassalle vorkommt, ließ Liebknecht nicht an sich herankommen. Er verwarf die Taktik Lassalles, der im Kampf gegen die liberale Richtung der Fortschrittspartei, bereit war mit der Monarchie ein politisches Bündnis einzugehen.248

Liebknecht war ein überzeugter Republikaner. Aber auch der Republik stellte er Bedingungen, er machte sein Urteil abhängig von der erfolgreichen Verwirklichung des Gleichheitsprinzips in einer Republik: „Die Frage: Republik oder Monarchie ist zum Teil nur eine Formfrage. Das Prinzip. Um das es sich hier in erster Linie handelt, ist das Gleichheitsprinzip, und das kann in der Republik so gut verletzt werden wie in der Monarchie. Eine Republik, welche auf Klassenherrschaft beruht, verletzt das Gleichheitsprinzip in der Person des Kapitalisten und Proletariers und bringt es nur zur Geltung, indem es die eine Person des Fürsten wegräumt. Man kann Republikaner sein, ohne die Klassenherrschaft beseitigen zu wollen. Wer aber die Klassenherrschaft beseitigen will, ist selbstverständlich Republikaner.“249 Liebknecht erstrebte als Staatsform eine „sozialdemokratische Republik“ und in einer zukünftigen deutschen Verfassung einen zentralisierten „allgemeinen freien Völkerbund“ an. Seine Hauptkritik galt Schweitzer, weil er nach seinem Dafürhalten besonders energisch die „monarchische Organisation“ verteidigte.250

 

12. Internationale Arbeiter – Assoziation. (IAA)

Der Gedanke an die internationale Solidarität der Arbeiterschaft war das Herzstück des Kommunistischen Manifestes mit der alles umfassenden Forderung: „Proletarier aller Länder vereinigt euch.“ Am 17. Juli 1870, als sich im Umfeld zunehmender Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich, die Möglichkeit eines militärischen Konfliktes zwischen beiden Ländern abzeichnete, erklärte Liebknecht auf einem Kongress der SDAP in Chemnitz in Sachsen: „Niemals werden wir vergessen, dass die Arbeiter aller Länder unsere Freunde sind, aber die Despoten aller Länder unsere Feinde.“ Der Kongress wurde von hundert Delegierten beschickt, die in einer Resolution den Krieg als einen dynastischen Krieg verurteilten.251

Die Bemühungen der Internationalen Arbeiterassoziation, (IAA) den Nationalstaatsgedanken zu überwinden, scheiterten mehrfach.
 

247 ebd. S. 218

248 Stangl: S. 218 f  Liebknecht war auch bei Marx und Engels vorstellig geworden, und sich über Lassalle

                               Beklagt für Lassalles Bereitschaft der Monarchie entgegen zu kommen.

249 Zitiert bei Stangl S. 219

250 ebd. S. 223

251 Dominick, Raymaond H.: Wilhelm Liebknecht and the Founding of the German Social Democratic Party. North Carolina Press 1982 S. 192

 

                                                                                                  82

Nach ihrer Verlegung nach New York löste sich die IAA 1872 auf.252 Das Nationale lag näher, das Internationale war in die Ferne gerückt, ihm wurde auch unter den Arbeitern die geringere Beachtung geschenkt.

13. Der Gründerkrach.

Der Volkstaat Nr. 14.                       Mittwoch, 4. Februar                                               1874

Ueber die letzte Gründungsepoche.

Den Lesern des „Volksstaat“ sind die Vorgänge an den Börsen beider Hemisphären wohl bekannt. Wir erleben jetzt wieder einmal den letzten Akt, jener tollen Farce, die, so oft sie schon aufgeführt worden, und so dumm sie dem Einsichtigen auch erscheinen mag, doch immer und immer wieder ihr Publikum findet und die auch so recht das wahrste und ureigenste Produkt der heutigen Gesellschaft ist: Nach einer kurzen Epoche scheinbaren Emporblühens aller wirthschaftlichen Verhältnisse, nach einer Zeit, in welcher die schwarze Kunst erfunden zu sein schien, ungemessene Reichthümer nach irgend einer Zauberformel nur so aus der Erde hervorzustampfen – der Arbeit zum Hohn, der einzig wahren Mutter allen Reichthums, nach einer solchen Epoche gemalten Wohlergehens – ein plötzlicher Zusammenbruch des ganzen schimmernden, lustigen, haltlosen Gebäudes. (…)

 

Herbeigeführt durch die fünf Milliarden Goldfrancs, die Frankreich zur Zahlung durch den Frieden von Frankfurt 1871 auferlegt worden waren, ereignete sich ein konjunktureller wirtschaftlicher Aufschwung, der sich alsbald als ein konjunkturelles Strohfeuer erwies, das die Spekulation befeuerte und 1873 zum Zusammenbruch der Börsenkurse dem „Gründerkrach“ führte.

14. Verfassungsfragen.

Volksstaat Nr. 32                                     Sonnabend, 19. April                                           1873

Unsere Partei und die Reichstagswahlen.

Spätestens in den ersten Monaten des nächsten Jahres finden die allgemeinen Neuwahlen zum Reichstag statt. Ueber unsere Stellung zum Reichstag ein Wort zu verlieren ist unnütz; wir hegen ihm gegenüber keine Hoffnungen und keine Befürchtungen. Der Reichstag ist wie jede andere unserer sogenannten Volksvertretungen der Ausdruck der Klassenherrschaft, der Bourgeoisie, seine Befugnisse sind beschränkt und werden beschränkt bleiben, da er selbst kein Bedürfniß und keine Neigung empfindet, sie zu erweitern.

 

15 Gewerksgenossenschaften.

 

Berichte über Gewerksgenossenschaften der unterschiedlichen Gewerke, über Gewerkschaftsarbeit, Organisationen und Streiks nehmen von der ersten Ausgabe des „Volksstaat“ breiten Raum ein.

 

Beispiele aus Volksstaat Nr. 46                Mittwoch, 22. April                                            1874

 

Gewerksgenossenschaftliches.

 

Verein der Sattler und verwandten Berufsgenossen.

 

252 Brauns, Nikolaus: Revolution und Konterrevolution. Bonn 2006 S. 11

Verein der Sattler und verwandten Berufsgenossen.

 

                                                                                                       83

Leipzig, 14. April. In der gestern stattgehabten Gewerkschaftssitzung, zu der sich von 55 Mitgliedern leider nur ca. 20 eingefunden hatten, sprach Seiffert über die Gewerkschaftsbewegung. Es wurde anerkannt, daß eine beständige Agitation erforderlich sei, wenn die Gewerkschaft je erstarken solle. Auf Anregung des Referenten einigte man sich, den Ausschuss durch das Organ dringend zu ersuchen - was hiermit geschehen sein soll – sich die Gründung eines Agitationsausschusses angelegen sein zu lassen. Möge der Ausschuß baldmöglichst Schritte zur Verwirklichung dieses Vorschlages thun.

                                                                                                Karl Heidecke, Vertrauensmann

Gewerkschaft der Schuhmacher.

Laut Beschluß einer allgemeinen Schuhmachergehilfenversammlung ist Sonnabend den 18. April die Arbeit gekündigt, um dieselbe Sonnabend, den 25. April einzustellen. Von 400 bis 450 arbeitenden Gehilfen werden etwa 350 am Strike theilnehmen. Alle Briefe sind zu senden an Moritz Hörtzsch, Haustraße 25, Hof 3 Treppen in Leipzig. Alle Gelder wolle man senden an Joseph Reißner in Leipzig, Taudeaerstr. 29, 4 Treppen. Weiterer Bericht folgt.

 

Allgemeiner deutscher Schneiderverein.

Landshut. Es ist nun ein Jahr verflossen, daß wir hier durch vereintes Zusammengehen in der Lohnerhöhungsfrage ein günstiges Resultat erzielen konnten. Wenn auch in einer oder höchstens zwei Werkstätten der vorjährige Tarif noch eingehalten wird, so ist doch auch der Beweis schon geliefert, daß selbst in dem anerkannt bestem Geschäft von Arbeitern, welche außer Hause beschäftigt sind, dieser Tarif schon lange als nicht existent, der Willkür und eigenem Ermessen des Prinzipals zum Opfer gebracht werden mußte. Da nun die hiesigen Schneidermeister, von denen nebenbei bemerkt, ein sehr kleiner Bruchtheil das Jahr eine gewisse Zahl von Arbeitern zur Noth beschäftigen kann, auch dem Gauverband süddeutscher Schneidermeister beigetreten sind, so steht zu erwarten, daß vielleicht doch in nächster Zeit durch pomphafte Annoncen von guter Bezahlung, dauernder Arbeit u. s. w. Arbeiter nach Landshut gegängelt werden. (…)                  Mit Gruß Heinrich Wünschheim

 

Verband der Klempner (Spengler) und verwandten Berufsgenossen.

Hannover. Der Strike der Klempner aus der Bernsdorf = und Eichwedeschen Fabrik dauert unverändert fort. Die hohe Polizei ist bereits den Fabrikanten beigesprungen und hat den Bevollmächtigten Martens und noch seinen Collegen morgens in aller Frühe verhaftet. Sämtliche Collegen werden ersucht, Sammlungen zu veranstalten, um diejenigen zu unterstützen, welche aus der Hauptkasse nicht unterstützt werden können. Alle Unterstützungen sind zu senden an G. Schlemmer, Heinrichstraße 2.

Mit Gruß, Verwaltungsrath. I. A.: W. Metzger

 

Metallarbeitergewerkschaft.

Chemnitz. Der Ruf „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“ ist die Parole, mit der die Arbeiter in Reih und Glied treten, und das Joch des Kapitalismus abzuschütteln. Macht diese Parole zu der Eurigen, dann kämpfen wir Einer für Alle und Alle für Einen. Collegen ein jeder von Euch weiß, daß die meisten Fabriken reine Zuchthäuser sind, in welcher unsere Arbeitskraft gegen einen Hungerlohn ausgebeutet wird; und sind wir gealtert, dann wirft man uns wie ausgepreßte Citronen zur Seite. Deshalb ist es nothwendig, daß ihr Eure Lage frühzeitig erkennen lernt und euch organisirt, wie es unsere Unterdrücker, die Kapitalisten, bereits gethan haben. (…)                                    Mit Gruß und Handschlag. Der Ausschuß.

                                                                              I. A. E. Beulich, Poststr. 34

 

16. Nationalitätenpolitik mit Schwerpunkt Elsass – Lothringen.

Das Hauptgewicht sozialdemokratischer Kritik an der Nationalitätenpolitik des geeinten deutschen Nationalstaates erstreckte sich auf die Politik,

 

                                                                                                        84

gegenüber den als Reichslande bezeichnete Elsass – Lothringen. Mit der Angliederung der „Reichslande“ ergaben sich von Anbeginn zwei Konfliktfelder. Neben innenpolitischen Hindernissen wurden die Beziehungen zu Frankreich dauerhaft gestört. Die Spannungen, die sich daraus ergaben, entwickelten sich zu einem gesamteuropäischen Unruheherd.253

Erstmalig in der Ausgabe des „Volksstaat“ Nr. 76 vom 21. September 1870 .steht auf der ersten Seite der Ausgabe an erster Stelle dick gedruckt der Satz:

Ein billiger Friede mit französischen Republik!

Keine Annexionen!

Bestrafung Bonapartes und seiner Mitschuldigen!

Diese drei Forderungen werden nahezu wöchentlich wie ein Ceterum Censeo bis zur Ausgabe Nr. 9 vom 28. Januar 1871 in immer der gleichen Aufmachung wiederholt.

Nach vollzogener Eingliederung herrschte Unsicherheit in Rechtsfragen. Französisches Recht, preußische Verordnungen und Reichsgesetze standen nebeneinander. Diese verworrene Situation wurde noch verschärft durch den „Diktaturparagraphen“. Dieser Paragraph bevollmächtigte den Statthalter des Reiches bei der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung „alle Maßnahmen“ zu treffen. Der Statthalter war zudem nur dem Kaiser verantwortlich.254 Die Elsass – Lothringer empfanden die Verweigerung einer verfassungsrechtlichen Gleichstellung als eine Erniedrigung. Den hinhaltenden Versprechungen folgten keine Entscheidungen, die eine Abhilfe bedeutet hätten.255

Mit der Fortsetzung des Krieges gegen die IV. Republik in Frankreich verschwanden allmählich die gegensätzlichen Positionen in den zwei Richtungen der Sozialdemokratie. Der lassalleanische „Social = Demokrat“ und J. B. Schweitzer schwenkten Ende April 1871 auf die von der SDAP vertretene Linie um und verurteilten die Annexion. Diese Haltung wurde beibehalten auch nach der Vereinigung von SDAP und ADAV im Mai 1875. An der Unnachgiebigkeit ihres Widerstandes änderte sich nichts.256

Hartnäckiger Widerstand wurde allen Bemühungen entgegengesetzt dem „Reichsland“ eine gleichberechtigte Stellung einzuräumen. Selbst nach einer verfassungsrechtlichen Besserstellung 1911 wurden Bundesratsstimmen weiterhin verweigert.257

Bebel sprach daher von Elsass – Lothringern „als Deutschen zweiter Klasse“ und forderte den Reichstag auf, „dafür zu sorgen, dass sie endlich Deutsche erster Klasse,
 

253 Wehler, Hans – Ulrich: Sozialdemokratie und Nationalstaat.

                                            Nationalitätenfragen in Deutschland 1840 – 1914. Göttingen 1971 S.52

254 ebd. S. 66f

255 ebd. S. 66

 

256 ebd. S. 60f

257 ebd. S. S. 75

 

                                                                                                         85

das heißt endlich Deutsche werden.258 Dagegen wurden die Versuche der Eindeutschung und das Zurückdrängen der französischen Sprache weiter vorangetrieben.259

Unentwegt haben parlamentarische Vertreter der deutschen Sozialdemokratie in den Jahren nach der Reichsgründung die Annexion Elsass – Lothringens als einzige Ursache aller Spannungen in Europa angesehen. Liebknecht sprach von einem „Verbrechen gegen das Völkerrecht“ und von einem „Schandflecken in der deutschen Geschichte“.260

Die größte nationale Minderheit bildete im Osten des neu gegründeten Deutschen Reiches die polnische Minderheit, ein Erbe, das Preußen in den deutschen Reichverband eingebracht hatte. Bismarck lehnte einen unabhängigen polnischen Nationalstaat ab. Marx führte Bismarcks Überlegungen auf die preußische Staatsraison zurück. Gleichzeitig forderte er die „Zerschlagung Preußens“ wegen der Bedeutung Polens für die angestrebte mitteleuropäische Revolution.261

Durch die Einverleibung der polnischen Grenzgebiete in den Norddeutschen Bund verloren die Polen erneut die Aussicht auf einen nationalitätenrechtlichen Sonderstatus.262 Polnische Abgeordnete protestierten im Reichstag des Norddeutschen Bundes und im Reichstag des Deutschen Reiches gegen diese verfassungsrechtliche Festschreibung. Nach der Reichseinheit wurde eine zunehmende Germanisierung betrieben, verbunden mit Repressalien, die selbst in Russland und Österreich Unmut hervorriefen.263

Die Sozialdemokratie hat zwei Politikfelder in ihrer Polenpolitik abgedeckt. Als ideales Fernziel wurde ein unabhängiges Polen angestrebt, vor allem aber wandte sie sich gegen die rechtliche Benachteiligung der polnischen Preußen. Diese politische Linie hat auch Liebknecht verfochten, mit seiner Polenfreundschaft verband er eine Russenfeindschaft, und er sah in einem unabhängigen Polen ein Bollwerk gegen Russland.264

Eine weitere Konfliktzone zeigte sich im Norden des Reiches, wo Deutsche und Dänen in einen Nationalitätenstreit geraten waren. Dieser deutsch – dänische Zusammenstoß um Staatsrecht, Sprache und kulturelle Eigenständigkeit begann 1864, als die Dänen zu einer Minderheit in Nordschleswig auf preußischem Staatsgebiet wurden. Im Prager Frieden am 23. August 1866 hatte Österreich   „alle Rechte der Herzogtümer“ auf den König von Preußen übertragen. In einem Punkt gab Bismarck dem Druck Napoleons nach, uns so wurde der Vertrag mit dem Vorbehalt ausgestattet, der eine Volksabstimmung
 

258 Zitiert bei Wehler S. 69

259 ebd. S. 77

260 Zitiert bei Wehler S. 59

261 Wehler S.108

262 ebd. S. 109

263 ebd. S. 111

264 ebd. S. 113

 

                                                                                                                82

der eine Volksabstimmung für den nördlichen Teil Schleswigs vorsah.265 Der Vertrag war mit einem Mangel behaftet: Ein Datum für die mögliche Abstimmung war nicht festgelegt, somit war die Entscheidung über den Zeitpunkt in das Ermessen Preußens gestellt worden, und enthielt zudem die Möglichkeit für Napoleon III. politisch jederzeit Druck auszuüben.266 Die dänischen Nordschleswiger hatten keinen Status als Völkerrechtsobjekt erhalten. Sie hätten allenfalls aus dem allgemeinen Selbstbestimmungsrecht der Völker eine moralische Forderung ableiten können. Die Vermutung, Bismarck habe eine mögliche Abstimmung für die Nordschleswiger bewusst umgangen, ist nicht abwegig, denn eine solche Abstimmung hätte einen Präzedenzfall geschaffen für elsass – lothringische und polnische Abstimmungsforderungen geschaffen.267

Noch vor dem Krieg 1864 war für Dänemark auf der zweiten Londoner Konferenz die Möglichkeit eröffnet worden, einen Teilungsplan anzunehmen, der annähernd den gleichen Grenzverlauf vorsah, wie er 1920 festgelegt wurde. Dänemark weigerte sich, auf den Konferenzvorschlag einzugehen, 1867/68 ließ Dänemark eine weitere Möglichkeit verstreichen. Preußens Vorschlag, Garantieforderungen für die deutsche Minderheit vor einer genauen Festlegung des Abstimmungsgebietes anzuerkennen, stieß auf dänische Ablehnung.267 Die Ergebnisse, die der Krieg 1866 für Nordschleswig mit sich brachte, haben von Bebel und Liebknecht keinen Widerstand hervorgerufen. Der Besitz Nordschleswigs ist von ihnen in den Jahrzehnten danach nie in Frage gestellt worden. Eine Haltung, die ganz im Gegensatz stand zur Beurteilung über das Verhältnis zu Elsass – Lothringen. Ein anderes Verhalten zeigte die Sozialdemokratie, als in Nordschleswig eine Eindeutschungspolitik betrieben wurde, die mit Unterdrückung und Repressalien einherging. Nach der ersten Londoner Konferenz 1852 verfolgte Dänemark vor allem in Schleswig eine Dänisierungspolitik, die auch Liebknecht nicht aus seiner Erinnerung streichen konnte. Dennoch vertrat er einen alternativen Standpunkt, der sich in der Aussage wiederfand: „Wir sind im Prinzip für die geleichen Rechte aller Menschen und folglich auch aller Nationalitäten…“ Er sah in einer solchen Nationalitätentoleranz schon deshalb eine deutsche Verpflichtung, weil deutsche Minderheiten in gleicher Weise einer Unterdrückung ausgesetzt werden könnten.268

In Nordschleswig begann eine Politik der Eindeutschung mit einer Verordnung vom 26. August 1871, in der eine Mindestzahl von Unterrichtsstunden in deutscher Sprache festgelegt wurde. 
 

265 Wehler: S. 86

266 ebd. S. 87

267 ebd. S. 88

 

268 ebd. S. 93

 

                                                                                                            87

In den folgenden zwei Jahrzehnten wurden diese festgelegten Anforderungen kontinuierlich erhöht, bis die deutsche Sprache als alleinige Unterrichtssprache verfügt wurde.269 Dieser Politik setzte die Sozialdemokratie gemäß den Maximen, die sie verkündet hatte, Widerstand entgegen.

 

17. Karl Marx, Friedrich Engels und Michael Bakunin.

Im Februar 1848 veröffentlichten Marx und Engels das Kommunistische Manifest. Es nimmt zu Beginn mit den ersten Sätzen, die dem eigentlichen Manifest vorausgeschickt werden, Bezug auf das unmittelbare aktuelle politische Geschehen der Zeit, bevor es die einzelnen Epochen der Geschichte: Altertum, Mittelalter und Neuzeit heranzieht zum Beweis der großen These: Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.

Es beginnt selbstbewusst, dass der kommunistische Gedanke bei den Mächtigen der Zeit, die im ersten Satz bereits namentlich genannt werden, als ernstzunehmende Gefährdung der bestehenden Macht – und Gesellschaftsverhältnisse angesehen wird.

Mit der Feststellung dieser politischen Realität wird die Herausgabe eines Manifestes als notwendig angesehen, um vagen Vorstellungen – es war von einem „Gespenst“ die Rede das in Europa umgeht – ein Fundament zu geben, auf dem Umbau und Bau sich vollziehen lassen.270

Mit der Herausgabe des Manifestes sind zwei Namen verbunden, die unzertrennlich die weitere Entwicklung begleiten. Ihre Köpfe werden in den nachfolgenden Jahrzehnten, besonders im 20. Jahrhundert, auf Fahnen und Transparenten um die Welt getragen, als Träger einer Hoffnung.

Die Namen Karl Marx und Friedrich Engels markieren einen historischen Einschnitt, beide können als Wegbereiter einer neuen Zeit angesehen werden. Ohne Übertreibung und ohne damit schon ein Werturteil abzugeben, ist Karl Marx der wirksamste und umstrittenste deutsche Denker der Neuzeit.271

Der Schlusssatz des Kommunistischen Manifestes: „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ bekräftigt die Absage an national ausgerichtete Bestrebungen der Zeit. Das galt besonders für Deutschland, das um seine nationale Einheit rang. Die Aussagen des Kommunistischen Manifestes schufen nicht nur klassenspezifische Gegensätze,

269 Wehler S. 93

270 Kommunistisches Manifest, Trier Ausgabe 1995 S. 3

271 Euchner, Walter: Karl Marx. München 1983 S. 7

 

                                                                                                               88

sondern auch einen Nationalitätenkonflikt, der im Gegensatz stand zur Nationalstaatsidee, die im Zuge bürgerlicher und liberaler Gedankengänge nach Verwirklichung trachtete.272

Karl Marx, am 5. Mai 1818 in Trier geboren, wuchs auf in einem Umfeld, in dem die Ideen der Aufklärung und das liberale Gedankengut der Zeit bestimmend waren.273

Die Begegnung mit Ludwig von Westfalen, seinem späteren Schwiegervater, lässt keinen richtungsweisenden Einfluss erkennen, beide verbanden literarische Neigungen. Er vermittelte Karl Marx auf den gemeinsamen Wanderungen die Gedankenwelt des französischen Sozialisten Saint – Simon, dem Marx seine Dissertation widmete.274 Mit achtzehn Jahren heiratete er Jenny von Westfalen und geriet damit in ein familiäres Umfeld, das keine Grundlage erkennen ließ, für seine späteren revolutionären Neigungen.275 Die Familie von Westfalen bot ein Bild politischer Vielfalt, von der Anhängerschaft zur Paulskirchenverfassung bis zur konstitutionellen Monarchie und konservativer Einstellungen. Ein Bruder seiner Frau brachte es bis zum preußischen Innenminister. Seine Frau Jenny und einer ihrer Brüder hatten sich einer radikalen Dichtung verschrieben.275

Die Vorfahren mütterlicher – und   väterlicherseits entstammten einer festgefügten, lange zurückliegenden rabbinischen Tradition; darunter große Namen der Geschichte jüdischen Geistes.277 Es gibt Hinweise, dass die Begabung, die aus dem Werk von Karl Marx herausleuchtet auf eine jüdische Denktradition zurückgeführt werden kann, die sich auszeichnet durch Scharfsinn und logische Schlussfolgerungen bei Textkritik und Beweisführung. Es sei der Geist der jüdischen Theologie und Tradition in der Gedankenwelt von Karl Marx gegenwärtig und lebendig geblieben, die auf eine Botschaft der Erlösung in einem kommenden Reich Gottes gründet, die im Zentrum der christlichen und jüdischen Botschaft, allerdings unter anderen geistigen Voraussetzungen wiedergefunden werden kann.278

Über die Schwester seiner Mutter war Marx mit dem holländischen Bankier Philipps verwandt, dem Gründer des namhaften Elektrokonzerns. Es boten sich also alle Voraussetzungen für einen gesellschaftlichen Aufstieg mit den Fähigkeiten und Begabungen die Ihm eigen waren. Er hat bekanntlich einen anderen Weg gewählt, den politischen Kampf für die ärmsten Menschen der Zeit, ein Kampf, der mit Leiden und Entbehrungen verbunden war.

 

272 Euchner: S. 9

273 ebd. S. 9

274 ebd. S. 9

275 ebd. S. 9

275 ebd. S. 9

277 ebd. S. 10

278 ebd. S. 10 f

 

                                                                                                          89

Wenn von geistiger Symbiose die Rede ist, dann müssen Marx und Engels gemeinsam genannt werden, denn es ist unmöglich, das Werk des einen zu behandeln und zu würdigen, ohne das Zusammenwirken beider einzubeziehen.279

Friedrich Engels, geboren am 20. November 1820, entstammte einer alteingesessenen Industriellenfamilie aus Barmen. Zwei Einflüsse begleiteten Engels in seiner Kindheit. Das pietistische Elternhaus und die schädlichen Folgen der Industrialisierung des Wuppertales.280 Ein Jahr vor dem Abschlusstermin verließ Engels das Gymnasium ohne Abitur. Der Vater hatte ihn bewegen können, einen angemessenen Beruf zu erlernen. Er begann eine Kaufmannslehre im elterlichen Unternehmen in Bremen. Auf diesem Lebensweg entdeckte und pflegte er seine literarischen Neigungen. 1841 ging er nach Berlin, um seiner Militärpflicht zu genügen. Berlin hatte er als Ort mit Bedacht gewählt mit der Aussicht auf die Möglichkeit, an der Berliner Universität als Gasthörer philosophische Vorlesungen zu belegen. Er geriet schnell in eine radikale Studentengruppe, zu der er sich hingezogen fühlte. Auf der Durchreise nach Manchester hatte Engels eine Begegnung mit Marx in den Räumen der „Rheinischen Zeitung“, wo Marx die Redaktionsleitung übernommen hatte, die er vom 15. Oktober 1842 bis 17. März 1843 innehatte. Die Zeitung vertrat eine bürgerliche liberale Richtung, die unter der Leitung von Karl Marx eine revolutionäre demokratische Wandlung erlebte. Die „Rheinische Zeitung“ entwickelte sich zu einem bedeutenden Organ der fortschrittlichen Kräfte in Deutschland.281 Karl Marx hatte zuvor von Oktober 1836 bis März 1842 an der juristischen Fakultät der Berliner Universität Jura, Geschichte und Kunstgeschichte studiert. Mit besonderer Aufmerksamkeit hatte er sich Philosophie Hegels zugewandt. Im April 1841 wurde Marx an der Universität Jena zum Doktor der Philosophie promoviert. Die Begegnung zwischen Marx und Engels in den Redaktionsräumen der „Rheinischen Zeitung“ verlief distanziert. Marx, obwohl er selbst wie Engels in Berlin unter dem Einfluss der Junghegelianer gestanden hatte, begegnete er Engels mit einigem Misstrauen.282

Größeren Einfluss auf Engels gewann Moses Hess, einem Mitbegründer der „Rheinischen Zeitung“. Hess überzeugte Engels von der Richtigkeit des Weges zu einer kommunistischen Gesellschaft.283

 

279 Euchner: S. 34

280 ebd. S. 34

281 Mahlert, Karl – Heinz (Leitung): Karl Marx und Friedrich Engels

                                                           Ihr Leben und ihre Zeit. Berlin 1978 (Dietz Verlag DDR) S. 32

282 Euchner: S. 36

283 ebd. S. 36

 

                                                                                                        90

Im Zentrum der industriekapitalistischen Entwicklung im englischen Manchester befand sich die Firma „Ermen und Engels“. In Manchester gab es für Engels reichlich Anschauungsmaterial über die Lage des Industrieproletariats. 1845 erschien sein bekanntes Werk: „Die Lage der arbeitenden Klassen in England. Nach eigener Anschauung und Quellen“. Als Engels dieses Werk verfasste, betrachtete er sich bereits als einen Kommunisten.284 Als Autodidakt stand er auf der Höhe der aktuellen philosophischen und theologischen Diskussion. Dazu beherrsche er die wichtigsten europäischen Sprachen.

Karl Marx und Friedrich Engels haben in der Arbeiterbewegung eine Spitzenstellung eingenommen, wenn auch nicht als Organisatoren so doch als Theoretiker, allein schon durch die Vielzahl ihrer Veröffentlichungen. In der Frühphase der Herausbildung von Arbeitervereinen und Arbeiterorganisationen hatten beide nicht den Einfluss, den ihr späterer Bekanntheitsgrad vermuten lässt. Es dauerte Jahrzehnte, bis ein durchschlagender Erfolg in der deutschen Arbeiterbewegung sichtbar wurde.285 Viele Schriften, die das Doppelgespann Marx und Engels veröffentlichte, wurden von Wilhelm Liebknecht und August Bebel  aufbereitet und gelangten so in die Hände der Arbeitervereine. Johann Baptist Schweitzer verarbeitete die geistigen Erzeugnisse zu Theaterstücken.286

Michael Bakunin hat zu seinen Lebzeiten (1814 – 1876) einiges Aufsehen erregt, aber eine Wirkungsgeschichte kann auf sein Leben nicht zurückgeführt werden. Im „Volksstaat“ finden sich  Beiträge von ihm, erfährt zugleich eine entschiedene ablehnende Haltung seine Aktivitäten betreffend, war er doch auf internationalen Felde, besonders in der Internationalen Arbeiterassoziation, ein Streiter gegen Karl Marx, was 1872 zu seinem Ausschluss aus der IAA führte. Seit dem Jahre 1840 war er an nahezu jeder umstürzlerischen Bewegung in Europa beteiligt.287 Er gelangte wegen seiner Teilnahme am sächsischen Aufstand im Mai 1848 in die Hände des preußischen Exekutionskommandos, das ihn an Sachsen auslieferte, wo er zum Tode verurteilt wurde, anschließend auf Verlangen an Österreich übergeben, wiederum zum Tode verurteilt, dann aber auf Betreiben des russischen Zaren an Russland ausgehändigt, wo er für mehrere Jahre auf die Peter – Pauls – Festung verbracht wurde.

In ihrer endgültigen Form ist die soziale Auffassung Bakunins antipolitisch. Das Hauptübel, welches sogar die demokratische Republik in ihr Gegenteil verwandelt, erblickt Bakunin wie auch Proudhon in der politischen Zentralisation;
 

 

284 Euchner: S. 36

285 Stangl, Christiane: Sozialismus zwischen Partizipation und Führung. S. 139

286 ebd. S. 139

287 Michael Bakunins Beichte aus der Peter – Pauls – Festung  an Zar Nikolaus I. Gefunden im Geheimschrank des Chefs der III. Abteilung der Kanzlei des früheren Zaren zu Leningrad. Mit Autorisation der russischen Originalausgabe W. Polonski erstmalig veröffentlicht in deutscher Sprache von Kurt Kersten. Berlin 1926. S. VII.

 

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die Zentralisation und die damit verbundene Allmacht des Staates sind nach seiner Ansicht die vollständige Verneinung der Freiheit. Diesem Prinzip stellt Bakunin „das große, Rettung bringende Prinzip des Föderalismus“ entgegen. „Der Staat einerseits, die soziale Revolution andererseits – dies sind die zwei großen Pole, deren Antagonismus das innerste Wesen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens in Europa ausmacht“, sagt Bakunin in seinem Buche „Staatlichkeit und Anarchie“, (…) Die Attacke Bakunins galt nicht nur dem Staat, sondern auch dem staatlichen Aufbau der Herrschaft. Auf das der Staat sich gründet. Jeder Staat sei auf dem religiösen Gedanken der Herrschaft und der Autorität aufgebaut.288

Vom Standpunkt der internationalen Solidarität verbindet er seine Kritik am Staat zugleich die Kritik am Patriotismus. Der Hauptangriff auf den Staat muss von der inneren Politik geführt werden. „Wer politischer Staat‘ sagt, sei er nun eine absolute Monarchie, eine konstitutionelle Monarchie oder sogar eine Republik, sagt Herrschaft und Exploitation‘. (…)

Kann eine Konstitution oder die Demokratie dem Übel abhelfen? Fragt Bakunin und antwortet: Niemals: Die Konstitution ist machtlos gegen die Tatsache der Exploitation, und der demokratische Staat ist ein widerspruchsvoller Begriff. (…)

3. Ursprünge und Forschungsstand.

Die Ausgaben des „Volksstaat-Erzähler“ und des „Volksstaat“, die für Forschungsarbeiten zur Verfügung stehen, gründen sich auf einen fotomechanischen Nachdruck und eine Neuveröffentlichung, hergestellt in der DDR. Ausführliche, einleitende Erläuterungen durch den Herausgeber Erich Kundel über Ursprünge und Forschungsstand finden sich am Beginn der Volksstaatsausgaben von 1869 bis 1876.289 Die Originale sind wegen ihrer Seltenheit nur noch für einen kleinen Kreis von Spezialisten greifbar. Die Verlage der Deutschen Demokratischen Republik haben darüber hinaus die Veröffentlichung weiterer originaltreuer Reproduktionen wichtiger Arbeiterzeitungen aus dem Zeitraum vorgenommen. Dazu gehören die von Marx und Engels redigierte „Neue Rheinische Zeitung“ in den Revolutionsausgaben 1848/49. 1970 veröffentlichte der Dietz Verlag einen Nachdruck des „Sozialdemokrat“, erschienen in der Zeit des Sozialistengesetzes nach 1878. Die Brücke zwischen der „Neuen Rheinischen Zeitung“ am Beginn der Arbeiterbewegung und dem „Sozialdemokrat“ als Presseorgan einer marxistischen Massenpartei290 bildeten vor allem drei von Wilhelm Liebknecht redigierte Zeitungen.

 

288  Steklow, Georg: Michael Bakunin. Ein Lebensbild. Stuttgart 1913. S. 87

289 Die Einführung zu Ursprung und Forschungsstand ist in acht Abschnitte eingeteilt, ohne Angabe der Seiten zahl, darum werden die Anmerkungen dem entsprechenden Abschnitt zugeordnet. Beurteilung und Interpretation  zu den Ausgaben der Neudrucke sind aus der Sicht der DDR und ihres politischen Systems zu verstehen.

290 Erich Zundel rückt den Beitrag, den Marx und Engels in der Entwicklung des „Volksstaat“ geleistet haben, in ein besonderes Licht. Es ist aber übertrieben ausschließlich von einer „marxistischen Massenpartei“ zu sprechen. Zwischen Marx und Engels auf der einen und Bebel und Liebknecht auf der anderen Seite gab es Meinungsverschiedenheiten, die, wenn auch taktischer Natur, Gegensätze erkennen ließen. Dennoch ist der Einfluss, den Marx und Engels ausgeübt haben, unverkennbar.

Conze, Werner/ Groh, Dieter: Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung, Stuttgart 1966 S. 50f

 

 

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In dieser Reihe stand das „Demokratische Wochenblatt“ an erster Stelle. Es wurde am 4. Januar 1868 bis Oktober 1869 in Leipzig herausgegeben. Der „Volksstaat“ fügt sich organisch an das Erscheinen des „Demokratischen Wochenblattes“ an, denn faktisch war das Zentralorgan der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) durch die auf dem Eisenacher Kongress291 beschlossene Umbenennung des „Demokratischen Wochenblattes“ aus diesem hervorgegangen. Nach der Vereinigung von Eisenachern und Lassalleanern zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP) im Mai 1875 waren der „Volksstaat“ und der „Sozialdemokrat“ die beiden offiziellen Presseorgane der vereinigten Arbeiterpartei. Im Oktober 1876 trat an deren Stelle der „Vorwärts“, der bis zum Verbot durch Bismarcks Sozialistengesetz im Oktober 1878 als zentrales Presseorgan der SAP galt. Beide Presseorgane, das „Demokratische Wochenblatt“ und der „Volksstaat“, waren aus dem VDAV hervorgegangen.292 In der Frühphase der Arbeitervereine, die sich allmählich zu Arbeiterparteien herausbildeten, standen sich der auf Lassalle zurückgehende ADAV und der von Liebknecht und Bebel geführte VDAV ablehnend bis feindselig gegenüber. Die Neudrucke der auf den VDAV zurückgehenden Veröffentlichungen, die sich auf dem Kongress in Eisenach im August 1869,  zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) formierten, geschahen in der DDR, während die Veröffentlichungen des ADAV wie „Der Sozialdemokrat“, „Der Neue Sozialdemokrat“  oder der „Agitator“ in der Bundesrepublik Deutschland im Neudruck erschienen. Diese Tatsache wirft bereits ein bezeichnendes Licht auf die unterschiedliche historische Sicht in beiden deutschen Staaten auf die Entwicklung der beiden Arbeitervereine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Der „Volksstaat“ erschien erstmals am 2. Oktober 1869, während seine Geschichte bereits am 9. August 1869 ihren Anfang nahm.

In Eisenach wurde der Beschluss gefasst: „Die Partei gründet eine Zeitung unter dem Namen „Volksstaat“, Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Es erscheint in Leipzig und ist Eigenthum der Partei“. Zustimmung fand in Eisenach der Antrag, die Zeitung auch als Gewerkschaftsorgan erscheinen zu lassen. Die offizielle Bezeichnung wurde umgewandelt und lautete nicht wie bisher: „Organ der deutschen Volkspartei und des Verbandes deutscher Arbeitervereine“, sondern „Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der Gewerksgenossenschaften“.

 

291 Auf dem Kongress in Eisenach im August 1969 wurde der Parteiname SDAP beschlossen, oft auch als die „Eisenacher“ bezeichnet.

292 Die Zusammenfassung ist dem ersten Abschnitt der genannten Einführung von Erich Kundel entnommen.

 

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Es erschien erstmalig am 14. August 1869, aber noch nicht unter seinem eigentlichen Namen, weil die behördliche Genehmigung bis zum 29. September 1869 auf sich warten ließ.

Seine Geburtsstunde war untrennbar verbunden mit den Beschlüssen des Eisenacher Kongresses dessen historische Bedeutung in eben dieser Nummer der Zeitung mit bemerkenswerten Scharfblick erfasst wurde: „Der Eisenacher Kongress bezeichnet einen Wendepunkt in der Entwicklungsgeschichte des deutschen Proletariats. Vor 8 Tagen waren wir eine Anzahl von Sozialdemokraten, heute sind wir eine sozialdemokratische Partei“.

In den DDR – Neudrucken wird in der beschriebenen Einführung der Beitrag von Karl Marx und Friedrich Engels hervorgehoben. Als historisches Vorbild wird für den „Volksstaat“ die „Neue Rheinische Zeitung“ bezeichnet. Sie sei, so heißt es, am konsequentesten für die Demokratie in Deutschland eingetreten. Der „Volksstaat“ wird als würdige Fortsetzung der Bemühungen angesehen, ein proletarisches Klassenbewusstsein zu schaffen, verbunden mit den Lebensinteressen des deutschen Volkes. Diese Lebensinteressen werden in den DDR – Ausgaben anders interpretiert und erfahren, eine Definition aus DDR – Sicht. Unter den historischen Bedingungen, denen sich der „Volksstaat“ in seiner siebenjährigen Geschichte gegenüber sah, stand er in vorderster Front gegen die Blut – und – Eisenpolitik Bismarcks293 bei der Reichseinigung unter Preußens Führung und Herrschaft im Ringen um die friedliebenden demokratischen Kräfte gegen die Eroberungspolitik der preußischen Junker und Interessen während des Deutsch – Französischen Krieges, bei der Verteidigung der Pariser Kommune gegen ihre Feinde und Verleumder, bei der Entfaltung einer breiten Volksbewegung gegen den preußisch – deutschen Militärstaat.

Das wirken dieser Zeitung hatte bedeutenden Einfluss auf den Kampf um die revolutionäre Arbeiterschaft und die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie. In der mehrjährigen Öffentlichkeitsarbeit von 1869 bis 1876 lässt sich herausfinden, ob die Interpretation aus Sicht der DDR, wie sie von Erich Kundel vorgenommen worden ist, ihre Berechtigung hat.

Der „Volksstaat“ bildet ein wichtiges Glied in der Reihe der bedeutenden Presseorgane der revolutionären Arbeiterbewegung von den Anfängen bis zum Sieg über Bismarcks Sozialistengesetz 1878 führt von der „Neuen Rheinischen Zeitung“  ein direkter Weg über den „Volksstaat“ und den „Vorwärts“ zum „Sozialdemokrat“, dem Presseorgan während der Zeit des Sozialistengesetzes von 1878 bis 1890.

Entscheidendes Zentrum der „Eisenacher“ war die 1872 gegründete Genossenschaftsdruckerei in Zusammenarbeit mit der Redaktion.

 

293 „Blut – und Eisenstaat“ nach Interpretation von Erich Kundel in Abschnitt 2

 

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Der „Volksstaat“ kann als Grundlage angesehen werden für den organisatorischen Aufbau der Partei. Die Beiträge von Karl Marx und Friedrich Engels werden von Erich Kundel besonders hervorgehoben.

Im Verlaufe von sieben Jahren haben Marx und Engels in 150 Beiträgen im „Volksstaat“ grundlegende Arbeiten zum wissenschaftlichen Kommunismus publiziert.294Karl Marx veröffentlichte unter dem Titel: „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ eine ausführliche Darstellung des Aufstandes der „Pariser Kommune“. Die zahlreichen Artikel von Marx und Engels gaben dem „Volksstaat“ Einflussmöglichkeiten in der revolutionären internationalen Arbeiterbewegung. Beispiel dafür waren die beiden Adressen des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation295 zum Deutsch – Französischen Krieg aus der Feder von Karl Marx.

Der Briefwechsel, den Marx und Engels untereinander und mit der Redaktion des „Volksstaat“ führten, lassen eine enge Verbundenheit erkennen.

Von den 152 Briefen,296 die vorlagen, und die beide miteinander austauschten, beziehen sich 38 auf den „Volksstaat“. Aus dem Briefwechsel mit dritten im gleichen Zeitraum lagen 364 Briefe vor, in 79 davon wird Bezug genommen auf den „Volksstaat“.

Rechtssozialdemokratische und imperialistische Historiker haben den Versuch unternommen, die Mitwirkung von Marx und Engels bei der Gestaltung des „Volksstaat“ herabzustufen.297 Die Hinweise und Ratschläge trafen nicht in jedem Fall auf Zustimmung.298

Drei Probleme standen von Anfang an im Vordergrund:299 Die Zurückdrängung des Einflusses von Ferdinand Lassalle. Engels trat der seit Jahren verbreiteten Legende entgegen, Lassalle wäre der Begründer und Theoretiker der Arbeiterbewegung in Deutschland. Es hatte sich ein Lassallekultus um Ferdinand Lassalle herausgebildet, der den ADAV gegründet hatte. Engels betonte, dies sei auf das Verdienst von Marx und das „Kommunistische Manifest“ zurückzuführen, die den eigentlichen Anstoß zum Durchbruch und zur Verbreitung sozialistischer und kommunistischer wissenschaftlicher Theorien gebildet hätten.300

Die streitbare Polemik, mit der Engels versuchte, die Rolle Lassalles in den Reihen der „Eisenacher“ zurückzudrängen, veranlassten Liebknecht gegen Lassalle und seinem Einfluss gerichteten Vorstöße abzuschwächen, worin Engels eine falsch angelegte Rücksichtnahme

 

294 Abschnitt 2 in der Einleitung von Erich Kundel

295 Veröffentlicht im „Volksstaat“ in den Ausgaben N° 63 und Nr.? vom 7. August  und 23. Oktober 1870

296 Abschnitt 2 in der Einleitung von Erich Kundel.

297 ebd. Abschnitt 2

298 ebd. Abschnitt 2

299 Abschnitt 3 in der Einleitung von Erich Kundel.

300 ebd. Abschnitt 3

 

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erblickte.301 Marx und Engels erkannten dennoch sehr wohl, daß dem „Volksstaat“ zur Verbreitung ihrer Auffassungen eine Bedeutung zukam.

Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei stimmte in Programm und Praxis mit den Zielen der Internationalen Arbeiterassoziation überein. Zudem fungierte Marx im Generalrat der Assoziation, die in London residierte, als Sekretär für die Arbeiterbewegung in Deutschland.

Im September 1869 war es auf dem Kongress der Internationale in Basel zu einem Zusammenstoß mit den Anhängern Michael Bakunins302 gekommen. Es gelang Bakunin nicht die Führung der Internationale an sich zu reißen, und ihr sein anarchisches Programm aufzuzwingen, daraufhin starteten die Bakunisten einen Verleumdungsfeldzug gegen den Londoner Generalrat.

Die Entwicklung führte zur systematischen Auseinandersetzung des Zentralorgans der Eisenacher Partei mit Bakunin und seinen Anhängern, die in einer anarchischen Phase die Abkehr vom politischen Kampf zu führen gedachten. Im Mai 1870 wandte sich im Vorfeld zum Kongress in Stuttgart Liebknecht in der Artikelserie „Die Politik und die Arbeiter“ gegen die Bakunisten,303 In einer Rede auf dem Kongress am 6. Juni 1870 betonte Liebknecht die Notwendigkeit des politischen Kampfes gegen den Ausbeuterstaat als Voraussetzung für die Verwirklichung der welthistorischen Mission der Arbeiterklasse.

Die Zahl der Abonnenten des „Volksstaat“ stieg von Ende 1869 von 2089 bis zum Stuttgarter Kongress im Juni 1870 auf 3129 Leser.

Auf dem Stuttgarter Kongress erklärte sich Liebknecht gegen eine Senkung des geistigen Niveaus durch Verzicht auf „belehrende Aufsätze“ und ließ verlauten: „die erhabene und heilige Aufgabe eines echten Arbeiterorgans sei es vielmehr die Arbeiter denken zu lehren“.304

Die Beziehungen von Marx und Engels zum „Volksstaat“ weiteten sich aus auch in den folgenden Jahrgängen bis 1876 in einem Ausmaße, daß von einer Mitarbeit gesprochen werden konnte. Es bildete sich ein Gegensatz zur übrigen deutschen Presse heraus, die sich in der Verherrlichung des deutsch – französischen Krieges erging. Der „Volksstaat“ sah in diesem Krieg einen Eroberungskrieg und der Gegensatz verschärfte sich noch,
 

301 ebd. Abschnitt 3

302 ebd. Abschnitt 3

303 Beiträge von Michael Bakunin in den Ausgaben des „Volksstaat“ N° 31 und N° 32 vom 16. Und 20. April 1870 unter dem Titel: Briefe über die revolutionäre Entwicklung in Rußland.

Weitere Literatur: Bakunin, Michael: Gott und der Staat. Leipzig 1919.

                              Stecklow, Georg: Michael Bakunin ein Lebensbild. Stuttgart 1913

304 Einleitung von Erich Kundel Abschnitt 3

 

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als der Aufstand der Pariser Kommune Rückhalt und Unterstützung im „Volksstaat“ und in der Partei fand.305

Die Kriegsschuldfrage wurde in den Vordergrund geschoben und drohte zu einem innerparteilichen Streit zu geraten. Bebel und Liebknecht306 sahen in Bismarck und Napoleon in gleicher Weise die Schuldigen. Von Seiten einer breiten Mehrheit des deutschen Volkes wurde der Krieg als ein Verteidigungskrieg angesehen gegen eine bonapartistische Bedrohung, was mit der Einschätzung im „Volksstaat“ nicht übereinstimmte.307

Marx unternahm es, den Nachweis zu führen unter Hinweis auf das Profitstreben der herrschenden Klassen in Deutschland und Frankreich. Während zuvor im „Volksstaat“ auch dynastische Interessen aufgezeigt wurden.308

Diese Darstellung von Karl Marx wurde zu einem Orientierungsmaßstab, und den 140„Braunschweiger Ausschuß“ unter Federführung von Wilhelm Brake veranlasste, ein Flugblatt in 10000 Exemplaren zu verbreiten. Eine offizielle Stellungnahme verbreitete der „Volksstaat“ am 11. September 1870, worin in der Fortführung des Krieges nicht mehr ein Verteidigungskrieg, sondern ein Eroberungskrieg gesehen wurde. Im Sinne des Begründers des wissenschaftlichen Sozialismus rief die Partei zum Kampf gegen die Fortführung des Krieges auf.309

Bereits am 5. September 1870 hatte der „Braunschweiger Ausschuß“ ein entsprechendes Manifest erlassen, was zu seiner Verhaftung führte.

„Der „Volksstaat“ wurde nach der Verhaftung des „Braunschweiger Ausschusses“ ein Zentrum des Kampfes der deutschen Arbeiterklasse gegen den preußischen Junker – und Militaristenstaat geworden.

Für Marx und Engels und ihren Kampfgefährten im Generalrat der I. Internationale war der „Volksstaat“ eine unentbehrliche Informationsquelle über die Verhältnisse in Deutschland. Engels klagte wiederholt in seinen Briefen an Marx über das Ausbleiben der Zeitung. Den „Volksstaat“ erhalte ich durch die Schuld der Post ganz unregelmäßig“, schrieb er am 31. Juli.310

Marx schrieb in einem Brief an Peter Imand am 11. November: „Apropos, unser Wilhelm, nicht rex, sondern W. Liebknecht, ärgert die Preußen schwer in seinem „Volksstaat“

 

305 Einleitung von Erich Kundel Abschnitt 4

306 Liebknecht, Wilhelm: Die Emser Depesche oder wie Kriege gemacht werden. Nürnberg 1893. In diesem Werk geht Liebknecht noch einen Schritt weiter und sieht in Bismarck und seiner Politik den Alleinschuldigen.

307 Einleitung von Erich Kundel Abschnitt 4

308 ebd. Abschnitt 4

 

309 Einleitung von Erich Kundel Abschnitt 4

310 ebd. Abschnitt 4

 

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Das von den preußischen Behörden gegen den „Volksstaat“ inscenirte Vorgehen erwies sich allerdings insofern als völliger Fehlschlag, als die Zeitung nicht einmal für eine einzige Ausgabe ihr Erscheinen unterbrechen musste.311

Die Pariser Kommune, die erste proletarische Revolution in der Geschichte der Menschheit, war bereits zehn Tage alt, als Liebknecht, Bebel und Hepner am 28. März 1871 aus der Untersuchungshaft entlassen werden mußten. Liebknecht und Hepner stürzten sich sofort in die Arbeit der Redaktion, denn die Eisenacher Partei begrüßte nicht nur den Aufstand der Pariser Arbeiter, sondern organisierte auch alle ihr zur Verfügung stehenden Kräfte zur Verteidigung der Pariser Kommune.312

Liebknecht wandte sich nach London: „Schreib mir umgehend Deine Ansicht über die Pariser Vorgänge.... „In der kurzen Zeit von Anfang April bis Mai 1871 sind neun Briefe von Marx und Engels an Liebknecht belegt. Der „Volksstaat“ trat den Darstellungen in der bürgerlichen Presse entgegen, in denen er eine Verleumdung sah.313

In mehreren Ausgaben wurden im „Volksstaat“ der wissenschaftliche Kommunismus durch die Erfahrungen aus dem Aufstand der Pariser Kommune die grundlegenden Thesen der marxistischen Theorien in ihrer Richtigkeit bestätigt. Karl Marx führte den Nachweis im „Volksstaat“ in mehreren Beiträgen unter der Überschrift: „Der Bürgerkrieg in Frankreich“. Als direkte Folge der Prinzipientreue des „Volksstaat“ erwies sich die zunehmende Verbreitung durch steigende Abonnentenzahl, die sich im August 1871 auf 4028 erhöht hatte, 1000 Abonnenten mehr als im Vorjahr. Damit war eine Zahl erreicht, mit welcher die Kosten abgedeckt waren.314

Die Leipziger Genossenschaftsdruckerei wurde am 5. Juli 1872 gegründet und seit Oktober 1872 wurde der „Volksstaat“ in einer eigenen Druckerei hergestellt.315

In einem gemeinsamen Ringen der Marxistischen Kräfte, die Erfahrungen der Pariser Kommune zu nutzen, erwies sich die Zusammenarbeit mit der Redaktion des „Volksstaat“ als fruchtbringend. Die 1. Internationale hatte bis zum Haager Kongress das entscheidende Stadium ihrer Entwicklung erreicht.316

Es ergab sich aber ein erbitterter Kampf durch die Verfolgung der herrschenden Klassen und durch die Abwehr einer Wühlarbeit, herbeigeführt durch die Bakuinisten. Ein Schwergewicht wurde auf die Länder gelegt, 
 

311 ebd. Abschnitt 4

312 ebd. Abschnitt 4

313 ebd. Abschnitt 4

314 Einleitung von Erich Kundel. Abschnitt 4

315 ebd. Abschnitt 4

316 Einleitung von Erich Kundel. Abschnitt 5

 

                                                                                                           98

die den größten Fortschritt in der industriellen Entwicklung aufzuweisen hatten. Die Bedeutung des „Volksstaat“ auch im internationalen Rahmen nahm zu, als durch die Niederlage der Pariser Kommune die Arbeiterbewegung ihren Mittelpunkt von Frankreich nach Deutschland verlagerte.317

Auf der Londoner Konferenz der Internationalen Arbeiterassoziation im September 1871 wurde verstärkt auf die Notwendigkeit hingewiesen, Arbeiterparteien zu gründen, um sich auf diesem Wege eine Machtbasis zu erobern. Parteidisziplin wurde als unabdingbare Forderung angesehen, um die gesteckten Ziele einer mächtigen proletarischen Bewegung zu erreichen. Dabei bildeten die Anhänger Bakunins ein bedeutendes Hindernis.318

In Belgien, Italien und Spanien machte sich der Einfluss der Bakuinisten bemerkbar. Engels sah Erfolge im Abwehrkampf. Das spanische Presseorgan „La Emancipación“ brachte Auszüge aus dem „Volksstaat“, und Engels wies Liebknecht auf eine weitere Möglichkeit hin, den internationalen Charakter des Kampfes auszuweiten und empfahl die Kontaktaufnahme mit dem Redakteur des Kopenhagener Presseorgans „Socialisten“, H. Brix. Der „Volksstaat“ rückte in den Mittelpunkt des Interesses, als gegen die Verantwortlichen Leiter, Bebel, Liebknecht und Hepner im März 1872 vor dem Leipziger Schwurgericht der Hochverratsprozess eröffnet wurde. Den drei Angeklagten gelang es, den Prozessverlauf in eine Tribüne des Klassenkampfes zu verwandeln.319 Die Abonnentenzahl steigerte sich beachtlich im Verlauf des Verfahrens. Anfang 1872 betrug sie 4488 und erhöhte die Anzahl im zweiten Quartal nach der Urteilsverkündung auf 5447. Hochbefriedigt waren auch Marx und Engels über den Auftritt der Beschuldigten vor Gericht, dem sie Vorbildcharakter zuerkannten.320

Ende Juni/Anfang Juli 1872 entgegnete Engels dem Sozialisten Pierre J. Proudhon im „Volksstaat“ in drei Artikeln: „Wie Proudhon die Wohnungsfrage löst“. Wenig später kündigte der „Volksstaat“ die zweite Auflage des „Kapitals“ an. In einer ausführlichen Rezension würdigte August Geib mit der Feststellung, der sozialdemokratischen Bewegung sei durch dieses Werk von Karl Marx eine mächtige Waffe in die Hand gedrückt worden. Seitdem verschwand „Das Kapital“ nicht mehr aus den Annoncenteil des „Volksstaat“.

Die Leistung des „Volksstaat“ ging vollständig an Adolf Hepner über, da Bebel und Liebknecht ab Mitte Juni ihre Festungshaft in Hubertsburg verbrachten.

 

317 ebd. Abschnitt 5

318 ebd. Abschnitt 5 In der Einleitung von Erich Kundel nehmen Bakunin und seine Anhänger einen verhältnismäßig  breiten Raum ein, der sich in dem Maße in den „Volksstaats“ – Ausgaben nicht niederschlägt. Ein Literaturhinweis dazu: Kersten Kurt: Michaels Bakunins Beichte aus der Peter-Pauls-Festung  an Zar Nikolaus I. Berlin 1926.

319 Einleitung von Erich Kundel. Abschnitt 5

320 ebd. Abschnitt 5

 

                                                                                                             99

Kurz vor seinem Haftantritt schrieb Liebknecht nach London, um Marx und Engels über die Veränderungen in der Redaktion zu informieren.321

Auf dem Haager Kongress der Internationale, der mit der Anerkennung der marxistischen Grundprinzipien zur die Eroberung der Herrschaft durch das Proletariat endete. Hepner gehörte zu den vier Delegierten der Eisenacher Partei, die durch ihr Auftreten unmittelbaren Anteil daran hatte, dass die marxistischen Kräfte einen vollen Sieg über die Bakuinisten erringen konnten. Mit ihrem Kampf gegen Putschismus und das linke Abendteurertum der Bakuinisten halfen sie mit, in den einzelnen Ländern der Entwicklung revolutionärer Arbeiterparteien, entsprechend den von Marx und Engels ausgearbeiteten Prinzipien der Internationalen Arbeiterassoziation, den Weg zu bereiten.

Der „Volksstaat“ stellte in einem Bericht über den Haager Kongress fest: „Die Elemente welche bisher Unfrieden stifteten und die Internationale in falsche Bahnen zu drängen suchen, sind ausgeschlossen oder freiwillig ausgeschieden...“322 Die Internationale Arbeiterassoziation ist eine Macht, die den Lebensfunken unmittelbar in sich trägt, denn sie ist das notwendige Produkt der ökonomischen Verhältnisse, und diese Notwendigkeit wird sie zum Siege, zu Macht und Glanz an dem Tage führen, wo die alte Gesellschaft in Trümmer geht.“323

Der „Volksstaat“ hatte sich durch sein überzeugendes Eintreten für die marxistischen Prinzipien der I. Internationale Verdienst und Anerkennung für die Einheit der Internationalen Arbeiterbewegung erworben. Auf dem zuvor in Dresden stattgefundenen Kongress wurde diese Haltung durch eine besondere Resolution gewürdigt. Eine bemerkenswerte Änderung in der Einschätzung zeigte sich auf dem Jahreskongress in Mainz, der unmittelbar nach dem Haager Kongress im September 1872 stattfand. Die Arbeit der Redaktion wurde überwiegend einer kritischen Betrachtung unterzogen. Die darauf folgende Diskussion ließ erkennen: Es ging um mehr als lediglich um einen kritischen Dialog.324

Während Bebel und Liebknecht in Hubertusburg einsaßen, sah sich Hepner, der in Freiheit verblieben war, verstärkt Angriffen gegenüber. In einem Brief an Engels erläuterte Hepner die Situation und sah in dem „Hamburger Ausschuss“ die treibende Kraft. Hepner wandte sich in einem Schreiben an Engels und schilderte seinen schweren Stand, die ihm durch die Angriffe aus Hamburg bereitet worden war. Der Sekretär des Parteiausschusses, Theodor York, hatte sich bereits auf dem Stuttgarter Kongress zur Redaktion eine ablehnende Haltung eingenommen. Er forderte „zündelnde Leitartikel“
 

321 ebd. Abschnitt 5

322 ebd. Abschnitt 5

323 ebd. Abschnitt 5 Veröffentlicht im „Volksstaat“ in der Ausgabe vom...

324 Einleitung von Erich Kundel. Abschnitt 6

 

                                                                                                       100

und keine zur Langweile führenden wissenschaftliche Beiträge, was darauf hinauslief, daß im Grunde der Hamburger Ausschuss die Beiträge von Marx und Engels einer Zensur unterworfen werden sollen.325

Ein Resolutionsentwurf ließ die tieferen Ursachen der Angriffe gegen den „Volksstaat“ erkennen. Der Entwurf gipfelte in der Forderung unverzüglich die Polemik gegen den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein einzustellen. Anfeindungen von Seiten des ADAV sollten im Gegenzug mit Schweigen beantwortet werden. Der Mainzer Kongress hatte die Gräben aufgezeigt die zu überwinden waren, um zu einer einheitlichen Linie in den deutschen Arbeiterbewegungen und Parteien zu gelangen.326

Theodor York, der eine Schlüsselrolle in den geschilderten Gegensätzen einnahm, war Funktionär der Holzarbeitergewerkschaft und hatte sich Verdienste im Aufbau einer Gewerkschaftsbewegung erworben, zugleich war er unermüdlich tätig für die Festigung der Eisenacher Partei. In der Gewerkschaftsfrage vertrat er einen marxistischen Standpunkt, während er sich in andren theoretischen Grundfragen zurückhaltend zeigte.327

Wenn es auf dem Kongress auch nicht gelungen war, dem „Volksstaat“ einen Maulkorb anzulegen, so war eine grundsätzliche Entscheidung nicht gefallen. Die zum ADAV orientierten Kräfte übten auch nach dem Kongress einen beachtlichen Einfluss aus. Selbst Liebknecht, der dazu neigte, die kritische Situation der Partei zu verharmlosen, musste in einem Schreiben an Engels einräumen, dass die Vorstöße in der Hauptsache aus Hamburg und Breslau kamen, dort aber die beiden Parteibehörden angesiedelt waren.328

Für den „Volksstaat“ begann eine besonders schwierige Periode in seiner Entwicklung. Er musste sich der zunehmenden Angriffe von Seiten der Staatsorgane erwehren. Im Zeitraum von drei Monaten im zweiten Quartal 1872 wurde der “Volksstaat“ zu 243 Thalern Geldstrafe verurteilt. Von seinen Redakteuren und Mitarbeitern befanden sich Ende September 1872 vier in Haft: Bebel, Liebknecht, Muth und Hepner. Adolf Hepner wurde unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Mainz wegen Teilnahme am Haager Kongress der Internationale verhaftet und zu vier Wochen Gefängnis verurteilt.329

Marx und Engels verfolgten diese Entwicklung mit großer Besorgnis, und schenkten der Entwicklung, die das Zentralorgan betraf ihre besondere Aufmerksamkeit. Liebknechts Feststellung, daß die Anhänger Lassalles keinen entscheidenden Einfluss auf das Zentralorgan gewinnen konnten, galt nur bedingt. Denn die Befürchtung, die Lassalleaner könnten das Heft in die Hand bekommen, ließ keine Ruhe aufkommen.
 

325 ebd. Abschnitt 6

326 ebd. Abschnitt 6

327 ebd. Abschnitt 6

328 Einleitung von Erich Kundel. Abschnitt 6

329 ebd. Abschnitt 6

 

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Der genannte Parteiausschuss war beständig an der Arbeit, um Hepner aus der Redaktion zu entfernen, da er ein prinzipienloses Verhalten gegen die Einflüsse Lassalles nicht vollziehen wollte.330

Tatsächlich hatte der Parteiausschuss Hepner nach dreijähriger erfolgreicher Tätigkeit für den „Volksstaat“ aus seiner Funktion entfernt. Kurz darauf wurde Hepner polizeilich ausgewiesen, womit der Ausschuss endgültig sein Ziel erreicht hatte. Es muss Marx und Engels als Verdienst angerechnet werden, die durch ein energisches Eintreten für die Redaktion, ein Abgleiten in das Fahrwasser Lassalles verhindert hatten. Auch nach dem Mainzer Kongress waren Herausforderungen, die sich in Theorie und Praxis des proletarischen Klassenkampfes ergaben, im „Volksstaat“ weiter abgehandelt worden.331

Im August 1873 ereignete sich in Eisenach der Jahreskongress, auf dem Wilhelm Brake seine Schrift: „Der Lassalle’sche Vorschlag“, verbreitete. Die Werke von Marx und Engels dienten in der Kontroverse dazu, die Forderungen nach Produktivgenossenschaften, wie sie Lassalle und seine Anhänger verfochten, zu widerlegen.332

Auf dem Eisenacher Kongress zeigten die Delegierten Entschlossenheit und Solidarität und verhinderten erfolgreich ein weiteres Eindringen und Vordringen der an Lassalle orientierten Parteispitzen, Einfluss auf die Redaktion des „Volksstaat“ zu erlangen. Die Zeitung hatte das Vertrauen der Parteimitglieder erworben, was sich in steigenden Abonnentenzahlen wiederfand, die auf 6666 angewachsen war. Im zweiten Quartal stieg die Zahl auf 7675. Ab 1. Juli 1873 erschien die Zeitung dreimal wöchentlich, was den Einfluss auf sie erhöhte und festigte.333

Im Mittelpunkt der internen Kämpfe standen zwei Einflussbereiche, die es abzuwehren galt. In den beiden folgenden Jahren musste die Spaltung der Partei überwunden werden. Gestützt auf Marx und Engels wuchs der Einfluss der „Eisenacher“ in Richtung auf Einsicht und die Notwendigkeit aus zwei gegensätzlichen Arbeiterbewegungen eine Einheitsfront zu gestalten. Der Prozess erhielt Auftrieb durch den Ausbruch einer Wirtschaftskrise im Herbst 1873, was gleichzeitig zu verschärften Verfolgungsmaßnahmen führte. Die „Ära Tessendorf“ nahm ihren Verlauf, eines Staatsanwaltes, der mit besonderer Härte dem Anstieg und Ausweitung sozialdemokratischer Organisationen und Parteien entgegen trat.334

Gegründet auf Marx und Engels und ihre Zusammenarbeit mit der Redaktion, sollten zwei Einflussbereiche zurückgedrängt werden: Lassalle und Bakunin. In dem auf Lassalle zurückgehenden Einfluss und die Auseinandersetzung damit,
 

330 ebd. Abschnitt 6

331 ebd. Abschnitt 6

332 Einleitung von Erich Kundel. Abschnitt 7

333 Einleitung von Erich Kundel. Abschnitt 7

334 ebd. Abschnitt 7

 

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wurde die Voraussetzung eines Zusammenschlusses der beiden Arbeiterparteien auf revolutionärer Grundlage gesehen. Bebel und Liebknechr mahnten zu einem behutsamen Vorgehen und wollten die Gegensätze im Schongang überwinden. Bebel wandte sich an Engels mit dem Vorschlag, Marx, der als wissenschaftlich überlegene Autorität auf ökonomischen Gebiet angesehen wurde, müsse an die Spitze des Kampfes den entscheidenden Schlag führen. Marx war durch einen Schlaganfall gesundheitlich angeschlagen und konnte diese Erwartungen nicht erfüllen, außerdem nahm ihn die Übersetzung des „Kapitals“ ins Französische in Anspruch, so fiel vermehrt die Aufgabe Engels zu. Zwei Problemkreisen widmete sich Engels in seiner Arbeit für den „Volksstaat“ seine Aufmerksamkeit: Die Internationale Arbeiterbewegung und in Zusammenhang damit dem preußischen Militärstaat, den er als besonderes Hindernis ansah für die Fortentwicklung auf internationalem Felde.335

Im Frühjahr 1873 war es zu einem Gegensatz zwischen Engels und Liebknecht gekommen, als er die „Internationale“ nicht vordergründig im „Volksstaat“ abhandeln wollte. In einem solchen Fall, ließ Engels wissen, würde das seine Einstellung zum „Volksstaat“ von Grund auf ändern, wenn die  „Eisenacher“ in der internationalen Arbeiterbewegung sich auf eine neutrale Haltung zurückzögen, um zusätzlich eine Auseinandersetzung mit den Anhängern Bakunins zu vermeiden. Engels wurde daraufhin aufgefordert sich im „Volksstaat“ verstärkt um Aufklärung in internationalen Angelegenheiten zu bemühen.336

Am 2. Juli 1873, noch vor dem Eisenacher Kongress, veröffentlichte Engels einen Bericht über den Stand der Internationalen Arbeiterassoziation mit der einleitenden Bemerkung, der „Volksstaat“ habe bisher nur die offiziellen Stellungnahmen des Generalrats in New-York vernommen und gab einen Bericht mit Überblick über die Entwicklung der Arbeiterbewegung in England, Italien und der Schweiz, verbunden mit dem Hinweis auf die Spaltertätigkeit der Bakuinisten und den als Verrat angesehenen Auftritte der Anhänger Lassalles.337

Im Verlauf der Reichstagswahlen im Januar 1874 zeigte sich die Neigung zu einem gemeinsamen Handeln mit der Eisenacher Partei in der Lassallebewegung. Die Anfeindungen ließen nach, und in den Stichwahlen reifte der Entschluss einen gemeinsamen Kandidaten durchzubringen.338

Am 15. April 1874 wurde Liebknecht aus der Festungshaft entlassen und übernahm wieder die Redaktionsarbeit im „Volksstaat“. Auf dem Koburger Kongress im Juli 1874 konnte die sozialdemokratische Arbeiterpartei sich über eine Reihe beachtliche Erfolge freuen. Die Partei war auf Wachstumskurs, trotz aller Verfolgungen.
 

335 ebd. Abschnitt 7

336 Einleitung von Erich Kundel. Abschnitt 7

337 ebd. Abschnitt 7

338 ebd. Abschnitt 7

 

                                                                                                         103                                                                                                  

Die Parteipresse hatte eine Breitenwirkung erzielt, wenn auch die Abonnentenzahl im Gefolge der Wirtschaftskrise, die im Herbst 1873 einsetzte, auf 6500 zurückgegangen war. Die Partei verfügte über sieben Lokalzeitungen, die größtenteils täglich erschienen, und sich auf zwanzigtausend Leser berufen konnte.339

Das Ergebnis des Koburger Kongresses enthielt Widersprüche. Die Zeitung unter Liebknechts Führung ließ die wesentlichen Impulse vermissen, um die Bildung der vereinigten Arbeiterpartei auf marxistischer Grundlage zu vollziehen. Am 21. September 1874 brachte Engels in einem Brief an Marx seine Enttäuschung über die redaktionelle Führung und den Stil Liebknechts zum Ausdruck.340

Marx traf sich vom 23. Bis 29. September 1874 in Leipzig mit Liebknecht, als er von einem Kuraufenthalt in Karlsbad zurückkehrte. Marx ging auf die Rolle Lassalles in der Arbeiterbewegung ein und betonte die Notwendigkeit, den Kampf gegen die Ideen Lassalles zu führen. Er berichtete von seinen Erfahrungen von seinen Erfahrungen mit der preußischen Reaktion als Redakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung“. Im „Volksstaat“ wurden die Enthüllungen über den Kommunistenprozess in Köln von 1848, (?) die erstmals am 28. Oktober 1874 im „Volksstaat“ veröffentlicht wurden und bis zum 27. Januar 1875 erschien in weiteren vierzehn Folgen schließlich das ganz Buch. Es war in der Arbeiterbewegung kaum bekannt, denn die im Jahre 1853 für Deutschland bestimmten Exemplare wurden von der Badischen Polizei beschlagnahmt. Diese Arbeit aus der Geschichte des „Bundes der Kommunisten“ wurde im „Volksstaat“ wieder veröffentlicht. Mit der Veröffentlichung war beabsichtigt, die Behauptung zu widerlegen, die Arbeiterbewegung in Deutschland habe mit Ferdinand Lassalle begonnen.341

Engels unterstützte ebenfalls in dieser Zeit, als nach dem Koburger Kongress sich die Vereinigung der beiden Arbeiterbewegungen abzeichnete, durch rege publizistische Tätigkeit im „Volksstaat“ die Redakteure. Unter dem Titel „Flüchtlingsliteratur“ verfasste er eine Artikelreihe, die vom Juni 1874 bis April 1975 in neun Ausgaben erschien. In dieser Reihe wurden Herausforderungen, denen sich die Internationale Arbeiterbewegung gegenüber sah, geschildert, um so ein internationales Bewusstsein im „Volksstaat“ wach zu halten. Die Mitglieder der Eisenacher Partei wurden bekannt gemacht mit Erfahrungen und Sichtweisen von polnischen, französischen und russischen Immigranten in ihren Ländern. Breiten Raum nahmen in der „Flüchtlingsliteratur“ die sozialen Verhältnisse in Russland ein, damit wurde der Blick geweitet über die Entwicklung der russischen revolutionären Bewegung,
 

339 ebd. Abschnitt 7

340 ebd. Abschnitt 7

 

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deren Schwächen Engels aufzeigte. Er sah die große Bedeutung einer Revolution in Russland, die für ganz Europa von Bedeutung sein würde.341

Die Mitarbeit von Marx und Engels war von dem Bemühen begleitet, die Spaltung der Arbeiterbewegung in Deutschland zu überwinden. Die Zeitung war zu dem besten Presseorgan geworden, über das die Arbeiterklasse im Kampf gegen den preußisch – deutschen Militärstaat verfügte. Ein beachtlicher Erfolg für die Verbreitung marxistischer Auffassungen gelang, weil das Presseorgan „Volksstaat“ die Voraussetzungen dafür bot. Die überstürzten Vereinigungsverhandlungen brachten Kompromisse mit sich, die nicht geeignet waren, den Vorstellungen von Marx und Engels uneingeschränkt zu entsprechen. Liebknecht und führende Vertreter der Eisenacher Partei vermittelten durch ideologische Unsicherheiten und schwankende Haltungen aus marxistischer Sicht ein unscharfes Bild. Dennoch wurde Liebknecht ein Verdienst an dem historisch herausragenden Ereignis zuerkannt zur Vereinigung zweier Arbeiterparteien, die im Mai 1875 in Gotha vollzogen wurde.342

Nach dem Vereinigungskongress stellte der „Volksstaat“ als Zentralorgan der Eisenacher Partei sein Erscheinen ein. Trotzdem erschien die Zeitung noch bis zum 1. Oktober 1876 sowie auch der „Neue Social – Demokrat“, das Presseorgan der Lassallebewegung. Die Voraussetzungen für eine einheitliche sofortige Herausgabe eines gemeinsamen Zentralorgans wurden auf dem Kongress in Gotha noch nicht als gegeben angesehen.

Marx und Engels verfolgten aufmerksam die weitere Entwicklung nach dem Vereinigungskongress. Die Beziehungen zur Redaktion wurden nicht mit der gleichen Intensität fortgeführt, wie sie zuvor bestanden hatten. Engels gab Bebel im Oktober 1875 Ratschläge, der revolutionären Bewegung und Russland und Polen besondere Aufmerksamkeit entgegen zu bringen. Dem „Volksstaat“ könnte so in Europa eine Position in russischen Dingen zukommen.343

Ein reger Gedankenaustausch entstand in der Kontroverse um die ökonomischen Vorstellungen von Eugen Dühring, die Engels zur Herausgabe seines „Anti – Dühring“ veranlassten.

Seitdem 1. Oktober 1876 wurde der „Vorwärts“ Zentralorgan, und der Name „Volksstaat“ verschwand.

Von August bis Dezember 1979 unternahm Liebknecht den Versuch unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes, eine politische Zeitung herauszugeben. In diesen fünf Monaten erschienen nicht mehr als fünfzehn Nummern.

 

341 ebd. Abschnitt 7

342 ebd. Abschnitt 7

343 Einleitung von Erich Kundel. Abschnitt 8

 

 

 

                                                                                                           105

„Volksstaat“ – Ausgaben geschahen während der Zeit des Sozialistengesetzes auf heimlichen Wegen, von denen Marx und Engels kaum Kenntnis gehabt haben dürften.344

Die Mitarbeit von Marx und Engels konzentrierte sich auf den „Sozialdemokrat“, dem Presseorgan während der Zeit des Sozialistengesetzes. Der „Vorwärts“ war der restriktiven Politik des Sozialistengesetzes zum Opfer gefallen. Der „Sozialdemokrat“ zeigte sich dem „Volksstaat“ in seinem theoretischen Niveau überlegen.

Anknüpfend an die Traditionen des „Bundes des Kommunisten“ schuf der „Volksstaat“ in seiner Gesamtausgabe von 1869 bis 1876 zur Errichtung einer revolutionären Massenpartei die Voraussetzungen. Dafür hatte sich die Mitarbeit von Marx und Engels als unabdingbar erwiesen.345

Erich Kundel

4. Fragestellungen.

National und sozial haben in Zweiten deutschen Kaiserreich nicht zueinander gefunden, mehr noch, sie standen gegeneinander, besonders in dem Zeitraum von 1869 bis 1876, der vordergründig einer Betrachtung unterzogen werden soll, und das ist genau der Zeitraum, auf dem es in besonderer Weise angekommen wäre.

Von dem Deutschen Reich, das durch die Politik Otto von Bismarcks zu einer Einheit gelangte, die es zuvor nicht besessen hatte, zumindest nicht seit dem Westfälischen Frieden von 1648, bestanden unterschiedliche Vorstellungen, bis hin zur offenen Gegnerschaft.

In der Geschichtsschreibung ist im Hinblick auf die deutsche Geschichte von einem Ersten, von einem Zweiten und schließlich von einem Dritten Reich gesprochen worden. Das Erste Reich ersteckte sich über den Zeitraum von Karl dem Großen bis zu seiner endgültigen Auflösung 1806, obwohl es in der zweiten Hälfte dieses Zeitraums nur noch formell bestand. Das Zweite Reich hat kein halbes Jahrhundert überdauert, und das Dritte Reich führte zu einem bis dahin nie gekannten ideellen und materiellen Niedergang.

Es ist schon ausgeführt worden, dass sich mit den drei Reichen drei Zeitabschnitte verbunden waren, dennoch kann nicht von einer nahtlos fortschreitenden Entwicklung gesprochen werden. Die jeweiligen Reiche waren jeweils ein Bruch mit dem vorhergehenden oder auch dem nachfolgenden, das gilt besonders für das Dritte Reich, für das in der deutschen Geschichte kein Äquivalent gefunden werden kann, allein die Symbolik findet in der gesamten deutschen Geschichte keine Entsprechung. Es war nicht nur eine radikale Kehrtwende vom Christentum, das prägend gewesen war für die deutsche Geschichte, es war
 

344 ebd. Abschnitt 8

345 ebd. Abschnitt 8

 

                                                                                                      106

auch eine Abkehr und ein Bruch mit der deutschen Kultur – und Geistesgeschichte mit ihren Höhepunkten.

Die Begeisterungsstürme, die der Nationalsozialismus auslöste, hatten einen Ursprung, er konnte auf Erfolge verweisen. Er trat auf mit dem Anspruch, die zuvor bestandenen Gegensätze überwunden zu haben. Was im Zweiten Reich nicht nur zu verbalen Zusammenstößen geführt hatte, das betraf die Kategorie national und sozial, es betraf auch die Frage kleindeutsch oder großdeutsch, es betraf auch die konfessionellen Gegensätze. Alles erschien harmonisch und gelöst. Mit der Einverleibung Österreichs und des Sudentenlandes konnten die NS – Ideologen von einem größeren Deutschland sprechen, sie hatten die großdeutsche Lösung herbeigeführt, was mit der Einheit 1871 nicht gelungen war. So konnte die NS – Herrschaft darauf verweisen, sie habe erreicht, was zuvor misslungen war. Es gelang auch über das ethisch äußerst brüchige Fundament dieses Reiches, durch raffinierte propagandistische Verpackung einen Schleier auszubreiten. Die Menschen waren geblendet, getäuscht oder eingeschüchtert durch die Gewaltexzesse des Staatsapparates.

Es bleibt festzuhalten, das Zweite reich war ein Bruch mit dem Ersten Reich, und das Dritte Reich war ein Bruch mit dem Ersten und dem Zweiten Reich, es kann in keinem Fall von einer kontinuierlichen Entwicklung ausgegangen werden.

Mit dieser Gesamtsicht auf einen ganzheitlich dargestellten historischen Prozess, verbinden sich naturgemäß Fragen nach Fehlentwicklungen die ein Verhängnis ausgelöst haben.

Dabei waren die Opponenten sich zeitwiese sehr nahe gekommen.

Bei den Wahlen am 12. Februar 1867 zum Konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes gelangten A. Bebel und H. Schraps als einzige Vertreter der Arbeiterparteien in den Reichstag. Schraps erklärte in einer Rede am 18. März 1867, dass er nur das Parlament von 1848 als einzig rechtmäßig anerkenne. Er warf Preußen eine dem Reiche und Volke feindliche Politik vor. Eine Politik, welche in der Geschichte die Schweizer und Holländer zum Abfall brachte, die Elsässer zu eingefleischten Franzosen, und die Luxemburger von Deutschland weggetrieben habe.346 In gleicher Weise äußerte sich Bebel vor dem Reichstag Ende September 1867, auch er bestritt dem Reichstag das Recht „im Namen der Nation sprechen zu können“, weil er nur Teile derselben repräsentiere. Er wies hin auf Verluste „die vom deutsch – nationalen Standpunkte aus gar sehr zu beklagen sind“. Er erinnert daran, dass „Luxemburg als altes Glied des Reiches…faktisch für Deutschland verlorengegangen“ sei und das der Verlust der nordschleswigschen Distrikte nach dem Artikel vier des Prager Friedens in Aussicht stehe.
 

346 Zitiert bei Conze/Groh S. 69 f

 

                                                                                                         107

Bismarck fühlte sich von diesen Vorwürfen, die den Verrat an der Nation bedeuten, angegriffen. Er hielt Bebel sofort entgegen, dass ein Krieg wegen des Garnisonsrechts in Luxemburg unverantwortlich gewesen wäre.347

Bismarck stand der sozialen Frage nicht gleichgültig gegenüber. Bevor Lassalle am 23. Mai 1863 den ADAV gründete hat er sich wenige Wochen zuvor mehrfach mit Bismarck getroffen, der zu dem Zeitpunkt preußischer Ministerpräsident war. Bismarck sprach in seiner Reichstagsrede zum Sozialistengesetz am 17. September 1878 von „drei bis viermal“348 und fügte hinzu „…unsere Unterredungen haben stundenlang gedauert, und ich habe es immer bedauert, wenn sie beendet waren…“349

Es gibt keine Protokolle über diese Unterredungen, Bismarck hat aber ein Interesse an diesen Unterredungen gehabt und Lassalle zugesichert, er werde die Krone eines Tages zur Umkehr, zur Proklamierung des allgemeinen Wahlrechts und zur Allianz mit dem Volke bewegen.350

4. 1. Welche Vorstellungswelt zu einem Staatsaufbau verbindet die Sozialdemokratie in dem Zeitraum von 1869 bis 1876 mit dem Volksstaat?

Bismarck äußert sich in seiner Reichstagsrede am 17. September 1878 zum Sozialistengesetz „Gegen die gemeingefährlichen der Sozialdemokratie“351 weiter  lobend über Lassalle und geht dann dazu über, um Bebel ein Gesprächsangebot zu machen, um zu erfahren, wie der neue Zukunftsstaat aussehen und gestaltet werden solle:

Zunächst noch zu Lassalle: „Wenn dieser Mann durch seinen Geist und seine Bedeutung mich anzog, so ist es ja, abgesehen davon, meine Pflicht als Minister, mich über die Elemente, mit denen ich es zu tun habe, zu belehren und ich würde auch, wenn Herr Bebel den Wunsch hätte, sich abends mit mir zu unterhalten, ihm nicht ausweichen, ich würde daran vielleicht die Hoffnung knüpfen, daß ich endlich auch erführe, wie Herr Bebel und Genossen sich den Zukunftsstaat, auf den sie uns durch Niederreißen alles dessen, was besteht, was uns teuer ist uns schützt, vorbereiten wollen, eigentlich denken. (Ruf: Ganz gewiß!)

Es ist das Besprechen außerordentlich schwierig, solange wir darüber in demselben Dunkel tappen, wie die gewöhnlichen Zuhörer bei den Reden in sozialdemokratischen Versammlungen; sie erfahren auch nichts davon, es wird versprochen, es werde besser werden, es gebe bei wenig Arbeit mehr Geld – woher es kommt, sagt kein Mensch, namentlich woher es auf die Dauer kommt, wenn die Teilung, die Beraubung der Besitzenden einmal geschehen sein wird; dann wird vielleicht der Arbeitsame und Sparsame wieder Reich werden und der Faule und Ungeschickte wieder arm werden, und wenn das nicht ist, wenn jedem das Seinige von oben her gleichmäßig zugewiesen werden soll,
 

347 Zitiert bei Conze/Groh S. 71 Der Prager Frieden vom 23. August 1866 beendete den Krieg zwischen Preußen und Österreich. Österreich verzichtete darin auf alle im Wiener Frieden vom 30. Oktober 1864 erworbenen Rechte in Schleswig – Holstein.

Luxemburg war Mitglied des Deutschen Bundes und durch Personalunion mit Holland verbunden. Es wurde nach 1866 von Frankreich begehrt, und so kam es zur Luxemburgkrise. Auf russischen Vorschlag wurde Luxemburg auf einer Konferenz in London als unabhängiges Großherzogtum anerkannt. Preußen musste sein Garnisonsrecht aufgeben und die Festungsanlagen schleifen lassen.

348 Axel Kuhn (Hrsg.) Deutsche Parlamentsdebatten Band I 1871 – 1918 Frankfurt a. M./Hamburg 1970 S. 125

349 Zitiert ebd. S. 125

350 Mayer, Gustav: Bismarck und Lassalle ihr Briefwechsel und ihre Gespräche. Stettin 1928 S. 22

351 Wiedergabe der Debatte zum Sozialistengesetz am 16. Und 17. September 1878 mit Reden von den Vertretern der verschiedenen Fraktionen.

 

                                                                                                       108

gerät man in eine zuchthausmäßige Existenz, wo keiner seinen selbstständigen Beruf und seine Unabhängigkeit hat, sondern wo ein jeder unter dem Zwang der Aufseher steht.352 (…)

 

Bismarcks Anmerkungen zum möglichen sozialdemokratischen oder sozialistischen Zukunftsstaat waren nicht gänzlich abwegig. Denn eine genaue Definition und Beschreibung darüber wurde, angefangen mit Karl Marx und Friedrich Engels, nicht gegeben. Das Fernziel war die klassenlose Gesellschaft, eine Definition und Beschreibung die zunächst abstrakt gehalten war, wie auch über den Weg dahin bei den Hauptakteuren sozialistischer und sozialdemokratischer Bestrebungen höchst unterschiedliche Vorstellungen herrschten, die entsprechend der aktuellen Lage einer Wechselstimmung unterworfen waren. Marx und Engels stellen 1850 nach dem Sieg der Reaktion fest, dass nur über den Weg der Revolution das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft erreicht werden könnte. Ihr Ziel war es, „die Revolution permanent zu machen, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt […] vorgeschritten ist […;es geht] um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um die Gründung einer neuen.“353

Zwei Denkkategorien lassen sich ausmachen: Die als Fernziel ausgegebenen Losungen, und die Bezugnahme auf die aktuelle politische Situation, die naturgemäß mit allen Idealvorstellungen nicht in Einklang gebracht werden konnte.

Die Aussage Bismarcks kann prophetisch gedeutet werden, denn was darin zum Ausdruck kommt, hat im 20. Jahrhundert vielfach Erfüllung gefunden in Staaten, die sich als sozialistisch bezeichneten.

Aber Marx setzt dieser Prophezeiung eine andere entgegen. Er sieht nach der Annexion Elsass – Lothringens, einen europaweiten Krieg gegen Deutschland heraufziehen, in dem sich Russland, das „Bollwerk der Reaktion“, mit Frankreich verbündet. Er geht sogar so weit, von einem Rassenkrieg der Slawen und Romanen gegen Deutschland zu sprechen. Der Sieg der verbündeten über Deutschland würde die Arbeiterbewegung auf Jahrzehnte hinaus schädigen.354

 

352 Zitiert bei Axel Kuhn: Deutsche Parlamentsdebatten. S. 126

353 Zitiert bei Christiane Stangl: Sozialismus zwischen Partizipation und Führung. S. 144 Weiter heißt es erläuternd dazu: Marx zur Rolle der Revolutionen allgemein: „Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte.“ (Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: ebd. S. 199. Hervorhebungen im Original.) Er äußerte sich positiv über Bewegung an sich: „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als Dutzend Programme.“ (Brief von Marx an Brake, 5. 5. 1875, in: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften, Band 2 (1966), S. 9

354 Conze/Groh S. 100 f Marx und Engels hatten in ihrem Geschichtsverständnis dem Aufstand der Pariser Kommune einen hohen Stellenwert zuerkannt, blieb aber hinter der Einschätzung zur Entwicklung in der deutschen Arbeiterbewegung zurück. In einem Kommentar hatte Engels zum Wahlerfolg der deutschen Sozialdemokraten 1874 in einem Schreiben an Wilhelm Liebknecht vom 27. 1. 1874 verlauten lassen: „Die Wahlen in Deutschland stellen das deutsche Proletariat an die Spitze der europäischen Arbeiterbewegung.“

schädigen.354

 

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Bismarck und Marx hatten mit ihren Aussagen über die Zukunft der Politik ihres jeweiligen Gegenübers Recht behalten, die Zukunftsanalysen beider haben sich mit einer erstaunlichen Genauigkeit bewahrheitet.

Bismarcks politisches Lebenswerk gründete sich auf die Maxime praktischer Politik, Marx dagegen hinterließ ein Werk politischer Theorie, das den Weg zu einer praktischen Verwirklichung noch erst suchen musste. Beide sind in der nachfolgenden Geschichte gescheitert, zu beurteilen, ob dieses Scheitern unwiderruflich ist, wäre eine gewagte Aussage in die Zukunft hinein. Denn was Politik und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert bewegt hat, rang in der nachfolgenden Geschichte und ringt immer noch mit den gleichen Herausforderungen, die noch keine entscheidenden Antworten und Lösungen gefunden haben.

Anfang der 1860er Jahre erging ein Angebot an Karl Marx durch Vermittlung von Lothar Bucher zur Mitarbeit am preußischen „Staatsanzeiger“, ohne Auflagen, und gegen das Versprechen einer guten finanziellen Absicherung. So schildert es Ignaz Auer. Er unterstellt der Seite Bismarcks dabei unredliche Absichten.355

Die unerbittlichen Gegner waren sich zeitweise sehr nahe gekommen. Zu einer Zusammenarbeit zum Wohle des Ganzen oder gar zu einer Symbiose hat es nie gereicht.

4. 2. Welche Alternative zur bisherigen Geschichte oder auch Weltgeschichte ist erkennbar?

Die Kernthese und Kernaussage im Kommunistischen Manifest findet sich wieder in dem Satz: „Proletarier aller Länder vereinigt euch“. Zu einer solchen Vereinigung ist es nie gekommen, weil nationales und ideologisch begründetes Herrschaftsstreben dem Ideal, das die Wohlfahrt der internationalen Völkergemeinschaft zum Ziele hatte, einem solchen politischen Ziel hinderlich war.

In den Ausgaben des „Volksstaat – Erzählers“ und durch alle Jahrgänge der Ausgaben des „Volkstaat“ hindurch folgen eine Auswahl von Quellentexten dieser Einführung. Es finden sich Bezugspunkte zu historischen Ereignissen durch alle Zeitepochen  der
 

354 Conze/Groh S. 100 f Marx und Engels hatten in ihrem Geschichtsverständnis dem Aufstand der Pariser Kommune einen hohen Stellenwert zuerkannt, blieb aber hinter der Einschätzung zur Entwicklung in der deutschen Arbeiterbewegung zurück. In einem Kommentar hatte Engels zum Wahlerfolg der deutschen Sozialdemokraten 1874 in einem Schreiben an Wilhelm Liebknecht vom 27. 1. 1874 verlauten lassen: „Die Wahlen in Deutschland stellen das deutsche Proletariat an die Spitze der europäischen Arbeiterbewegung.“

355 Auer, Ignaz: Nach zehn Jahren. Material und Glossen zur Geschichte des Sozialistengesetzes. Nürnberg 1913 S. 81 Unter der Leitung Auers wurde 1872 der Allgemeine Deutsche Sattlerverein gegründet. Anfang 1877 wurde er in den Deutschen Reichstag gewählt, den er mit Unterbrechungen bis 1906 angehörte. Er leitete die organisatorische Durchführung des Kopenhagener Parteikongresses 1883. Der St. Gallener Parteitag 1887 wählte Auer neben Bebel und Liebknecht in die Kommission zur Erarbeitung eines neuen Parteiprogramms. Der Hallener Parteitag wählte ihn zum Schriftführer des Parteivorstandes.

Lothar Bucher zählte 1848 zu den radikalen Demokraten. Um Repressalien zu entgehen flüchtete er nach England, verblieb dort bis zur Amnestie 1861. Nach seiner Rückkehr  gehörte er zum Mitarbeiterkreis in Bismarcks persönlichem Umfeld. In dieser Position fungierte er auch nach der Entlassung Bismarcks 1890. Er arbeite danach mit an der Abfassung von Bismarcks Memoiren „Gedanken und Erinnerungen“.

 

                                                                                                    110

Menschheitsgeschichte hindurch und über alle nationalen, geistigen und kulturellen Grenzen hinweg, mit dem Ziel ein anderes Geschichtsbild und anderes Geschichtsverständnis gegenüber zu stellen, das wiederum dem angestrebten politischen Ziel dienlich gemacht werden soll. Eines haben Sozialdemokraten und Sozialisten bewirkt: Sie haben bei den Mächtigen und den Machtausübenden das Bewusstsein geschärft für die Notwendigkeit, Wohlstand und Wohlergehen auf eine breite Grundlage zu stellen, ob getrieben von ethischen Beweggründen oder aus Angst vor Machtverlust, das ist jeweils die Frage.

 

 

 

 

 

                                                                                                     111

                

N° 1.                                       Sonnabend, den 2. Oktober                                               1869

 

                                                                                 Der Volksstaat

                                                                      (Früher Demokratisches Wochenblatt)

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                   Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der  internationalen

                                                        Gewerksgenossenschaften

 

An die Parteigenossen!

 

Mit Freude und Genugtuung begrüßen wir Euch, Parteigenossen, heute, wo unser Organ zum ersten Male unter dem zu Eisenach beschlossenen Namen in der neuen Form erscheint. Mit gehobenen Gefühl wird jeder von Euch die erste Nummer des „Volksstaates“ zur Hand nehmen; sind wir doch wieder einen Schritt weiter: und so werden wir weiter schreiten in rastlosem Kampfe, bis, während wir heute nur den Geburtstag eines Blattes feiern, der wahre der sozialdemokratische Volksstaat ins Leben tritt!

Die Behörden der Partei werden, fest das große Ziel im Auge, ihre Schuldigkeit zu thun versuchen. Aber jeder muß auf dem Posten sein, jeder muß emsig arbeiten, rüstig schaffen, unverdrossen wirken, selbstlos opfern! So nur wird einstmals das erhabene Ziel erreicht!

Darum denkt an die Notwendigkeit der Organisation! Wirkt für unsere Vereine, wirkt für die Partei, wirkt für den großen viel geschmähten, machtvollen Bruderbund der Arbeiter der ganzen Erde!

Wenn die Arbeitersache Euer ganzes Herz erfüllt, wenn ihr eure Mitbrüder zu einer gleichen Begeisterung aufrafft, dann wird die Zeit nicht mehr fern sein, wo die Arbeitersache die ersten großen Siege feiert.

Und wenn Ihr heute unseren „Volksstaat“ – dem Organ und Eigenthum der Partei – mehr Leser, mehr Abonnenten verschafft, wie das Eure Pflicht ist, aber auch eine Pflicht, die zu erfüllen Euch Freude machen muß, so werden wir um so schneller weiter kommen.

Und so begrüßen wir Euch an dem Geburtstage unseres „Volksstaates“ mit dem Ruf:

 

Es lebe der sozialdemokratische Volksstaat!

Es lebe die sozialdemokratische Agitation!

 

Braunschweig – Wolfenbüttel und Leipzig, 1. Oktober 1869. Der Ausschuß. Die Redaktion.

 

 

 

                                    Politische Uebersicht

Alle Zeitungen sind mit Nachrichten über die plötzliche Annäherung Oesterreichs an Preußen und Rußland erfüllt.

Ueber Einzelheiten der Unterhandlungen ist man noch nicht im Klaren, die Thatsache selbst steht über jeden Zweifel: Die Koalition ist so gut wie abgeschlossen; kein Zweifel: die Völker haben die Kosten zu bezahlen – so lange sie feig genug sind, es zu thun.

 

                                                                                                   112

Die Furcht vor der Revolution ihr Dasein verdankend, richtet sich die neue „Heilige Allianz“ gegen die Revolution und „bezweckt in erster Linie die Eindämmung der Französischen Republik, die selbst in monarchischen Kreisen als unvermeidliches Uebel betrachtet wird natürlich mit obligaten Demokraten und Demagogen diesseits des Rheins.

Spanien

Nachdem das Provisorium in Spanien genau ein Jahr lang gedauert hat, scheint jetzt die Krise hereingebrochen zu sein. In Tarragona und Barcelona hat der Versuch der Regierung die republikanischen Freiwilligen der Freiheit zu entwaffnen, zu heftigen Szenen, in der letzten Stadt sogar zu einem fünfstündigen Kampf geführt, der den amtlichen Telegrammen zufolge mit dem Sieg der Regierungstruppen geendet haben soll.

Aus England                                                                                  London, den 27. Septbr.

Jeder Arbeiterkongreß fügt neue Glieder zu der Kette, welche die Söhne und Töchter der Arbeit aneinander fesselt. Was die angeborene Menschenliebe nicht vermocht, was durch die Verheißung einer ewigen Glückseligkeit nicht bewerkstelligt werden konnte: die allgemeine Verbrüderung der Menschheit wird durch das allen Gemeinsame, materielle Interesse erreicht werden. Die Ueberzeugung, daß die Menschheit innerhalb gewisser Schranken die Schöpfer ihrer eigenen Lebensverhältnisse sind, und das Lebensglück des Einzelnen nur durch das Lebensglück aller begründet werden kann, greift täglich mehr um sich und bildet das Band der Vereinigung.

Aus Amerika                                                                            New = York, den 12. September

Die Verhandlungen des Arbeiterkongresses in Philadelphia haben der Workingmen’s Union in New York Veranlassung gegeben, eine scharfe Kritik über die sogenannten Arbeiterfreunde auszugießen. Diese Philanthropen und Weltbeglücker waren in der großen Körperschaft stärker vertreten, als der Sache gut war, und die Arbeiter müssen Mittel ergreifen, um ihre Reihen nicht mit guten Freunden zu vermischen, welche unter Umständen sich als falsche Freunde entpuppen könnten. Die Workingmen’s Union ist der Centralkörper der Trade = Unions von New = York und ihr kühnes Vorgehen in dieser Frage verdient großes Lob. Bestehende Schäden in der Partei müssen aufgedeckt, nicht ängstlich vertuscht werden. Die Furcht vor der öffentlichen Meinung ist feige.

 

N° 2.                                        Mittwoch, den 6. Oktober                                                1869

 

                                                     Politische Uebersicht

 

Es liegt in der Natur der neuen „Heiligen Allianz“, daß die Beteiligten kein Interesse haben, die Öffentlichkeit zu suchen. Der Zweck sowohl als die Motive sind lichtscheu. Keine Regierung sagt gerne, daß sie Furcht hat, keine Regierung sagt gerne, daß sie sich zum Kampf auf Leben und Tod und ums Dasein rüstet. (...)

Klar ist, daß der Gedanke zur Gründung eines Schutzbündnisses gegen die Revolution da zuerst aufgetaucht sein muß, wo die Bedrohung durch die Revolution am unmittelbarsten. Klar ist ferner, daß der Staat, der des Schutzes gegen die Revolution am dringendsten bedarf, die Bedingungen des Schutzbündnisses nicht vorschreiben kann. Wenn wir dies in’s Auge fassen, so ergibt sich für uns, daß nicht Oesterreich es war, das die preußische, sondern umgekehrt Preußen, das die österreichische Allianz suchte, so ergibt sich weiter, daß nicht Preußen die Bedingungen zu stellen hatte, sondern Oesterreich.

 

                                                                                                      113

N° 3.                                          Sonnabend, den 9. Oktober                                            1869

 

                                                        Politische Uebersicht

 

In Spanien haben die Republikaner überall die Fahne des Aufstandes gegen die freiheitsfeindliche Regierung aufgepflanzt. (...) Die Regierung selbst muß sich für schwer bedroht halten, sonst würde sie nicht bei den Cortes die Verlängerung des Belagerungszustandes über ganz Spanien beantragt und noch in letzter Stunde die Kandidatur des Herzogs von Genua aufgegeben haben. Marschall Prim hat, erschrocken über die Lage und die Unmöglichkeit einsehend, den Herzog von Genua auf den Thron zu bringen, sich wieder mit dem portugiesischen Ministerium in Verbindung gesetzt, welches vorgestern Dom Fernando beinahe dazu überredet hätte, die Krone anzunehmen, die er noch vor einigen Monaten schroff zurückgewiesen.

Die französische Kammer soll nach einem kaiserlichen Ukas erst am 29. November zusammentreten – über vier Wochen nach Ablauf der gesetzlichen Frist. Dieser Ukas, welcher die Verlegenheit Bonaparte’s und seiner Ratgeber enthüllt, hat große Erbitterung hervorgerufen und eine Anzahl von Abgeordneten, der alte brave Sozialist Raspail an der Spitze, sind entschlossen auf eigene Faust, kraft des  ihnen verliehenen Mandats, schon am 26. Oktober, dem Tage, wo die gesetzliche Vertagungsfrist von 3 Monaten zu Ende geht, sich in den Sitzungssaal des gesetzgebenden Körpers zu verfügen und dort der Regierung zum Trotz, zu tagen. Bei der in Paris herrschenden Stimmung könnte aus dieser Stimmung leicht eine Revolution werden. Die Regierung sucht den heranziehenden Sturm durch Ankündigung von Reformen zu beschwören, allein das französische Volk hat zuviel politische Bildung, um an den Widersinn eines demokratischen Säbeldespotismus zu glauben: es will keine Reformen, es will den Sturz des Empire.

 

Also Unterdrückung aller sozial = demokratischen Vereine! Die Arbeiter Oesterreichs werden den Handschuh aufnehmen! Und wenn der Kampf zwischen Arbeiter und Bürgerthum, den die Herren Giskra und Consorten in wahnwitziger Verblendung an den Haaren herbeiziehen,  in seinem ersten Stadium der pfäffisch = adeligen Reaktion zu Gute kommen sollte – so trifft die Schuld nicht die Arbeiter, sondern das „Bürgerministerium“, welches sich die Aufgabe gestellt zu haben scheint, den Beweis zu liefern, daß das heutige Bürgerthum selbst unter den günstigsten Bedingungen – günstigere als es seit 2 1/2  Jahren hatte, lassen sich unmöglich denken – unfähig ist, auch nur die einfachsten Probleme des politischen Liberalismus zu lösen, unfähig, auch nur die Grundmauern der „bürgerlichen Freiheit“ zu legen.

 

Aus Amerika

Arbeiter hüben und drüben                                                                   New = York, 16. Sept.

Wären die Arbeiter nicht so ungeheuer selbstgenügsam, so demüthig und mit jedem Brocken Abfindung zufrieden, suchten sie vielmehr für das ihnen fast stündlich geschehene Unrecht mit Unerbittlichkeit Vergeltung zu erlangen, den leisesten Schein der Gnade zu verschmähen und überall ihr Recht mit Entschiedenheit zur Geltung zu bringen: ihre Lage würde bald eine andere sein. Aber das ist ja das Bleigewicht der kulturgeschichtlichen Arbeiterbewegung, daß die große Masse feig und gefügig ist gegen jeden, von dem ihnen irgendwelche persönlichen augenblicklichen Vortheile erlangen kann, und daß sie kurzsichtig und zu konservativ ist, dem falschen Führer vom wahren zu unterscheiden und ersterem den Laufpaß zu geben, sobald seine Eulennatur hervorkommt.

Höher als der materielle Vortheil, welche die Strikes den Arbeiter gewähren, ist daher die durch sie hervorgerufene Erweckung der Männlichkeit, des Rechtsbewußtseins, kurz des Klasseninstinkts zu veranschlagen.

Klasseninstinkts zu veranschlagen.

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Am schlagendsten hat sich dies wohl gezeigt in dem Benehmen der Bergleute, welche ihre Brüder aus dem Mördergrund Burgk ans Tageslicht schafften, und dem Arbeiter zu Avondale im Staate Pennsylvanien, wo kurze Zeit nach dem sächsischen Unglück, ein ebenso schrecklicher Arbeitermord von Seiten der Grubenbesitzer stattgefunden hat. In den deutschen Zeitungen hat man nichts gelesen von Erbitterung und Haß der zu Leichenbestattern gewordenen Bergleute gegen den Besitzer und die höheren Beamten der Grube; nur Jammer und Wehklagen erfüllte die Luft der Plauen’schen Berge und „stille gottvertrauende Ergebung in das Unvermeidliche“, und vielleicht gar noch „heiße Dankgebete für die edlen Geber“, welche dem gütigen „Vater“ v. Burgk die Versorgung seiner „Kinder“ abgenommen, werden wahrscheinlich den Schluß der grausamen Tragödie bilden.

Wie anders die organisierten Bergleute in Avondale! Ein Auszug des Berichts der hiesigen „Staatszeitung“ (ohne offiziellen Charakter) wird den deutschen Parteigenossen am besten Zeigen, daß die Gewerksgenossenschaften die Wurzel der Arbeiterbewegung sind, und daß ohne ihre Kräftigung alle sonstige Agitation vergebens ist.

Die „Staatszeitung“ schreibt: „Ein düsterer Geist hat sich über die Mineure der Kohlenregion in jener Gegend Pennsylvaniens verbreitet. Sie wissen, daß der Geiz der Kapitalisten an dem großen Unglück Schuld ist, und daß bei jetziger Einrichtung der meisten Minen der Tod dem Bergmanne bei jedem Schritt, den er in den Gruben macht, auflauert.

Ob die Sympathien der „Staatszeitung“ und der anderen Blätter für die Kohlenarbeiter wirklich so  aufrichtig sind, als sie versichern, muß begreiflicher Weise bezweifelt werden. Wären die Avondaler Arbeiter feig, die kapitalistische Presse würde ganz anders schreiben.

Die Nationale Arbeiter – Union hat die Pflicht, mit ihrem ganzen Einfluss, die Avondaler Bergleute zu unterstützen, daß, wenn die Arbeiter Amerikas die ganze Wucht ihrer Organisation auf diesen einen Punkt würfen, sie nicht siegen sollten. Hoffentlich werden wir später Günstigeres darüber berichten, und somit den Arbeitern in Deutschland zeigen können, daß des Menschen Wille sein Himmelreich ist.

 

N° 4.                                      Mittwoch, den 13. Oktober                                                 1869  

                                                    Politische Uebersicht

In einer Nachschrift könnten wir unseren Lesern am Donnerstag noch mittheilen, daß der republikanische Ausstand in Spanien großartig Dimensionen angenommen hat, und zu den besten Hoffnungen berechtigt. Die seitdem eingetroffenen Nachrichten, obgleich sehr unvollständig, erheben es über jeden Zweifel, daß die Sache der Republik fortwährend an Boden gewinnt. In Catalonien, Arragonien, Castilien, Andalusien und Valencia, also in der größeren Hälfte Spaniens, ist das Standrecht proclamirt, im ganzen Land die Freiheit der Person suspendirt, und daß die Regierung sich in Madrid selbst nicht sicher fühlt, erhellt am besten aus folgenden Telegramm: „Madrid, 7. Okt. Die Madrider Polizei trifft Vorsichtsmaßnahmen gegen Plünderung im Fall der Empörung.

 N° 5.                                     Sonnabend, den 16. Oktober                                               1869

                                                    Politische Uebersicht

Die Zustände des monarchischen Europa sind trotz der „Stabilität“, von der man uns so viel vorfaselt, in Folge des Widerspruchs, in dem sie zu den Bedürfnissen und Wünschen der Völker stehen, so schwankend geworden, daß jeder Tag die Combination des vorhergehenden Tags über den Haufen wirft, und daß, was gestern die Lage der Dinge richtig bezeichnete, heute als veraltet erscheinen. Wer kennt nicht die dissolving views, die sogenannten Nebelbilder? (...)

Nebelbilder? (...)

 

 

                                                                                                          115

Vor wenigen Wochen noch  Frankreich und Oesterreich zusammen gruppiert, bereit den Kampf mit Preußen und Rußland aufzunehmen.

Auf einmal wechselt die Szene: vor dem Krankenbett Bonaparte’s reichen die Monarchen Preußens, Rußlands und Oesterreichs sich die Hände, sich die Hand zum Bund gegen die Revolution, gegen die Republik.

Und nun wieder Szenenwechsel: der kranke Mann hat sich von seinem Lager emporgerafft, und sofort zerfließt das idyllische Friedensgemälde, wie ein Nebelbild zerfließt: mit der Furcht schwindet die versöhnliche Stimmung und von neuem erheben sich drohend die Hände, die eben noch den Bund gegen den gemeinsamen Feind besiegelt hatten. (...)

Man theilt uns mit: „Bonaparte hat begriffen, daß die Tage seiner Dynastie gezählt sind, wenn er nicht der Revolution zuvor kommt. Sein Plan ist: die allgemeine Entwaffnung zu fordern; wird diese, wie natürlich von Preußen abgelehnt, so wird er den Krieg erklären und ein Manifest veröffentlichen, in dem er auf jede Eroberung verzichtet, und den für den Fall des Sieges alle möglichen Erleichterungen verspricht, die er nicht gewähren könne, solange eine Militärmacht gleich der preußischen, an den Grenzen Frankreichs aufgerichtet sei.“

Wird Bonaparte die Zeit haben eine solche Politik in Szene zu setzen? Wohl kaum.

Die Gehrung in Frankreich ist schon zu weit fortgeschritten und die französischen Sozialisten und Republikaner kennen zu gut die Gefahren eines Krieges; sie werden alles thun, was in ihren Kräften steht, um einen dynastischen Krieg zu verhindern. (...)

„In Erwägung, daß der offenbare Wunsch des französischen Volkes nach einer anderen Ordnung der Dinge verlangt, welche den allgemeinen Frieden wiederum herstelle und die Abschaffung der permanenten Armeen gestatte, welche über 600 Millionen jährlich verschlingen, während der öffentliche Unterricht, das wahre Budget des Volkes, nur 15 Millionen zur Verfügung hat: (...)

 

 Aus England

                                                                                                               London, den 12. Oktobr.

Vor einigen Tagen starb der Bischof von Exeter, einer der größten Reaktionäre, die je gelebt haben. Wie ein verwitterter Wegweiser, der in der Nähe einer Eisenbahn einen längst verlassenen holprigen Fahrweg andeutet, stand er inmitten des Getümmels der Gegenwart und vergeudete seine außergewöhnlichen geistigen Fähigkeiten in vergeblichen Versuchen, die Gesellschaft auf den alten Fahrweg zurückzufahren und gegen jeden Fortschritt zu protestiren. Seine Universitäts = Studien machte er zur Zeit, als das englische Parlament mit der Heiligen Allianz gegen die französische Revolution gemeinsame Sache machte. Er blieb ein treuer Jünger und Apostel der damaligen Reaktion.

 

N° 6.                                           Mittwoch, den 20. Oktober                                            1869

                                                         Politische Uebersicht

Ueber den Stand der Dinge in Spanien schreibt ein spanischer Parteigenosse aus Barcelona d. 10. d. M.: „Ihr Bericht aus Spanien in Nr. 2. des „Volksstaat“ veranlaßt mich folgende Zeilen an Sie zu richten: es ist wahr, daß sich in Barcelona nur eine kleine Anzahl von Freiwilligen der Entwaffnung widersetzt und sich geschlagen hatte und natürlich besiegt worden ist. Ich hörte das schon in Marseille und bei meiner Ankunft hier wurde es mir von Republikanern bestätigt, nur sind mehr Soldaten geblieben als die Regierung angiebt, und darunter zwei Oberste.

 

 

 

 

                                                                                                       116

Was Sie in Nr. 1. des Blattes von der „trefflichen Organisation“ der Partei in Catalonien sagen, ist mir wie bitterer Hohn vorgekommen, ich habe auch an eine treffliche Organisation geglaubt, und daher nie das Auftreten bei verschiedenen Gelegenheiten begreifen können. Jetzt, wo ich die Sache aus der Nähe betrachte, bin ich zu der Ueberzeugung gekommen, daß es in Spanien Republikaner genug, aber keine republikanische Partei giebt, d. h. es fehlt durchaus an Organisation, an Einheit des Willens und Handelns. (...)

Bezüglich Frankreichs verweisen wir auf unsere Pariser Correspondenz. Die Bevölkerung, vor allem natürlich die Arbeiter, sind revolutionär, während die sogenannten demokratischen Volksvertreter auf jede Weise abzuwiegeln bemüht sind. Besagte Volksvertreter sind wohl in der Phrase für den Sturz des Kaiserreiches, allein es soll auf parlamentarischem Wege gestürzt werden, als ob Revolution und Parlamentarismus sich einander nicht ausschlössen. Wer parlamentarisch revolutioniren will ist entweder ein Charlatan oder ein Confusionsrath.

Auch Victor Hugo, der König der Phrasenmacher, hat sich gegen die Demonstration des 26. Oktober erklärt. In einem Brief an den „Siècle“ schreibt er:

- - „Da die Linke sich enthält, so muß auch das Volk sich enthalten. Es fehlt ihm der Stützpunkt. Mithin keine Kundgebung. Das Recht ist auf Seiten des Volkes, der Gewaltakt auf Seiten der Regierung. Geben wir derselben keinen Vorwand, Gewalt gegen das Recht zu üben. Niemand darf am 26. Oktober in die Straße hinabsteigen. Thatsächlich geht aus der Situation die Abschaffung des Eides hervor.* Eine feierliche Erklärung der Vertreter der Linken, welche sich im Angesicht der Nation von ihrem Eide lossagen, das ist der wahre Ausgang der Krise, die moralische und revolutionäre Lösung derselben. Ich knüpfe absichtlich nicht zwei Worte aneinander. Möge das Volk sich enthalten und der Chassepot ist gelähmt, mögen die Volksvertreter sprechen und der Eid existirt nicht mehr. Dies sind die beiden Rathschläge, die ich gebe, und da Sie die Güte haben, und um meine Ansicht befragen, so haben Sie sie hiermit vollständig. Ein letztes Wort: An dem Tage, wo ich eine Insurrektion anrathen werde, werde ich zugegen sein. Diesmal rathe ich sie nicht an. (...)

*Die Kandidaten mußten dem Kaiser den Eid leisten.

Man schreibt uns: Nach dem „Sozial = Demokrat“ wird „Präsident“ Schweitzer „unmittelbar nach dem 26. Oktober“ seine lang angekündigte und stets verschobene Agitationsreise beginnen. Warum denn aber nach dem 26. Oktober? Werden unsere Parteigenossen fragen. Darüber giebt der Schweitzer’sche Moniteur folgende Antwort: Sollte, was möglich ist, der 26. Oktober zu entscheidenden Ereignissen in Paris führen, so muß die Reise auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Denn es ist klar, daß nach einer entscheidenden Wendung  in Paris der Vereinspräsident auf dem Posten stehen und die gesamte Partei eine einheitliche in ganz Deutschland bedeutungsvolle Haltung zeigen müßte.

„Wie? Was? Herr von Schweitzer, der uns neulich vorwarf, daß wir beständig von Republik und Revolution sprächen, aber schwerlich auf dem Posten seien, wenn es gelte einzustehen, erläßt plötzlich mitten in der Hauptstadt des von Bajonetten starrenden Nordbundes unter dem Schutze von 40000 der Berliner Besatzung und mehr als 2000 Berliner Schutzleuten eine so drohend klingende Bekanntmachung? Will Robespierre = Schweitzer wirklich auf dem Giebel Nr. 17 der Gitschenerstraße  die „rothe Fahne“ aufstecken und die Soldaten und die Polizei des Herrn von Bismarck verachtend, die „Soziale Revolution“ predigen und sich selber natürlich an die Spitze stellen? Nichts von alledem. Es ist das feigste elendste Komödienspiel, das ein Arbeiterführer je getrieben.

 

N° 7.                                       Sonnabend, den 23. Oktober                                              1869

                                                   Politische Uebersicht

 

Die jüngsten Berichte aus Spanien lassen leider die Sache der Republikaner als hoffnungslos erscheinen, Valencia ist nach heldenmüthiger Gegenwehr überwältigt worden, und der

erscheinen, Valencia ist nach heldenmüthiger Gegenwehr überwältigt worden, und der

                                                                                               117

Aufstand hat jetzt nirgends mehr einen Stützpunkt. Die meisten Freischaren sind zersprengt, und, obgleich nicht Alles so rasch, wie die Regierungsberichte in Aussicht stellen, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß dieser Aufstandsversuch mißglückt ist. Forschen wir nach den Ursachen des Nichterfolgs, so reicht das vorhandene Material hin, um das Urtheil unseres Barcelonaer Correspondenten (s. Letzte Nummer des "Volksstaat") zu bestätigen, daß der Mangel an einheitlichem Handeln die Schuld trägt. (:::)

In Spanien haben die privelegierten Menschenschlächter die Republik begraben. Aber sie wird wieder aufstehen in Frankreich, und wenn sie von da ihren Rundgang beginnt, auch über die Pyrenäen steigen, und Trost spenden dem edlen unglücklichen Märtyrer=Volk. (...)

 Aus England

                                                                                                            London, den 18. Oktbr.

Während sich Hunderte und Tausende den Kopf zerbrechen, wie der täglich mehr um sich greifenden Verarmung zu steuern ist und die nothwendigsten Bedürfnisse der arbeitenden innerhalb der bestehenden Verhältnisse befriedigt werden können, bereiten sich die Londoner Arbeiter vor, einen Feldzug gegen die Verhältnisse selbst zu unternehmen. Sie sind zu der Ueberzeugung gelangt, daß die ökonomische Grundlage der heutigen Gesellschaft die Wurzel aller Uebel, daher jedwede politisch – soziale Kesselflickerei vergeblich ist. (...)

 

N° 8.                                         Mittwoch, den 27. Oktober                                              1869

                                                      Politische Uebersicht

„In Spanien herrscht Ruhe“, verkünden uns triumphirend die offiziellen Telegramme; sie haben Recht es herrscht „Ruhe“ die bekannte „Ruhe des Friedhofs“, nur unterbrochen von dem Knallen der Standrechtsbüchsen, und dem Todesröcheln der „zu Pulver und Blei begnadigten“ Republikaner. Ganz wie bei uns – vor zwanzig Jahren. Ob sie nun Prim heißen oder Windischgrätz, oder Prinz von Preußen, oder Bonaparte, ob sie Preußische, Oesterreichische, Französische oder Spanische Uniform tragen – sie haben allesamt nur das eine Mittel der Gesellschafts – und Staatsretterei: Kugeln und Bajonette für das sein Recht verlangende Volk! Und sie haben allesamt die nämliche Angst noch vor dem besiegtem Volk, so daß jede Regung der Großmuth in ihnen erstickt wird, und sie die überwundenen Feinde mit unmenschlicher Rache verfolgen. - -

(...) Am 26. Oktober?

Die „parlamentarischen Führer“ haben das Volk im Stich gelassen. Nur der einzige Raspail ist treu geblieben, und will sich am Dienstag nach der Kammer begeben. Einer oder Hundert das ist gleich, falls das Volk, falls die Arbeiter auf dem Platze sind. Die Parlamentarier und die Regierungsleute sehen mit Schrecken dem 26. Oktober entgegen. Der Verlauf spottet der Vorausberechnung. Das aber ist gewiß, fällt das Kaiserthum nicht an diesem Tag, so wird es bei irgend einem anderen Anlaß fallen. (...)

 

N° 9.                                         Sonnabend, den 30. Oktober                                            1869

                                                      Politische Uebersicht

 

Der 26. Oktober ist ruhig verlaufen. Auch Raspail hatte sich noch „in der elften Stunde“ zurückgezogen, und damit den Beweis geliefert, daß auch die tüchtigsten Charactäre „nicht ungestraft unter den Palmen“ des Parlamentarismus „wandeln“. Für das revolutionäre Volk war damit jeder Anlaß zur Aktion an diesem Tage weggefallen. Es konnte sich doch nicht für den

 

                                                                                                    118

Parlamentarismus schlagen, der in der Person aller seiner Vertreter, selbst der Radikalsten inen Selbstmord begangen hatte. (...)

Der Versuch der Oestereichischen Regierung, den in Dalmatien entstandenen Brand mit einem Male „auszutreten“, ist mißlungen, und die Feuersbrunst greift immer weiter um sich. Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Aufstand wohl vorbereitet ist, und das er von Montenegro aus unterstützt wird und in Bosnien, Albanien, der Herzegowina, ja bis nach Serbien und Rumänien hin seine Verzweigungen hat. Jedenfalls ist es nicht ein „Stück orientalischer Frage“, was uns hier entgegentritt, sondern es ist die ganze orientalische Frage, die sich plötzlich in ihrer gefährlichen Form – als südslawische Frage, gleichzeitig den Bestand Oesterreichs und der Türkei bedrohend – in den Vordergrund gedrängt hat. Daß es den vereinigten Anstrengungen beider Staaten gelingen wird, sie wieder zurückzudrängen bezweifeln wir nicht. Aber es wird nicht leicht sein. Denn die europäischen Verhältnisse haben sich wieder derart gestaltet, daß der russische Kaiser von seinem Onkel in Berlin gar nicht zu reden, ein offenbares Interesse daran hat, den Aufstand mit aller Energie zu nähren und zu unterstützen.

In der großartigen Arbeiterbewegung der Vereinigten Staaten nimmt das deutsche Element eine würdige Stellung ein, wie ein Blick in die dortigen Arbeiterzeitungen lehrt.

N° 10                                         Mittwoch, den 3. November                                             1869

                                                      Politische Uebersicht

Die Furcht des Bürgerthums vor dem Proletariat ist die Mutter unmöglich auf seine Bestrebungen verzichten, denn sie sind nur ein Ringen um die Existenz. An dem Bürgerthum – natürlich reden wir nicht von der Bourgeoisie, dem Großkapital, das uns nothwendig als Feind gegenüber stehen muß – an dem Bürgerthum ist es also, noch zu entscheiden, ob es lieber das Joch des Cäsarismus tragen, oder die Berechtigung der Sozialdemokratie in vollstem Maaße anerkennen will. Cäsarismus oder Sozialdemokratie ist die Losung des 19. Jahrhunderts.

Entweder – Oder.

Wer vor den Zielen der Arbeiterbewegung erschrickt, der gehört nicht in den Kampf der Gegenwart.

 

Aus Frankreich                                                                              Paris, 22. Oktober

Niemand war über den 26. Oktober schlechter unterrichtet, als die kaiserliche Regierung und ihre Polizei. Noch am Vorabend dieses von ihr so gefürchteten, aber von den Führern der revolutionären Partei längst aufgegebenen Tages wurden die umfassendsten Vorsichtsmaßregeln getroffen, Maueranschläge gegen Zusammenrottungen gemacht, Truppen mit scharfen Patronen versehen, in die verschiedenen öffentlichen Gebäude gelegt, die durch die Revolution bedroht werden konnten, die Zellengefängnisse zum Empfange neuer, zahlreicher Gäste in Bereitschaft gesetzt, die Garnisonen innerhalb und außerhalb von Paris, die Forts und umliegenden Ortschaften marschfertig gemacht, die Pferde gesattelt, die Kanonen bespannt, und alle Regimenter in deren respektiven Casernen consigniert.

 

Aus England                                                                                          London, den 18. Oktbr.

Die Gloria – Gloria Halleluja – Tage der radikalen Bürgerregierung verdüstern sich mehr und mehr. Als im Sommer 1866 das damalige Ministerium eine Reform – Versammlung im Hydepark verbot und die Thore durch Polizei besetzen ließ, verhüteten die Arbeiter einen Zusammenstoß dadurch, daß sie die eisernen Geländer aus dem Weg räumten, welche sie hinderten in den Park zu gehen.(...) 

Aus Frankreich                                                                              Paris, 22. Oktober

Niemand war über den 26. Oktober schlechter unterrichtet, als die kaiserliche Regierung und ihre Polizei. Noch am Vorabend dieses von ihr so gefürchteten, aber von den Führern der revolutionären Partei längst aufgegebenen Tages wurden die umfassendsten Vorsichtsmaßregeln getroffen, Maueranschläge gegen Zusammenrottungen gemacht, Truppen mit scharfen Patronen versehen, in die verschiedenen öffentlichen Gebäude gelegt, die durch die Revolution bedroht werden konnten, die Zellengefängnisse zum Empfange neuer, zahlreicher Gäste in Bereitschaft gesetzt, die Garnisonen innerhalb und außerhalb von Paris, die Forts und umliegenden Ortschaften marschfertig gemacht, die Pferde gesattelt, die Kanonen bespannt, und alle Regimenter in deren respektiven Casernen consigniert.

 

Aus England                                                                                          London, den 18. Oktbr.

Die Gloria – Gloria Halleluja – Tage der radikalen Bürgerregierung verdüstern sich mehr und mehr. Als im Sommer 1866 das damalige Ministerium eine Reform – Versammlung im Hydepark verbot und die Thore durch Polizei besetzen ließ, verhüteten die Arbeiter einen Zusammenstoß dadurch, daß sie die eisernen Geländer aus dem Weg räumten, welche sie hinderten in den Park zu gehen.(...)

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N° 11                                       Sonnabend, den 6. November                                            1869

               Bonaparte hat wieder einen „Anfall“ gehabt, der ganz Europa in die Glieder gefahren ist. (...)

Aus Paris schreibt man: „Für die Anhänger der internationalen Arbeiter – Association hat man seit der Verurtheilung und Unterdrückung ihres sogenannten „Pariser Büros“ einen neuen Mittelpunkt unter dem Namen „Chambre fédérale du travail Parisien“ (Bundeskammer der Pariser Arbeit) gebildet. Hier laufen so ziemlich alle sozialistischen Bestrebungen zusammen.

Die preußische „Fortschrittspartei“ will aus ihrem Abrüstungsantrag politisches Kapital schlagen, und hat eine Reihe von Volksversammlungen angekündigt

Politische Uebersicht

Aus England                                                                                             London, 1. Novbr.

Die Proletarier haben einen Bund gestiftet, sie haben der bestehenden Gesellschaft den Krieg erklärt. Bisher brüsteten sich unsere gelehrten Philister immer damit, daß die englischen Arbeiter nie von der Seuche des eigentlichen Sozialismus und Kommunismus angesteckt worden seien. Sie erklärten sich diese Thatsache daraus, daß der englische Arbeiter mit mehr common sence – gesundem Menschenverstand – begabt sei als der französische; nach ihrer Meinung hauste die bête noire* hauptsächlich in Paris. *schwarzes Biest

 

N° 12                                        Mittwoch, den 10. November                                            1869

                                                       Politische Uebersicht

Der preußische Fortschrittsrevival* ist jämmerlich ins Wasser gefallen. Gleich bei der ersten Versammlung wurden die Todten von den Lebenden Begraben. Zwar gelang es dem Hofsozialismus noch einmal, der gesunden Aktion des Proletariats, die Spitze abzubrechen, doch das wird ihm nicht mehr lange gelingen, und wir lassen uns die Freude über den Arbeitersieg nicht vergällen. *Revival – Erweckung.

                                                 Beilage zum „Volksstaat“ Nr. 12

                                               Vom Rechte das mit und geboren

Vortrag gehalten im allgemeinen Rechtsschutzverein zu Berlin, von G.S. Schäfer, Prediger der freireligiösen Gemeinde.

(...) Die Fassung ihres Vereinszwecks giebt mir den Anhalt und die Veranlassung zu meinem Vortrage. Sie unterscheiden danach zwei Seelen des Rechts, und haben die eine Seite wie es gewöhnlich geschieht, das natürliche Recht genannt, die andere das verfassungsmäßige, d. h. staatliches Recht. Dieses letzte hat noch viele verschiedene Bezeichnungen, man nennt es auch das geschichtliche oder das historische Recht, weil es im Verlaufe der Zeit entstanden ist. Man nennt es auch das erworbene Recht, weil es von den Vorfahren überkommen und übernommen worden ist. Auch Goethe macht diesen Unterschied in der Stelle, woraus eigentlich das Thema, welches diesem Vortrage vorliegt genommen worden ist. Diese Stelle lautet so:

„Es erben sich Gesetz und Rechte,

Wie eine ew’ge Krankheit fort,

Sie schleichen von Geschlecht sich zu Geschlechte,

Und rücken Jacht von Ort zu Ort,

Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage.

Weh Dir, daß Du ein Enkel bist,

Vom Rechte, das mit uns geboren ist,

Weh Dir, daß Du ein Enkel bist,

Vom Rechte, das mit uns geboren ist,

Von dem ist leider nicht die Frage.“

 

                                                                                                  120

Also auch hier sind die beiden Seelen des Rechts gegen einander gehalten, nämlich das ererbte oder geschichtliche Recht, und das angeborene oder natürliche Recht. (...)

Wir werden jetzt das geschichtliche und das natürliche Recht näher und übersichtlicher mit einander vergleichen können. Das geschichtliche wie das natürliche Recht sind blos zwei sich ergänzende Seiten desselben Rechts. Recht die ewige, unveränderliche und normale Seite, während das geschichtliche die sich stets verändernde und fortentwickelnde Seite des Rechts ist. (...)

Ich gehe jetzt weiter, und zwar zu den einzelnen ungeborenen Rechten oder zur Untersuchung dessen, was uns von Natur gemäß ist. (...)

Auf verschiedenen Entwicklungsstufen des Menschengeistes ist auch seine Natur eine verschiedene. Wir haben uns also an die verschiedenen Stufen des menschlichen Lebens anzuschließen, um die vier Gesichtspunkte des Naturrechts in das rechte Licht zu setzen. (...)

Das erste Recht können wir nennen, das Recht überhaupt zu leben, und zwar schließt das das thierische Leben ein.

 

N° 13.                                      Sonnabend, den 13. November                                          1869

An die Parteigenossen!

Die Partei ist in Noth!

Als in der großen französischen Revolution die reaktionären Mächte sich gegen die Revolution und die Republik verschworen hatten und ihre Söldnerheere entsandten, um Frankreich die Mutter von beiden zu unterdrücken, da erklärte der Französische Convent „das Vaterland in Gefahr“. Das genügte; die Begeisterung der Franzosen für ihre revolutionäre Sache schlug die Feinde zu Boden und lustiger wehte das Banner Frankreichs, das Banner der Republik.

                                                       Politische Uebersicht

Heute vor 21 Jahren, am 10. November 1848 meldete die amtliche „Wiener Zeitung“:  „Mittels standrechtlichen Urtheils vom 8. d. M. ist Robert Blum, Buchhändler aus Leipzig, durch eigenes Geständnis, wegen aufrührerischer Reden und bewaffneten Widerstands gegen die kaiserlichen Truppen zum Tode durch den Strang verurtheilt und in Ermangelung eines Freimanns die Sentenz mit Pulver und Blei durch Erschießen am 9. November vollzogen worden.“ (...)

„Die Erinnerung an Robert Blum wird fortleben, solange es Deutsche giebt, die an ein großes freies Vaterland glauben. Und gesühnt wird sein Tod erst dann sein, wenn sich erfüllt hat, was er Namens der Nation begehrte und was er mit seinem Tode besiegelte – wenn ein freies frei und einig von den Alpen bis zum Meere – die Brigitten an eingeschlossen sich dehnt.

„In diesem Deutschland der Zukunft wird Robert Blum’s Todestag ein Tag allgemeiner Feier – wenn auch kein Bettag – sein!“

Aus England                                                                      London, den 1. Novbr.

Wie die Bourgeoisie gegen die Arbeiter = Klasse „liberal“ ist, beweist sie in den Wahlintrigen. Während der ganzen jüngsten Reform = Agitation schwatzten die Bürgerlichen Führer immer davon wie wünschenswert es sei, wirkliche leibhaftige Arbeiter im Parlament zu haben. Sie wollten Arbeiter nicht um ihre Klasse zu vertreten, sondern als Leute, die man bei verschiedenen Gelegenheiten um Rath fragen könnte, aber – sie konnten sich nicht dazu verstehen, den Arbeitern irgendwo einen Platz einzuräumen.

                                                                                                  121

Vom Rechte das mit uns geboren. (Fortsetzung)

Nun weiter! Auf der zweiten Stufe der Entwicklung wird das Recht ein Höheres. Wir werden im Allgemeinen sagen können, und das gilt auch für die folgenden Stufen, es hat der Mensch das Recht glücklich zu leben. Die Naturmäßigkeit bringt allerdings nicht immer die Verwirklichung dieses Rechtes mit sich. (...)

 

N° 14                                        Mittwoch, den 17. November                                           1869  

                                                       Politische Uebersicht

Bei den Herbstwahlen in den Vereinigten Staaten sind die Demokraten überall von den Republikanern geschlagen worden. In Folge dessen ist nun die endgültige Annahme des 15. Amendments erforderliche Zweidrittel – Majorität im Senat gesichert. Durch dieses Amendment wird die Gleichberechtigung der Rassen ausgesprochen und zu einem Fundamentalsatz der Verfassung erhoben. Damit wäre die Emanzipation der Neger besiegelt, und die Partei der Demokraten, welche die Wiedereinführung der Negersklaverei auf Umwegen anstrebte, von der politischen Bühne verdrängt.

 

Von dem Rechte das mit uns geboren (Fortsetzung)

Ich hole übrigens nach, was ich schon auf dieser zweiten Stufe hätte erwähnen sollen. Auf dieser zweiten Stufe nämlich, die ich das individuell = oder persönlich = naturgemäße Leben genannt habe, ergiebt sich für den Menschen von Natur aus das Recht, seine eigenen Gefühle und Gedanken zu haben und sie für sich zur Darstellung zu bringen, d. h. soweit andere davon nicht berührt werden. (...)

 

N° 15                                             Sonnabend, 20. November                                           1869    

Von dem Rechte das mit uns geboren. ( Fortsetzung)

Wir kommen zur letzten Stufe der Menschlichen Entwicklung, das ist die Stufe des universal = naturgemäßen. Der Mensch fühlt und erkennt sich nämlich zuletzt auf der höchsten Stufe seines Bewußtseins als ein Glied der allgemeinen Natur.

 

N° 17                                             Sonnabend,  27. November                                       1869

Der Staat und das Genossenschaftswesen.

Zu Artikel X des Eisenacher Programms.   I

C.H. Es ist eine durch die Statistik hinlänglich erwiesene Thatsache, daß unter den modernen staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen die Zunahme der Reichthümer begleitet, ja, vielfach überflügelt wird von der Zunahme des Pauperismus, mit anderen Worten: daß die Zahl der Besitzenden abnimmt im Verhältnis zu der Masse des Proletariats. Die allgemeine Ursache dieser Erscheinung ist in der Modernen Produktionsweise gefunden worden, die auf einer großen Arbeitstheilung und großen Vorschüssen an Anlagekapital, Rohmaterial und Lohnfonds, beziehungsweise auf freien Kauf und Benutzung lebendiger Arbeitskraft als einer Marktware beruht. (...)

Es ist allerdings unbestreitbar, daß nur in der Freiheit und den politischen Reformen die Lösung der Sozialen Frage gedacht werden kann, ebenso gewiß ist aber auch, daß in den Reformen – als Formen – allein die Lösung an und für sich gegeben ist. Sie liegt sowohl begrifflich als auch geschichtlich in der Bildung von Kollektiv – Eigenthum  auf dem Wege der Genossenschaft. (...)

 

                                                                                                         122

Die Genossenschaft ist aus der bürgerlichen Produktion herausgewachsen, die die Arbeiter daran gewöhnt, zu einem gemeinsamen Zweck – freilich dem Zweck, dem Zweck eines Dritten – ihre Arbeitskraft unter ein Kommando zu stellen und sich „in die Hände zu arbeiten“. Die Bourgeoisie hat aber nicht nur die Arbeiter den Nutzen der Vereinigung und ihnen die Disziplin zur Genossenschaft anerzogen, sondern sie hat sie auch direkt dazu aufgemuntert und angetrieben, sich genossenschaftlich zu vereinigen. Freilich brachte sie ihre eigene Zweckvorstellung dabei mit, die Genossenschaft sollte ihre Mitglieder aus Ausgebeuteten zu Ausbeutern, zu Kapitalisten machen, ein naiver Standpunkt, auf welchen heute in Deutschland Schulze – Delitzsch mit seinen Genossenschaften steht.

Aber die Unvereinbarkeit dieses Zweckbegriffs mit der ganzen Individualität der in der Genossenschaft vereinigten Arbeiter bedingt den Mißerfolg solcher Genossenschaften. Wenn sie nämlich Erfolg haben, verändern sie gewöhnlich die normale Arbeiteranschauung, das auf die Erlösung der ganzen Klasse gerichtete Streben und verwandeln den Genossenschaftler in einen egoistischen Aktionär. (...)

Man kann z.B. namentlich von den Auspizien des Herrn Schulze – Delitzsch zu Stande gekommenen Produktiv – Genossenschaften sagen, daß sie nie mißlungener waren, als in den wenigen Fällen, wo sie als gelungen und erfolgreich bezeichnet wurden. Umgekehrt die Mißerfolge, die – womit sich Herr Schulze trösten mag – in den vorgerückteren Industrieländern ebenso regelmäßig sich einstellten, wie bei uns in Deutschland, hatten wenigstens den Erfolg, die Arbeiter an das wahre, das ächte Prinzip der Genossenschaft zu führen: auf die Produktion von unveräußerlichen Kollektiv – Eigenthum, und gleichem Nutznießungsrecht (verbunden mit Altersversorgung).

 

N° 18.                                          Mittwoch, den 1. Dezember                                           1869

                                                         Politische Uebersicht

Wiener Signale                                              I                                        Wien, 24. November

Die „Volkstimme“ ist zur Abwechslung wieder einmal konfizirt worden, denn ihr kräftiger Klang schlägt zu rauh und unangenehm an die hohen** Ohren der Regierung. Doch so ganz haben die edlen Polizeischergen ihre Absicht doch nicht erreicht; obwohl sie sich diesmal sehr zeitig auf den Weg machten, kamen sie doch schon zu spät: (...)

** wir hoffen, unser geehrter Correspondent gebraucht dieses doppelsinnige Wort nur in respectvollem Sinn.

(...) Der nächste Redner, Most, sagt, die Anwesenden sollten sich nur nicht stören lassen, die Absicht der Polizei sei doch klar; er kommt schließlich zu dem Satz: „von einer Besserung unserer Lage kann erst dann die Rede sein, wenn aus dem gegenwärtigen Militär – und Polizeistaaten wirklich freie Staaten geschaffen worden sind.“ – Jetzt war’s aber dem „Gespenst“ zu dick; es sprang zum dritten Male auf und rief: „ Ich löse die Versammlung –.“ Der Vorsitzende aber war ihm zuvorgekommen, indem er sagte: „Meine Herren, die Tagesordnung ist erschöpft; ich erkläre die Versammlung für geschlossen.“

 

Aus England                                                                                  London, den 22 Novbr.

Das besteuerbare Einkommen der Besitzenden vermehrt sich trotz der allgemeinen Geschäftsstockung und die Einkünfte der arbeitenden Bevölkerung vermindern sich. In der letzten Woche des Monats Oktober erhielten in London 2000 Personen mehr Armenunterstützung als zur selben Zeit 1868; 13000 mehr als 1867; 25000 mehr als 1866. Gegen 35000 stecken in Armenhäusern und 100000 werden in ihren eigenen Wohnungen unterstützt.

 

                                                                                                     123

Aus Amerika                                                                                           New = York, 8. Novbr.

„Man genirt sich nicht – „man ist rücksichtslos“ – scheint nur der allgemein verständliche Ausdruck, um das Thun und Lassen der Amerikaner, im Gegensatz zu dem in Deutschland zu bezeichnen. Der Egoismus welcher allen Menschen innewohnt und den zu mildern die Aufgabe der Civilisation ist, wird hier so offen zur Schau getragen und mit dem Grundsatz „der Zweck heiligt die Mittel“ ein solcher Kultus getrieben, daß wenn irgendwo so hier die Schopenhauer’sche Weltanschauung die vollste Berechtigung erhält. Freilich sind hier nicht alle Leute der Ansicht. Aber die stehende Phrase: Amerika ist das Land der „selbstgemachten Männer“, das Land wo jeder sich zum Millionär aufschwingen kann, beweist, daß hier die schonungsloseste Selbstsucht, ohne jeden Schein des Anstands herrscht. (...)

 

N° 19.                                          Sonnabend, den 4. Dezember                                         1869

                                                         Politische Uebersicht

Am 29. November trat in Paris der gesetzgebende Körper zusammen. Die Regierung steht im wahrsten Sinne des Wortes rathlos da. Bald denkt sie an einen neuen Staatsstreich, bald an „Versöhnung durch die Freiheit“. Sie weiß aber sehr gut, daß jeder Gewaltakt, jede Conzession nur das Ende beschleunigen kann. Gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen. Die Blut – und Eisenpolitik hat sich in Frankreich ihr Grab gegraben, wie sie, weil im Widerspruch mit den Interessen der Völker, es überall thun muß.

Der Staat und das Genossenschaftswesen

Der Artikel X des Eisenacher Programms  II

C.H. Um zahlreichen Arbeitslosen Beschäftigung und dadurch Brod zu bieten, sind nicht blos 1848 im republikanischen Frankreich, sondern auch früher und später in anderen, in monarchischen Ländern von Staats wegen Unternehmungen theils direkt begründet theils indirekt gefördert worden. Diese Intervention des Staats in den Gang der bürgerlichen Produktion war in den betreffenden Verhältnissen für nöthig befunden worden, weil man nicht anders die gefährliche Masse zu beseitigen wußte, die, als „überschüssige Hände“ als „Reserve“ eine natürliche und nothwendige Zugabe zur modernen kapitalistischen Produktionsweise, eine stete Gefahr für Sicherheit und Ordnung der Gesellschaft bildet. Dieses friedliche Aushülfsmittel aus einer großen sozialen Verlegenheit wurde indeß nicht lange versucht, sondern bald ersetzt durch Cartätschen, Deportationen, Gefängnisse und massenhafte Auswanderung. (...)

Was die Mittel betrifft, so stehen wir hier wieder vor der Frage, die uns am Schlusse des ersten Artikels beschäftigt hat: ist Staatskredit oder überhaupt positive, materielle Begünstigung seitens des Staates zulässig oder nicht?

Die Sozialisten weisen um die Frage zu bejahen zu dürfen, darauf hin, daß der Staat längst mit aller Energie auf Bildung und Mehrung von großem Privateigenthum hingearbeitet habe und es dafür an Exemptionen, Immunitäten, Privilegien, Benefizien, Dotationen, Subventionen, Darlehen, Garantien, Krediten, Stundungen, usw., usw. noch heute keineswegs fehlen lasse, daß vielmehr die positive Unterstützung, die der Staat den Inhabern von Privateigenthum aller Art zur Vermehrung desselben angedeihen läßt, von Jahr zu Jahr enormer und augenfälliger wird. (...)

Eine Frage ist die, ob und unter welchen Vorbedingungen eine derartige Staatshilfe, - die wir und zumindest als Staatskredit denken – durchführbar ist.

 

                                                                                                         124

N° 21.                                      Sonnabend, den 11. Dezember                                           1869

                                                      Politische Uebersicht

Parlamentarismus und Revolution sind Gegensätze, wie Reden und Handeln. Die Revolution kann nicht parlamentarisch und der Parlamentarismus nicht revolutionär sein. Das bewahrheitet jetzt recht augenfällig in Frankreich an den beiden Vertretern der Revolution, welche das allgemeine Stimmrecht in die Kammer gebracht hat – an Raspail, dem Revolutionär aus Prinzip, und Rochfort, dem Revolutionär aus Temperament. (...)

 

Aus England                                                                                     London, 29 November

Die „irische Schwierigkeit“ wird alle Tage schwieriger. Am 17. Februar 1866 stimmten 358 Mitglieder des Unterhauses gegen 8 für Suspension* der Hebeas – Corpus – Akte** in Irland. Die Verkündung, daß 8 dagegen gestimmt, ward mit Gelächter und Frohlocken begrüßt. Der damalige „liberale“ Minister des Innern bedauerte eine solche Maßregel vorschlagen zu müssen. Die Fener = Verschwörung war schon seit 1862 bekannt. Sechsunddreißig Männer, worunter viele Schriftsteller, waren im Gefängnis, sie wurden schlimmer behandelt als gemeine Verbrecher, und die Regierung hatte gehofft, daß die Verurteilungen heilsame Warnungen an andere sein würden, aber vergebens. Der Oppositionschef Disraeli versicherte, daß die Verschwörung nicht durch innere Mißverhältnisse, sondern von jenseits des Ozeans erzeugt worden sei.

* zeitweilige Außerkraftsetzung  ** des Gesetzes welches die persönliche Freiheit verbürgt

Der Staat und das Genossenschaftswesen

Der Artikel X des Eisenacher Programms.   III

Gegen die Ausführbarkeit einer staatlichen Förderung des Genossenschaftswesens auch Darlehen wird geltend gemacht, daß der Staat nicht im Besitz der ungeheuren Mittel sei, die nöthig wären, um alle Arbeiter auf solche Weise in Genossenschaften zu beschäftigen. Es muß dieser Einwand in dem Falle als ganz zutreffend bezeichnet werden, wenn davon die Rede sein sollte, mit einem Schlage die jetzige Produktionsweise aufhören, und eine allgemeine Staatsproduktion beginnen zu lassen. Es ist indeß dieser Gedanke so absurd, daß man ihn billigerweise bei keinem Sozialisten, der ihn nicht ausdrücklich – und unseres Wissens hat dies noch keiner gethan – voraussetzen sollte. Die Frage der Staatsproduktion anlangend, die hier manchmal ohne innere Veranlassung herbeigezogen wird, ist es beiläufig bemerkt zwar richtig, daß sie in der Regel nicht profitabel ist als Produktion, allein die Hauptursache, warum sie es nicht ist, scheint uns eine sehr erfreuliche: die liegt in der besseren Lebensstellung der in der betreffenden Staatsproduktion verwendeten Arbeiter. Die anderen Ursachen sind niemals wesentliche, sondern zufällige, die sich heben. (...)

 

N° 22                                          Mittwoch, 15. Dezember                                               1869

                                                           Wiener Signale

(...) Die sozialdemokratische Partei hat an diesem Ministerium nichts zu verlieren, und bekommt Oesterreich eines, das noch reaktionärer auftritt, dann haben wir nicht lange zu leiden, es wird die Katastrophe für Oesterreich beschleunigen und seinen Völkern so wie den nachbarlichen Erlösung bringen. (...)

Aus Preußen

ah. Der Kultusminister von Mühler sitzt fester denn je, trotz Ziegler und Genossen und trotz allem Parlamentiren. Derselbe König Wilhelm, welcher als Prinz = Regent den Pietismus in

 

                                                                                                      125

scharfen Worten geißelte und dem Muckerthum offenen Krieg erklärte, erwiderte jüngst beim Empfange des Vorstandes der Brandenburger Synode (unter Führung Mühler’s) auf die Ansprache des Vorsitzenden Folgendes: „Es that der Kirche dringend Noth, das etwas geschah zur Beruhigung der Geister, denn wir haben viele Feinde ich denke nicht an die Katholiken.* Wenn wir nicht mehr den Glauben haben an den Heiland, daß er der Sohn Gottes, was soll dann werden? Dann wären auch seine Aussprüche nur Menschensatzungen. Darum wiederhole ich meinen Wunsch, daß Sie in Frieden möchten das begonnene Werk zu Ende bringen. * sondern die aufgeklärten Protestanten

Geliebter Bruder Wilhelm in Christo! Schade um jeden Friedrichd’or, der auf seine Erziehung aus dem Volkssäckel vergeudet wurde, Schade um die kostbare Zeit, die der große Alexander von Humboldt nutzlos auf deine Belehrung verwendet hat, Schade um jede Stunde, die der große Forscher dadurch weniger in seinem Studirzimmer zugebracht hat! Die Fürsten sind die ärgsten Heuchler, ihr lasterhaftes Hofleben wird durch den Mantel der Religion gedeckt. (...)

 

Aus Frankreich                                                                        Paris, den 7. Dezember

Bekanntlich war früher die entscheidendste und am meisten verleumdete Arbeiterparthei in Frankreich nicht die einer bestimmten sozialistischen oder kommunistischen Schule angehörige, sondern jene revolutionäre Aktionsparthei, welche Blanqui zu ihrem Chef hatte.

Dem Prinzipe nach kommunistisch  hat sie sich jedoch weniger mit Theorien und Systemen, als mit revolutionären Maßregeln beschäftigt, die zum Zwecke hatten, die auf Elend und Unterdrückung der Arbeiterklasse gegründete Gesellschaft in eine auf Gleichheit und Solidarität basirte Arbeitergesellschaft umzugestalten. – Seitdem Siege der Reaktion im Jahre 1848, und besonders seit dem 2. Dezember 1851, konnte diese im Blute der revolutionären Bewegung erstickte Parthei kein Lebenszeichen mehr von sich geben. Die unterdrückte Arbeiterklasse der jüngeren Generation, die sich vor allem wieder nach Freiheit sehnte, schloß sich meist dem kleinbürgerlichen Sozialismus Proudhons an, ein französischer Delitzschianismus, der allerdings;  um so viel revolutionärer als sein deutsches Schattenbild ist, wie das französische, das der ersten großen Revolution herstammende Kleinbürgerthum das deutsche an revolutionärer Energie überragt. (...)

 

Aus England                                                                                      London, 6. Dezember

Der Generalrath der internationalen Arbeiterassociation hat die, von Karl Marx vorgeschlagenen Beschlüsse in Betreff der irischen Amnestie – Angelegenheit die bereits im „Volksstaat“ dargestellt, einstimmig angenommen. „Die Gefangenen wollen wir frei haben!“ erschallt es durch ganz Irland. Jede, von Gladstones Partheigenossen berufene Versammlung wird verhindert. Die Klerisei hält zu Gladstone, das Volk erklärt sich gegen die Klerisei. (...)

 

N° 23                                        Sonnabend, den 18. Dezember                                          1869

An die streikenden Arbeiter im Waldenburger Kohlendistrikt

Arbeiter! Brüder!

Ihr habt einen schweren aber gerechten Kampf begonnen gegen maaßlose Unterdrückung! Unsere Sympathien sind mit Euch und aus ganzer Seele wünschen wir Euch den Sieg! Denn wo die Arbeiter mit ihren Unterdrückern im Kampf liegen, da kämpfen sie für die gemeinsame Sache, für die Rechte der unterdrückten Arbeit! Und wenn an einem Ort oder in einer anderen Gegend den Arbeitern der Sieg geworden ist, so ist es ein Sieg der gesamten Arbeiterklasse!

                                                         Politische Uebersicht

Die Wiener Arbeiter haben Wort gehalten. Sie waren am Montag auf dem Platz, und haben der Regierung und dem Reichsrath ihren Willen kundgethan.

 

                                                                                                                      126

Ueber 40000 Arbeiter, schreibt man uns, nahmen Theil an der Kundgebung und so imposant war dieselbe, daß, nachdem Zugeständnis der liberalen Bourgeoisie, selbst das Jahr 1848 auch nicht annähernd eine ähnliche Massen = Demonstration aufzuweisen hatte.

 

Aus Amerika                                                                                  New York, 24 Novbr.

Man hat sich längst gewöhnt, die Auswanderung der Europäer nach Amerika nicht als eine in der Geschichte vereinzelte Thatsache, sondern als Fortsetzung der seit urdenklichen Zeiten vor sich gehenden Völkerwanderung von Ost nach West anzusehen. Welche Zeit und welche besondere Wanderung wir auch betrachten, immer ist es die Noth, der Mangel an Existenzmitteln gewesen welche die Völker zwang von Gau zu Gau, von Land zu Land, von Erbtheil zu Erbtheil zu ziehen. Wann war mit Ausnahme der letzten Jahre, z. B. die deutsche Auswanderung am nach Amerika verhältnismäßig am  stärksten? Nach dem 30jährigen und nach dem Siebenjährigen Kriege, als die Fluren verwüstet, die Städte geplündert oder niedergebrannt, Handel und Wandel vernichtet waren, trotzdem zu damaliger Zeit die Seefahrt weit gefährlicher und die Ansiedlung in Amerika unendlich mühsamer war als jetzt, wo man diese kaum fühlt, daß er auf der anderen Hälfte der Erdkugel sich befindet.

 

N° 24                                          Mittwoch, den 22. Dezember                                          1869  

                                                         Politische Uebersicht   

In Oesterreich Ministerkrisis. Die feudal = klerikalen Elemente sind dort wieder erstarkt, daß die Herren Giskra und Consorten sich von der Unhaltbarkeit ihrer Stellung überzeugt und dem Kaiser – nicht „ihre Dimension  eingereicht“ (das wird amtlich dementiert) – aber doch den Wunsch haben, sich ihrer Portefeuilles zu entledigen. Möglich, daß die Krisis sich noch eine Zeit lang hinschleppt, allein  die Thatsache steht fest, daß das Bürgerministerium bloß noch als Nothbehelf fortregirt wird, sobald es dem von der pfäffisch – junkerlichen Camarilla beherrschten Franz Joseph  beliebt. – Hätte es sich auf die Arbeiter gestützt, statt sie, und damit den einzigen Bevölkerungstheil, der ihm eine Stütze bieten konnte, in fast unbegreiflicher Thorheit und Engherzigkeit von sich zu stoßen: das Bürgerministerium stände jetzt allgebietend da, und würde dem Kaiser Gesetze vorschreiben, statt von dessen Laune abzuhängen.

 

Endlich ist in Italien mit Ach und Krach ein Nothministerium zustande gekommen. Lanza eine der Hauptstützen des herrschenden Corruptionssystems, hat das Präsidium Viskonti Benossa, Urheber der berüchtigten Septemberkonvention (1864), die den Versicht auf Rom enthält, übernimmt das Auswärtige, Sella, Urheber des berüchtigten Stoß – ins – Herz – Vertrags mit Preußen das Kriegsdepartement. Die Italiener können sich Glück wünschen. Beiläufig sei bemerkt, daß die Anwesenheit Gavone’s im Kabinet von verschiedenen Seiten so gedeutet, als sei es den preußisch – russischen Bemühungen gelungen, das Königreich Italien von Frankreich abwendig zu machen. Das ist jedoch eine durchaus irrige Vermuthung, die in der falschen Voraussetzung wurzelt, der von Gavone 1866 abgeschlossene Vertrag sei gegen Frankreich gerichtet gewesen, während er umgekehrt durch Bonaparte, der natürlich die Zerreißung Deutschlands will, vermittelt wurde. Viktor Emmanuel kann sich ebensowenig der französischen Allianz entziehen, wie König Wilhelm der russischen und zwar aus den nämlichen Gründen.

Aus England    

London, den 13. Dezember. (Fortsetzung   der Adresse der Land – und Arbeiterliga)

„Alle Parteien stimmen darin überein, daß die Leiden der arbeitenden Bevölkerung nie intensiver (heftiger), das Elend nie so ausgebreitet

 

                                                                                           127

und zugleich die Mittel, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, nie so reichlich vorhanden waren, als in der gegenwärtigen Zeit. Diese beweist vor allem, daß die moralische Grundlage der Regierungen: „das Wohl der Gesamtheit ist das höchste Gesetz und soll das Endziel aller Gesetzgebung sein“ ganz und gar beiseite gesetzt worden ist. Diejenigen, welche die Geschicke der Nation lenken, haben entweder, während sie mit den Sonderinteressen der Besitzenden beschäftigt waren, um sie zu bereichern, ihre erste Pflicht muthwilliger Weise vernachlässigt; oder ihre soziale Stellung, ihre Bildung, ihre Klassenvorurtheile, verhindern sie, ihre Pflicht zu erfüllen und die richtigen Heilmittel anzuwenden: in beiden Fällen haben sie das Volk verrathen. (...)

Vor einigen Wochen traten zwanzig Londoner Arbeiter zusammen um die Frage zu erwägen. Sie kamen zu dem Schluß, daß die heutige ökonomische Grundlage der Gesellschaft die Ursache aller Uebel sei, und daß nur eine Umgestaltung der herrschenden sozialen und politischen Verhältnisse helfen, und daß eine solche Umgestaltung nur durch die Arbeiterklasse selbst bewirkt werden könne. (...)

Zur Ausführung derselben ward beschlossen eine Arbeiterorganisation unter dem Titel: „Der Land = und Arbeiterbund“ zu stiften. (...)

Nach reiflicher Ueberlegung einigte sich die Kommission über folgende Punkte:

  1. Nationalisierung des Grundeigenthums.*
  2. Kolonisation im eigenen Land.
  3. Nationale, religionsfreie, unentgeldliche und obligatorische** Schulbildung.

4.  Unterdrückung der Privatbanken, die Papiergeld fabriziren. Der Staat soll allein die Macht

     haben, Papiergeld zu machen.

5. Eine direkte und progressive Eigenthumssteuer an Stelle aller anderen Steuern.

6. Liquidation (Tilgung) der Nationalschuld.

7. Abschaffung des stehenden Heeres.

8. Verminderung der Arbeitszeit

9. Gleiche Wahlrechte und Bezahlung der Volksvertreter (Diäten***). (...)

* Verwandlung des Grundeigenthums in Staatseigenthum.

** jedem zur Pflicht gemacht.

*** In England erhalten Parlamentsmitglieder keine Diäten: die Vertreter der Privilegierten wissen den Rahm der Staatsmilch abzuschöpfen und die Armen haben im Unterhaus nichts zu suchen. Man sieht auch die Diätenlosigkeit der Norddeutschen Reichstagler ist nicht auf Bismarck’schen Mist gewachsen.

Wir fordern Euch daher auf, Euch zu vereinigen, zu organisiren und zu verbinden. Laßt durch Irland, Schottland, Wales und England den Ruf erschallen: Das Land für das Volk, den wahren Erben der Gaben der Natur. Kein rationeller Zustand der Gesellschaft kann den Boden, die Lebensquelle, den Launen und der Willkür von einigen Privatleuten überlassen. Eine Regierung, erwählt durch und für das ganze Volk, ist die einzige Macht, welcher die Verwaltung des Bodens zum Vortheil Aller anvertraut werden kann.

Ihr werdet um den Ertrag Eurer Arbeit betrogen durch Landgesetze, Geldgesetze und eine Menge anderer Gesetze. (...)

Menge anderer Gesetze. (...)

 

                                                                                                          128

„Wohlan denn Arbeiter und Arbeiterinnen aller Konfessionen und Geschäfte! Verlangt euer Recht wie mit Einer Stimme, sammelt Euch, vereinigt Eure Kräfte unter der Fahne des Land = und Arbeiter = Bundes, und erkämpft Eure Emanzipation!“

Dies ist die Adresse, sie ward unter großem Beifall angenommen.

 

N° 25.                                           Sonnabend, 25. Dezember                                            1869

                                                         Politische Uebersicht

Wenn auch die Oesterreichische Ministerkrise nicht zunächst durch die Haltung des Bürgerministeriums in der Arbeiterfrage veranlaßt ist, so hat sie doch in derselben unzweifelhaft ihren Ursprung; die Nationalitätenfrage hätte nicht so drohend werden können, die Regierungsmaschine nicht so vollständig ins Stocken gerathen können, wenn das Ministerium die billigen Forderungen der Arbeiter bewilligt und auf allgemeinen gleichem Wahlrecht beruhende Volksvertretung, allgemeine Wehrhaftigkeit (Volksheer) und freies Versammlungs = Vereins = und Coalitionsrecht eingeführt hätte. Wäre dies geschehen, so würde die Nationalitätenfrage jetzt für Oesterreich „ein Märchen aus alten Zeiten“ sein, die Ränke des Pfaffen = und Junkerthums forderten höchstens den Spott heraus, und statt des jämmerlichen Flickwerks , daß heute die allgemeine Verachtung erregt, stände auf neuer unerschütterlicher Grundlage das neue Oesterreich der Schrecken seiner Feinde, die Hoffnung Deutschlands, Europa’s. - -

 

Aus Frankreich                                                                           Paris, 17. Dezember

Nachdem die bekannten alten und neuen Führer der demokratischen und bürgerlichen Republik es nicht wagten, sich an die Spitzes des revolutionären Volkes zu stellen, und nachdem dieses Letztere, wie schon früher gemeldet, nicht gesonnen war, allem und von den bürgerlichen Radikalen getrennt ins Feuer zu gehen, um sich einer ziemlich sicheren Niederlage auszusetzen, so rückt der Parlamentarismus seinem Ziele immer näher. Dieses Ziel ist kein anderes, als eine konstitutionelle, liberale oder „demokratische“ Monarchie unter einem Mitglied der orleanistischen Familie. Die kaiserliche Dynastie hat wohl eine starke Ahnung von dieser Gefahr. Aber was dagegen machen? Sie steht zwischen der Skylla einer Palastrevolution und der Charybdis einer wirklichen, einer Volksrevolution. Das einzige was sie thun konnte war der Versuch Zeit zu gewinnen. Aber die Galgenfrist, die sich durch die Vertagung der Kammer gegeben hat, ist abgelaufen. Wie sehr er sich auch dagegen sträubte, der Kaiser ist endlich genöthigt, ein parlamentarisches Ministerium zu nehmen, er kann es nur in der liberalen Kammermajorität finden, und diese ist, wie man sich auch mit ihr drehen und wenden mag, orleanistisch von der Rechten bis zur Linken.

 

N° 26.                                       Mittwoch, den 29. Dezember                                            1869

                                                       Politische Uebersicht  

Das Oestereichische „Bürgerministerium“ hat seinem reaktionärem Treiben die Krone aufgesetzt: Mittwoch, den 22. des. Morgens zwischen vier und fünf Uhr, wurden die „Führer“ der Montagsdemonstration von Häschern in ihrer Wohnung überfallen, und mit Ausnahme Hartungs, der glücklich entkam, verhaftet.

 

Aus England                                                                               London, 20. Dezember

Das Hungerfieber greift um sich, es herrscht in zwei und dreißig von sieben und dreißig Kirchspielen der britischen Hauptstadt, und drei Fälle von Hungertod sind in einer Woche öffentlich bekannt geworden. Wie viele fallen als Opfer des Mangels ohne buchstäblich  

                                                                                                         129

Hungers zu sterben? Die drei Fälle, welche im Verlaufe der Woche zu gerichtlicher Untersuchung führten, waren ein junger Mensch von 18 Jahren, ein alter Mann von 62 Jahren und eine Frau von 29 Jahren.

 

Aus Amerika                                                                            New = York, 1. Dezember 1869

Morgen tritt der Kongreß der Vereinigten Staaten von Nordamerika wieder zusammen. Wie wird er aussehen? Was wird er bringen? Wie wird Grant seine Feuerprobe als Staatsmann bestehen? Diese und viele andere allgemeine Fragen beschäftigen schon seit mehreren Wochen die Zeitungen und professionellen Politiker.** Für diese, welche aus den jetzigen Staats = und Gesellschaftszuständen allein Gewinn ziehen, ist jede Kongreßsession eine Quelle großer Aufregung; sie betrachten die Politik als eine Geschäftsspekulation, bei welcher sie fortwährend auf dem Laufenden sein müssen. Die Arbeiter dagegen, durch die unglaublich Korruption der Politiker und Banken, welche sie nicht ausrotten zu können glauben, von der Politik abwendig gemacht und mit Widerwillen gegen sie erfüllt, betrachten die Wiedereröffnung des Kongresses einfach als eine Gelegenheit der großen Herren, sich und ihren Helfeshelfern die Taschen von Neuem zu füllen.

** Politiker von Profession, Handwerk

 

 

 

 

                                                                                                   130

N° 1.                                       Sonnabend, den 1. Januar                                                 1870                                                

 

                                                                                 Der Volksstaat

                                                                      (Früher Demokratisches Wochenblatt)

Erscheint wöchentlich 2 Mal                                                                                                                                            Abonnementpreis:

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                   Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der  internationalen

                                                        Gewerksgenossenschaften

 

An die Parteigenossen!

 

Aus Kämpfen in Kämpfe!

Auf der ganzen Linie steht die Partei im Feuer.

Thue ein jeder seine Pflicht!

Dies ist unser Neujahrsgruß an die deutsche Sozialdemokratie. Zu einem langen haben wir keine Zeit, auch wenn wir Lust hätten. An politischen Ereignissen waren die letzten Tage sehr arm. –

Wir können uns daher kurz fassen. Näheres findet der Leser in den Correspondenzen.

 

Wiener Signale                                   IV                                     Wien, 25. Dezbr. 1869

Das österreichische „Bürgerministerium“ hat seinen freiheitschänderischen Thaten die Krone aufgesetzt. In der Nacht vom 21. Zum 22. Dezember wurden die Ueberbringer der Arbeiterresolution vom 13. Dezember an den Grafen Toaffe von den Polizeischergen der „neuen Ära“ und dem Landgerichte eingeliefert. Sie wissen, welchen kolossalen Eindruck der Aufmarsch der Arbeiterbataillone auf alle Schichten der Bevölkerung gemacht hat.

 

N° 2.                                          Mittwoch, den 5. Januar                                                  1870 

Aus Amerika                                                                                    New = York, 13. Dezbr.

Es ist eine Wohltat für die Vereinigten Staaten, daß die Partei der Republikaner an den Demokraten ein starkes Gegengewicht hat. Freilich ist es wahr, daß letztere, wenn nicht schlechter, so gewiß um keinen Deut besser sind, als die ersteren, ihr gemeinsames Prinzip ist die Ausbeutung des Volks, das Interesse, die Erhaltung  und Vergrößerung ihres Besitzes auf

Kosten der Gesamtheit. Aber die verschiedenen Mittel und Wege, welche sie einschlagen, um ihr Prinzip zu bethätigen, bringen je gewissen Volksschichten besondere Vortheile, welche als die Binde betrachtet werden müssen, die dem Volke das wahre Wesen der beiden Parteien verhüllt. Es ist selbstverständlich, daß die Ausbeutung, die Sklaverei, die schwarze oder die Weiße zur Schwester hat. Gelänge es nun eine der Parteien, daß sie die Gegnerin unschädlich

                                                                                                          131

machen könnte, so würde damit die Ausbeutung und Knechtschaft permanent, der Staat vernichtet. Die Idee der Freiheit, die größtmögliche Entwicklung des ganzen Volkes wäre mit Füßen getreten durch die Tyrannei einer selbstischen Klasse. Wie leicht dies in den Vereinigten Staaten möglich wäre, beweist die Botschaft des Präsidenten Grant. (...)

 

N° 3.                                          Sonnabend, den 8. Januar                                               1870

Aus Amerika                     ( Schluß der New = Yorker Briefe vom 13. Dezember)

Vielleicht wiegen sich verschiedene Leser des „Volksstaat“ trotz meiner neuerlichen Aussagen noch in goldenen Träumen über die glückliche Lage der amerikanischen Arbeiter, es wird sich daher empfehlen, diese Frage fortgesetzt im Auge zu behalten und dahingehend Beobachtungen mitzutheilen. (...)

 

N° 4.                                          Mittwoch, den 12. Januar                                                1870

Aus Preußen                                                                                   Berlin, 8. Januar 1870

Sh. Wie es heißt, soll durch die Vermittlung der National = Liberalen in der Waldenburger Angelegenheit ein Kompromiß zu Stande gekommen sein. Die Grubenbesitzer wenden hiernach auf die Unterschrift des Reverses, worin sich die Arbeiter zum Austritt aus dem Gewerksverein verpflichten, Verzicht leisten, letztere dagegen von ihren sonstigen Forderungen Abstand nehmen. Solches ist hier in der Wohnung Lasker’s vereinbart worden. Bleibt die Frage offen, ob die Streikenden darauf eingehen werden, denn sie waren es doch nicht, die hier verhandelten. Die Annahme dieser Verhandlungen würde einem Scheitern des Streiks gleichkommen, und das die Waldenburger den noch nicht aufgegeben haben, davon zeugt die Nachricht, daß nach dem 1. Januar die meisten jener, die die Arbeit wieder aufgenommen hatten, sie nun wieder niedergelegt haben.

 

Aus Frankreich                                                                           Paris, den 7. Januar 1870

Das Blatt hat sich mit dem neuen Jahre plötzlich gewendet; Ollivier ist aus dem Lakaien des Kaisers ein Werkzeug der Orleanisten geworden. Nachdem ein völlig bedeutungsloses Ministerium Ollivier am 31. Dezember schon gebildet war, überraschte uns am 2. Januar das im Gegentheil sehr bedeutungsvolle Ministerium Darn = Buffet. „Journal de Paris“ der Moniteur der Orleanisten, weiß sich bis heute vor Freude kaum zu lassen. Das neue Ministerium hat sein Dasein dem Herrn Thiers zu verdanken.

 

              N° 5.                                         Sonnabend, den 15. Januar                                               1870

Aus Preußen                                                                                 Berlin, 11. Januar 1870

Aha. Der König hat dem Kultusminister von Mühler seinen Dank ausgesprochen über den Aufschwung, welchen das Schulwesen in Preußen genommen unter seiner (Mühler’s) Leitung genommen. Man vergleiche damit die Notizen, welche der Berliner Brief in Nr. 17 des „Volksstaat“ enthält. Vielleicht wird in nächster Zeit verordnet, daß die Lehrerstellen fortan für die civilversorgungsberechtigten Militäranwärter reservirt werden sollen. Wo bleibt da Ziegler mit seiner famosen Rede? Ist das der Dank für sein Ja beim Budget? Und dazu die Enthüllungen des Regierungskommissars Linhoff über die Liebe des großen Bismarck zu den Jesuiten.

 

 

 

                                                                                                             132

Beilage zum Volksstaat N° 5

                                                                        Vorwärts!

„Was wollt Ihr? – Glaubt Ihr wirklich, wir werden unsere Rechte und Privilegien gutwillig an Euch abtreten? So wie die Zustände heute sind so stehen sie vor undenklicher Zeit und werden und müssen so bleiben! Seht Ihr unsere bewaffneten Söldnerknechte? – Kennt Ihr unsere Richter?

Diese beiden Faktoren werden ausreichen, um uns und unsere Privilegien vor Euch zu schützen!

So donnerte vor langer, langer Zeit der stolze Feudal = Adel der Bürger = Klasse entgegen, als dieselbe Anstalt machte, eine Bewegung ins Werk zu setzen, um dem Adel die Herrschaft im Staate aus den Händen zu reißen.

 

N° 7.                                          Sonnabend, den 22. Januar                                              1870  

Aus Zürich

Von verschiedener Seite wurde bei der Annahme der bestehenden Verfassung (den 18. April 1869) behauptet, der Kanton Zürich sei dadurch zu einem sozial = demokratischen Versuchsfelde geworden, nun, es haben die sich hart drängenden Parteien jede ihr Möglichstes gethan, um dieses Wort zur Wahrheit werden zu lassen.

 

Aus England                                                                           London, 17. Januar

Die Grubenbesitzer von West – Yorkshire  haben sich sämtlich willig gezeigt, die von den Arbeitern beanspruchte Lohnerhöhung zu gewähren, nur will keiner den Anfang machen. Um ihnen aus der Verlegenheit zu helfen, ward auf einer Delegierten = Versammlung, wo Delegierte von 13 Gruben, die 1400 Arbeiter vertraten, beschlossen, sämtlichen Besitzern an Einem Tage Notiz zu geben, daß die Erhöhung am 27. d. M. anfangen soll.

 

N° 8.                                          Mittwoch, den 26. Januar                                               1870

 

Die Waldenburger stehen fest, sie vertrauen auf ihre Brüder!

Auch die Cöllner stehen fest.

 

Erster Bericht über die streikenden Arbeiter im Waldenburger Kohlendistrikt geschah in der Ausgabe N° 23  Sonnabend, den 18. Dezember 1869, ab der Ausgabe vom Mittwoch, den 26. Dezember 1869 erfolgte in jeder Ausgabe eine dick gedruckte, augenfällige Erinnerung: Gedenket der Waldenburger und ab Ausgabe N° 9 vom Sonnabend, den 29. Januar 1870 wurden auch die Cöllner mit einbezogen.

                                                                                                                                                       

                                               Beilage zum „Volksstaat“ N° 8 

                                               Das Ziel der Arbeiterbewegung. 

Rede des Abg. Dr. Johann Jacoby vor seinen  Wählern im zweiten Wahlbezirk  am 20. Januar 1870. Die Rede steht unter einem Zitat des amerikanische Präsidenten Abrahm Lincoln:

„Die Menschen sollen nicht Herren und Knechte sein, denn alle Menschen sind zur Freiheit geboren.“

 

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„Mitbürger und Freunde!

Mit dem Schluss des jetzt versammelten Landtags erlischt das Mandat, das Sie mir übertragen; es freut mich, daß die heutige Zusammenkunft des Wahlbezirks mir Gelegenheit giebt, zuvor Ihnen noch einmal für das Vertrauen zu danken, daß Sie – in einer Zeit allgemeiner politischer Wandlung – fest und treu mir bewahrt haben. 

Als ich das letzte Mal von dieser Stelle zu Ihnen sprach, versuchte ich das Ziel der deutschen Volkspartei, insbesondere die Stellung derselben zur deutschen Arbeiterbewegung, auseinanderzusetzen, - gestatten Sie mir heute diese Arbeiterbewegung selbst, die sogenannte soziale Frage, zum Gegenstand meiner Betrachtung zu machen.  Bei dem innigen Zusammenhange, der zwischen den staatlichen und gesellschaftlichen Zuständen eines Landes  besteht, hat jeder Wähler das Recht, von seinem Abgeordneten – außer dem politischen – auch ein soziales Glaubensbekenntnis zu verlangen. Ich werde mich bemühen, mit rückhaltloser Offenheit diesem Verlangen zu entsprechen.

Einer der größten Denker des Altertums Aristoteles, theilt das ganze Menschengeschlecht in zwei Klassen: in freie Menschen und Sklavennaturen. Die Hellenen, so behauptet er, vermöge ihrer freien Natur seien berufen, über andere zu herrschen, die barbarischen Racen dagegen zum Beherrschtwerden und zu Sklavendiensten   geeignet. Sklaverei aber und Sklavenarbeit erklärt er für eine soziale Nothwendigkeit, für die unentbehrliche materielle Grundlage des Staats und der Gesellschaft; denn – müßten die freien Bürger selbst die zu ihrem Lebensunterhalte erforderliche Arbeit verrichten, woher sollte ihnen Lust und Muße kommen, den Geist zu bilden und die Staatsgeschäfte zu besorgen?   Und doch, meine Herren, finden wir gerade bei Aristoteles eine merkwürdige Aeußerung über die Denkbarkeit  eines Gesellschaftszustandes ohne Sklaverei! „Wenn – sagt er – „eine unbeseeltes Arbeitswerkzeug im Stande wäre die Dienste des Sklaven zu leisten, wenn je            Beilage zum „Volksstaat“ N° 8 

                                               Das Ziel der Arbeiterbewegung. 

Rede des Abg. Dr. Johann Jacoby vor seinen  Wählern im zweiten Wahlbezirk  am 20. Januar 1870. Die Rede steht unter einem Zitat des amerikanische Präsidenten Abrahm Lincoln:

„Die Menschen sollen nicht Herren und Knechte sein, denn alle Menschen sind zur Freiheit geboren.“

 

                                                                                                             133

„Mitbürger und Freunde!

Mit dem Schluss des jetzt versammelten Landtags erlischt das Mandat, das Sie mir übertragen; es freut mich, daß die heutige Zusammenkunft des Wahlbezirks mir Gelegenheit giebt, zuvor Ihnen noch einmal für das Vertrauen zu danken, daß Sie – in einer Zeit allgemeiner politischer Wandlung – fest und treu mir bewahrt haben. 

Als ich das letzte Mal von dieser Stelle zu Ihnen sprach, versuchte ich das Ziel der deutschen Volkspartei, insbesondere die Stellung derselben zur deutschen Arbeiterbewegung, auseinanderzusetzen, - gestatten Sie mir heute diese Arbeiterbewegung selbst, die sogenannte soziale Frage, zum Gegenstand meiner Betrachtung zu machen.  Bei dem innigen Zusammenhange, der zwischen den staatlichen und gesellschaftlichen Zuständen eines Landes  besteht, hat jeder Wähler das Recht, von seinem Abgeordneten – außer dem politischen – auch ein soziales Glaubensbekenntnis zu verlangen. Ich werde mich bemühen, mit rückhaltloser Offenheit diesem Verlangen zu entsprechen.

des Werkzeug auf Befehl oder gar den Befehl vorausahnend – das ihm zukommende Werk verrichten könnte, wie das – der Sage nach – die Statuen des Dädalos thaten oder die dreifüßigen Tische des Hephaistos, von denen Homer erzählt, daß sie „„aus eigenem Trieb in den Saal eingingen der Götter““ wenn ebenso die Webschiffe selbst webten, und die Schlägel der Citherspieler von selbst die Cither schlügen, - dann freilich brauchten weder die Werkmeister Gehilfen noch die Herren Sklaven.“ - 

Nun Sie wissen alle, das hier geschilderte Wunder hat sich zum großen Theil verwirklicht – und zwar ohne Hilfe der Götter auf die menschlichste Art von der Welt, durch Einsicht in die Naturgesetze und Anspannung der Naturkräfte: was einst dem Weisesten der Griechen unmöglich schien, vollzieht sich täglich vor unseren  Augen. Wie aber hat dies Wunder gewirkt? Ist der Erfolg eingetreten, den sich Aristoteles davon versprach? Die Erfahrung lehrt, daß durch die großartigen mechanischen Erfindungen unserer Zeit der Nationalreichthum maßlos gestiegen, das mühselige, kummervolle Loos der arbeitenden Klassen aber nichts weniger als erleichtert ist.  

Lassen Sie uns einmal – der nun gewonnenen Erfahrung gemäß – den Aristotelischen Phantasietraum weiter ausführen. Nehmen wir an, in einer späten Zukunft des Menschengeschlechts wäre aller Grund und Boden auf dem Erdenrund in Sonderbesitz übergegangen und der Mensch durch die Fortschritte des Wissens zur unbeschränkten Herrschaft über die Natur gelangt. Die Erfindungen der Mechanik hätten sich derart vervollkommnet, daß die Maschinen selbst mittels Maschinen angefertigt und bedient würden, alle physische Menschenarbeit also entbehrlich oder doch das Bedürfnis derselben auf ein verschwindend kleines Maß herabgesetzt wäre. Was wird die Folge eines solchen Zustandes sein? Natürlich wäre dann – vermöge der Anziehungskraft, welche das größere Kapital auf das kleinere ausübt – eine verhältnismäßig geringe Zahl Vermögender Leute sich in den ausschließlichen Besitze aller Maschinen und sonstigen Arbeitsmittel befinden; diesen Wenigen allein würde das Gesamteinkommen des Landes, alle zum  Lebensbedarf und Lebensgenuß erforderlichen Güter zufallen, - und zwar – nach der jetzt gangbaren

 

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Anschauungsweise – von Rechts wegen. Was aber wird unter solchen Umständen – bei der völligen Entwerthung menschlicher Arbeitskraft – des Arbeiter = Proletariats? Wenn nicht die Mildthätigkeit   der Kapitalbesitzer ihnen das Gnadenbrod reichte, was bliebe den Unglücklichen Anderes übrig, als – entweder Hungers sterben, oder die bestehenden Wirthschafts - und Eigenthums = Verhältnisse – sei es durch List, sei es durch Gewalt – zu ihren Gunsten umzugestalten? (...)  

Die Antwort kann für uns wenigstens nicht zweifelhaft sein. Es giebt nur ein Mittel, das zum Ziele führt: Abschaffung des Lohnsystems und Ersatz desselben durch genossenschaftliche Arbeit. (...)

Die Frage, die uns beschäftigt, wird schließlich daher zu fassen sein: Was hat der Arbeiter, was der kapitalistischen Arbeitgeber, was endlich der Staat zu thun, um den bereits begonnenen Uebergang zur genossenschaftlichen Produktionsweise zu fördern und auf eine dem Gemeinwesen heilsame Weise zu Ende zu führen? (...)

Gehen wir über zur zweiten Frage: Was hat der Arbeitgeber, der Kapitalbesitzende  zu thun?

Die Forderung, die wir ihm stellen, geht einfach dahin, daß er in jedem Arbeiter den Menschen sieht, das er den Lohnarbeiter, den er beschäftigt, als ein – ihm ebenbürtiges Wesen, als seines gleichen anerkenne und behandle. – ( ...)

Was von dem Einzelmenschen gesagt ist, gilt auch für die Gesamtheit, dieselben Kräfte, die im Geiste des Einzelnen thätig sind, wirken zugleich im Leben der Völker, in der Geschichte des Menschengeschlechts. (...) Reichthümer sind Gemeingut, sofern sie der Gute besitzt. Die großartige Arbeiterbewegung der letzten 40 Jahre hat in dieser Beziehung heilsam gewirkt. Wie im Arbeiter das Bewußtsein seines sozialen Rechts, so ist in den besitzenden Klassen das Bewußtsein der sozialen Pflicht geweckt und geschärft. (...)

Was muß von Seiten des Staates geschehen, um eine friedliche Lösung der Arbeiterfrage zu erzielen?

Die neue Verfassung des Kanons Zürich vom 18. April v. f. giebt die Antwort:

Art. 23 „Der Staat fördert und erleichtert die Entwicklung des auf Selbsthilfe des auf Selbsthilfe beruhenden Genossenschaftswesens. Er erläßt auf dem Wege der Gesetzgebung die zum Schutze der Arbeiter nöthigen Bestimmungen.

Art. 24 „ Er errichtet – zur Hebung des allgemeinen Kreditwesens beförderlich – eine Kantonalbank.“

Die ursprüngliche Fassung der Vorlage ist noch bestimmter, so lautet:

Art. 23 Es ist Aufgabe des Staates, das Wohl der arbeitenden Klasse, so wie die freie Entwicklung des Genossenschaftswesens zu Schützen und zu fördern. (...)

Für die arbeitende Klasse insbesondere – und zwar im Interesse des Gemeinwohls – fordern wir: Abkürzung der Arbeitszeit und Festsetzung eines Normalarbeitstages. (...)

Verbot der Kinderarbeit in Fabriken und Gleichstellung des Lohns zur Frauen und Männerarbeit. (...)

Endlich die Reform des Geld- und Kreditwesens – und Förderung industrieller und ländlicher Produktionsgenossenschaften durch Gewährung von Staatskredit oder Staatsgarantie. (...)

Soviel über die Vorbedingung zur Arbeitsreform. –

Man hat den Arbeitern den – vielleicht wohlgemeinten – Rath ertheilt, von aller Politik sich fernzuhalten und lediglich ihre wirthschaftlichen Interessen wahrzunehmen, - als ob sich wirthschaftliches und politisches Interesse voneinander trennen ließe, wie man Holz mit der Axt spaltet. Wer dem bisherigen Gange unserer Betrachtung gefolgt ist, wird – denke ich – nicht im Zweifel sein, daß es gerade dem Arbeiterstande zumeist und vor allem am Herzen liegen muß, die staatlichen Zustände im Sinne der Freiheit „umzugestalten“. Der „Staatshilfe“ nicht minder als der „Selbsthilfe“ bedarf es, um jeden Arbeiter den vollen ungeschmählerten Ertrag seines Fleißes d. h. die Möglichkeit eines menschenwürdigen Daseins zu sichern:

Ertrag seines Fleißes d. h. die Möglichkeit eines menschenwürdigen Daseins zu sichern:

Nur der Staat kann – und nur der freie Staat wird dem Arbeiter helfen! –

 

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N° 9.                                         Sonnabend, den 29. Januar                                              1870

                                                     Politische Uebersicht

Die spanische Cortes haben den Antrag auf Ausschließung sämtlicher Bourbons und deren Abzweigungen vom spanischen Thron abgelehnt; und der Herzog von Monpensier, Sprößling einer derartigen Abzweigung, der sich in die Cortes wählen lassen wollte, um von da auf den Thron zu schleichen, ist bei der Wahl in Oviedo mit Glanz durchgefallen. Die Wähler haben die Gewählten beschämt, ein neues Zeichen für die Erbärmlichkeit der Repräsentationskörper und der Nothwendigkeit der direkten Gesetzgebung durch das Volk.

 

Aus Amerika                                                                                New – York, 6. Januar 1870

Der Nationalitätenschwindel ist ein sicheres Kennzeichen für die Unfreiheit eines Volkes. Denn da, wo er am stärksten geherrscht hat und noch herrscht, in China, sitzt der Despotismus in seiner knöchernen Gestalt auf dem Throne. Und wo wir auch umschauen, überall ist klar erkennbar, daß der dünkelhafte Stolz einer Nation  auf sich als solche gleichbedeutend ist mit Feindschaft gegen andere Völker, gleichbedeutend ist mit Kampf gegen das freie Menschenthum. Dieser Nationalitätendünkel ist aber wiederum nur das Interesse der herrschenden Klasse eines Volkes. Der Haß gegen das Ausland wird von letzterer erregt, um die beherrschte Klasse des eigenen Landes nur um so fester in ihre Ketten der Sklaverei, in die Bande der Unfreiheit zu legen. Blickt man nach Frankreich, Preußen, Rußland, Ungarn etc., überall wird die künstliche Nährung des Racen = und Nationalitätenhasses als das wirksamste Mittel gegen die aufstrebende Freiheit des arbeitenden Volkes angewendet. Ein wahrer Sozialist muß daher ein Kosmopolit sein und wo er nur immer kann, gegen die nationalen Vorurtheile ankämpfen. Die Heiligen Allianzen etc. beweisen genugsam, wie wenig Werth den Herrscher die Nation ist, wenn Bewegung von unten die oberen Regionen gefährlich zu werden droht.

Auch in Amerika herrscht der Nationalitätendünkel und zwar unter dem Namen „Nativismus“.* Er hat die Tendenz, alle europäischen Besitzungen zu annektiren und den betreffenden Regierungen den Laufpaß nach der anderen Seite des Ozeans zu geben. Man stellt sich unter das Banner der amerikanischen Republik und giebt vor, das monarchische Prinzip auf Hemispäre** ausrotten zu wollen. Im Namen dieser an sich vollständig richtigen Grundsatzes schickte Seward der Minister Lincoln’s Vereinigte Staaten = Truppen nach Mexiko und gab dem Napoleonischen Kaiserreich daselbst den Todesstoß. Liegt den Führern, der Republik von heute aber wirklich die Freiheit der amerikanischen Völker am Herzen? Erfüllt dieses Ideal die Brust unserer Staatsmänner? Ich sage: Nein!

Der Druck, welche das Mutterland auf die jetzige Republik ausübte, war vorzugsweise ein materieller. Die Unabhängigkeitserklärung Amerika’s hat ihre Ursache in der Schädigung der Handelsinteressen der Kolonien in der Navigationsakte. *** Die englischen Krämer wollten sich auf Kosten der amerikanischen Krämer bereichern; dies trieb die letzteren zur Empörung. Sie machten sich selbstständig und gaben sich eine Verfassung, in welche sie die Grundsätze der rechtlichen Gleichheit – möglichst weitgehend zur Geltung brachten – aber Krämer blieben sie nach wie vor, Krämer sind sie auch heute noch, und das Krämerbewußtsein sitzt auf dem Throne der Republik.

* Von Native, der Eingeborene. Nativismus 1) Selbstüberhebung der in Amerika geborenen über die Eingewanderten; 2) das Bestreben, die Nichtamerikanern gehörenden Landgebiete für die Eingeborenen zu erwerben.

** Halbkugel

*** Schiffahrtsakte, welche darauf hinauslief, den ganzen Handel mit England auf englischen Schiffen betreiben zu lassen ihn also ausschließlich den englischen Rhedern auszuliefern.

 

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N° 10.                                         Mittwoch, den 2. Februar                                               1870

                                                       Politische Uebersicht

 

Aus Berlin schreibt man uns: „Zu den widrigsten Phrasen unter anderem wohl die von der „fürstlichen Protektion der Wissenschaften“. So oft ein Landesvater sein durchlauchtiges Wiegenfest begeht, so halten die Professoren der niederen und höheren Schulen, - zum Theil aus Zwang, zum Theil als „Streber“ – rührende Lobreden auf den „hohen Gönner und Beschützer der Künste und der Wissenschaften“, indeß die Kunst nach wie vor betteln gehen muß und der Wissenschaft die staatsgefährdenden Flügel abgeschnitten werden.

 

Die erste Bayerische Kammer hat mit großer Majorität ein entschiedenes Mißtrauensvotum gegen das Ministerium Hohenlohe angenommen, und da die zweite Kammer unzweifelhaft diesem Beispiele folgen wird, so haben wir in nächster Zeit entweder die Abdankung des Ministeriums oder eine neue Kammerauflösung zu erwarten. Bei der im Land herrschenden Spannung dürfte man sich schwerlich zu dem letzteren Schritt entschließen.

Das Oesterreichische Bürgerministerium fährt mit unverdrossenem Eifer fort, für den Grafen Bismarck zu arbeiten und es wundert uns blos, daß die Herren Giskra und Consorten bei dem letzten preußischen Ordensregen nicht bedacht worden sind.

 

N° 14.                                         Mittwoch, den 16. Februar                                             1870

                                                                   Politische Uebersicht

Die neuesten Orgien der „Todtschläger“ („les orgies des cassetêtes“) hatten zum Resultat ein halbes Dutzend Leichen und ein Paar hundert Gefangene. Das Kaiserreich hat diese Tage (journée) glücklich überstanden – wie viele wird es noch überstehen? Das kranke Kaiserreich gleicht dem kranken Kaiser, dessen Anfälle sich periodisch wiederholen, bis einer kommt und ihn hinwegrafft.

 

Aus Amerika                                                                         New – York, den 16. Januar 1870

Es wird vielfach behauptet, daß das politische und gesellschaftliche Leben Amerika’s weit hinter dem Europa’s zurücksteht, weshalb die intelligenten Männer, wenn sie nur irgend könnten, wieder dahin zurückkehren. Diese Behauptung hat aber nur dann ihre Richtigkeit, wenn man der Beurtheilung der hiesigen Zustände europäische Anschauungen als Maßstab anlegt. Der Sozialist wie überhaupt jeder Mensch, welcher sich bewußt ist, daß das Prinzip der modernen Produktionsweise, der von dem Gesetze geheiligte Raub und Diebstahl, hier ungehemmter und fesselloser herrscht als in irdendwo in Europa,  findet das hiesige Leben sehr interessant, wenn auch durchaus nicht angenehm.

 

N° 15                                           Sonnabend, den 19. Februar                                          1870

                                                          Politische Uebersicht

Der Bourgeoisieliberalismus auf dem Conitnent „neue“ oder auch „neueste Ära“ genannt, bethätigt sich überall in derselben Weise: in England brutale Verfolgung der Fenier, Attentat auf die Volkssouveränität durch die Ungültig = Erklärung Rossa’s, thatsächlicher Belagerungszustand für Irland; in Oesterreich brutale Verfolgung der Sozialdemokratie, thatsächliche Unterdrückung aller verfassungsmäßig gewährten zustehenden Rechte und Freiheiten; in Frankreich die Polizei – und Säbelherrschaft auf die Spitze getrieben, Attenthat

 

                                                                                                                    137

auf die Volkssouveränität durch die Verhaftung Rochsfert’s, thatsächlicher Belagerungszustand. (...)

N° 16.                                          Mittwoch, den 23. Februar                                            1870  

                                                        Politische Uebersicht

Der preußische Cäsarismus unfähig auf eigenen Füßen zu stehen, stützt sich einerseits auf das französische Empire, andererseits auf das russische Czarenreich; in ersterem hat er seine Garantie gegen die Revolution, in letzterem seinen Rückhalt gegen das übrige Deutschland, namentlich gegen Österreich. Von dem Bestand des Empire und des Czarenreiches hängt der Bestand des heutigen Preußen ab, so daß, im Falle eines Krieges mit Frankreich ein entschiedener Sieg, der in Paris eine Revolution hervorriefe, den Untergang Preußens weit sicherer herbeiführen würde, als ein zweites Jena.

Was aber Rußland betrifft, so fühlt der sich jeder preußische Junker instinktmäßig, daß es dem Preußen der Manteuffel und Bismarck unentbehrlich ist, und verehrt daher den Czar als seinen eigentlichen Souverän, dessen gekrönter Statthalter der sogenannte König von Preußen nur ist.

 

Aus Preußen                                                                        Berlin, 21. Februar

Aha! Die Süddeutschen sträuben sich  mit Händen und Füßen gegen den Eintritt in den Nordbund = Mordbund – so nennt ihn die „Demokratische Correspondenz“ – und niemand würde es Leuten verdenken, außer den verblendeten Nationalliberalen. Trostlosere Zustände auf sozialem, politischen und religiösen Gebiete giebt es in ganz Deutschland nicht und darum ist Preußen Hauptfeind aller  Deutschen.

 

N° 18.                                            Mittwoch, den 2. März                                                1870

                                                        Politische Uebersicht

Man schreibt uns aus Preußen: „die Szene, die sich in diesen Tagen zum Possen = Theater abspielte, läßt sich nicht blos dahin resümiren (zusammenfassen), daß der Blut – und Eisenpolitiker Bismarck seine national = Liberalen Hausknechte, nachdem er sie wie eine Zitrone ausgepreßt hat, zum Teufel jagt, sondern daß er sie dabei noch wie „dumme Jungen“ behandelt.

Bei der dritten Berathung über den Vertrag zwischen dem Bunde und dem Großherzogthum Baden wegen wechselseitiger Gewährung der Rechtshilfe lag folgende von dem Abg, Lasker und der nationalliberalen Fraktion beantragte Resolution vor: „Der Reichstag wolle beschließen, zu erklären: Der Reichstag des Norddeutschen Bundes spricht den unablässigen nationalen Bestrebungen, in denen die Regierung und Volk des Großherzogthums Baden vereinigt sind, seine dankende Anerkennung aus: der Reichstag erkennt in diesen Bestrebungen den lebhaften Ausdruck der nationalen Zusammengehörigkeit und nimmt mit freudiger Genugtuung den möglichst ungesäumten Anschluß an den bestehenden als Ziel desselben wahr.“

 

N° 19.                                            Sonnabend, den 5. März                                               1870

                                                         Politische Uebersicht

Der Berliner „Reichstag“ hat am Dienstag mit 118 gegen 81 Stimmen die Beseitigung der Todesstrafe beschlossen. Der Norddeutsche Bundesstrafgesetzentwurf fordert bekanntlich die Todesstrafe außer für Mord, auch für Hochverrath und für den Versuch der Entfernung eines Fürsten. Natürlich nur für den Fall, daß diese Verbrechen von Unterthanen begangen werden.

 

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Der Massenmord auf den Schlachtfeldern ist Fürsten nicht nur erlaubt, sondern gereicht ihnen sogar, wenn mit „Erfolg“ betrieben, zum Ruhm; und das der Hochverrath und Entthronung von Fürsten in dieselbe Kategorie gehörten und nur für Unterthanen ein verbotener „Luxus“ sind, dafür legt das Jahr 1866 ein hinlängliches Zeugnis ab.

 

Der Bayernkönig hat sich nach langem Würgen doch zur Entlassung Hohenlohe’s verstanden, was hernach wird warten wir getrost ab. –

 

Im Oesterreichischen Reichstag ist ein Antrag auf direkte Besteuerung aller Arbeitslöhne von 300 Fl. Jährlich an durchgegangen. Das Ministerium war bereit, sich mit einer Besteuerung von 400 Fl. zu begnügen, allein die Reichstagsmajorität war „fest“ in ihrem bürgerlichen „Liberalismus“. Am Sonntag fand in Folge dessen eine von 700 Arbeitern besuchte Versammlung statt, welche nachstehende Resolution einstimmig faßte: „In Erwägung, daß der arbeitenden Bevölkerung ohnehin durch die indirekten Steuern die größte Steuerlast auferlegt ist und daß nichtsdestoweniger den Arbeitern bis jetzt die politischen Rechte wie das allgemeine und direkte Wahlrecht beharrlich verweigert werden, erklärt die heutige Volksversammlung. Die von der Regierung beantragte und vom Abgeordnetenhaus bereits angenommene Lohn – und Erwerbssteuer, ist eine ungerechtfertigte Bedrückung des arbeitenden Volkes, ein neues Unrecht, welches demselben hinzugefügt werden soll!“ (...)

 

Aus Frankreich                                                                        Paris, 28. Februar

Großer Jubel im Lager der Ministeriellen Orleanisten und Freunde der „parlamentarischen Regierung.“ Ebenso große Niedergeschlagenheit unter den Bonapartisten. (...)

 

Aus England                                                                          London, den 24. Februar

Die Regierung hat eine besondere Manier mit ihren Reformen das am hartnäckigsten zu verweigern, was am ausdrücklichsten verlangt wird. Seit Jahren verlangen die Arbeiter in den Kohlebergwerken vermehrt und bessere Inspektion (Regierungsaufsicht). Von je Tausend, die durch Unglücksfälle in den Bergwerken ums Leben gekommen, wurden 700 durch Einsturz der Stollen, 200 in den Schächten, 200 durch Maschinen und sonstige Unfälle und 200 durch Explosionen getötet. (...)

 

N° 21.                                        Sonnabend, den 12. März                                                1870

                                                      Politische Uebersicht

Der König von Preußen war wieder krank und in den nationalliberalen  und fortschrittlichen Gemüthern grassirt mit verdoppelter Heftigkeit der Glaube an den „liberalen“ Kronprinzen.

Bei dieser Gelegenheit sei daran erinnert, daß die „Volkszeitung“ für die Waldenburger Geld sammelte, und daß Herr Dunker Eigenthümer der „Volkszeitung“ einen Aufruf zur Unterstützung der Waldenburger unterzeichnet hat. Ist der Strike der Wiener Schriftsetzer etwa weniger berechtigt? Nein, aber die „Volkszeitung“ hat ihnen gegenüber keine politischen Gründe, „Arbeiterfreundlichkeit“ zu erheucheln.

Aus England                                                                                      London, den 7. März

Das Unterhaus hat einen Antrag, dürftige Arbeiter in die Kolonien zu transportieren mit 153 gegen 48 verworfen. (...)

 

Aus Amerika                                                                               New – York, 14. Februar 1870 

Es wäre unzweifelhaft auch uns Arbeitern recht lieb, und von Herzen gern würden wir den sogenannten „Umsturzplänen“ entsagen,

 

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wenn der von so Vielen empfohlene Weg der Reformen eine Gesellschaftsverfassung schaffen könnte, in welcher auch der Mindestbefähigte zur vollen Entwicklung seiner geistigen und körperlichen Kräfte gelangen könnte. (...)

N° 23.                                          Sonnabend, den 19. März                                               1870

                                                 Vor zwei und zwanzig Jahren

                                                       +  18. Und 19. März +

                                                    Die Todten an die Lebenden.

                                Die Kugel mitten in die Brust, die Stirne breit gespalten,

                                So habt ihr uns auf blut’gen Brett hoch in die Luft gehalten!

                                Hoch in die Luft mit wildem Schrei, daß unsere Schmerzgebärde

                                Dem, der zu tödten uns befahl, ein Fluch auf ewig werde!

                                ( Ausschnitt aus F. Freiligrath, Düsseldorf, Juli 1848)

                                                           Politische Uebersicht

Die „Deutsche Einheit“, wie sie 1866 verübt worden ist: Das Münchener „Vaterland“ spricht von der „göttlichen Mission Preußens, von den Franzosen die hundertfach verdienten Prügel endlich einmal wegzubekommen“. Die Berliner „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ hebt darob entsetzt die Hände und hat kaum die Kraft: „Landesverrath“ zu murmeln. Und die „Sächsische Zeitung“ ruft der „Norddeutschen“ freund = nachbarlich spottend zu: „Jacke wie Hose; wer mit den Rothhemden einst gebündelt, soll gegen Rothhosen nicht so zimperlich sein.“

Nicht wahr, eine hübsche vaterländische Idylle?!

Und als Seitenblick zu dieser Idylle, als ihr praktischer Kommentar, welche der österreichische Erzherzog Albrecht in Paris mit dem Franzosenkaiser austauscht, und die verblüfften ängstlichen Blicke der preußischen Staatsmänner, die diese Uebersetzung des Biarritzer Prologs aus dem preußischen in’s österreichische Deutsch sehr „bedenklich“ finden, trotz der angenehmen  Aussicht, daß wieder ein paar mal hunderttausend geplagten Erdenkindern die bismarck’sche „Pforte des Lebens“ geöffnet wird.

 

Aus England                                                                                London, den 14. März

Das respektable Publikum ist sehr unangenehm überrascht worden. Solange die Wehklagen der irischen politischen Gefangenen nur in den Fenier – und anderen irischen Nationalzeitungen erschallten, war John Bull taub. (...)

                                                 Die soziale Revolution  I

Die bisherige Geschichte hat nichts aufzuweisen was der Umwälzung gleicht, in der wir leben. Um etwas Aehnliches zu finden müßte man auf die Entwicklungsgeschichte des organischen Lebens zurückgreifen.

N° 24.                                            Mittwoch, den 23. März                                               1870

An die Parteigenossen!

Ein neues Quartal steht vor der Thüre und damit neue Arbeit, aber auch neuer Erfolg!

Mächtig allerdings ist bisher die Abonnementenzahl unseres Organs gewachsen, aber das weiß jeder von Euch, daß die jetzige Ausbreitung des Blattes noch nicht genügt. (...)

Mit sozialdemokratischem Gruß. (...)  Der Ausschuß und die Redaktion

Braunschweig – Wolfenbüttel  und Leipzig, 15. März 1870

 

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N° 27.                                          Sonnabend, den 2. April                                                 1870

Unter dem Titel: Der deutsche Bauernkrieg veröffentlichte Friedrich Engels die von ihm verfasste Geschichte des Deutschen Bauernkrieges in mehreren Folgen im „Volksstaat“, beginnend mit der Ausgabe vom 2. April 1870. Es folgten weitere Veröffentlichungen. Die letzte Folge erschien in der Ausgabe Nr. 83. am 18. Oktober 1870, damit ist auch zugleich ein Themenschwerpunkt für Ausgaben des Jahres 1870 gesetzt. Friedrich Engels eröffnet mit diesem Beitrag einmal mehr die Debatte um die Gegensätze Martin Luther und Thomas Münzer. Reformation, Reform und Revolution ringen als Gegensätze mit einander.

                                                     Der deutsche Bauernkrieg

                                                         Von Friedrich Engels

                                                               Vorbemerkung

Die nachstehende Arbeit wurde im Sommer 1850 noch unter dem unmittelbaren Eindruck der eben vollendeten Culturrevolution in London geschrieben; sie erschien im 5. und 6. Heft der „Neuen Rheinischen Zeitung“, „politisch – ökonomische Revue, redigirt von Karl Marx, Hamburg 1850“. – Meine politischen Freunde in Deutschland wünschen ihren Wiederabdruck, und nun komme ich ihrem Wunsche nach, da sie, zu meinem Leidwesen, auch heute noch zeitgemäß ist.

Sie macht keinen Anspruch darauf selbständig erforschtes Material zu liefern. Im Gegentheil, der gesamte auf die Bauernaufstände und auf Thomas Münzer sich beziehende Stoff ist aus Zimmermann genommen. Sein Buch, obwohl hie und da lückenhaft, ist immer noch die beste Zusammenstellung des Thatsächlichen, dabei hatte der alte Zimmermann Freude an seinem Gegenstand. Derselbe revolutionäre Instinkt, der hier überall für die unterdrückte Klasse auftritt, machte ihn später zu einem der Besten auf der äußersten Linken in Frankfurt.

Wenn dagegen der Zimmermann’schen Darstellung der innere Zusammenhang fehlt, wenn es ihr nicht gelingt, die religiös – politischen Controversen (Streitfragen) jener Epoche als das Spiegelbild der gleichzeitigen Klassenkämpfe nachzuweisen; wenn sie in diesen Klassenkämpfen nur Unterdrücker und Unterdrückte; Böse und Gute, und den schließlichen Sieg des Bösen sieht; wenn ihr die Einsicht in die gesellschaftlichen Zustände, die sowohl den Ausbruch wie den Ausgang der Kämpfe bedingten, höchst mangelhaft ist, so war das der Fehler der Zeit, in der das Buch entstand. Im Gegentheil, für seine Zeit ist es eine rühmliche Ausnahme unter den deutschen idealistischen Geschichtswerken, noch sehr realistisch gehalten.

Meine Darstellung versuchte, den geschichtlichen Verlauf des Kampfes nur in seinen Umrissen skizzirend, den Ursprung des Bauernkrieges, die Stellung der verschiedenen der darin auftretenden Parteien, die politischen und religiösen Theorien, in denen diese Parteien über ihre Stellung sich klar zu werden suchten, endlich das Resultat des Kampfes selbst mit Nothwendigkeit aus den historisch vorliegenden gesellschaftlichen Lebensbedingungen dieser Klassen zu erklären; also die damalige politische Verfassung Deutschlands, die Auflehnungen gegen sie, die politischen und religiösen  Theorien der Zeit nachzuweisen, nicht als Ursache, sondern als Resultate der Entwicklungsstufe, auf das sich damals Deutschlands Ackerbau, Industrie, Land – und Wasserstraßen, Waaren – und Geldhandel befanden. Diese, die einzig materialistische Geschichtsauffassung, geht nicht von mir aus, sondern von Karl Marx, und findet sich ebenfalls in seinen Arbeiten über die französische Revolution von 1848-49 in derselben Revue im „18. Brumaire des Louis Bonaparte“.

Die Parallele zwischen der deutschen Revolution von 1525 und der von 1848-49 lag nahe, um wo damals ganz von der Hand gewiesen zu werden. Neben der Gleichförmigkeit des Verlaufs, wo

 

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immer ein und dasselbe fürstliche Heer verschiedene Localaufstände nacheinander niederschlug, neben der oft lächerlichen Aehnlichkeit des Auftretens der Stadtbürger in besten Fällen, brach indeß doch auch der Unterschied klar und deutlich hervor: „Wer profitirte von der Revolution von 1525? Die Fürsten – Wer profitierte von der Revolution von 1848? Die großen Fürsten, Oesterreich und Preußen. Hinter den kleinen Fürsten von 1525 standen, sie an sich kettend durch die Steuer, die kleinen Spießbürger, hinter den großen Fürsten von 1850, hinter Oesterreich und Preußen, sie rasch unterjochend durch die Staatsschuld, stehen die modernen großen Bourgeois, und hinter den großen Bourgeois stehen die Proletarier“.

Es thut mir Leid sagen zu müssen, daß in diesem Satz der deutschen Bourgeoisie viel zu viel Ehre erwiesen wurde. Die Gelegenheit haben sie gehabt, sowohl in Oesterreich wie in Preußen, die Monarchie „rasch durch die Staatsschuld zu unterjochen“; nie und nirgends ist diese Gelegenheit genutzt worden.

Oesterreich ist durch den Krieg von 1866 der Bourgeoisie als Geschenk in den Schoß gefallen. Aber sie versteht es nicht zu herrschen, ist ohnmächtig und unfähig zu Allem. Nur eins kann sie: gegen die Arbeiter wüthen, sobald diese sich regen. Sie bleibt nur noch am Ruder, weil die Ungarn sie brauchen.

Und Preußen? Ja die Staatsschuld hat sich allerdings reißend vermehrt, das Deficit ist in Permanenz erklärt, die Staatsausgaben wachsen von Jahr zu Jahr, die Bourgeois haben in der Kammer die Majorität, ohne sie können weder Steuern erhöht, noch Anleihen aufgenommen werden, – aber wo ist ihre Macht über den Staat? Noch vor ein paar Monaten, als wieder ein Deficit vorlag, hatten sie die beste. Sie konnten bei nur emsiger Ausdauer hübsche Consessionen erzwingen. Was thun sie? Sie sehen es als genügende Consession an, daß die Regierung ihnen erlaubt ihr an 9 Millionen, nicht für ein Jahr, nein, jährlich und für alle Folgezeit zu Füßen zu legen.

Ich will die armen „Nationalliberalen“ in der Kammer nicht mehr tadeln als sie verdienen. Ich weiß, sie sind von denen, die hinter ihnen stehen, von der Masse der Bourgeoisie im Stich gelassen; diese Masse will nicht herrschen. Sie hat 1848 noch immer in den Knochen. (...)

Was viel wichtiger ist als die Haupt – und Staatsaktion von 1866, das ist die Hebung der Industrie und des Handels, der Eisenbahnen, Telegraphen und oceanischen Dampfschiffahrt in Deutschland seit 1848. So weit dieser Fortschritt hinter dem gleichzeitig in England in Frankreich gemachten zurücksteht, für Deutschland ist er unerhört und hat in zwanzig Jahren mehr geleistet, als sonst ein ganzen Jahrhundert es that. (...)

In Deutschland ist dieser Wendepunkt für die Bourgeoisie bereits eingetreten, und zwar erschrak alle Deutsche Bourgeoisie nicht so sehr vor dem deutschen, wie vor dem französischen Proletariat. Die Pariser Junischlacht 1848 zeigte ihr, was sie zu erwarten habe, das deutsche Proletariat war gerade erregt genug, um ihr zu beweisen, daß auch hier die Saat für dieselbe Ernte schon im Boden steckte, und von dem Tage an war der Aktion der Bourgeoisie die Spitze abgebrochen. Sie suchte Bundesgenossen, sie verhandelte sich an sie um jeden Preis und ist auch heute noch keinen Schritt weiter.

N° 28.                                           Mittwoch, den 6. April                                                 1870

Der deutsche Bauernkrieg (Fortsetzung)

(...) Unsere großen Bürger handeln 1870 noch gerade so wie die Mittelbürger von 1525 gehandelt haben. Was die Kleinbürger, Handwerksmeister und Krämer betrifft so werden sie sich immer gleich bleiben. Sie hoffen sich in das Großbürgerthum  emporzuschwindeln, oder sie fürchten in das Proletariat hinabgestoßen zu werden. (...)

Mit dem Aufschwung der Industrie seit 1848 hat Schritt gehalten die soziale und politische Aktion des Proletariats. Die Rolle, die die deutschen Arbeiter heute mit ihren Gewerksvereinen, Genossenschaften, politischen Vereinen und Versammlungen, bei den Wahlen und im sogenannten Reichstag, beweist allen, welche Umwälzung Deutschland in den letzten zwanzig Jahren unvermerkt erlitten hat. Es gereicht dem deutschen Arbeiter zur

 

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höchsten Ehre, daß sie allein es durchgesetzt haben, Arbeiter und Vertreter der Arbeiter in’s Parlament zu schicken, während weder Franzosen noch Engländer dies bis jetzt fertig brachten. (...)

 

N° 29.                                            Sonnabend, den 9. April                                               1870

                                                        Politische Uebersicht

Das Rumpfministerium ist in Ungnaden entlassen, dem Schwindel der „Neuen Ära“ in Oesterreich ein unhöfliches Ende gemacht. Das Ende des Bürgerministeriums war seines schmachvollen Lebens würdig; nachdem es alle Vortheile, seine Position auf das kärglichste verscherzt, seine ganze Kraft in selbstmörderischer Verblendung gegen die Sozialdemokratie gerichtet und sich selber den Lebensnerv abgeschnitten hatte, war es seit einiger Zeit zu einem reinen Polizeiministerium herabgesunken; und unfähig, die einfachsten Fragen des Liberalismus zu lösen, schloß es seine Laufbahn mit einem Diebstahl und einer Arbeitermetzelei. (...)

Große Debatte im Französischen „gesetzgebenden“ Körper. – Ist das Volk über die „Verfassungsreform“ zu „befragen“ oder nicht? – das war die Frage, um die es sich handelte. Biedermann Ollivier beschwor den Sturm in der Mistpfütze die Phrase: „wenn die Umgestaltung des Reichs im liberalen Geiste vollendet sein wird, dann werden wir die Nation befragen, daß sie der liberalen Constitution die Sanktion ertheile, welche sie der Constitution von 1852 ertheilt hat. Wir sind über das Endergebnis nicht beunruhigt, denn die Nation, zwischen Revolution und Reaktion gestellt, wird für die Freiheit kämpfen.

 

                                             Der deutsche Bauernkrieg (Fortsetzung)

Auch das deutsche Volk hat seine revolutionäre Tradition. Es gab eine Zeit, wo Deutschland Charaktäre hervorbrachte, die sich den besten Leuten der Revolutionen anderer Länder an die Seite stellen können, wo das deutsche Volk eine Ausdauer und Energie entwickelte die bei einer centralisirten Nation die großartigsten Resultate erzeugt hätte, wo deutsche Bauern und Plebejer  mit Ideen und Plänen schwanger gingen, vor denen ihre Nachkommen oft genug zurückschaudern.

Es ist an der Zeit, gegenüber der momentanen Erschlaffung, die sich nach zwei Jahren des Kampfes fast überall zeigt, die ungefügen, aber kräftigen und zähen Gestalten der Bannerträger dem deutschen Volk wieder vorzuführen. (...)

Die Klassen und Klassenfraktionen, die 1848 und 49 überall verrathen haben, werden wir schon 1525, wenn auch auf einer niederen Entwicklungsstufe als Verräther wiederfinden. (...)

                                                                   I

Gehen wir zunächst zurück auf die Verhältnisse in Deutschland zu Anfang des 16. Jahrhunderts.

Die deutsche Industrie hatte im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert einen bedeutenden Aufschwung genommen. (...)

Der Aufschwung der nationalen Produktion hatte indeß noch immer nicht Schritt gehalten mit dem Aufschwung anderer Länder. Der Ackerbau stand dabei hinter dem englischen und niederländischen, die Industrie hinter der italienischen, flämischen und englischen zurück, und im Seehandel fingen die Engländer und besonders die Holländer an, die Deutschen aus dem Felde zu schlagen. (...)

Während in England und Frankreich das Emporkommen des Handels und der Industrie die Verkettung der Interessen über das ganze Land und damit die politische Centralisation zur Folge hatte, brachte Deutschland es nur zur Gruppierung der Interessen nach Provinzen, um bloß lokale Centren, und damit zur politischen Zersplitterung, die bald darauf den Ausschluss Deutschlands vom Welthandel sich erst recht festsetzte. In demselben Maß wie das rein

 

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feudale Reich zerfiel, löste sich der Reichsverband überhaupt auf, verwandelten die großen Reichslehensträger sich in beinahe unabhängige Fürsten einerseits die Reichsstädte, andererseits die Reichsritter Bündnisse, bald gegen einander, bald gegen die Fürsten oder den Kaiser. Die Reichsgewalt, selbst an ihrer Stellung irre geworden, schwankte unsicher zwischen verschiedenen Elementen, die das Reich ausmachten, und verlor dabei immer mehr an Autorität; ihr Versuch in der Art Ludwig XI.* zu centralisiren, kam trotz aller Intrigen und Gewalttätigkeiten  nicht über der Zusammenhaltung der österreichischen Erblande hinaus. Wer in dieser Verwirrung in diesen zahllosen sich durchkreuzenden Konflikten schließlich gewann und gewinnen mußte, das waren die Vertreter der Centralisation innerhalb der Zersplitterung, der lokalen und provinziellen Centralisation, die Fürsten, neben denen der Kaiser selbst immer mehr ein Fürst wie die anderen wurde. Unter diesen Verhältnissen hatte sich die Stellung der aus dem Mittelalter überlieferten Klassen wesentlich verändert, und neue Klassen hatten sich neben den alten gebildet. (...)

 

Gedicht in vier Strophen

Irland*

An rost’ger Kette liegt das Boot;

Das Segel träumt, das Ruder lungert,

Das macht der Fischerbub ist todt;

Das macht der Fischer ist verhungert!

Der Strandherr praßt vom reichen Fange,

Leer aber bleibt des Fängers Tisch, -

So starb der Fischer, so sein Range. (...)

*Gedichtet während der furchtbaren Hungerepedemie, die 2 Millionen Einwohner hinwegraffte oder außer Landes trieb. Gebessert haben sich die Zustände seitdem nicht, nur die Menschen haben sich gebessert: die Irländer klagen nicht mehr, sie kämpfen oder rüsten sich zum Kampf.

 

N°. 30.                                           Mittwoch, 13. April                                                      1870

                                                 Der deutsche Bauernkrieg (Fortsetzung)

Aus der feudalen Hierarchie des Mittelalters war der mittlere Adel fast ganz verschwunden, er hatte sich entweder zur Unabhängigkeit kleiner Fürsten emporgeschwungen, oder war in die Reihen des niederen Adels hinabgesunken. Der niedere Adel, die Ritterschaft, ging ihrem Verfall rasch entgegen. Ein großer Theil war schon gänzlich verarmt und lebte blos vom Fürstendienst in militärischen oder bürgerlichen Aemtern: ein anderer stand in Lehenspflicht und Botmäßigkeit der Fürsten; der kleinere war reichsunmittelbar. Die Entwicklung des Kriegsdienstes, die steigende Bedeutung der Infanterie, die Ausbildung der Feuerwaffe beseitigte die Wichtigkeit ihrer militärischen Leistungen als schwere Kavallerie, und vernichtete zugleich die Unangreifbarkeit ihrer Burgen. Gerade wie die Nürnberger Handwerker, wurden die Ritter durch den Fortschritt der Industrie überflüssig gemacht. Der Luxus auf den Schlössern, der Wetteifer in der Pracht bei den Turnieren und Festen, der Preis der Waffen und Pferde stieg mit dem Fortschritt der Civlisation, während die Einkommensquellen der Ritter und Barone wenig oder gar nicht zunahmen. Fehden mit obligater Plünderung und Brandschatzung, Belagern und ähnliche noble Beschäftigungen wurden mit der Zeit zu gefährlich. Die Abgaben und Leistungen der herrschaftlichen

 

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Unterthanen brachten kaum mehr als früher. Um ihre zunehmenden Bedürfnisse zu decken, mußten die gnädigen Herren zu den denselben Mitteln ihre Zuflucht nehmen wie die Fürsten. Die Bauernschinderei durch den Adel wurde mit jedem Jahr weiter ausgebildet.

Die Leibeigenen wurden bis auf den letzten Blutstropfen ausgesogen, die Hörigen mit neuen Abgaben und Leistungen unter allerlei Vorwänden und Namen belegt. Die Frohnden, Zinsen, Gülten, Laudemien, Sterbefallsabgaben, Schutzgelder, u. s. w. wurden allen alten Verträgen zum Trotz willkürlich erhöht. Die Justiz wurde verweigert, und wo der Ritter dem Geld des Bauern sonst nicht beikommen konnte, warf er ihn ohne weiteres in den Thurm und zwang ihn sich loszukaufen.

Mit den übrigen Ständen lebte der niedere Adel ebenfalls auf keinem freundschaftlichen Fuß. Der lehnspflichtige Adel versuchte sich reichsunmittelbar zu machen, der reichsunmittelbare seine Unabhängigkeit zu wahren, daher fortwährende Streitigkeiten mit den Fürsten. Die Geistlichkeit, die dem Ritter in ihrer damaligen Gestalt als ein überflüssiger Stand erschien, beneidete er um ihre großen Güter, ihre durch den Cölibat und die Kirchenverfassung zusammengehaltenen Reichthümer. Mit den Städten lag er sich fortwährend in den Haaren; er war ihnen verschuldet, er nährte sich von der Plünderung ihres Gebiets, von der Beraubung ihrer Kaufleute, vom Lösegeld der ihnen in den Fehden abgenommenen Gefangenen. Und der Kampf der Ritterschaft gegen alle diese Stände wurde um so heftiger, je mehr die Geldfrage auch bei ihr eine Lebensfrage wurde. (...)

Die plebejische Fraktion der Geistlichkeit bestand aus den Predigern auf dem Lande und in den Städten. Sie standen außerhalb der feudalen Hierarchie der Kirche und hatten keinen Antheil an ihren Reichthümern. Ihre Arbeit war weniger kontrollirt und, so wichtig sie der Kirche war, im Augenblick weit weniger unentbehrlich als die Polizeidienste der eingekerkerten Mönche. Sie wurden daher weit schlechter bezahlt, und ihre Pfründen waren meist sehr knapp. Bürgerlichen oder plebejischen Ursprungs standen sie so der Lebenslage der Masse, um trotz ihres Pfaffenthums bürgerliche oder plebejische Sympathien zu bewahren. Die Betheiligung an den Bewegungen der Zeit, bei den Mönchen nur Ausnahme, war bei ihnen die Regel. Sie lieferten die Theoretiker und Ideologen der Bewegung, und viel von ihnen, Repräsentanten der Plebejer und Bauern, standen dafür auf dem Schaffot. Der Volkshaß gegen die Pfaffen wendet sich auch nur in Ausnahmefällen gegen sie. –

Aus Frankreich                                                                     Paris, 8. April

Das Plebecitfieber, welches sich des Kaisers seit seinem wieder intim gewordenen Umgange mit Rouher bemächtigt hat, führt die kaum begonnene Ära einem frühzeitigen schnellen Tode entgegen. Ob ein Ministerium Rouher – Cassaignac (Polignac, sagt man hier kurz, in Anspielung auf das der Julirevolution von 1832 vorhergegangene Ministerium) oder Farvre – Picard oder ein unbekanntes Drittes aus der Krise herausführen wird, muß die nahe Zukunft lehren. (...)

Aus Amerika                            Schluß des New – Yorker Briefes vom 14. März

In Europa wird viel von unserem Freischulsystem gefaselt und weist man gern auf die für die Unterhaltung ausgeworfenen Summen hin. Auch hier wiegt man sich in dem Wahne, daß unsere von der Kirche getrennten Schulen besser seien als die europäischen. Das Kongreßmitglied Proffer hat aber kürzlich in einer langen Rede nachgewiesen, daß ein Viertel der Bevölkerung weder lesen noch schreiben kann, und die Bevölkerung hauptsächlich in den früheren Südstaaten wohnt.

 

N°. 31.                                           Sonnabend, den 16. April                                             1870

                                                          Politische Uebersicht

Vom „Reichstag“ schrieb Bebel vor 14 Tagen an seine Wähler: „Ich werde morgen Berlin für einstweilen verlassen, nachdem Liebknecht schon am Sonntag weg ist. Es ist Schade um die Zeit, die wir hier totschlagen.

 

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Bisher gab’s keine Gelegenheit zum Dreinfahren und auch in der Session vor Ostern kaum eine geben. (...)

Der deutsche Bauernkrieg ( Fortsetzung)

Aus den Pfahlbürgern der mittelalterlichen Städte hatten sich mit dem Aufblähen des Handels und der Gewerbe drei scharf gesonderte Fraktionen entwickelt. An der Spitze der städtischen Gesellschaft standen die patricischen Geschlechter, die sogenannte „Ehrbarkeit“. Sie waren die reichen Familien. Sie allein saßen im Rath und in allen städtischen Ämtern. Sie verwalteten nicht bloß die Einkünfte der Stadt, sie verzehrten sie auch. Stark durch ihren Reichthum, durch ihre althergebrachte von Kaiser und Reich anerkannte aristokratische  Stellung, exploitirten+ sie sowohl die Stadtgemeinde wie die der Stadt unterthänigen Bauern auf jede Weise, sie trieben Wucher in Korn und Geld, oktroyirten++ sich Monopole aller Art, entzogen der Gemeinde nacheinander alle Anrechte auf Mitbenutzung der städtischen Wälder und Wiesen, und benutzten diese direkt zu ihrem eigenen Privatvortheil, legten willkürlich Weg-, Brücken – und Thorzölle und auch Lasten auf und trieben Handel mit Zunftprivilegien, Meisterschafts – und Bürgerrechten und mit der Justiz. Die städtische Opposition gegen das Patriziat theilte sich in zwei Fraktionen. (...)

+ exploitirten: ausbeuten ++ octroyiren: sich willkürlich beilegen

Die bürgerliche Opposition, die Vorgängerin unserer heutigen Liberalen, umfaßte die reicheren und mittleren Bürger, sowie einer nach den Lokalumständen größeren oder geringeren Theil der Kleinbürger. Ihre Forderungen hielten sich rein auf  verfassungsmäßigen Boden. Sie verlangten die Kontrolle über die städtische Verwaltung und einen Antheil an der gesetzgebenden Gewalt, sei es durch die Gemeindevertretung, (großer Rath, Gemeindausschuß) ferner die Beschränkung des patrizischen Nepotismus* und die Oligarchie** einiger weniger Familien, die selbst innerhalb des Patriziats immer offener hervortrat. Höchstens verlangten sie, außerdem noch die Besetzung einiger Rathstellen durch Bürger aus ihrer eigenen Mitte. Diese Partei, der sich hier und da die malkontente*** und heruntergekommene Fraktion des Patriziats anschloß, hatte in allen ordentlichen Gemeindeversammlungen und auf den Zünften die große Majorität. Die Anhänger des Raths und die radikalere Opposition zusammen waren unter den wirklichen Bürgern bei weitem die Minderzahl.

* so nennt man einen systematischen Mißbrauch der Ämter und Staatsgewalt zu Versorgung von Familienangehörigen und Günstlingen.

** Herrschaft weniger  *** unzufrieden

Wir werden sehen, wie während der Bewegung des sechzehnten Jahrhunderts diese „gemäßigte“, „gesetzliche“, „wohlhabende“ und „intelligente“ Opposition genau dieselbe Rolle spielte, und mit genau demselben Erfolg, wie ihre Erbin die konstitutionelle Partei in der Bewegung von 1848 und 1849. (...)

Die plebejische Opposition bestand aus den heruntergekommenen Bürgern und der Masse der städtischen Bewohner, die von den Bürgerrechten ausgeschlossen war, den Handwerksgesellen, den Tagelöhnern und den Zahlreichen Angehörigen des Lumpenproletariats, die sich selbst auf den untergeordneten Stufen der städtischen Entwicklung vorfinden. (...)

(...) Auf dem Bauer lastete der ganze Schichtenbau der Gesellschaft: Fürsten, Beamte, Adel, Pfaffen, Patrizier und Bürger. (...)

War er Leibeigen, so war er seinem Herrn auf Gnade und Ungnade zur Verfügung gestellt. War er Höriger, so waren schon die gesetzmäßigen vertraglichen Leistungen hinreichend ihn zu unterdrücken; aber diese Leistungen wurden täglich vermehrt. Den größten Theil seiner Zeit mußte er auf den Gütern seines Herrn arbeiten; von dem was er sich in den wenigen freien Stunden erwarb, mußten Zehnten, Zins, Gült, Bede, Reisegeld (Kriegssteuer), Landessteuer und Reichssteuer gezahlt werden. Er konnte nicht heirathen und nicht sterben,

 

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ohne daß dem Herrn gezahlt wurde. Er mußte, außer den regelmäßigen Frondiensten, ja den gnädigen Herrn Streu sammeln, Erdbeeren sammeln, Heidelbeeren sammeln, das Wild zur Jagt treiben, Holz hacken u. s. w. Fischerei und Jagt gehörten dem Herrn; der Bauer mußte ruhig zusehen, wie das Wild seine Ernte zerstörte. Die Gemeindeweiden und Waldungen der Bauern  waren fast überall gewaltsam von dem Herrn weggenommen worden. Und wie über das Eigenthum, so schaltete der Herr willkürlich über die Person des Bauern, über seine Frau und seine Töchter. Er hatte das Recht der ersten Nacht. Er warf ihn in den Thurm, wenn’s ihm beliebte, wo ihn mit derselben Sicherheit, wie jetzt der Untersuchungsrichter, damals die Folter erwartete.

                                                                                                                                                                                                                                               

Briefe über die revolutionäre Entwicklung in Rußland.

Von Michael Bakunin an die Redaktion des „Volksstaat“.  I

Vor allem Dank für den Abdruck meines Aufrufs an die russische Jugend und die Briefe meines Landmannes Netschajef, und noch viel mehr für Ihre antheilnahmsvolle Würdigung der sich gegenwärtig in Rußland vollziehenden revolutionären Bewegung. Diese aus Deutschland kommende Anerkennung ist für uns ein neues Ereignis, da man uns seit sehr vielen Jahren in Ihrem Lande nur mit Antipathie und Mißtrauen entgegengekommen ist, der elenden Verläumdungen nicht zu gedenken, mit denen am die Träger dieser Bewegung im Auslande überhäufen wollte, Verläumdungen, auf die ich leider in einem der folgenden Briefe zurückzukommen habe. Ich muß bemerken, daß die Publizisten, welche in Deutschland den Liberalismus, Radikalismus und selbst bürgerlichen Sozialismus vertreten, sich nicht darauf beschränkt haben, die russische Regierung und das Kaiserreich aller Reußen anzugreifen, – Institutionen, gegen die wir revolutionären Russen von einem Hasse erfüllt sind, wie sich ihn die deutsche Demokratie kaum vorstellen kann, – sondern das gesamte russische Volk angegriffen haben. Das war ihrerseits weder vernünftig noch gerecht, nicht einmal sehr geschickt. Nach dem Sprichwort: „Wer viel beweist, beweist nichts“ haben sie über das vorgesteckte Ziel hinausgeschossen, indem sie vor der Öffentlichkeit viel blinden und unüberlegten Haß und von der Lüge und der Unwissenheit eingegebenen Vorurtheile zeigten.

Woher kommt es, daß die Deutschen, welche in so großem Rufe des Wissens und der Ehrlichkeit stehen, und überdies durch ihre wirkliche Fähigkeit ausgezeichnet sind, die Menschen und die Dinge, ebenso wie die Nationen und die Individuen, in ihrer nackten und lebendigen Wirklichkeit, in ihrer objektiven Wahrheit zu erfassen, - woher kommt es, daß die Deutschen, sobald es sich um Russen handelt alle diese, ihre Nation auszeichnenden hervorragenden Eigenschaften verläugnen und meistentheils die Kehrseite davon – alle Fehler des Charakters, Geistes und Herzens, die sie besitzen – zur Anwendung bringen? (...)

Dieser Welt der menschlichen Ideale steht ihre wirkliche Welt gegenüber: die nackte brutale Welt Ihrer Fürsten, Ihrer Vornehmen, Ihrer kriechenden Geistlichkeit, Ihres Soldaten – und Beamtenthums. Diese Welt – Sie kennen sie besser als ich – hat mit der Veredlung des Menschenthums, mit Ihrer Kunst und Wissenschaft nichts zu schaffen und hat niemals zum unvergänglichem Ruhme des deutschen Volkes beigetragen; sie ist vielmehr die gedankenlose anmaßende und freche Verneinung alles dessen. (...)

Endlich erhebt sich in Deutschland eine vierte Welt: es ist die Welt der Sozialdemokratie, der Arbeit und ihrer Träger; es ist die Welt der Zukunft. In Deutschland wird sie dann ebenso, wie in allen anderen Ländern – und das hat die Bourgeoisie nur zu ahnen vermocht – die allgemeine Menschenliebe, Gerechtigkeit und vollständige Freiheit jedes Einzelnen bei allgemeine Gleichheit Aller verwirklichen.

Von diesen vier Welten, welche die deutsche Civilisation ausmachen, haben nur zwei einen Einfluß auf Rußland gehabt: die ideale und die offizielle. Die der Arbeiter, die noch ganz neu und so zu sagen vom heutigen Datum ist, hat noch keine Zeit gehabt, ihre Aktion nach Asien zu erstrecken, während die deutsche Bourgeoisie derart durch Natur

 

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und Sitten dem Nationalcharakter entgegengesetzt ist, daß sie nie einen Einfluß auf dasselbe gewinnen konnte. (...)

Die gegenwärtige Generation, vernünftiger als wir, beschäftigt sich überhaupt nicht mehr mit spekulativer Philosophie. (...)

 

N°. 32.                                             Mittwoch, den 20. April                                             1870

                                                 Der deutsche Bauernkrieg II (Fortsetzung)

Die Gruppirung der damals so mannigfachen Stände zu größerem Ganzen wurde schon durch Dezentralisation und die lokale und provinzielle Selbstständigkeit, durch die industrielle und kommerzielle Entfremdung, der Provinzen voneinander, durch die schlechten Kommunikationen fast unmöglich gemacht, Diese Gruppirung bildet sich erst heran mit der allgemeinen Verbreitung revolutionärer religiös = politischer Ideen in der Reformation. Die verschiedenen Ströme, die sich diesen Ideen anschließen oder entgegenstellen, konzentriren, freilich nur sehr mühsam und annähernd, die Nation in drei große Lager, in die katholische oder reaktionäre, das lutherische bürgerlich – reformirende und das revolutionäre. Wenn sich auch in dieser großen Zerklüftung wenig Konsequenz entdecken, wenn wir den ersten beiden Lagern zum Theil dieselben Elemente finden, so erklärt sich dies aus dem Zustand der Auflösung, in dem sich die meisten aus dem Mittelalter überlieferten offiziellen Stände befanden, und aus der Dezentralisierung, die denselben Ständen an verschiedenen Orten momentan entgegengesetzte Richtungen auswies. Wir haben in den letzten Jahren so häufig ganz ähnliche Facta in Deutschland zu sehen Gelegenheit gehabt, daß uns eine solche scheinbare Durcheinanderwürfelung der Stände und Klassen unter viel verwickelteren Verhältnissen des 16. Jahrhunderts nicht wundern kann. (...)

Warum sie z. B. so heftig gegen das Cölibat* auftreten, darüber giebt Niemand besser Aufschluß als Boccaccio, ** Arnold von Berscia***  in Italien und Deutschland, die Albigenser in Südfrankreich, John Wygliff+ in England, Huß und die Calixtiner in Böhmen waren die Hauptrepräsentanten dieser Richtung. (...)

* Ehelosigkeit der Priester ** Ein italienischer Schriftsteller ( 1315-1375), der in seinem berühmten Novellenbuch „Decameron“ (Die zehn Tage) u. A. die Unsittlichkeit der Priester geißelte. *** Einer der ersten und kühnsten Gegner des Papstthums und der Priesterherrschaft; von Kaiser Barbarossa feig im Stich gelassen, wurde er 1155 in Rom gehenkt, sein Leichnam verbrannt und in den Tiber gestreut. + Der erste englische Reformator (1324-1387), der Lehrer des böhmischen Reformators Hus, welcher bekanntlich 1415 in Constanz verbrannt und von seinen Anhängern, den Hussiten (Calixtinern und Taboriten) in den Hussitenkriegen gerächt wurde. (...)

 

Briefe über die revolutionäre Bewegung in Rußland Fortsetzung von Michael Bakunin

(An die Redaktion des „Volksstaat“) II (Schluß)

Im Gegentheil: sie hat mit der Leidenschaft die von Auguste Comte und Buckle ausgegangenen Ideen, daß den historischen Wissenschaften die Naturwissenschaft zu Grunde liegen mußte, sich zu eigen gemacht, ebenso die nicht minder fruchtbaren Ideen Darwin’s über die Entstehung und Verwandlung der Arten. Sie verehrt Feuerbach, diesen großen Zerstörer der Transzendental – Philosophie. Die Namen eines Büdnor, Vogt, Moleschott, Schifft und so vieler anderer berühmter Spitzen der realistischen Schule in Deutschland sind vielleicht unseren russischen Studenten geläufiger, als den studirenden jungen Bourgeois, die ihre Jugend auf Ihren Universitäten zubringen. Es erscheint in Deutschland, England und Frankreich kaum ein Werk mit der positiven Wissenschaft, das nicht sofort in Rußland mehrfach übersetzt und gelesen würde. Dasselbe gilt von allen Werken der modernen sozialistischen Schule:

 

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Die Werke von Proudhon, Marx und Lassalle sind in Rußland ebenso verbreitet wie in ihren eigenenb Ländern. Mit Freude und Stolz spreche ich es aus, daß unsere russische Jugend - ich spreche natürlich von der Mehrzahl - in allen ihren Theorien leidenschaftlich realistisch und materialistisch ist, zu gleicher Zeit idealistisch in der Praxis, (...) Diesen praktischen Idelismus, der sie belebt, ist es zu verdanken, daß sie gegenwärtig fähig ist, sich ganz der großen Sache der Befreiung des Volkes zu widmen. (...) Sie sehen also, Bürger Redakteur, daß wir - weit entfernt davon, die Wohltaten, die wir von der deutschen Wissenschaft schulden, zu verleugnen - und vor ihr in tiefer Achtung beugen. In meinem zweiten Briefe will ich Sie vor dem schädlichen Einfluß, den Ihre offizielle Welt ausgeübt hat, unterhalten. Genf, 8. April 1870.

 

 

N°. 33.                                    Sonnabend, den 23. April                                                    1870

                                      Der deutsche Bauernkrieg (Fortsetzung)

Auch hier sehen wir schon, sowohl in Südfrankreich wie in England und Böhmen, daß der große Theil des niederen Adels von den Städten im Kampf gegen die Pfaffen und in der Ketzerei anschließt – eine Erscheinung, die sich aus der Abhängigkeit des niederen Adels und aus der Gemeinsamkeit der Interessen Beider gegenüber den Fürsten und Prälaten erklärt, und die wir im Bauernkrieg wiederfinden werden.

Einen ganz anderen Charakter hatte die Ketzerei, die der direkte Ausdruck der bäurischen und plebejischen Bedürfnisse war und sich fast immer einem Aufstand anschloß. Sie theilte zwar alle Forderungen der bürgerlichen Ketzerei in Betreff der Pfaffen, des Papstthums und der Herstellung der urchristlichen Kirchenverfassung, aber sie ging zugleich und endlich weiter. Sie verlangte die Wiederherstellung des urchristlichen Gleichheitsverhältnisses unter den Mitgliedern der Gemeinde, und seine Anerkennung als Norm auch für die bürgerliche Welt.

Sie zog von der „Gleichheit der Kinder Gottes“ den Schluß auf die bürgerliche Gleichheit des Vermögens. Gleichstellung des Adels mit den Bauern, des Patriziers und bevorrechteten Bürgern mit den Plebejern, Abschaffung der Frohndienste, Grundzinsen, Steuern, Privilegien und wenigstens schreiendsten Vermögensunterschiede waren Forderungen, die mit mehr oder weniger Bestimmtheit und als nothwendige Konsequenzen der urchristlichen Doctrin behauptet wurden. (...)

Diese gewaltsame, aber dennoch aus der Lebenslage der plebejischen Fraktion erklärliche Anticipation auf die spätere Geschichte finden wir in Deutschland zuerst bei Thomas Münzer und seiner Partei. Bei den Taboriten hatte allerdings eine Art chiliastischer Gemeinschaft verstanden, aber nur als eine rein militärische Maßregel. Erst bei Münzer sind diese kommunistischen Anklänge Ausdruck der Bestrebungen einer wirklichen Gesellschaftsfraktion, erst bei ihm sind  sie mit einer gewissen Bestimmung formulirt, und seit ihm finden wir sie in jeder großen Volkserschütterung wieder, bis sie allmählich mit der modernen proletarischen Bewegung zusammenfließen, gerade so wie im Mittelalter die Kämpfe der freien Bauern gegen sie mehr und mehr umstrickende Feudalherrschaft zusammenfließen mit den Kämpfen der Leibeigenen und Hörigen um den vollständigen Bruch der Feudalherrschaft. (...)

Luther und Münzer repräsentirten nach ihrer Doctrin, wie nach ihrem Charakter und ihrem Auftreten jeder seine Partei vollständig. (...)

Luther hat in den Jahren 1517 bis 1525 ganz dieselben Wandlungen durchgemacht, wie die modernen Konstitutionellen von 1846 bis 1849, durchmachten, und die jede bürgerliche Partei durchmacht, welche einen Moment an der Spitze der Bewegung gestellt, in dieser Bewegung selbst von der unter ihr stehenden plebejischen oder proletarischen Partei überflügelt wird. (...)

Als Luther 1517 zuerst gegen die Dogmen und die Verfassung der katholischen Kirche auftrat, hatte seine Opposition durchaus noch einen bestimmten Charakter. (...)

 

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Gerade so waren unsere liberalen Bourgeois noch 1847 revolutionär, nannten sich Sozialisten und Kommunisten und schwärmten für die Emanzipation der Arbeiterklasse. Die kräftige Bauernnatur Luthers machte sich in dieser ersten Periode seines Auftretens in der ungestümsten Weise Luft.

„Wenn ihr die römischen Pfaffen rasend Wüthen ein Fortgang haben sollte, so dünkt mich, es wäre schier kein besser Rath und Arznei; ihm zu steuern, denn daß Könige und Fürsten mit Gewalt dazu thäten, sich rüsteten, so alle Welt vergiften, angriffen und einmal des Spiels ein Ende machten, mit Waffen nicht mit Worten.

So wir Diebe mit Schwert, Mörder mit Strang, Ketzer mit Feuer strafen, warum greifen wir nicht vielmehr an diese schädlichen Lehrer des Verderbens, als Päbste, Kardinäle, Bischöpfe und das Geschwärm des römischen Sodoma mit allerlei Waffen und waschen unsere Hände in ihrem Blut? (...)

Er, der Schützling des Kurfürsten von Sachsen, der angesehene Professor von Wittenberg, der über Nacht mächtig und berühmt gewordene, mit keinem Zirkel von abhängigen Kreaturen umgebene große Mann zauderte keinen Augenblick. Er ließ die populären Elemente der Bewegung fallen und schloß sich der bürgerlichen, adeligen und fürstlichen Suite an. Aufrufe zum Vertilgungskampf  gegen Rom verstummten, Luther predigte jetzt die Entwicklung und passiven Widerstand (vergl. z. B. an den Adel deutscher Nation 1520). Auf Huttens Einladung, zu ihm und Sickingen auf die Ebernburg, den Mittelpunkt der Adelsverschwörung gegen Pfaffen und Fürsten zu kommen antwortet Luther: „Ich möchte nicht, daß man das Evangelium mit Gewalt und Blutvergießen verfechte. Durch das Wort ist die Welt überwunden worden, durch das Wort die Kirche erhalten, durch das Wort wird sie auch wieder in den Stand kommen, und der Antichrist, wie er seines ohne Gewalt bekommen, wird ohne Gewalt fallen. (...)

 

N°. 34.                                         Mittwoch, den 27. April                                             1870

                                        Der deutsche Bauernkrieg (Fortsetzung)

Als der Bauernkrieg losbrach, und zwar in Gegenden, wo Fürsten und Adel größtentheils katholisch waren, suchte Luther eine vermittelnde Stellung einzunehmen. Er griff die Regierungen entschieden an. Sie seien Schuld am Aufstand durch ihre Bedrückungen,  nicht die Bauern setzten sich wider sie, sondern Gott selbst. Der Aufstand sei freilich auch ungöttlich und wider das Evangelium, hieß es auf der anderen Seite. Schließlich rieth er beiden Parteien nachzugeben und sich gütlich zu vertragen.

Aber der Aufstand, trotz dieser wohlmeinenden Vermittlung, dehnte sich rasch aus, er griff sogar,  von lutherischen Fürsten, Herren und Städten beherrschte Gegenden, und wuchs der bürgerlichen, „besonnenen“ Reform rasch über den Kopf. In Luther’s nächster Nähe, in Thüringen, schlug die entschiedenste Fraktion der Insurgenten unter Münzer ihr Hauptquartier auf. Noch ein paar Erfolge und ganz Deutschland stand in Flammen, Luther war umzingelt, vielleicht als Verräther durch Spieße gejagt, und die bürgerliche Reform weggeschwemmt von der Sturmflut der bäurisch – plebejischen Revolution. Da galt kein besinnen mehr. Gegenüber der Revolution wurden alle alten Feindschaften vergessen; im Vergleich mit den Rotten der Bauern waren die Diener der römischen Sodoma unschuldige Lämmer, sanftmüthige Kinder Gottes und Bürger und Fürsten, Adel und Pfaffen, Luther und Papst verbanden sich „wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“. „Man soll sie zerschmeißen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund todtschlagen muß!“ schrie Luther. „Darum, liebe Herren, löset hie rettet da, steche, schlage, würge sie wer da kann, bleibst du darüber todt, wohl dir, seligeren Tod kannst du nimmermehr überkommen“. (...)

„Lasset nur die Büchsen unter sie sausen, sie machens sonst tausendmal ärger“. (...)

 

                                                                                                        150

Gerade so sprachen unsere weiland sozialistischen und Philanthropen Bourgeois, als das Proletariat nach den Märztagen seinen Antheil an den Früchten des Siegs reklamiren kam. (...)

Brauchen wir die Bourgeois zu nennen, die auch von dieser Verlängerung ihrer eigenen Vergangenheit und kürzlich wieder ein Beispiel gegeben haben?

Stellen wir nun den bürgerlichen Reformator Luther den plebejischen Revolutionär Münzer gegenüber. (Fortsetzung folgt)

 

N°. 35.                                          Sonnabend, den 30. April                                              1870

                                           Der deutsche Bauernkrieg ( Fortsetzung)

Thomas Münzer, geboren zu Stolberg am Harz um das Jahr 1498. Sein Vater soll ein Opfer der Willkür des stolberg’schen Grafen am Galgen gestorben sein. (...) Seine Gelehrsamkeit in der damaligen Theologie verschaffte ihm früh den Doctorgrad und eine Stelle als Kaplan in einem Nonnenkloster in Halle. (...) Sein Hauptstudium waren die mittelalterlichen Mystiker, besonders die chiliastischen Schriften Joachims des Calabreseers. Das tausendjährige Reich, das Strafgericht über die entartete Kirche und die verderbte Welt, das er verkündete und ausmalte, schien Münzer mit der Reformation und der allgemeinen Aufregung nahe herbeigekommen. (...) 1520 ging er als erster evangelischer Prediger nach Zwickau. Hier stand er einer jener schwärmerischen, chiliastischen Sekten vor, die in vielen Gegenden im Stillen fortexistirten, unter deren momentaner Demuth und Zurückgezogenheit sich die fortwuchernde Opposition der unteren Gesellschaftsschichten gegen die bestehenden Zusände verborgen hatte, und die jetzt mit der wachsenden Agitation immer offener und beharrlicher ans Tageslicht hervortraten. Es war die Sekte der Wiedertäufer, an deren Spitze Niclas Storch stand. Sie predigten das Nahen des jüngsten Gerichts und des tausendjährigen Reichs, sie hatten „Gesichte, Verzückungen und den Geist der Weissagung.“ Bald kamen sie in Konflikt mit dem Zwickauer Rath; Münzer vertheidigte sie, obwohl er sich ihnen nicht unbedingt anschloß, sondern sie vielmehr unter seinen Einfluß bekam. Der Rath schritt ernergisch gegen sie ein, sie mußten die Stadt verlassen, und Münzer mit ihnen. Es war Ende 1521.

Er ging nach Prag und suchte hier an die Reste der hussitischen Bewegung anzuknüpfen, hier Boden zu gewinnen, aber seine Proklamationen hatten nur den Erfolg, daß er aus Böhmen wieder fliehen mußte. 1522 wurde er Prediger in Altstedt in Thüringen. Hier begann er damit den Kultus zu reformiren. Noch ehe Luther so weit zu gehen wagte, schaffte er die lateinische Sprache total ab, und ließ die ganze Bibel, nicht bloß die vorgeschriebenen sonntäglichen Evangelien und Epistel verlesen. (...)

Noch war Münzer vor allem Theologe; noch richtete er seine Angriffe ausschließlich gegen die Pfaffen. Aber er predigte nicht wie Luther damals schon, die ruhige Debatte und den friedlichen Fortschritt, er setzte die früheren gewaltsamen Predigten Luthers fort und rief die Fürsten auf zum bewaffneten Einschreiten gegen die römischen Pfaffen. (...) Aber diese Aufforderungen an die Fürsten blieben ohne Erfolg, während gleichzeitig unter dem Volk die revolutionäre Aufregung von Tag zu Tag wuchs. Münzer, dessen Ideen immer schärfer ausgebildet, immer kühner wurden, trennte sich jetzt entschieden von der bürgerlichen Reformation und trat von nun an zugleich direkt als politischer Agitator auf.

Seine theologische – philosophische Doktrin griff alle Hauptpunkte nicht nur des Katholizismus, sondern des Christenthums überhaupt an. Er lehrte unter christlichen Formen einen Pantheismus* der mit der modernen Anschauungsweise eine merkwürdige Aehnlichkeit hat und stellenweise sogar am Atheismus** anstreift. Er verwarf die Bibel sowohl als ausschließliche, wie unfehlbare Offenbarung. Die eigentliche lebendige Offenbarung ist die Vernunft, eine Offenbarung, die zu allen Zeiten und bei allen Völkern existirt habe und noch existire. Der Vernunft die Bibel entgegenzuhalten, heiße den Geist durch den Buchstaben töten. Denn der heilige Geist, von dem die Bibel spricht, sei nichts außer uns Existirendes, der heilige Geist sei eben die Vernunft. (...)

ilige Geist sei eben die Vernunft. (...)

 

                                                                                                             151

Diese Lehren predigte Münzer meist versteckt unter denselben christlichen Redeweisen, unter denen sich die neuere Philosophie eine Zeitlang verstecken mußte. Aber der erzketzerische  Grundgedanke blickt überall aus seinen Schriften hervor, und man sieht, daß es ihm mit dem biblischen Deckmantel weit weniger ernst war, als manchem Schüler Hegels*** in neuerer Zeit. Und doch liegen dreihundert Jahre zwischen Münzer und den modernen Philosophen. (...)

* Die Annahme, daß es keinen persönlichen, vom Weltall verschiedenen Gott gibt, sondern daß Gott gleichbedeutend  ist mit dem Weltall, in dem er sich verkörpert hat.

** Die Leugnung des Gottesbegriffs *** Hegel geboren 1770 in Stuttgart, gestorben 1881 in Berlin, „der letzte Philosoph“ – dem großen Publikum bekannt als Entdecker und Verherrlicher der königlich preußischen Staatsidee.

 

N°. 36.                                            Mittwoch, den 4. Mai                                                  1870

Der deutsche Bauernkrieg (Fortsetzung)

Inzwischen hatte die steigende Agitation unter Bauern und Plebejern die Münzersche Propaganda ungemein erleichtert. Für diese Propaganda hatte er an den Wiedertäufern unschätzbare Agenten gewonnen. Diese Seite, ohne bestimmte positive Dogmen, zusammengehalten nur durch ihre gemeinsame Opposition gegen alle herrschenden Klassen und durch das gemeinsame Symbol der Wiedertaufe, aszethisch – streng im Lebenswandel, unermüdlich, fanatisch und unerschrocken in der Agitation, hatte sich mehr und mehr um Münzer gruppiert. (...)

Unzählige wurden gefoltert, verbrannt oder sonst hingerichtet, aber der Muth und die Ausdauer dieser Emissäre war unerschütterlich, und der Erfolg ihrer Thätigkeit, bei der schnell wachsenden Aufregung des Volks, war unermeßlich. Daher fand Münzer bei seiner Flucht aus Thüringen den Boden überall vorbereitet, er mochte sich hinwenden wohin er wollte.

In Nürnberg, wohin Münzer zuerst ging, war kaum einen Monat vorher ein Bauernaufstand im Keim erstickt worden. Münzer agirte hier im Stillen, bald traten Leute auf, die seine kühnsten theologischen Sätze, von der Unverbindlichkeit der Bibel und der Nichtigkeit der Sakramente vertheidigten, Christus für einen bloßen Menschen und die Gewalt der weltlichen Obrigkeit für ungöttlich erklärten. „Da sieht man den Satan umgehen, den Geist aus Altstedt!“ rief Luther. Hier in Nürnberg ließ Münzer seine Antwort an Luther drucken. Er klagte ihn geradezu an, daß er den Fürsten heuchle und die reaktionäre Partei in seiner Halbheit unterstütze. Aber das Volk werde trotzdem frei werden, und den Doctor Luther werde es dann gehen wie einen gefangenen Fuchs. – Die Schrift wurde von Rathswegen mit Beschlag belegt, und Münzer mußte Nürnberg verlassen.

Er ging nach Schwaben und nach dem Elsaß, der Schweiz und zurück nach dem oberen Schwarzwald, wo schon seit einigen Monaten der Aufstand ausgebrochen war, beschleunigt zum großen Theil durch seine wiedertäuferischen Emissäre. Diese Propagandareise Münzers hat offenbar zur Organisation der Volkspartei, zur klaren Feststellung ihrer Forderungen und zum endlichen allgemeinen Ausbruch des Aufstandes im April 1525 beigetragen. (...)

Wir werden sehen, wie der Charakter und das Auftreten der beiden Parteichefs die Haltung ihrer Parteien wiederspiegeln; wie die Unentschiedenheit, die Furcht vor der ernsthaft werdenden Bewegung selbst, die feige Fürstendienerei Luthers ganz der Zaudernden, zweideutigen Partei der Bürgerschaft entsprach, und wie die revolutionäre Energie und Entschlossenheit Münzers von der entwickelsten Fraktion der Plebejer  und Bauern sich reproduziren.* (...)

* sich wieder hervorbringen, sich wiederholen

 

                                                                                                        152

Aus Frankreich                                                                      Paris, 29. April

Wenn nicht alle Anzeichen trügen, wird das Plebiszit eine verhängnisvolle Wendung für diejenigen nehmen, die diesen Hexenkessel eingebrockt haben, Die politischen Jesuiten glaubten durch ein Bauernconcil das Dogma der kaiserlichen Unfehlbarkeit proclamiren zu können. (...)

 

 

N°. 37.                                             Sonnabend, den 7. Mai                                              1870

                                          Der deutsche Bauernkrieg (Fortsetzung)

Der Bruch Münzers mit Luther und seiner Partei war schon lange vorhanden. Luther hatte manche Kirchenreform selbst annehmen müssen, die Münzer, ohne ihn zu fragen, eingeführt hatte. Er beobachtete Münzers Thätigkeit mit dem ärgerlichen Mißtrauen des gemäßigten Reformers gegen die energische weiter treibende Partei. Schon im Frühjahr 1524 hatte Münzer an Melanchton, dieses Urbild des philiströsen, hektischen Stubenhockers, geschrieben, er und Luther verstünden die Bewegung gar nicht. Sie suchten im biblischen Buchstaben zu ersticken, ihre ganze Doktrin sei wurmstichig.

„Liebe Brüder laßt euer Warten und Zaudern, es ist Zeit, der Sommer ist vor der Thür. Wollet nicht Freundschaft halten mit den Gottlosen, sie hindern, daß das Wort nicht wirke in voller Kraft. Schmeichelt nicht einigen Fürsten, sonst werdet ihr selbst mit ihnen verderben. Ihr zarten Schriftgelehrten, seid nicht unwillig, ich kann es nicht anders machen.“

Luther forderte Münzer mehr als einmal zur Disputation heraus, aber diese bereit den Kampf jeden Augenblick vor dem Volk aufzunehmen, hatte nicht die geringste Lust, sich in einer theologischen Zänkerei vor dem parteiischen Publikum in Wittenberg einzulassen. (...)

 

Aus Amerika                                                                    New – York, 9. April 1870

So wenig die Agitation allein, ohne das Elend des arbeitenden Volks, eine soziale Revolution hervorzubringen im Stande ist, also das Werk einzelner Männer sein kann, so wenig wird aber auch die Noth allein eine Umwälzung der Gesellschaft erzeugen. (...)

 

N° 38.                                             Mittwoch, den 11. Mai                                                 1870

Proklamation des Generalraths der Internationalen Arbeiterassociation.

Bei Gelegenheit des letzten vorgeblichen Komplotts hat die französische Regierung nicht allen viele Mitglieder unserer Pariser und Lyoner Sektionen arretirt, sondern auch in ihren Organen behauptet, daß die Internationale Arbeiterassociation eine Verbündete des vorgeblichen Komplotts sei.

Nach dem Wortlaut unserer Statuten ist es freilich die spezielle Aufgabe aller unserer Branchen (Zweige) in England auf dem Kontinent und in den Vereinigten Staaten, nicht allein als Mittelpunkt für die Organisation der Arbeiterklasse zu dienen, sondern auch alle politischen Bewegungen, welche unser Endziel, die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse zu verwirklichen streben, in ihren verschiedenen Ländern zu unterstützen. Allein gleichzeitig verpflichten unsere Statuten alle Sektionen unserer Association, öffentlich zu handeln. Wären die Statuten über diesen Punkt nicht klar, so würde dennoch das Wesen einer Association, die sich mit der Arbeiterklasse selbst identficirt jede Möglichkeit der Form gebenden Gesellschaften auszuschließen. Wenn die Arbeiterklassen konspirirene, die die große der Masse jeder Nation bilden, die allen Reichthum erzeugen und in deren Namen selbst die ursupirenden* Gewalten regieren, so konspiriren sie öffentlich, wie die Sonne gegen die Finsternis konspirirt, in dem vollen Bewußtsein, daß außerhalb ihres Bereichs keine legitime** Macht besteht. Wenn die anderen Umstände des Komplotts, welches die französische Regierung denunzirt, ebenso falsch wie unbegründet sind als Insinuation gegen

 

                                                                                          153

die Internationale Arbeiter = Association, so wird dieses letzte Komplott seinen zwei Vorgängern – grotesken Andenkens – würdig zur Seite stehen. Die lärmenden Gewaltmaßregeln gegen unsere französische Sektion sind ausschließlich berechnet, einem einzigen Zweck zu dienen – der Meinungsmanipulation des Plebezits.

 

Im Auftrage des Generalraths der Internationalen Arbeiterassociation:

Robert Applegarth, Vorsitzender. Karl Marx, Sekretär für Deutschland. Eugen Dupont, Sekretär für Frankreich. R. Serrdellier, Sekretär für Belgien. Hermann Jung. Sekretär für die Schweiz. G. Ajassa, Sekretär für Italien. J. Cohn, Sekretär für Dänemark. A. Rabecki, Sekretär für Polen. – G. Harris, B. Lucraft, Ph. Motherhead, Finanzausschuß. – Giovanni Bora. John Hales. William Hales, Friedrich Leßner. George Milner. Charles Murray. Rühl. William Townsend. John Weston. Johann Georg Eccarius, Generalsekretär.

256 High Holborn London W C., den 3. Mai 1870.

* sich die Gewalt anmaßen ** existenzberechtigte

 

Beschluß des Generalraths der Internationalen Arbeiterassociation bezüglich des „Beehive“. ***

In Erwägung,

  1. daß die internationalen Sektionen des Continents und der Vereinigten Staaten von Nordamerika vom Generalrath der Internationalen Arbeiterassociationen zum Abonnement auf den „Beehive“ als offizielles Organ des Generalraths und Repräsentanten der Arbeiterbewegung in der englischen Presse aufgefordert werden;
  2. daß der „Beehive“ nicht nur aus den offiziellen Berichten des Generalraths seinen Gönnern mißliebige Beschlüsse ausmerzt, sondern auch durch Unterschlagung von Sinn und Inhalt eine Reihe von Sitzungen des Generalraths verfälscht hat;
  3. daß der „Beehive“ namentlich seit dem neuerlichen Wechsel, fortfährt, sich für das ausschließliche Organ der englischen Arbeiterklasse auszugeben, während er in der That in das Organ einer Kapitalistenfraction verwandelt ist, welcher die proletarische Bewegung zu lenken und in ihren eigenen Klassen – und Partei = Interessen auszubreiten sucht; hat der Generalrath der Internationalen Arbeiter Association in einer Sitzung vom 26. April 1870 einstimmig beschlossen; jede Verbindung mit dem „Beehive“ abzubrechen und diesen seinen Beschluß den Sektionen in England, in den Vereinigten Staaten und auf den Kontinent öffentlich anzuzeigen.

Im Auftrag des Generalraths der Internationalen Arbeiter Association:

Karl Marx, Sekretär des Generalraths für Deutschland. London, den 3. Mai 1870

*** auf Deutsch „Bienenstock“, ein in London erscheinendes Wochenblatt, das durch den Beschluß des Generalraths genügen charakterisirt wird.

                                                            Politische Uebersicht

Da die französische Polizei bei Anfertigung und Bedeutung der Plebiscitkomplotte eine wahrhaft polizeiwidrige Ungeschicklichkeit an den Tag legt, so hat Graf Bismarck die alten Praktikusse Stieber und Hentze „zur Aushülfe“ nach Paris geschickt, um den Pariser Collegen ihre Erfahrungen im Fach Verschwörungsfraction zur Verfügung zu stellen. Möglich, daß Bonaparte, gerührt durch diese Aufmerksamkeit des „großen Staatsmanns“ sich der Schäferstunden von Biarritz erinnert. (...)

 

                                                                                                          154

Der deutsche Bauernkrieg. III (Fortsetzung)

Ungefähr fünfzig Jahre nach der Unterdrückung der hussitischen Bewegung zeigten sich die ersten Symptome des aufkeimenden revolutionären Geistes unter den deutschen Bauern.

Im Bisthum Würzburg, einem durch die Hussitenkriege, durch schlechte Regierung, durch vielfältige Steuern, Abgaben, Fehde, Feindschaft, Krieg, Brand, Mord, Gefängnis und dergleichen schon früher verarmten und fortwährend von Bischöfen, Pfaffen und Adel schamlos ausgeplünderten Lande entstand 1476 die erste Bauernverschwörung. Ein junger Hirte und Musikant, Hans Böheim von Niklashausen auch Pauker und Pfeiferhänslein genannt, trat plötzlich im Taubergrund auf. Er erzählte, die Jungfrau Maria sei ihm erschienen; sie habe ihm geboten, seine Pauke zu verbrennen, dem Tanz und den sündigen Wollüsten nicht länger zu dienen, sondern das Volk zur Buße zu ermahnen. (...)

Wir übergehen den holländischen Bauernaufstand von 1491 und 92, der erst von durch Herzog Albrecht von Sachsen in der Schlacht bei Heemskerk unterdrückt wurde, den gleichzeitigen Aufstand der Bauern der Abtei Kempten in Oberschwaben, und den friesischen Aufstand unter Syaard Aylava um 1497 der ebenfalls durch Albrecht von Sachsen. Diese Aufstände liegen theils weit vom Schauplatz des eigentlichen Bauernkriegs entfernt, theils sind sie Kämpfe bisher freier Bauern gegen den Versuch, ihnen den Feudalismus aufzudrängen. Wir gehen gleich über zu den beiden großen Verschwörungen die den Bauernkrieg vorbereiteten: dem Bundschuh und dem Armen Konrad.

Dieselbe Theuerung, die in den Niederlanden den Aufstand der Bauern hervorgerufen hatte, brachte 1493 im Elsaß einen geheimen Bund von Bauern und Plebejern zu Stande, bei dem sich auch Leute von der bloß bürgerlichen Oppositionspartei betheiligten und mit dem sogar ein Theil des niederen Adels mehr oder weniger sympathisirte. Der Sitz des Bundes war die Gegend von Schletstadt, Sulz, Dembach, Roßheim, Scherweiler etc. Die Verschworenen verlangten Plünderung und Ausrottung der Juden, deren Wucher damals schon, so gut wie noch jetzt, die Elsässer Bauern aussog, Einführung eines Jubeljahres, mit dem alle Schulden verjähren sollten, Aufhebung des Zolls, Umgelds, und anderen Lasten, Abschaffung des und rottweischen (Reichs =) Gerichts, Steuerbewilligungsrecht, Beschränkung der Pfaffen auf je eine Pfründe von 50 – 60 Gulden, Abschaffung der Ohrenbeichte und eigene selbst gewählte Gerichte für jede Gemeinde. Der Plan der Verschworenen war, sobald man stark genug sei, das feste Schletstadt zu überrumpeln, die Klöster = und Stadtkassen mit Beschlag belegen und von hieraus das ganze Elsaß zu insurgiren. * Die Bundesfahne, die im Moment der Erhebung entfaltet werden sollte, enthielt einen Bundschuh, der von nun an den Bauernverschwörungen der nächsten zwanzig Jahre Symbol und Namen gab.

*

N° 39.                                          Sonnabend, den 14. Mai                                                1870

Der deutsche Bauernkrieg. (Fortsetzung)

1502 zeigten sich im Bisthum Speyer, das damals auch die Gegend von Bruchsal umfaßte, Zeichen einer geheimen Bewegung unter den Bauern. Der Bundschuh hatte sich hier wirklich mit bedeutendem Erfolg reorganisirt. An 7000 Männer waren in der Verbindung, deren Centrum zu Untergrombach, zwischen Bruchsal und Weingarten, war und deren Verzweigungen sich den Rhein hinab bis an den Main, hinauf bis über die Markgrafschaft Baden erstreckten. Ihre Artikel enthielten: Es soll kein Zins noch Zehnt, Steuer oder Zoll mehr an Fürsten, Adel und Paffen gezahlt werden; die Leibeigenschaft solle abgetan sein; die Klöster und sonstigen geistigen Güter eingezogen und unter das Volk vertheilt, und kein anderer Herr mehr anerkannt werden als der Kaiser. (...)

 

Beilage zum „Volksstaat“ 1870, Nr. 39.

Die soziale Revolution. III

 

                                                                                                155

Nachdem die Arbeiterpartei ihre Stellung zur Kapitalistenklasse erkennt, unterscheidet sie zwischen der bürgerlichen Demokratie, welche ihren Feind nur noch in den Resten der feudalen aber wieder restaurirten Kriegsherrn erkennt, und der sozialen Demokratie, welche gleichzeitig gegen jenen Feind und Kapitalistenherrschaft gekehrt ist. Aber die Unterscheidung kam erst zum Vorschein, nachdem der erste Revolutionsakt und dies feudale Eigenthum vernichtet und dem bürgerlichen Eigenthum gestattet hatte, sich zur Kapitalherrschaft zu entwickeln.

Die Umwandlung des feudalen Eigenthums in bürgerliches war allerdings kein blos französischer Revolutionsakt, sondern ein allgemein ökonomischer Prozeß, der Jahrhunderte der Jahrhunderte gedauert hat; aber nur in Frankreich ist dieser Prozeß auf revolutionärem Wege in radikaler Weise zum Abschluß gelangt. (…)

 

N° 40.                                              Mittwoch, den 18. Mai                                                1870

Aus Amerika                                                                                New York, 21. April 1870

Brasilien, dieser verkommene Sklaven – und Pfaffenstaat, hat über die Republik Paraguay, über den heldenmüthigen Lopez gesiegt. Mit welchem Blutmahl dieser Sieg bezeichnet worden ist, wird Ihnen bei Ankunft dieses Briefes schon bekannt sein. Ob es aber Brasilien gelingen wird, trotz Vertilgung seines erbitterten Gegners, die Oberherrschaft über die südamerikanischen Republiken erreichen, was stets in seinem Plane gelegen hat, darf stark bezweifelt werden. (...)

 

Der deutsche Bauernkrieg (Fortsetzung)

Gleichzeitig mit dem Bundschuh in Baden und offenbar in direkter Verbindung mit ihm hatte sich in Württemberg eine zweite Verschwörung gebildet. Sie bestand urkundlich schon seit 1503, und da der Name Bundschuh seit Sprengung der Untergrombacher zu gefährlich wurde, nahm sie den Namen des armen Konrad an.

 

N° 41.                                            Sonnabend, den 21. Mai                                               1870

Der deutsche Bauernkrieg (Fortsetzung)

In demselben Jahr 1514, ebenfalls im Frühjahr, kam in Ungarn ein allgemeiner Bauernkrieg zu Ausbruch. Es wurde ein Kreuzzug wider die Türken gepredigt und wie gewöhnlich den Leibeigenen und Hörigen, die sich anschlossen, die Freiheit zugesagt. Gegen 60,000 kamen zusammen und wurden unter dem Kommando Georg Dosa’s eines Szeklers gestellt, der sich in früheren Türkenkriegen ausgezeichnet und den Adel erworben hatte. Aber die ungarischen Ritter und Magnaten sahen nur ungern diesen Kreuzzug, der ihnen ihr Eigenthum, ihre Knechte zu entziehen drohte. Sie eilten den einzelnen Bauernhaufen nach, und holten ihre Leibeigenen mit Gewalt zurück. Als dies im Kreuzheer bekannt wurde, brach die Wuth der unterdrückten Bauern los. Zwei der eifrigsten Kreuzprediger, Laurentius und Barabas, stachelten den Haß gegen den Adel im Heer durch ihre revolutionären Reden noch heftiger an. Dosa selbst theilte den Zorn seiner Truppen gegen den verrätherischen Adel; das Kreuzheer wurde zur Revolutionsarmee, und stellte sich an die Spitze dieser neuen Bewegung. (...)

 

N° 42.                                           Mittwoch, den 25. Mai                                                 1870

Bekanntmachung des Generalraths der Internationalen Arbeiterassoziation.

In Erwägung, daß der Baseler Kongreß Paris zum Sitz des diesjährigen Kongresses der Internationalen Arbeiterassoziation bestimmt hat; daß der Fortdauer der gegenwärtigen

 

                                                                                     156

Wirthschaft in Frankreich der Kongreß nicht in Paris tagen kann; daß jedoch die Vorbereitungen für den Kongress eine sofortige nöthig machen; das Artikel 3 der Statuten den Generalrath verpflichtet „im Nothfall den vom Kongreß vorherbestimmten Platz der Zusammenkunft zu verlegen“; daß deutsche Mitglieder der Internationalen Arbeiterassoziation den Generalrath eingeladen haben, den diesjährigen Kongreß in Deutschland abzuhalten; hat der Generalrath in seiner Sitzung vom 17. Mai einstimmig beschlossen, den diesjährigen Kongreß nach Mainz zu berufen und dort am 5. September 1870 zu eröffnen.

Im Auftrag und im Namen des Generalraths der Internationalen Arbeiterassoziation:

Karl Marx, Sekretär des Generalraths für Deutschland, London 18. Mai 1870.

 

 

Aus Amerika (Schluß)

 „Die Indianer sind „gleichsam die Mündel der Nation“, sagte Grant* in seiner Jahresbotschaft und wollte sie mit Schonung behandelt wissen. Im vorigen Monat hat man 160 Piegan = Indianer, meistens Frauen, Kinder und Kranke, in der strengsten Winterkälte und während unter ihnen die Blattern wütheten, von einer Schwadron Dragoner niedermetzeln lassen. Die Presse hat sich wochenlang mit dieser christlichen Heldenthat beschäftigt und sie je nach dem Parteistandpunkte beschönigt oder verurtheilt. Sie zu vertheidigen hatten nur wenige die Stirn. Den besten Erklärungsgrund dieses grausamen Verfahrens giebt der Beschluß der Legislatur von Kansas, den Kongreß zu ersuchen, alle Indianer aus Kansas zu entfernen. Vertilgen will man sie, welche keinen brauchbaren Ausbeutungsgegenstand der Bourgeoisie bilden. – Welch herrliche Aussichten für die Arbeiter! Wenn wir einstmals mit Entschlossenheit die Ausbeutung ganz abschaffen wollen, werden uns die amerikanischen Republikaner ebenso mit Kugeln traktiren, wie die europäischen Monarchisten. (...)

 

N° 46.                                             Mittwoch, den 8. Juni                                                  1870  

Der deutsche Bauernkrieg (Fortsetzung)

So standen Anfang März in sechs Lagern, an 30 bis 40,000 insurgirte oberschwäbische Bauern unter den Waffen. Der Charakter dieser Bauernhaufen war gemischt. Die revolutionäre – Münzern‘ sche – Partei war überall in der Minorität. Trotzdem bildete sie überall den Kern und Halt der Bauernlager. (...)

 

N° 53.                                             Sonnabend, den 2. Juli                                                1870

Politische Uebersicht

Militärstaat und Intelligenzstaat.

Für das Militär wurde vor 15. Jahren in Preußen per Kopf 1 ½  Thlr. Bezahlt, heute fallen auf jeden Kopf 2 ½ Thlr. und sind die Bewohner der übrigen Nordbundstaaten in gleichem Maße belastet. Für das Unterrichtswesen kam in Preußen vor 15 Jahren auf jeden Kopf 6 ½ Groschen, heute 7 ½ Groschen. Die „Intelligenz“ wird also in Preußen genau zehnmal so niedrig geschätzt als das Militärwesen, und während die Ausgaben per Kopf für das „herrliche Kriegsheer“ in den letzten 15 Jahren um 75 Prozent vermehrt worden sind, hat man die Ausgaben für den Volksunterricht in der gleichen Zeitperiode nur um 16 Prozent gesteigert. In allen europäischen Staaten besteht ein Mißverhältnis in den Ausgaben für das Militär und die öffentliche Erziehung; in keinem deutschen Staat aber ist das Mißverhältnis so groß wie in Preußen. (...)

 

N° 54.                                                Mittwoch, den 6. Juli                                              1870

 

                                                                                                157

Politische Uebersicht

Wohin wir blicken Krieg gegen die Arbeiter: Krieg auf der Straße, Krieg im Gerichtssaal, Krieg durch die Coaltion der Kapitalisten. In Beviers (Belgien) Arbeiter von der Polizei überfallen und nieder gehauen, weil sie gegen den Moloch des Militärstaates protestirten; in Hamburg und Coerk (Irland) scheußliche Menschenjagden auf streikende Arbeiter; in Paris Prozeß gegen die Mitglieder der Internationalen Arbeiterassoziationen; in Wien Prozeß gegen die Wortführer der Sozialdemokratie; in Magdeburg und Bremen streikende Arbeiter verhaftet; in Genf große Verschwörung der Meister, die jeden Vermittlungsversuch zurückgewiesen haben, und ihre ausgesperrten Arbeiter durch Hunger unterwerfen wollen. (...)

 

N° 55.                                               Sonnabend, den 9. Juli                                              1870

Ihr alle wißt aus unseren Organen, in welch bedrängter Lage sich unsere Brüder in Genf befinden. Ihrer 5000 sind von der Arbeit ausgeschlossen, 12,000 Menschen müssen in Folge dessen Hunger und Entbehrungen erdulden. (...)

 

Politische Uebersicht.

Daß in preußischen Gefängnissen die Prügelordnung zu Recht besteht und gehandhabt wird ist bekannt. Neu aber ist, daß – wie die „Zukunft“ vom 6. d. M. berichtet – ein des Diebstahls verdächtigtes, schließlich aber für unschuldiges Mädchen wiederholt geschlagen und wundgeprügelt wurde, um ihr während der Untersuchungshaft ein Geständnis abzupressen. Also die mittelalterliche Tortur in wahrer Gestalt. (...)

 

N° 56.                                          Mittwoch, den 13. Juli                                                    1870

Politische Uebersicht.

Wenn man den Bewohnern Europa’s Mann für Mann die Frage vorlegte: habt ihr lieber Krieg oder Frieden? So würde unzweifelhaft die ungeheure Mehrheit, daß heißt Alle mit Ausnahme eines Dutzend landhungriger Fürsten, einige hundert politischer Industrieritter (Staatsmänner, Diplomaten etc.) und einige Dutzend avancelüstiger Offiziere antworten: Natürlich Friede – wie kann man so verrückt fragen?

Unglücklicher Weise wird den Völkern diese Frage aber nicht vorgelegt, werden die Völker heutzutage überhaupt nicht gefragt, außer mit der Plebiszitpistole auf der Brust: ja oder - ! (...)

 

Das Frankreich des Bonaparte hat dem Preußen des Bismarck die Kriegsfrage gestellt, und wenn letzteres sich nicht zu einem schimpflichen Rückzug entschließt ist der Krieg unvermeidlich.

Wie das gekommen?

Nichts einfacher. Der Anlaß ist höchst gleichgültig – ein preußischer Leutnant aus dem Geschlecht derer von Hohenzollern, der nach dem Beispiel des älteren Bruders (Carlo von Hohenzollern) einige Wochen lang ein Krönchen zu tragen Lust hat, und zwar das der frommen Messaline Isabella vom Kopf geschlagene – Ursache, nicht so gleichgültig für uns, aus der Pandorabüchse des Jahres 1866 hervorgeflogen – die schmachvolle Ohnmacht des dreigeteilten zerrissenen, dem Spott und den Ränken des Auslandes überlieferten Deutschland. Seit Graf Bismarck der „große Staatsmann“ mit dem „deutschen Herzen“ den Verabredungen von Biarritz gemäß die „Deutsche Frage“ der Entscheidung Bonapartes überliefert hat, ist Deutschland das Versuchsfeld der Napoleonischen Verlegenheitspolitik. So oft Napoleon die Revolution im Nacken fühlt, sucht er sich durch eine Aktion auf Kosten Deutschlands zu retten. Trotz, oder richtiger in Folge Sadowa’s mußte Preußen ihm 1867

 

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Luxemburg opfern; und 1868 entging es bloß durch den Ausbruch der Spanischen Revolution einem Krieg mit Frankreich, was Graf Bismarck bekanntlich selbst zugestanden hat. Aus dieser Spanischen Revolution ist nun die neueste Kriegsgefahr entsprungen. General Prim, seit einem Jahr auf Königsjagd, fand endlich, nach dem er von allen fürstlichen Familien Körbe bekommen, im Hause der Hohenzollern einen Prinzen, der bereit war, den schmutzigen und wurmstichigen Thron zu besteigen. Die Unterhandlungen wurden sehr geheim geführt, König Wilhelm von Preußen billigte die Candidatur, und – kaum hatte er dies gethan, so erhob sich plötzlich in Paris ein Zetermordio, die französischen Minister erklärten durch einen Zufall – eine abgefangene Depesche – hätten sie Kenntnis von der „Intrige“ gehabt, Frankreich werde nie dulden, daß ein preußischer Prinz den Spanischen Thron besteige, eine solche Verletzung der Französischen Ehre und der Französischen Interessen werde sie den Krieg vorziehen.

So stehen die Dinge, Bonaparte kann nicht zurück.

Ueber die obschwebende Entwicklung giebt es beiläufig zwei Lesarten. Die eine, Graf Bismarck, der fabelhafte Schlaukopf, habe in einer seiner schlaflosen Nächte die Hohenzollern’sche Candidatur ausgetüfftelt, mit Prim und Serrano Alles abgemacht und den Französischen Kaiser – der Schüler den Lehrer – aufs Eleganteste überlistet. Nach der anderen Lesart hätte Bonaparte dem Marschall Prim, der in ständiger Geldklemme steckt, eine Million Franken gegeben, damit dieser die preußischen Staatsmänner mit der Hohenzollern Candidatur auf’s Eis locke; der Köder habe auch wirklich verfangen, und sobald man in Berlin angebissen, sei in Paris eine Depesche „abgefangen“ und der jetzige Höllenspektakel arrangirt worden.

Die Urheber der ersten Version sind natürlich der Ansicht Bonaparte werde mit Leichtigkeit zu Paaren getrieben werden. Die Urheber der anderen Version dagegen meinen, Graf Bismarck werde die Diskretion den besseren Theil des Muths sein lassen, und um jeden Preis einen Krieg vermeiden, so daß Bonaparte für die an Prim bezahlte Million eine prächtige „Revanche für Sadowa“ hätte – das Prestige eines gewonnenen Felszugs, ohne Blutstropfen. Welche Lesart die richtige ist, ob eine von beiden überhaupt richtig – wissen wir nicht. Dies aber wissen wir, daß es unsere Aufgabe ist, mit aller Energie auf die Beseitigung von Zuständen hinzuwirken, die es einem beliebigen Bonaparte oder Bismarck möglich machen, den Weltfrieden zu stören, und nach Laune Hunderttausende von Menschen in den Tod, Millionen ins Elend zu stürzen. –

 

N° 57.                                            Sonnabend, den 17. Juli                                               1870

An die Parteigenossen!

Während unser Kongress in Stuttgart es den Parteigenossen zur Pflicht macht, gegebenen Falls die Candidaten anderer Fraktionen der Arbeiterpartei, also auch des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, zu unterstützen, hat dessen Präsident Hr. v. Schweitzer in Hannover durch seinen Vorstand beschließen lassen, daß seine Anhänger eher einen Liberalen ihre Stimme geben lassen, als einem Candidaten unserer Partei. (...)

 

Politische Uebersicht.

„Der Muthige weicht zurück“ – vor dem Stärkeren. Die Hohenzollern = Kandidatur ist gegenüber der drohenden Haltung Bonaparte’s zurückgezogen worden; es bleibst Friede, und der großmächtige Nordbund, der Deutschland Achtung im Ausland verschaffen sollte, hat mit derselben Demuth wie Weiland in der Luxemburger Affäre vor dem Französischen Kaiserreich die Segel gestrichen.

 

N° 58.                                             Mittwoch, den 20. Juli                                                 1870

 

                                                                                                   159

Politische Uebersicht

Als unsere vorige Nummer schon unter der Presse war, traf folgendes Telegramm ein: „Ems, 13. Juli. Nachmittags. Nachdem die Nachrichten von der Entsagung des Erbprinzen von Hohenzollern der kaiserlich französischen Regierung von der königlich spanischen amtlich mitgetheilt worden sind, hat der Botschafter in Ems an den König noch die Forderung gestellt, ihn zu autorisiren, daß er nach Paris telegraphire, daß der König sich für alle Zukunft verpflichte, niemals wieder seine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf die Kandidatur wieder zurückkommen sollen. Der König hat es darauf abgelehnt, den französischen Botschafter nochmals zu empfangen und demselben durch den Adjudanten vom Dienst sagen lasssen, daß es Se. Majestät dem Botschafter nichts weiter mitzutheilen habe“. (...)

Anfangs erhoben sich Zweifel gegen die Aechtheit des Telegramms, allein dieselben verschwanden bald, und es stand nun unumstößlich fest, Bonaparte wollte den Krieg. (...)

Nach der beiläufig durchaus nicht ritterlichen Abfertigung des französischen Gesandten durch den König von Preußen folgte 2 Tage später die Kriegserklärung Bonapartes;s an Preußen. (...)

In der französischen Kammersitzung vom 15. ds. verlaß Ollivier folgende „Auseinandersetzung“ (Exposé): (...) Der größte Theil der auswärtigen Mächte bewundert mit mehr oder weniger Wärme die Gerechtigkeit unserer Beschwerden. (...)

(...) Wir wandten uns hierauf an den König selbst. Der König, obwohl er zugestand, daß er den Prinzen von Hohenzollern zur Annahme der Kandidatur ermächtigt habe, behauptete jedoch, daß er den Verhandlungen zwischen den Hohenzollern und Spanien fremd geblieben sei, daß er als Chef der Familie, nicht aber als Souverän gehandelt habe; er gestand jedoch zu, daß er es dem Grafen Bismarck mitgetheilt habe. Wir konnten diese Antwort nicht als befriedigend annehmen; wir konnten diese subtile Unterscheidung zwischen Familienoberhaupt und Souverän nicht gelten lassen. Inzwischen empfingen wir vom spanischen Gesandten die Nachricht von der Verzichtleistung der Hohenzollern. Während wir die Angelegenheit mit Preußen verhandelten, kam uns die Verzichtleistung des Prinzen Leopold von einer Seite, wo wir sie nicht mehr erwarteten, und wurde uns dies ihr am 12. Juli durch den spanischen Botschafter überreicht.

Wir verlangten, daß der König sich dieser Verzichtleistung anschließe, wenn die Krone neuerlich den Hohenzollern angeboten würde, die Genehmigung zur Annahme derselben versagen. Unsere Forderung war eine gemäßigte und in ebenfalls gemäßigten Ausdrücken formulirt. (...)

Der König weigerte sich, die von uns geforderte Verpflichtung einzugehen und er erklärte Benedetti, er wolle sich für diesen Fall, sowie für jeden anderen Fall die „Freiheit" vorbehalten, die Verhältnisse zu Rathe ziehen. (...)

Die Kritik dieses Aktenstücks überlassen wir den Mitgliedern des Berliner Preßbüros.

Also Krieg! (...)

Zur Schöpfung des Jahres 1866 bleibt unsere Stellung unverrückt dieselbe, die sie immer war. Wir verlieren nicht aus den Augen, daß der Krieg von 1870 die nothwendige Frucht des Krieges von 1866 ist. Wir verlieren nicht aus den Augen, daß Bismarck und Bonaparte 1866 Verbündete waren, und das Boanparte heut nicht hätte angreifen können, wenn Deutschland damals nicht von Preußen zerrissen worden wäre. Wir verwahren uns auf das entschiedenste dagegen, daß dieser Krieg ein deutscher genannt werde. Dank dem Jahre 1866 kam nur ein Theil in den Kampf eintreten, und ist nicht einmal gewiß, ob nicht wiederum Deutsche gegen Deutsche kämpfen werden. Aber jetzt gilt die Beseitigung Bonaparte’s. Erst die Abrechnung mit dem Französischen Staatsstreich, dann mit dem Deutschen.

 

                                                                                                        160

Und noch Eins! Was immer auch die nächste Zukunft bringen möge – inmitten des Waffengetöses und der brandenden Leidenschaften wollen wir keinen Moment des hehren Wahlspruchs der Internationalen Arbeiterassoziation vergessen:

Proletarier aller Länder vereinigt Euch!

 

N° 59                                          Sonnabend, den 23. Juli                                                  1870

Politische Uebersicht

Inmitten der preußenfressenden und franzosenfressenden – inmitten der beiderseitigen Kriegshetzereien, welche der heutigen Scheinkultur den Stempel aufdrücken, giebt uns die Devise der Internationalen Arbeiterassoziation: „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“

Mag auch eine der kriegführenden Monarchen weniger Schuld daran sein, als die andere; mag auch Preußen ( und in zweiter Linie das damit verbündete Deutschland) wirklich der ungerechtfertigt und gekränkte Theil sein, - uns kann der Krieg doch keine Sympathien abringen. Denn erstens wissen wir, daß solche Kriege unvermeidlich sind, solange es überhaupt stehende Heere und Monarchen giebt, welche über Krieg und Frieden allein zu entscheiden haben, und zweitens wissen wir, daß der Krieg nicht für unser Interesse, sondern für die dynastischen geführt wird. (...)

 

N° 60.                                              Mittwoch, den 27. Juli                                                1870 

Politische Uebersicht.

Die „Thronrede“, mit welcher der König von Preußen am Dienstag die dreitägige außerordentliche Reichstagssession eröffnete, lautet wie folgt:

„Als Ich Sie bei Ihrem letzten Zusammentreten an dieser Stelle im Namen der verbündeten Regierungen willkommen hieß, durfte Ich es mit freudigem Dank bezeugen, daß meinem aufrichtigen Streben, den Wünschen der Völker und den Bedürfnissen der Civilisation durch Verhütung jeder Störung des Friedens zu entsprechen, der Erfolg unter Gottes Beistand nicht gefehlt habe. (...)

Die spanische Throncandidatur eines deutschen Prinzen, deren Aufstellung und Beseitigung die verbündeten Regierungen gleich fern standen, und die für den Norddeutschen Bund nur insofern von Interesse war, als die Regierung jener und befreundeten Nation die Hoffnung zu knüpfen schien, einem vielgeprüften Lande die Bürgschaften einer geordneten und friedliebenden Regierung zu gewinnen, hat dem Gouvernement des Kaisers der Franzosen den Vorwand geboten, in einer dem diplomatischen Verkehr seit langem unbekannter Weise den Kriegsfall zu stellen, und denselben auch nach Beseitigung jenes Vorwandes, mit jener Geringschätzung des Anrechtes der Völker auf die Segnungen des Friedens festzuhalten, von welcher die Geschichte früherer Beherrscher Frankreichs* analoge Beispiele gegeben hat. (...)

Das deutsche und das französische Volk, beide die Segnungen christlicher Gesittung und steigenden Wohlstandes gleichmäßig genießend und begehrend, sind zu einem heilsameren Wettkampfe berufen, als zu den blutigen der Waffen. Doch die Machthaber Frankreichs haben es verstanden, das wohlberechtigte aber reizbare Selbstgefühl unseres großen Nachbarvolkes durch berechnete Mißleitung für persönliche Interessen und Leidenschaften auszubeuten. (...)

Wir werden nach dem Beispiele unserer Väter für unsere Freiheit und für unser Recht gegen die Gewaltthat fremder Eroberer kämpfen und in diesem Kampf, in dem wir kein anderes Ziel verfolgen, als den Frieden Europas dauernd zu sichern, wird Gott mit uns sein, wie er mit unseren Vätern war!“

* bloß Frankreich?

Wir haben dieses Aktenstück gegen unsere sonstige Gewohnheit, seinen vollen Wortlaut nach mitgetheilt, weil es durch den ruhigen fast bescheidenen Ton den Ernst der in den  

 

                                                                                              161

maaßgbenden Kreisen herrschenden Stimmung verräth, und durch die vorsichtige Trennung des französischen Volkes von der französischen Regierung der gottesgnadlichen Lehre vom Unterthanentum einen eben so derben Fußtritt giebt als den toll gewordenen nationalliberalen Biedermännern, die schon von der Theilung Frankreichs faseln, und bloß darüber noch nicht im Reinen sind, ob man das Elsaß und Lothringen zurücknehmen, oder sich mit dem Elsaß begnügen soll. (...)

Erwähnt sei bei dieser Gelegenheit noch, daß der König von Preußen in Antwort auf eine Adresse der Berliner Kaufmannschaft erklärte: diesmal werden wir nicht so leichten Kaufs davonkommen wie 1866; daß die amtliche „Provinzialkorrespondenz“ sagt, „es sei wohl möglich, daß die Franzosen ihren augenblicklichen Vortheil an vorläufigen wohlfeilen Erfolgen auszubeuten versuchen, und ferner, daß Graf Bismarck, als er im Reichstag die französische Kriegserklärung verlas, vor Erregung kaum sprechen konnte.

An einen ungünstigen Ausgang des Krieges denkt man wohl kaum mehr, seitdem sich herausgestellt hat, daß trotz des Jahres 1866 Süddeutschland zu Preußen steht, und die österreichische Regierung nicht gesonnen scheint, für Bonaparte Partei zu ergreifen. Aber gerade darin liegt die ärgste Verurtheilung der 1866er Politik. Hätten die süddeutschen Staaten, die durch den Frieden von Nikolsburg zu einer kläglichen Sonderexistenz verdammt worden sind, hätte Oesterreich, daß durch diesen Frieden „aus Deutschland herausgeworfen“ wurde, an Rache gedacht, sich nach dem 1866 von Preußen gegebenen Beispiel mit dem Ausland gegen die „deutschen Brüder“ verbündet – wie stünde es dann um die Chancen des Siegs?

Und der Sieg – wenn nun die Niederlage Bonaparte’s die Revolution in Frankreich zur Folge hätte? - -

Wir wundern uns nicht über die ernste Stimmung, die uns aus der Preußischen Thronrede entgegentritt!

Begreiflicherweise denkt man in Berlin an Mittel und Wege zur Beseitigung der Hauptgefahr, und soll man das Recept der Errichtung eines Orleans – Throns verfallen sein. Der Plan ist so übel nicht. Die Orleans haben Anhang  in Frankreich, besonders unter der Bourgeoisie; ein Theil der höchsten Staatsbeamten ist offenkundig orleanistisch gesinnt, selbst im jetzigen Ministeriums Bonaparte’s sitzen notorische Orleanisten; auch die englische Regierung wünscht eine Orleans = Dynastie – aber dem französischen Volk sind die Orleans verhaßt, die Sympathien, deren sie im Ausland genießen, sind nur geeignet, den Haß noch zu steigern, und wir zweifeln deshalb keinen Augenblick, daß es unseren Parteigenossen in Frankreich gelingen wird, dieses Intrigenspiel zu vereiteln. Eine Viertelmillion Sozialdemokraten in Paris – die Bürgschaft genügt uns. (...)

 

N° 61.                                            Sonnabend, den 30. Juli                                               1870 

 „Die Regierung Sr. Majestät des Kaisers der Franzosen, indem sie den Plan, einen preußischen Prinzen auf den Thron von Spanien zu erheben, nur als ein gegen die territoriale Sicherheit Frankreichs gerichtetes Unternehmen betrachten kann, hat sich in die Nothwendigkeit versetzt gefunden, von Sr. Majestät dem Könige von Preußen, die Versicherung zu verlangen, daß eine solche Kombination sich nicht mit seiner Zustimmung verwirklichen könnte. – Da Sr. Majestät der König von Preußen sich geweigert, diese Zustimmung zu ertheilen, und im Gegentheile dem Botschafter Sr. Majestät dem Kaiser der Franzosen bezeugt hat, daß er für diese Eventualität, wie für jede andere, die  Möglichkeit vorzubehalten gedenke, die Umstände zu Rathe zu ziehen, so hat die kaiserliche Regierung in dieser Erklärung des Königs einen Frankreich eben so wie das allgemeine europäische Gleichgewicht bedrohenden Hintergedanken erblicken müssen. Diese Erklärung ist noch verschlimmert worden durch die den Kabinetten zugegangene Anzeige von der Weigerung, den Botschafter des Kaisers zu empfangen und auf eine neue Auseinandersetzung mit ihm

 

                                                                                           162

einzugehen. – Infolge dessen hat die Regierung Grund zu haben geglaubt unverzüglich für die Vertheidigung ihrer Ehre(!!!) und ihrer verletzten Interessen zu sorgen, und entschlossen zu diesem Endzweck alle die durch die geschlossene Lage gebotenen Maßregeln zu ergreifen, betrachtet sie sich von jetzt an als im Kriegszustande mit Preußen.“

 

An das Französische Volk hat Bonaparte nachstehendes Manifest erlassen:

„Es gibt im Leben der Völker feierliche Augenblicke, wo die Ehre der Nation, gewaltsam erregt, sich als eine unwiderstehliche Macht erhebt, wo sie alle anderen Interessen beherrscht und allein und unmittelbar die Geschicke des Vaterlandes in die Hand nimmt. (...)

„Die glorreiche Fahne, welche wir wieder einmal denen gegenüber entfalten, die uns herausfordern, ist dieselbe, welche durch ganz Europa die civilisatorischen Ideen unser großen Revolution trug, sie repräsentiren dieselben Ideen, sie wird dieselben Gefühle der Hingebung. – (...)

(...) Es bleibt uns nur übrig, unsere Geschicke der Entscheidung der Waffen anheim zu geben. Wir führen nicht Krieg gegen Deutschland, dessen Unabhängigkeit wir respektiren. Wir hegen den Wunsch, daß die Völker, aus denen sich die große einheitliche germanische Nation zusammensetzt, in freier Weise über ihre Geschicke verfügen. Was uns betrifft, so verlangen wir einen Stand der Dinge, welcher unsere Sicherheit gewährleistet und die Zukunft sichert. Wir wollen einen Frieden auf dauernder Grundlage erringen. Gott segne unsere Bemühungen. Ein großes Volk, welches eine gerechte Sache vertheidigt, ist unbesiegbar. Napoleon.“

(...)Die schamloseste der hier ausgesprochenen Lügen ist aber, daß er sich Vertreter der großen französischen Revolution nennt. Der Mann des Staatsstreiches, der Mörder der Republik Vertreter der Revolution! (...)

Aus Paris schreibt man uns: „Alle Versuche, Begeisterung für den Krieg zu erwecken, sind fruchtlos – mit Ausnahme der Dezemberbande, für welche Preußenfresserei Geschäft ist, herrscht die düstere Stimmung. Jedermann fühlt, daß wir einer Katastrophe entgegen gehen. Wehe Bonaparte, der uns jetzt vor der zivilisirten Welt schändet, wenn ihn der erste Unfall trifft. Aber eins wünsche ich: er möge in Deutschland geschlagen werden! Dann wird das Nationalgefühl das revolutionäre Urtheil nicht trüben, und das Volk hätte ein leichtes Spiel. Sollten aber die Deutschen in Frankreich eindringen, so ist zu befürchten, daß der Chauvenismus aufkommen würde, von dem wir jetzt völlig frei sind. Und das wäre ein schweres Unglück. Indeß wie dem auch sei, die französische Sozialdemokratie ist auf dem Posten, und in der Arbeitslosigkeit, die schon herrscht, und in der Hungersnoth, die uns in Folge der Mißernte bevorsteht, hat sie zwei mächtige Bundesgenossen. Komme, was da komme, die Tage des Empire sind gezählt, die deutschen Brüder sollen mit uns zufrieden sein.“

 

N° 62.                                           Mittwoch, den 3. August                                               1870

Politische Uebersicht.

Vom Kriegsschauplatz noch keine Nachrichten von Bedeutung. Eins steht aber bereits fest, an eine Überrumpelung Seitens der französischen Truppen ist nicht mehr zu denken.

„Nach allen uns zugehenden Nachrichten, so schreibt die „Frankfurter Zeitung“ stehen gegenwärtig den französischen Armeekörpern, welche längst der Grenze von Straßburg bis Thionville concentrirt sind, Dank der präcisen und raschen Eisenbahn = Operationen der jüngsten Tage, stehen auf deutscher Seite vollständig ebenbürtige Streitkräfte gegenüber. (...)

 

N° 63.                                         Sonnabend, den 7. August                                               1870

Manifest des Generalraths der Internationalen Arbeiter Assoziation.

 

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In der Inaugural = Adresse der International Arbeiterassoziation vom November 1864 sagten wir: „Wenn die Emanzipation der arbeitenden Klassen ihr brüderliches Zusammenwirken erheischt, wie sollen sie diese große Mission gegenüber einer auswärtigen Politik erfüllen, welche nationale Vorurtheile ausbeutend, frevelhafte Pläne verfolgt, und in räuberischen Kriegen des Volkes Blut und Schätze vergeudet?“ (...)

 

N° 64.                                          Mittwoch, den 10. August                                            1870

                                                        Politische Uebersicht

Nach einer am 2. August bei Saarbrücken erlittenen Schlappe haben die deutschen Truppen am 4., und 6., bei Weißenburg und Bitsch über die Mac Mahon’sche und am 6. Über das Fossard’sche Corps bei Forbach glänzende Vortheile errungen, deren strategische Bedeutung sich bei der Dürftigkeit der offiziellen Mittheilungen nicht übersehen läßt, deren moralische Wirkung auf Frankreich aber voraussichtlich eine ungeheure sein wird. Hätte das Waffenglück sich im Anfang des Feldzuges auf die Französische Seite gewandt, so wäre Bonaparte‘s Prestige wieder gefestigt worden, während wir uns jetzt, nach einer gründlichen Niederlage des kaiserlichen Heeres – das trotz des Plebiszits die einzige Stütze des Empire ist – der Hoffnung und hingeben dürfen, daß das Französische Volk unbeirrt durch nationale Vorurtheile, einen revolutionären Akt der Gerechtigkeit vollziehen wird, der Frankreich von zwanzigjähriger Schmach reinigt und für alle Culturländer Europa’s die Bahn politischer Freiheit und sozialer Emanzipation öffnet. Wir erwarten, daß die Arbeiter von Paris ihre Schuldigkeit thun. Denn in Paris muß der entscheidende Schlag fallen. (...)

 

N° 65.                                            Sonnabend, den 13. August                                          1870

                                                            Politische Uebersicht

„Wir sind jetzt schreibt die „Frankfurter Zeitung“ in der Lage, die Bedeutung der kriegerischen Vorgänge der letzten Tage zu würdigen. Die ersten Nachrichten über dieselben sind in der Zwischenzeit vervollständigt und – was in diesem Falle nicht hoch genug anzuschlagen ist – durch gegnerische Berichte controllirt und in vollstem Maaße bestätigt worden. (...)

                                                 Der deutsche Bauernkrieg (Fortsetzung)

Gleich nach Ausbruch der ersten Bewegungen in Schwaben war Thomas Münzer wieder nach Thüringen geeilt, und hatte seit Ende Februar oder Anfang März seinen Wohnsitz in der freien Reichsstadt Mühlhausen genommen, wo seine Partei am stärksten war. Er hatte die Fäden der ganzen Bewegung in der Hand; er wußte, welch allgemeiner Sturm in Süddeutschland auszubrechen im Begriff war, und  hatte es übernommen Thüringen in das Centrum der Bewegung in Norddeutschland zu verwandeln. (...)

Münzer selbst mußte, um dem richtigen Moment nicht vorzugreifen, besänftigend auftreten; doch sein Schüler Pfeifer der hier die Bewegung dirigirte, hatte sich schon so kompromitirt, das er den Ausbruch nicht zurückhalten konnte, und schon am 17. März 1525, noch vor dem allgemeinen Aufstand in Süddeutschland, machte Mühlhausen seine Revolution. Der alte patritzische Rath wurde gestürzt und die Regierung in die Hände des neu gewählten „ewigen Rathes“ gelegt, dessen Präsident Münzer war. (...)  Aber in Wirklichkeit blieb Mühlhausen eine republikanische Reichsstadt mit etwas demokratischer Verfassung, mit einem aus allgemeiner Wahl hervorgegangenen Senat, der unter der Kontrolle des Forums stand, und mit einer eilig improvisirten Naturalverpflegung der Armen. Der Gesellschaftsumsturz, der protestantischen bürgerlichen Zeitgenossen so entsetzlich vorkam, ging in der That nie hinaus über einen schwachen unbewußten Versuch zur übereilten Herstellung der späteren bürgerlichen Gesellschaft. (...)

 

                                                                                                           164

Münzer selbst scheint die weite Kluft zwischen seinen Theorien und der unmittelbaren Wirklichkeit gefühlt zu haben, eine Kluft, die ihn um so weniger verborgen bleiben konnte, je verzerrter seine genialen sich in den rohen Köpfen der Masse seiner Anhänger wiederspiegeln mußten.  (...)

Der naive jugendliche Humor der revolutionären Münzer’schen Pamphlete ist ganz verschwunden; die ruhige, entwickelte Sprache des Denkers, die ihm früher nicht fremd war, kommt nicht mehr vor. Münzer ist jetzt ganz Reformationsprophet; er schürt unaufhörlich den Haß gegen die herrschenden Klassen, er stachelt die wildesten Leidenschaften auf, und spricht nur noch in gewaltsamen Wendungen, die das religiöse und nationale Delirium den alttestamentarischen Propheten in den Mund legte. Man sieht aus dem Stil, in den er sich jetzt hinein arbeiten mußte, auf welcher Bildungsstufe das Publikum stand, auf das er zu wirken hatte.

Die Religion der Sozial = Demokratie.

Eine Kanzelrede von J. Dietzgen.

Geliebte Mitbürger! Die Tendenzen der Sozial = Demokratie enthalten den Stoff zu einer neuen Religion, welche nicht wie alle bisherigen nur mit dem Gemühte oder Herzen erfaßt werden kann, sondern zugleich auch mit profanen Gegenständen der Kopf – Arbeit unterscheidet sich die Sozial = Demokratie dadurch, daß sie in religiöser Form als eine Angelegenheit des menschlichen Herzens sich offenbart. Die Religion, ganz im Allgemeinen hat den Zweck, das bedrängte Menschenherz vom Jammer dieses irdischen Lebens zu erlösen. Sie hat das bisher nur in idealer, träumerischer Weise vermocht, durch Anweisung an einen unsichtbaren Gott, und an ein Reich, das nur von den Todten bewohnt ist. Das Evangelium der Gegenwart verspricht unser Jammerthal endlich in realer, wirklicher greifbarer Weise zu erlösen. „Gott“, das ist das Gute, Schöne, Heilige, soll Mensch werden, aus dem Himmel auf die Erde kommen, aber nicht wie einst, auf religiöse, wunderbare Art, sondern auf natürlichem Wege. Wir verlangen den Heiland, wir verlangen, daß unser Evangelium, das Wort Gottes, Fleisch werde. Doch nicht in einem Individuum, nicht in einer bestimmten Person soll es sich verkörpern, sondern wir alle wollen, das Volk will – Sohn Gottes sein. (...)

 

N° 66.                                              Mittwoch, den 17. August                                          1870

                                                             Politische Uebersicht

Der militärische Bankrott des zweiten Empire, dem sein politischer auf dem Fuß folgen muß, hat sich in einer skandalösen Geschwindigkeit vollzogen, die in der Kriegsgeschichte ohne Beispiel ist. Welch andere Widerstandskraft entwickelte vor 4 Jahren das innerlich desorganisirte, miserabel verwaltete, zum Krieg nicht vorbereitete und gleichzeitig von zwei Seiten angegriffene Oesterreich! (...)

 

Die Religion der Sozial = Demokratie. (Fortsetzung)

Eine Kanzelrede von J. Deitzgen.

Doch weg mit der Sprache in Parallelen und Gleichnissen, weg mit dieser bilderhaften Redeweise. Die Sache selbst ist groß und erhaben, daß sie keiner Mystifikation bedarf. Es handelt sich um die Erlösung des Menschengeschlechts im wahrhaftigsten Sinne des Worts. Wenn es irgend etwas Heiliges giebt – wir stehen hier vor dem Allerheiligsten. Es ist kein Fleisch, keine Bundeslade, kein Tabernakel und keine Monstranz, sondern das reale sinnliche Heil des gesamten civilisirten Menschengeschlechts. Dieses Heil oder Heiligthum ist nicht entdeckt und nicht geoffenbart, sondern erwachsen aus der angehäuften Arbeit der Geschichte.

 

                                                                                                           165

N° 67.                                          Sonnabend, den 20. August.                                          1870

Die Religion der Sozial = Demokratie. (Schluß)

Des Menschengeschlechts bisherige Noth mochte unvermeidlich sein, weil die Kraft nicht vorhanden war, sie zu lindern. Jahrtausende der Entwicklung waren erfordert, um diese Kraft großzuziehen, während die Arbeit des Volks nicht ergiebig genug war, um die Bedürfnisse zu befriedigen, mochten einzelne Klassen das Privilegium der Herrschaft sich aneignen. Noch mehr: die Entwicklung unserer Arbeitskraft, ihr Ziel, die moderne Ergiebigkeit, förderte die Herrschaft privilegirter Geschlechter, erforderte gleichsam  die Ausbeutung der Masse: Wir wollen also das Elend der Vergangenheit mit Geduld und Ergebung ohne Haß und Groll ertragen. Um so vollkommen berechtigt sind dann aber auch die sozialdemokratischen Forderungen für die Gegenwart. Das Volk verlangt nach der realen Erlösung, weil endlich die Bedingungen dazu vorhanden sind, Armuth, Hunger waren vielfach durch Mangel an Lebensmitteln verursacht. Gegenwärtig und seit Dezennien  schon ist es umgekehrt überflüssiger Reichthum, wie er sich in Geld, Handels – und Industriekrisen offenbart, der die Arbeitskraft des Volkes brach legt. (...)

 

N° 68.                                              Mittwoch, den 24. August.                                       1870

                                                             Politische Uebersicht

Durch die Schlachten des 14., 16., und 18. d. M. ist die Hauptarmee Bonaparte’s von dem Innern Frankreichs abgeschnitten und in Metz eingeschlossen worden. Darnach kann der Krieg mit dem kaiserlichen Frankreich als beendet angesehen werden. (...)

 

Der deutsche Bauernkrieg. (Fortsetzung)

Das Beispiel Mühlhausens und die Agitation Münzers wirkten rasch in die Ferne. In Thüringen, im Eichsfeld, im Harz, in den sächsischen Herzogthümern, in Hessen, in Fulda und im Vogtland standen überall die Bauern auf, zogen sich in Haufen zusammen und verbrannten Schlösser und Klöster. Münzer war mehr oder weniger als Führer der ganzen Bewegung anerkannt und Mühlhausen blieb Centralpunkt während in Erfurt eine rein bürgerliche Bewegung siegte, und die dort herrschende Partei fortwährend eine zweideutige Stellung gegen die Bauern beobachtete. (...)

Münzer stand mit den Seinen auf dem noch jetzt so genannten Schlachtberg verschanzt hinter einer Wagenburg. Die Entmuthigung unter den Haufen war schon sehr im Zunehmen. Die Fürsten versprachen Amnestie, wenn der Haufe ihnen Münzer lebendig ausliefern wolle. Münzer ließ einen Kreis bilden, und die Anträge der Fürsten debattiren. Ein Ritter und ein Pfaffe sprachen sich für die Kapitulation aus; Münzer ließ beide sofort in den Kreis führen und enthaupten. Dieser von entschlossenen Revolutionären mit Jubel aufgenommene Akt terroristischer Energie brachte wieder einigen Halt in den Haufen; aber schließlich wäre er doch zum größten Theil ohne Widerstand auseinander gegangen, wenn man nicht bemerkt hätte, daß die fürstlichen Landsknechte, nachdem sie den ganzen Berg umstellt, trotz des Stillstandes in geschlossenen Kolonnen heranrückten. (...)

Von den achttausend Bauern wurden über fünftausend erschlagen, der Rest kam nach Frankenhausen hinein, und gleichzeitig die fürstlichen Reiter. Die Stadt war genommen. (...)

Am 25. Mai ergab sich auch Mühlhausen; Pfeifer, der dort geblieben war, entkam, wurde aber im Eisenach’schen verhaftet. Münzer wurde in Gegenwart der Fürsten auf die Folter gespannt und enthauptet. Er ging mit demselben Muth zum Richtplatz mit dem er gelebt hatte. (...)

Mühlhausen mußte sich seiner Reichsfreiheit begeben und wurde den sächsischen Ländern einverleibt, gerade wie die Abtei Fulda der Landgrafschaft Hessen. (...)

 

N° 69.                                            Sonnabend, den 27. August.                                        1870

 

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                                                           Politische Uebersicht

Selbst den Königen wird’s zuviel! „Ich scheue mich nach den Verlusten zu fragen“, schrieb der König von Preußen am 19. d. vom Metzer Blutfeld an seine Gemahlin; und zwei Tage später telegraphirte er an den König von Württemberg: „Die Verluste der letzten Schlacht, wie die vorhergehenden, sind so bedeutend, daß die Siegesfreude getrübt wird.

 

N° 72.                                        Mittwoch, den 7.  September                                        1870

                                                         Politische Uebersicht

„Das Kaiserreich wird enden, wie es begann: mit einer Parodie“, hieß es in dem Manifest des Londoner Generalraths. Fünf Wochen sind seitdem verstrichen und das Kaiserreich hat geendet, hat geendet schmachvoller als mit einer Parodie, hat geendet mit einem, der gemeinsten Jahrmarktposse  entlehnten Theaterstreich grotesker Feigheit.

„Da es mir nicht vergönnt war, zu sterben, so lege ich den Degen in die Hände Sr. Majestät des Königs.“

„Da es mir nicht vergönnt war zu sterben.“ –

Fürwahr, wenn es dem Dezemberheld Ernst gewesen wäre mit dem Sterben, es fehlte ihm nicht an Gelegenheit. (...)

 

Der deutsche Bauernkrieg. (Fortsetzung)

(...) Aber schon nahte das Heer, daß den Frevelmuth, der Bauern brechen sollte. Es waren Franzosen, die hier die Restauration der Adelsherrschaft vollzogen. Der Herzog Anton von Lothringen setzte sich bereits am 6. Mai mit einer Armee von 30000 Mann in Bewegung, darunter die Blüthe des französischen Adels, und spanische, piemontesische, lombardische, griechische und albanische Hilfstruppen. Am 16. Mai stieß er bei Lügelstein auf 4000 Bauern, die er ohne Mühe schlug, und am 17. schon zwang er das von Bauern besetzte Zabern zur Kapitulation. Aber noch während des Einzugs der Lothringer in die Stadt und der Entwaffung wurde die Kapitulation gebrochen, die wehrlosen Bauern wurden von Landsknechten überfallen und nieder gemacht. (...)

 

N° 73.                                           Sonnabend, den 11. September                                    1870

                                                                     Manifest

Des Ausschusses der sozialdemokratischen Arbeiterpartei.

An alle deutschen Arbeiter!

Eine unerwartete Wendung der Dinge ist eingetreten. Napoleon ist in deutscher Gefangenschaft, in Paris ist die Republik erklärt und eine republikanische Regierung eingesetzt worden. Nach zwanzigjähriger schmachvollem Bestehen des Zweiten Kaiserreichs hat sich das französische Volk in der Stunde der größten Bedrängniß ermannt und seine Geschicke in seine Hände genommen. Es hat sich losgesagt von dem Manne, von dem es sich zwanzig Jahre hatte knechten lassen und der endlich diese Bedrängniß auf Frankreich herab beschworen. Ein Hurrah der französischen Republik. (...)

 

An das deutsche Volk!

An die Sozialdemokraten Deutschlands!

Eure Regierung hat wiederholt gesagt, daß Ihr nur Krieg führt gegen den Kaiser, nicht gegen die französische Nation.

 

                                                                                                      167

Der Mensch, welcher diesen brudermörderischen Krieg erklärt hat, der es nicht verstanden hat zu sterben, und der in Euren Händen ist, existirt nicht mehr für uns. Das republikanische Frankreich fordert Euch im Namen der Gerechtigkeit auf, Eure Armeen zurückzuziehen; wo nicht, werden wir bis auf den letzten Mann kämpfen und Euer und unser Blut in Strömen vergießen müssen.

Durch den Mund von 38 Millionen Seelen, welche von denselben patriotischen und revolutionären Gefühlen beseelt sind wiederholen wir, was wir dem coalirten Europa im Jahre 1793 erklärten: Das französische Volk schließt keinen Frieden mit einem Feinde, welcher sein Gebiet besetzt hält.

„Das französische Volk ist Freund und Bundesgenosse aller freien Völker. Es mischt sich nicht in die Regierungen anderer Nationen, duldet nicht, daß die anderen Nationen sich in seine mischen.“

Geht über den Rhein zurück!

Es lebe die allgemeine Republik!

Sozialdemokraten Deutschlands, die Ihr vor der Kriegserklärung gleich und zu Gunsten des Friedens protestirt habt! Die Sozialdemokraten Frankreichs sind sicher, daß Ihr mit ihnen an der Vertilgung des internationalen Hasses arbeitet, an der allgemeinen Entwaffunug und der allgemeinen Harmonie.

Im Namen der französischen Arbeitergesellschaften und Sektionen der Internationalen Arbeiter – Assoziation :

Beslay, Briosne, Bachruch, Camelmat, Eh. L. Chassin, Chemalé, Dupas, Hervé, Lanclerk, Leverdays, Languet, Marchand, Pararchon, Toldin, Vaillant.

N° 74.                                            Mittwoch, den 14. September.                                     1870

                                                             Politische Uebersicht

In der letzten „Thronrede“ sagte der König von Preußen: „ Das deutsche wie das französische Volk, beide die Segnungen christlicher Gesittung und steigenden Wohlstandes gleichmäßig genießend und begehrend, sind zu einem heilsameren Wettkampfe berufen, als zu dem blutigen der Waffen… Doch die Machthaber Frankreichs haben es verstanden, das wohlberechtigte aber reizbare Selbstgefühl unseres großen Nachbarvolkes durch berechnende Mißleitung für persönliche Interessen und Leidenschaften auszubeuten.“ (...)

Inzwischen hat das französische Volk den Angreifer Deutschlands vom Thron gestoßen und bietet uns die Bruderhand. (...)

Der Krieg von dem in dem doppelten Wort des Königs die Rede ist, hat mit dem 4. ds. sein Ende erreicht. Und doch setzen die deutschen Truppen ihren Marsch nach Paris fort. (...)

Man ist nicht gesonnen die Republik anzuerkennen, sondern beabsichtigt Napoleon wieder einzusetzen. Daher die königlichen Ehren, welche man dem grauen Sünder zu erzeugen fortfährt, und welche hier eine ungeheure Erbitterung erregen. (...)

 

N° 76.                                             Mittwoch, den 21. September.                                    1870

Mit dieser Ausgabe beginnt ein Satz, dick gedruckt und augenfällig, der fortlaufend in jeder Ausgabe bis N° 88. 2. November 1870 fortgesetzt wird:

Ein billiger Friede mit der französischen Republik!

Keine Annexionen!

Bestrafung Bonapartes und seiner Mitschuldigen!

 

                                                                                                 168

N° 77.                                        Sonnabend, den 24. September                                      1870

                                                           Politische Uebersicht

Die Verfolgungen unserer Partei dauern fort: Ende der vorigen Woche wurden noch Rippold in Gotha und Geib in Hamburg verhaftet, und am Diensttag traf dasselbe Schicksal Johann Jacoby in Königsberg; erstere wegen angeblicher Verbreitung des Ausschußmanifestes, Jacoby wegen seiner ebenfalls die Annexionen bekämpfenden Rede, die wir in der vorigen Nummer mitgetheilt. (...)

 

N° 78.                                           Mittwoch, den 24. September                                       1870 

                                                            Politische Uebersicht

Bismarck hat an die norddeutschen bei den neutralen Regierungen zwei Noten (unterm 13. und 16. d. M.) gerichtet, denen wir folgende Stellen entnehmen: „Wir hatten in dem Plebiszit und den darauf folgenden scheinbar befriedenden Zuständen in Frankreich die Bürgschaft des Friedens und den Ausdruck einer friedlichen Stimmung der französischen Nation zu sehen geglaubt. Die Ereignisse haben uns eines anderen belehrt, wenigstens haben sie gezeigt, wie leicht die Stimmung bei der  französischen  Nation gelegentlich umschlägt. Die der Einstimmigkeit nahe Mehrheit, der Volksvertreter, des Senates, und der Organe, der öffentlichen Meinung in der Presse haben den Eroberungskrieg gegen uns so laut und nachdrücklich gefordert, das der Muth zum Widerspruch den so isolirten Freunden des Friedens fehlte, und daß der Kaiser Napoleon Sr. Majestät keine Unwahrheit gesagt heben dürfte, wenn er noch heut behauptet, daß der Stand der öffentlichen Meinung ihn zum Kriege gezwungen habe. (...)

Wir ersehen aus Obigem:

  1. Graf Bismarck ist sehr unzufrieden mit der französischen Republik.
  2. Er wünscht die Einsetzung Bonaparte’s, fängt aber an die Möglichkeit zu bezweifeln, und
  3. Er will annektiren.

Letzteres ist natürlich ein unübersteigbares Hindernis des Friedens, und wir waren daher nicht überrascht als ein Telegramm aus Tours die Nachricht brachte, daß die Besprechung zwischen Bismarck und Jules Favre resultatlos geblieben ist. Die provisorische Regierung Frankreichs hat am 23. d. ein Manifest erlassen in dem es heißt: „Jules Favre wollte Bismarck sehen, um die Absichten der Feinde kennen zu lernen, wir wissen nun, was Preußen beabsichtigt. Es will den Krieg fortsetzen, und Frankreich zu einer Macht zweiten Macht herabsetzen. (...)

 

 

N° 82                                               Mittwoch, den 12. Oktober                                       1870

Die Lorbeeren des Pariser „Figaro“ und „Gaulois“ lassen deren deutsche Colleginnen. So schreibt z. B. die „Heidelberger Zeitung“: „Der Geist der Welten hat uns die Ruthe in die Hand gegeben, dieses gewissenlose, boshafte in der Rache, Wuth, wilde, schändliche Volk der Franzosen zu hauen, um es zu ziehen.“ – und das „Schwetzinger Wochenblatt“ steigt sich zu folgender Auslassung: „Frankreich kann eben noch nicht begreifen, daß es vom Gendarmen zum Vagabunden von Europa herabgesunken ist, dem man um der allgemeinen Sicherheit Willen diesmal die Handschellen anlegen muß.(...)

 

N° 83.                                             Sonnabend, den 15. Oktober                                      1870

                                                             Politische Uebersicht

 

                                                                                                169

Wer nicht jedes edlen Gefühls baar ist – welcher Partei er auch angehören mag – muß zugeben, daß das französische Volk in diesem Augenblick in diesem Augenblick ein großartiges Schauspiel darbietet. (...)

Vier Wochen reichten hin, das stehende Heer Frankreichs zu vernichten. Sechs Wochen des Volkskriegs haben Frankreich nicht nur ersetzt, was es unter dem Empire verloren, sie haben seine militärischen Kräfte in staunenswerther Weise gesteigert. (...)

Möglich, daß Paris überwältigt wird, möglich, daß die deutschen Truppen noch dutzende von Siegen erfechten, gewiß aber, daß weder die Wegnahme von Paris, noch dutzende von Siegen den Krieg beenden werden. Ein Volk von 40 Millionen ist im Vertheidigungskrieg unüberwindlich. (...)

 

Der deutsche Bauernkrieg. (Schluß)

Manche der wohlhabenden Mittelbauern sind freilich ruinirt, eine Menge von Hörigen in die Leibeigenschaft hineingezwungen, ganze Striche Gemeindeländereien konfizirt, eine große Anzahl von Bauern durch die Zerstörung ihrer Wohnung und die Verwüstung ihrer Felder sowie durch die allgemeine Unordnung, in die Vagabondage oder unter die Plebejer der Städte geworfen wurden. (...)

Wer an den Folgen des Bauernkrieges am meisten litt, war die Geistlichkeit. Ihre Klöster und Stifter waren verbrannt, ihre Kostbarkeiten geplündert, ins Ausland verkauft oder eingeschmolzen, ihre Vorräthe waren verzehrt worden. Sie hatte überall am wenigsten Widerstand leisten können, und zu gleicher Zeit war die ganze Wucht des Volkshasses am schwersten auf sie gefallen. Die anderen Stände, Fürsten, Adel und Bürgerschaft hatten sogar eine Freude an der Noth der verhaßten Prälaten. Der Bauernkrieg hatte die Säkularisation der geistlichen Güter zu Gunsten der Bauern populär gemacht, die weltlichen Fürsten und zum Theil die Städte gaben sich daran, diese Säkularisation zu ihrem  Besten durchzuführen, und bald waren in protestantischen Ländern die Besitzungen der Prälaten in den Händen der Fürsten oder Ehrbarkeit. (...)

Die Städte hatten im Ganzen auch keinen Vortheil vom Bauernkrieg. Die Herrschaft der Ehrbarkeit, wurde fort, überall wieder gefestigt, die Opposition der Bürgerschaft blieb für lange Zeit gebrochen. Der alte patrizische Schlendrian schleppte sich so Handel und Industrie nach allen Seiten fesselnd, bis in die französische Revolution. (...)

Daher konnten am Ende des Bauernkrieges nur die Fürsten gewonnen haben. So war es in der That. Sie gewannen nicht nur relativ, dadurch daß ihre Concurrenten , die Geistlichkeit, der Adel, die Städte, geschwächt waren; sie gewannen auch absolut, indem die spolina opuna (Hauptbeute) von allen übrigen Ständen davontrugen. (...)

Auch hier bietet sich die Analogie mit der Bewegung von 1848-50 von selbst dar. (...)

Die Revolution von 1525 war eine deutsche Lokalangelegenheit. Engländer, Franzosen, Böhmen, Ungarn hatten ihre Bauernkriege schon durch gemacht, als die Deutschen den ihrigen machten. War schon Deutschland zersplittert, so war Europa es noch weit mehr. Die Revolution von 1848 war keine deutsche Lokalangelegenheit, sie war ein einzelnes Stück, eines großen europäischen Ereignisses. Ihre treibenden Ursachen während ihres ganzen Verlaufs sind nicht auf den engen Raum eines einzelnen Landes, nicht einmal auf den eines Welttheils zusammengedrängt. (...)

Die Revolution von 1848 bis 1850 kann daher nicht enden wie die von 1525.

N° 84.                                            Mittwoch, den 19. Oktober.                                         1870

Neueste Lügen: Streit in Paris, Bürgerkrieg in Paris, Hungersnot in Paris, Muthlosigkeit im übrigen Frankreich, Garibaldi krank, die Bauern für Bonaparte und die Preußen schwärmend, Straßburg’s Sehnsucht nach Germania, Mißhandlungen deutscher Gefangener in Metz, Scheinexistenz der Loire = Armee usw. usw.

 

                                                                                                     170

Die „Frankfurter Zeitung“ erhält regelmäßig durch Luftballonpost Briefe aus Paris, die deshalb sehr wichtig sind, weil sie die Wolff’schen Depeschen Lügen strafen. (...)

 

N° 86.                                        Mittwoch, den 26. Oktober                                              1870

Ob es Friedensverhandlungen sind ober Waffenstillstandsverhandlungen, ist ein müßiger Wortstreit, denn im vorliegenden Falle setzt ein Waffenstillstand voraus, daß man sich über die Basis der Friedensverhandlungen geeinigt hat; unzweifelhaft ist, daß Verhandlungen obschweben, und das England scheinbar den Anstoß gegeben hat. (...)

Die Behauptung, Bismarck erstrebt die Vernichtung Frankreichs, hat in der national = liberalen Presse heuchlerischen Widerspruch gefunden. Und wenn man auf das Wort „Frankreich“ den Akzent legt, auch mit Recht. Aber nicht, wenn man unter Frankreich das republikanische Frankreich versteht. Das republikanische Frankreich muß Bismarck vernichten, oder es hat sich und seine Partei todtgesiegt. (...)

 

N° 88.                                            Mittwoch den 2. November.                                         1870

                                                            Politische Uebersicht

Der Verrath von Sedan ist vervollständigt: Bazaine hat am 27. Oktober die Festung Metz mit 150 000 Mann feldtüchtiger Soldaten den Preußen überliefert. (...)

Als Bonaparte am 2. September sich mit der Hälfte seiner Armee den Preußen gefangen gab, leitete ihn der ganz richtige Gedanke, daß das Empire nur noch mit  Hülfe der Preußen zu retten sei. Die Ordre war bereits gegeben, in Paris, Lyon und allen großen Städten die Häupter der republikanischen Partei zu verhaften. Kam dieser Befehl rechtzeitig zur Ausführung, so war das Spiel gewonnen, während Bonaparte den Kriegsgefangenen spielte, schloß die Regentschaft Frieden um jeden Preis, Bonaparte eilte nach Metz, marschirte mit der dort stationirten Armee nach Paris zurück, und Alles war zu seiner und Bismarck’s Zufriedenheit geordnet. Die Proklamierung der Republik durchkreuzte diesen Plan. (...)

 

N° 89.                                       Sonnabend, den 5. November.                                          1870

                                                        Politische Uebersicht

Die französische und deutsche Sektion der Internationalen  Arbeiter = Association in New – York an ihre Genossen in Europa!

Nach der Niederwerfung der Juni – Insurgenten (1848) waren die Zustände  Frankreichs ebenso schwankend als vor der Februar = Revolution, weil die Produktionsbedingungen die alten geblieben waren. Die besitzenden Klassen lechzten nach „Ordnung“. Der Finanzmann wollte „Ordnung“ um der Börse willen, der Industrielle wollte „Ordnung“ des Geschäftsgangs willen, der Krämer und der Kneipenhalter wollten „Ordnung“ des Absatzes wegen. Ja, „Ordnung“ wollten sie Alle, welche nur den Arbeiter an der Arbeit halten wollten. „Ordnung“ brüllten die Kanonen, als sie den Riesenleib des Pariser Proletariats zerfleischten.

 

N° 90.                                             Mittwoch, den 9. November.                                      1870

                                                                Zum 9. November.

                                                                           Blum

Vor zweiundvierzig Jahren war’s, die hat mit Macht geschrieen

Ein siebentägig Kind auf seiner Mutter knieend;

Ein Kind mit breiter offener Stirn, ein Kind von heller Lunge

Ein prächtig Proletarierkind, ein derber Küferjunge. (...)

 

                                                                                                     171

Du rufst sie nicht die Rächerin, doch wird die Zeit sie bringen!

Der Andern Greuel rufen sie! So wird er sich vollenden –

Weh‘ Allen, denen schuldlos Blut klebt an den Henker Händen!

Vor zwei und vierzig Jahren war’s, da hat mit Macht geschrieen

Ein siebentägig Kind auf seiner Mutter Knieen!

Acht Tage sind’s, da lag zu Wien ein blut’ger Mann im Sande –

Heut‘ scholl ihm Neukomms Reqiem zu Köln am Rheinesstrande.

 

Köln, 16. November 1848. (Ferd. Freiligrath)

                                                       

                                                     Politische Uebersicht

Graf Bismarck hat der französischen Regierung einen 25tägigen Waffenstillstand angeboten auf Grund des militärischen Status quo(Beibehaltung der von den beiderseitigen Streitkräften im Augenblick des Abschlusses eingenommenen Stellungen) angeboten. Zur Beurtheilung der Tragweite des Vorschlags fehlt es uns heute noch an genügenden Anhaltspunkten. Soviel steht aber schon jetzt fest, daß Graf Bismarck durch denselben Zwietracht unter die Vertheidiger der Republik zu werfen beabsichtigt. Und bis zu einem gewissen Grad ist ihm das auch gelungen. Die entschiedenste Partei will aber überhaupt von Unterhandlungen nichts wissen, durch welche die Widerstandskraft Frankreichs nur gelähmt werden kann, während die gemäßigten Republikaner, darunter die Mehrheit der Regierung durch die Verhandlungen zu einem billigen Frieden zu gelangen hoffen. (...)

 

N° 91.                                        Sonnabend, den 12. November.                                     1 870

                                                         Politische Uebersicht

Die Waffenstillstandsverhandlungen haben sich zerschlagen. Genaue Berichte liegen noch nicht vor, allein soviel steht fest, daß auch diesmal die Annexionsfrage die eigentliche Klippe gewesen ist.

 

 

N° 93.                                          Sonnabend, den 19. November                                      1870

                                                            Politische Uebersicht.

Was wir in der letzten Nummer in der Nachschrift als Gerücht erwähnten, hat sich seitdem bestätigt -–bis zu welchem Umfange läßt sich allerdings noch nicht übersehen. Bis jetzt steht bloß soviel fest, daß die russische Regierung der Pforte den mit dieser abgeschlossenen von den übrigen europäischen Großmächten garantirten Zusatzvertrag zum Pariser Frieden von 1856 gekündigte und durch eine Cirkularnote den resp. Höfen davon Anzeige gemacht hat.

Wir lassen den Wortlaut des gekündigten Vertrags folgen:

„Artikel 1. Die hohen vertragschließenden Theile verpflichten sich gegenseitig, im Schwarzen Meere keine anderen Kriegsfahrzeuge zu unterhalten, als jene deren Anzahl, Stärke und Umfang nachstehend festgesetzt sind. – (...)

 

 

                                                                                                        172

N° 96.                                       Mittwoch, den 30. November                                            1870

                                                       Aus dem „Reichstag“

In der Thronrede, mit welcher der „Reichstag“ eröffnet wurde, befindet sich der kühne Ausspruch, daß dieser Krieg mit der Zustimmung der gesamten französischen Nation unternommen worden sei. Und dies wagt man derselben Versammlung zu bieten, welche in ihrer Antwortadresse an den preußischen König vom Juli d. J. sagte: „Es sei dem besonnenen Theil des französischen Volks nicht gelungen, das Verbrechen des Kriegs zu verhindern!“ –

Ueber die in der  Rede des Präsidenten Simson befindliche Stelle, wonach deutscherseits der Krieg mit „Muth und Demuth“ geführt werde, mögen die olympischen Götter wohl in ein schallendes Gelächter ausgebrochen sein! –

 

N° 99.                                          Sonnabend, den 10. Dezember.                                      1870

                                                           Politische Uebersicht

Der „American Register“ schreibt: „Das Dampfschiff „Ontario“ aus den Vereinigten Staaten muß in Havre seine ungeheure Ladung von Waffen und Munition bereits abgeliefert haben. Der „Ontario“ von der französischen Regierung gemiethet bringt von New – York 18 Millionen Patronen, 90,000 Hinterlader, 2000 Pistolen und 55 Kanonen, hinreichend, um eine Armee von 150,000 Mann auszurüsten. (...)

 

N° 101.                                        Sonnabend, den 17. Dezember.                                     1870

                                                            Politische Uebersicht

Man schreibt uns aus Berlin unterm 10. Dezember: Der norddeutsche „Reichstag“ hat heute seine Rolle in der Kaiserposse mit dem ihm eigenen Talent der unfreiwilligen Komik zu Ende gespielt. Nachdem in der Nachmittagssitzung der Abänderungsantrag zur Verfügung des neuen „Deutschen Bunds“ mit obligatem  Kaisertitel durch 2 Lesungen durchgejagt war, wurde für die dritte Lesung und für die „Berathung“ einer Loyalitätsadressen an den heldengreislichen Nachfolger Barbarossas eine Abendsitzung auf 6. Uhr anberaumt. (...)

Die Restauration Bonapartes wird von der preußischen Regierung jetzt mehr den je beabsichtigt. Bismarck’s Organ die „Norddeutsche Zeitung“ bringt einen Artikel, der sehr bestimmt darauf hindeutet, daß die frühere officiöse Phrase, daß man sich in die inneren Angelegenheiten Frankreichs nicht mischen werde, völlig in Vergessenheit gerathen ist. (...)

 

N° 102.                                       Mittwoch, den 21. Dezember.                                         1870

                                                                 An die Leser

Unsere Reichstagsabgeordneten Bebel und Liebknecht, sowie der Mitredakteur des „Volksstaat“, Ad. Hepner, sind gestern Vormittag unter der Anklage, Hochverrat vorbereitet zu haben, verhaftet worden und befinden sich in Gewahrsam des hiesigen Bezirksgerichts. Der Aufforderung der inhaftierten Folge leistend, übernehme ich hiermit bis auf Weiteres die Redaktion und Expedition unseres Parteiorgans. (...)

Einstweilen werde ich die edle, kühne und nicht „landesverrätherische“, sondern im Gegentheil wahrhaft patriotische Haltung, die der „Volksstaat“ unter seiner bisherigen Leitung eingenommen hat, bei meiner Redaktion zum Vorbild nehmen. (...)

Alle Parteigenossen, alle Freunde des Friedens und der Freiheit bitte ich um ihre kräftige Unterstützung. (...)

Leipzig, 18. Dezbr. 1870.  Carl Hirsch

 

                                                                                                         173

N° 103.                                        Sonnabend, den 24. Dezember,                                    1870

                                                              Weihnachtslied

Dumpf braust der metall’ne Chor

Aus jedes Kirchturms Bauch hervor,

und Halleluja singen

Die Christen all im Jubelton,

Denn diese Nacht gebar den Sohn,

Der Heil uns sollte bringen. (...)

 

Ihr sagt vor Gott sind alle gleich;

Ihr betet: „zu uns komme dein Reich!“

Und sitzt auf vollen Säcken

In dieses Hauses Raum

Und eure Brüder haben kaum

Die Blöße sich zu decken.

 

Laßt ab von solcher Heuchelei,

Gebt uns die Erde wieder frei,

Wo Christi Reich gegründet

Und jubelt dann im Feierton:

„Heil! Diese Nacht gebar den Sohn,

Der Heil uns hat verkündet!“

Gedicht in  elf Strophen von H. Jansen

 

N° 104.                                        Sonnabend, den 24. Dezember.                                      1870

                                                            Politische Uebersicht

Die Schlacht von Königgrätz ist nach einem bekanntem liberalen Ausspruch, von den preußischen Schulmeistern geschlagen worden, welche die preußische Armee einen größeren Bildungsgrad verdanke, durch den sie über die minder geschulten Oesterreicher gesiegt habe. Es kann wahr sein, wenn aber alle Sieger so gelohnt werden, wie die preußischen von 1866, dann gnade der Himmel den Siegern von 1870! –

 

Bebels Rede über die neue deutsche Verfassung.

Gehalten in der Reichstagssitzung vom 6. Dezember.

(Nach dem amtlichen stenographischen Bericht)

Meine Herren! Wenn ich von meinem sozialrepublikanischen Standpunkte aus die uns vorgelegte Verfassung beurtheilen sollte, so würde ich mit meinem Urtheile sehr schnell zu

 

                                                                                         174

Ende kommen; sie ist von diesem Standpunkte aus selbstverständlich unannehmbar, und ich hätte keine Ursache, das weiter zu motiviren. Indessen, ich halte es  für zweckmäßig und angemessen, mich für einige Augenblicke auf den Standpunkt eines guten konstitutionellen, eines monarchisch = konstitutionellen, zu stellen und von diesem Standpunkte aus zu betrachten, inwieweit diese Verfassung Garantien für die Freiheit und Einheit und für die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes bietet, soweit dies in einem monarchischem Staat zu entwickeln und zu begründen überhaupt möglich ist. (...)

Die Verfassung, die uns eben vorliegt, ist in der Hauptsache die alte Norddeutsche Bundesverfassung. Daß diese Verfassung in freiheitlicher Beziehung uns gar keine Garantien bietet, das ist nicht allein von unserer Seite, sondern selbst von anderen Seiten des Hauses, die keineswegs auf unserem Standpunkte stehen zu verschiedenen Malen klar ausgeführt und bewiesen worden ist. Es ist keine Ministerverantwortlichkeit vorhanden. Daß die Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers absolut nichts zu bedeuten hat, dafür haben wir erst in der letzten Sonntagsabendsitzung aus dem Munde des Herrn Präsidenten des Bundeskanzler = Amtes den schlagenden Beweis erhalten, als er ausführte, daß die Unterzeichnung jener bekannten  Verordnungen wegen Proklamirung des Kriegszustandes in Norddeutschland für den Bundeskanzler nicht verbindlich seien, daß der absolut nicht in die Dinge sich einzumischen habe, die nur Seiner Majestät dem König von Preußen angingen, der als oberster Kriegsherr ausschließlich darüber zu gebieten habe. Also die Ministerverantwortlichkeit ist in der Verfassung nirgends vorhanden: die Grundrechte sind bei der Berathung der Verfassung im Jahre 1867 ebenfalls abgelehnt worden. (...)

Ich betrachte insofern die Ereignisse mit einer gewissen Genugtuung, weil nämlich die Frage, die so genannte Einigungsfrage, von der Tagesordnung mehrmals verschwunden ist, gerade jene Frage, welche jahrelang dazu beigetragen hat, Millionen ehrenwerter und tüchtiger Männer irre zu führen, welche meinten: erst die Einigung, nachher wird sich die Freiheit schon finden. Nun wir haben jetzt die Einigung, und wir werden sehen, wie es mit der Freiheit beschaffen ist. Was der Norddeutsche Bund in vier Jahren in freiheitlicher und wirtschaftlicher Entwicklung geschaffen hat, darüber hinaus wird der Deutsche Bund in den nächsten Jahren und überhaupt nicht kommen. Die Süddeutschen bekommen ja das Füllhorn dieser Segnungen mit einem Male, sie bekommen alle Gesetze, die sie seit vier Jahren hier gemacht haben, nahezu vollständig mit der neuen Verfassung eingeführt. Auch sie werden in kurzem einsehen, wie es mit ihren Hoffnungen in Bezug auf die neue deutsche Freiheit und Einheit aussieht. Aber all diese Enttäuschungen müssen meiner Ansicht nach eintreten, wenn es überhaupt in Deutschland besser werden soll. Erst wenn das Volk einsieht, daß es von seinen Fürsten nichts zu hoffen hat, daß jeder Krieg, der geführt wird, immer nur gegen sein Interesse geführt wird, erst wenn es einsehen wird, daß die drei Kriege, die seit zehn Jahren in Deutschland geführt worden sind, nur uns jedesmal in freiheitlicher Hinsicht zurückgebracht haben, dann wird es besser werden; das Volk wird zur Selbsterkenntnis kommen,  das Volk wird anfangen denken zu lernen, und meine Herren, das Resultat wird sein, daß das Volks begreift und einsieht, daß es von seinen Fürsten, von seinen Regierungen nichts zu erwarten hat, daß es nur gestützt auf seine eigene Macht, auf sein eigenes Selbstbestimmungsrecht, eine  neue Verfassung sich schaffen muß: daß, mit einem Worte, das Endziel des deutschen Volkes einzig und allein die Beseitigung der Monarchie und die Begründung der Republik sein kann und muß. (Widerspruch, große Unruhe)

 

                                                                                                

                                                                            175

N° 1.                                            Sonntag, den 1. Januar                                                  1871

 

                                                                                 Der Volksstaat

                                                                      (Früher Demokratisches Wochenblatt)

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                   Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der  internationalen

                                                        Gewerksgenossenschaften

 

Der dritte Jahrgang 1871 umfasst 104 Ausgaben, sie bilden die Fortsetzung in Stil und politischer Zielsetzung der vorangegangenen Jahrgänge 1 und 2 1869/70.

Mit Beginn der N° 2 in der Ausgabe vom 4. Januar 1871 finden sich augenfällig und dick gedruckt die Sätze:

Ein billiger Friede mit der französischen Republik!

Keine Annexionen!

Bestrafung Bonaparte’s und seiner Mitschuldigen!

In der Ausgabe N° 7, 21. Januar 1871 wird der Satz wieder aufgenommen und bis zur Ausgabe Nr. 10, 1. Februar 1871 fortgesetzt.

                                                          Politische Uebersicht

Die „Norddeutsche Allgemeine“ veröffentlicht folgendes:

Manifest des französischen an das deutsche Volk.

Seit mehr als vier Monaten wüthet ein schrecklicher Krieg zwischen zwei Nationen, die berufen sein sollten, friedlich neben einander zu leben und gemeinsam an dem Wohl der Menschheit zu arbeiten. Der Erfolg der Waffen hat euch Deutsche in das Herz unseres Landes geführt; unsere Felder wurden zertreten, unsere Städte bombadirt, unsere Dörfer eingeäschert. Immer neue Ströme Blutes fließen von beiden Seiten. Mit jedem Schritt, den eure Soldaten vorwärts thun mehren sich die Gräuel. Auf die Zerstörung von Straßburg folgt vielleicht eine schreckliche Verwüstung von Paris. (...)

Doch was nützt das? Das deutsche Volk ist  in der Lage, in der das französische Volk nach dem 2. Dezember war: geknebelt an Ohren und Mund, und an einer Stelle,  und an seiner Stelle, in seinem Namen spricht eine Dezembergesellschaft von Polizeispionen, Börsenjobbern und anderer Staatsplünderer nebst Adelaiden, sowie 4000 Zeitungsschreibern.

Und auf der Spitze dieser pikanten Pyramide steht Bismarck auf der flachen Hand das deutsche Kaiserthum frei hinaushaltend und von Versailles nach Wien, rufend:

                                                                                                       176

„Das (deutsche) Kaiserreich ist der Friede!“ Genau dieselben Worte, mit denen Louis Napoleon seine Mordregierung einsegnete: L’empire c’est la paix!“ „Das Kaiserreich ist der Friede“. Dieselben Worte und dieselbe Wahrheit. Wie sollte eine Herrschaft den Frieden bedeuten, die Blut und Eisen zu ihrer Devise erklärt hat? Das deutsche Kaiserthum ist in dem Blut des edlen Standrechts – Märtyrer von 1849 erzeugt, in dem Bruderblut von 1866 getauft worden, in dem Blut des deutschen und französischen Volkes hat es sich groß gebadet von Jahr zu Jahr wird es zu seiner Erhaltung Blut brauchen, und in Blut wird es eines Tages ertrinken. (...)

N° 2.                                                Mittwoch, den 4. Januar                                            1871

                                                     Einige Aussprüche Lessing’s

                                      (Nach der 10bändigen Ausgabe von 1854 citirt)

Bd, IV. Seite 32. Man könnte sagen, wenn die kriegerischen Eigenschaften durch die Gemeinmachung der Wissenschaften verschwinden, so ist es noch die Frage, ob wir es für ein Glück, oder für ein Unglück zu halten haben? Sind wir deswegen auf der Welt, daß wir uns einander umbringen sollen?

XI., 355. Die Staaten vereinigen die Menschen, damit durch diese und in dieser Vereinigung jeder einzelne Mensch seinen Theil von Glückseligkeit desto besser und sicherer genießen könne. Das Totale der einzelnen Glückseligkeiten aller Glieder ist die Glückseligkeit des Staates. Außer dieser giebt es keine. Jede anderer Glückseligkeit des Staats, bei welcher er noch so wenig Glieder leiden und leiden müssen, ist Bemäntelung der Tyrannen. Anders nicht!

XI., 363. Es wäre sehr zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die über die Vorurtheile der Völkerschaft hinweg wären, und genau wüßten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört. (...)

X., 98. Ich habe überhaupt von der Liebe des Vaterlandes (es thut mir leid, daß ich ihnen vielleicht meine Schande gestehen muß) keinen Begriff, und sie scheint mir aufs höchste eine heroische Schwachheit, die ich gern entbehre.

X.,169. Sagen sie mir von ihrer Berlinischen Freiheit zu denken und zu schreiben ja nichts.... Lassen sie es doch einmal einen in Berlin versuchen, über andere Dinge so frei zu schreiben, als Sonnenfels in Wien geschrieben hat; lassen sie es ihn versuchen, dem vornehmen Hofpöbel so die Wahrheit zu sagen, als dieser sie ihm gesagt hat; lassen sie einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der Unterthanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme erheben wollte, und sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklawischte Land in Europa ist.

X.,249. Im vorigen Kriege*, bin ich in Leipzig für einen Erzpreußen und in Berlin für einen Erzsachsen gehalten worden, weil ich keins von beiden war.

* Die Worte sind 1777 geschrieben.

Die Vertreibung der Deutschen aus Frankreich. I. (Schluß)

Namentlich geriehten die deutschen und französischen Arbeiter hintereinander. Sie zankten schimpften und prügelten sich aus lächerlicher Landesvaterlandsliebe in den Werkstätten, in den Kneipen, in den Speisehäusern. Leider gab es, wie aufrichtig bekannt werden muß, unter den in Paris befindlichen deutschen Arbeitern verhältnismäßig sehr wenige, welche von der erhabenen sozialen Idee der Neuzeit durchdrungen waren. (...)

N° 5.                                          Sonnabend, den 14. Januar                                              1871

                                                       Politische Uebersicht

Zu ewiger Schande würde dem Volk der Denker die Freude und Wollust gereichen, mit der seine Presse das vermeindliche Bombardement einer von zwei Millionen Menschen bewohnten Stadt begrüßt hat, wenn nicht eine Partei in Deutschland wäre, die Deutschlands

                                                                                                            177

Ehre, die den echt germanischen Völker verstehenden und völkerverbrüdernden Zug treu bewahrt und auch dem schwer geprüften Brudervolk ohne Unterlaß seine Sympathien treu entgegen getragen hätte. Der Haß zwischen beiden Nationen würde ewig und unauslöschlich sein, könnte nicht eines Tages die sozialdemokratische Partei auftreten und sagen: „Wir haben Euch nie gehaßt; wir haben euch nie beschimpft, wir haben Euch nie Provinzen nehmen wollen. (...)

N° 6.                                              Mittwoch, den 18. Januar                                           1871

Die an diesem Tage stattgefundene Kaiserproklamation in Versailles bleibt gänzlich unerwähnt.

N° 10.                                            Mittwoch, den 1. Februar                                           1871

                                                         Der Kaisertitel (Schluß)

Man wird sagen, vom neuen deutschen Kaiserreich werde dergleichen nicht zu besorgen sein. – Dergleichen allerdings wohl nicht, aber noch schlimmer. Die Reformation wurde, man könnte sagen, um ihren ganzen Geist und Kern gebracht – als man, die Landesfürsten als Landesbischöfe gelten ließ, als man gar einen Frieden schloß auf den Satz: cuijus regio, eius religio (wessen das Land, dessen der Glaube). Wenn jetzt der König von Preußen wirklich Kaiser werden sollte, so würde damit eine Art Papst. – Auf  die Beschwerde der Königsberger gegen die Verhaftung Jacoby’s antwortete Bismarck, Ermächtigung und Befehl dazu seien vom König als Bundesfeldherrn ausgegangen, es finde also keinerlei Verantwortlichkeit des Ministeriums dafür statt. (...)

Nr. 14.                                         Mittwoch, den 15. Februar                                          1871 

                                                         Politische Uebersicht

Die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses in verflossener Woche sind in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerth. Die in Nordschleswig wiedergewählten Abgeordneten Ahlmann und Kryger weigerten sich, wie schon mehrmals früher, den preußischen Unterthaneneid zu leisten, weil ihnen und ihren Wählern durch den Prager Frieden die dänische Nationalität garantirt sei. Das Abgeordnetenhaus (einschließlich der Fortschrittspartei) beschloß wie früher, das Mandat der Eidverweigerer für ungültig zu erklären. Man machte für diesen Beschluß namentlich fortschrittlicherseits folgenden Grund geltend: Entweder sind die Eidverweigerer und ihre Wähler, wie sie behaupten Dänen, dann gehören sie nicht vor den preußischen Landtag, oder aber sie sind Preußen, dann müssen sie den Eid leisten. Das ist aber Sophistik, und man hat durch die Ausstoßung nur bewiesen, daß man die Nordschleswiger nicht zu Deutschen machen kann, aber auch nicht Dänen bleiben lassen will, daß man also den Prager Frieden auch nach dieser Seite hin verletzt und dadurch die Keime eines neuen Krieges in den Boden des deutschen Kaiserthums gesteckt.

N° 21.                                            Sonnabend, den 11. März                                          1871  

                                                             An meine Wähler 

Parteigenossen! Ihr habt mir aufs Neue einen glänzenden Beweis Eures Vertrauens gegeben, indem ihr mich nunmehr zum dritten, zum Vertreter des 17. Wahlbezirks im Reichstag erwähltet.

Ihr habt mir Euer Vertrauen erhalten, obgleich ich nicht in Eurer Mitte erscheinen konnte, um meinen Standpunkt gegenüber der neuen Sachlage der Dinge darzuthun. Ebensowenig aber habt ihr Euch beirren lassen durch die heftige und niedrige Kampfweise, womit die Gegner den Wahlkampf führten.

Dies verbunden mit der Thatsache, daß der unterlegene Gegner als die gefeierte Größe des Liberalismus und Kapitalismus gilt, macht die diesmalige Wahl für mich doppelt ehrenvoll.

                                                                                                           178

– Nehmt dafür meinen wärmsten und innigsten Dank und das Versprechen, daß ich thun werde, was in meinen Kräften steht, Euer Vertrauen zu rechtfertigen.

Es lebe die Sozialdemokratie!

Das sei der Ruf, mit dem wir den neuen Kämpfen entgegenziehen.

Leipzig Bezirksgerichtsgefängnis, den 3. März 1871

Mit sozialdemokratischen Gruß zeichnet Euer  August Bebel.

Nr. 26.                                           Mittwoch, den 29. März                                               1871

                                                     Dorfschulen in Frankreich

(...) Dennoch überraschend kommt und in einem Feldpostbriefe die nachfolgende Mitteilung eines scharfen und zuverlässigen Beobachters ( eines Kreisrichters, der als Offizier den Krieg mitgemacht) über das Verhältnis der französischen zu den deutschen Dorfschulen.

Der Brief lautet: (...)

Preußen hat auf der Ausstellung in Paris ein Dorfschulenlocal ausgestellt. Indeß wir können mit den größten Theil unserer Dorfschulen, die mir bekannt geworden sind, durchaus nicht konkurriren mit dem größten Theile der Dorfschulgebäude, welche ich bisher in Frankreich gesehen habe. (...)

Nr. 28.                                               Mittwoch, den 5. April                                            1871

                                                        „Das Kapital“ von Marx.* 

Solange es Kapitalisten und Arbeiter giebt, ist kein Buch erschienen, welches für die Arbeiter von solcher Wichtigkeit wäre wie das vorliegende. Das Verhältnis von Kapital und Arbeit, die Angel, um die sich unser ganzes heutiges Gesellschaftssystem dreht, ist hier zum ersten Mal wissenschaftlich entwickelt, und das mit einer Gründlichkeit und Schärfe, wie sie nur dem Verfasser möglich war. Werthvoller wie die Schriften eines Owen, Saint – Simon, Fourier sind und bleiben werden, - erst Karl Marx war es vorbehalten, die Höhe zu bestimmen, von der aus das ganze Gebiet der modernen sozialen Verhältnisse klar und übersichtlich darliegt, wie die niedrigen Berglandschaften vor dem Zuschauer, der auf der höchsten Kuppe steht. (...)

Was ist der Werth der Arbeitskraft? Der Werth jeder Waare wird gemessen durch die zur Herstellung erforderliche Arbeit. Die Arbeitskraft existirt in der Gestalt des lebenden Arbeiters, sowie zur Erhaltung seiner Familie, welche die Fortdauer der Arbeitskraft auch nach dem Tode sichert, einer bestimmten Summe von Lebensmitteln bedarf. Die zur Hervorbringung dieser Lebensmittel nöthige Arbeitszeit stellt also den Werth der Arbeitskraft dar. Der Kapitalist zahlt ihn wöchentlich, und kauft dafür den Gebrauch der Wochenarbeit des Arbeiters. So weit werden die Herren Ökonomen so ziemlich mit uns über den Werth der Arbeitskraft einverstanden sein.

Der Kapitalist stellt seinen Arbeiter nun an die Arbeit. In einer bestimmten Zeit wird der Arbeiter soviel Arbeit geliefert haben,  als in seinem Wochenlohn repräsentiert war. Gesetzt der Wochenlohn eines Arbeiters repräsentire drei Arbeitstage, so hat der Arbeiter, der Montags anfängt, am Mittwochabend dem Kapitalisten den vollen Werth des gezahlten Lohnes ersetzt. Hört er dann aber auf zu arbeiten? Keineswegs. Der Kapitalist hat seine Wochenarbeit gekauft, und der Arbeiter muß die letzten drei Wochentage auch noch arbeiten.

Diese Mehrarbeit des Arbeiters, über die zur Ersetzung seines Lohnes nöthige Zeit hinaus, ist die Quelle des Mehrwerths, des Profits, der stets anwachsenden Anschwellung des Kapitals.

Ma sage nicht, es sei eine willkürliche Annahme, daß der Arbeiter in drei Tagen den Lohn wieder herausarbeite, den er erhalten hat, und die übrigen drei Tage für den Kapitalisten arbeite. Ob er gerade drei Tage braucht, um den Lohn zu ersetzen, oder zwei oder vier ist allerdings ganz gleichgültig und wechselt auch nach den Umständen; aber die Hauptsache ist die, daß der Kapitalist neben der Arbeit, die er bezahlt, auch noch Arbeit herausschlägt, die er

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nicht bezahlt, und das ist keine willkürliche Annahme, denn an dem Tage, wo der Kapitalist auf die Dauer nur noch soviel Arbeit aus dem Arbeiter herausbekäme, wie er im Lohn bezahlt, an dem Tage würde er die Werkstatt zuschließen, da ihm sein ganzer Profit in die Brüche ginge. 

Hier haben wir die Lösung aller jener Widersprüche. Die Entstehung des Mehrwerths (wovon der Profit des Kapitalisten einen bedeutenden Theil bildet) ist nun ganz klar und natürlich. Der Werth der Arbeitskraft wird gezahlt, aber dieser Werth ist weit geringer als derjenige, welchen der Kapitalist aus der Arbeitskraft herauszuschlagen versteht, und die Differenz, die unbezahlte Arbeit macht gerade den Antheil des Kapitalisten, oder genauer gesprochen, der Kapitalistenklasse aus. (...)

Andererseits wäre es abgeschmackt, anzunehmen, daß die unbezahlte Arbeit erst entstanden sei unter den gegenwärtigen Verhältnissen, wo die Produktion von Kapitalisten einerseits und Lohnarbeitern andererseits betrieben wird. Im Gegentheil. Die unterdrückte Klasse hat zu allen Zeiten unbezahlte Arbeit leisten müssen. Während der ganzen langen Zeit, wo die Sklaverei die herrschende Form der Arbeitsorganisation war, haben die Sklaven weit mehr arbeiten müssen, als ihnen in Form von Lebensmitteln ersetzt wurde. Unter der Herrschaft der Leibeigenschaft und bis zur Abschaffung der bäuerlichen Fronarbeit war dasselbe der Fall: Hier tritt der Unterschied handgreiflich zu Tage zwischen der Zeit, die der Bauer arbeitet für seinen Lebensunterhalt und der Mehrarbeit für den Gutsherrn, weil eben die letztere von der ersteren getrennt vollzogen wird. Die Form ist jetzt verändert, aber die Sache ist geblieben, und solange „ein Theil der Gesellschaft das Monopol der Produktionsmittel besitzt, muß der Arbeiter, frei oder unfrei, der zu seiner Selbsterhaltung nöthigen Arbeistszeit überschüssige Arbeitszeit zusetzen und die Lebensmittel für die Eigner der Produktionsmittel zu produziren“.

N° 29.                                               Sonnabend, den 8. April                                            1871

                                                             Politische Uebersicht

Um Paris ist es also zum Kampf zwischen den Nationalgarden der Kommune und den Truppen der Versailler Regierung gekommen. Bei der bekannten Unzuverlässigkeit der offiziellen Telegramme läßt sich augenblicklich noch kein bestimmtes Urtheil über die dortige

Sachlage fällen. Die mobile Pariser Nationalgarde – deren Stärke auf 110.000 Mann geschätzt wird – erlitt bei Courbovie eine kleine Niederlage, die jedoch bei Weitem nicht die Dimensionen hat, welche ihr die Versailler Depeschen anlügen. Das eine  aber ist  wahr, daß die gefangenen Nationalgarden von den Versailler Militärs als Rebellen erschossen worden sind. Es ist leicht erklärlich, daß derartige Schandmaßregeln die Erbitterung der Pariser Kommune gegen Versailles nur erhöht haben und daß man in Paris nun erst recht nicht an Nachgiebigkeit denkt. Weitere Niederlagen der Nationalgarde sind aber nicht bekannt geworden; erscheint demnach, daß man in Versailles beim besten Willen keinen Stoff zu Siegesnachrichten mehr finden kann.

Welche Rolle den deutschen Truppen in dieser Krise zugedacht ist, läßt sich noch nicht klar erkennen. Nachdem die Versailler Regierung die ersten 500 Millionen der Kriegsentschädigung gezahlt hat, kann von einem Einschreiten gegen die Pariser Sozialisten nur im Einklang mit Thiers und Consorten die Rede sein. Und es ist keineswegs unmöglich, daß die nächste Zeit uns eine zweite Belagerung und Aushungerung von Paris bringt, aber nicht durch die deutschen Truppen, sondern durch die verbündeten Streiter des christlich – germanischen Kaisers und der französischen Ordnungsfanatiker. Die nationalliberale Presse meint diese Eventualität, sei eine prächtige Ironie der Weltgeschichte. Wir finden darin eine klassische Anerkennung des internationalen Prinzips, welches unsere deutschen Bourgeois und Reaktionäre mit derselben Nothwendigkeit auf die Seite der französischen  Bourgeois und Reaktionäre drängt, wie die deutschen Arbeiter auf die Seite ihrer französischen Brüder. (...)

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Zu den Märztagen *

Das war ein Völkerfrühling! Wie der Schall der Posaune am Auferstehungstag, den die Gläubigen erwarten, schlug 1848 die Kunde von der Pariser Revolutionsschlacht an das Ohr des aufhorchenden Europa! In Banden geschlagen und gefesselt lag der ganze Welttheil nach furchtbaren Anstrengungen der sogenannten „Befreiungskriege“ und die im grauenhaft blutigem Ringen zusammengekitteten Throne lasteten so schwer auf den Völkern, daß diese kaum zu athmen vermochten.

* Der „Neuen Zeit“ in New York entnommen, einer trefflichen Wochenschrift, die bei dieser Gelegenheit unsern Lesern aufs Wärmste empfohlen sei.

„Das Kapital“ von Marx. II.

Im vorigen Artikel sahen wir, daß jeder Arbeiter, der vom Kapitalisten beschäftigt wird, zweifache Arbeit verrichtet: Während eines Theils seiner Arbeitszeit ersetzt er den ihm vom Kapitalisten vorgeschossene Lohn, und diesen Theil der Arbeit nennt Marx die nothwendige Arbeit. Nachher aber hat er noch weiter fortzuarbeiten und produzirt während dieser Zeit den Mehrwerth für den Kapitalisten, wovon der Profit einen bedeutenden Theil ausmacht. Dieser Theil der Arbeit heißt Mehrarbeit.

Wir nehmen an, der Arbeiter arbeite drei Tage der Woche zur Ersetzung seines Lohnes, und drei Tage zur Produktion von Mehrwerth für den Kapitalisten. Anders ausgedrückt heißt dieß, er arbeitet bei täglich zwölfstündiger Arbeit sechs Stunden zur Erzeugung von Mehrwerth. Aus der Woche kann man nur sechs, selbst mit Hinzuziehung des Sonntags nur sieben Tage schlagen, aber aus sieben einzelnen Tagen kann man sechs, acht, zehn, zwölf, fünfzehn und selbst mehr Arbeitsstunden schlagen. Der Arbeiter hat den Kapitalisten für seinen Tagelohn einen Arbeitstag verkauft. Aber was ist ein Arbeitstag? Acht stunden oder achtzehn?

Der Kapitalist hat ein Interesse daran, daß der Arbeitstag so lang wie möglich gemacht werde. Je länger er ist, desto mehr Mehrwerth erzielt er. Der Arbeiter hat das richtige Gefühl dafür, daß jede Stunde Arbeit, die er über die Ersetzung des Arbeitslohnes hinaus arbeitet, ihm unrechtmäßig entzogen wird; er hat an seinen eigenen Körper durchzumachen, was es heißt, überlange Zeit zu arbeiten. Der Kapitalist für seinen Profit, der Arbeiter für seine Gesundheit, für eine paar Stunden täglicher Ruhe, um außer arbeiten, schlafen und essen sich auch noch sonst als Mensch bethätigen zu können. Beiläufig bemerkt hängt es gar nicht vom guten Willen des Kapitalisten ab, ob sie sich in diesem Kampf einlassen wollen oder nicht, da die Conkurrenz selbst den philanthropischten  unter ihnen zwingt, sich seinem Collegen anzuschließen, und solange Arbeitszeit zur Regel zu machen wie diese. (...)

Dieß sind, streng wissenschaftlich nachgewiesen – und die offiziellen Ökonomen hüten sich wohl, auch nur den Versuch einer Widerlegung zu machen – einige der Hauptgesetze des modernen kapitalistischen gesellschaftlichen Systems. Aber ist damit alles gesagt? Keineswegs. Ebenso scharf wie Mars die schlimmen Seiten der kapitalistischen Produktion, ebenso klar weist er nach, daß diese gesellschaftliche Form nothwendig war, um die Produktionskräfte der Gesellschaft auf einen Höhengrad zu entwickeln, der eine gleiche menschenwürdige Entwicklung der Glieder der Gesellschaft möglich machen wird. Dazu waren alle früheren Gesellschaftsformen zu arm. Erst die kapitalistische Produktion schafft die Reichthümer und die Produktionskräfte, welche dazu nöthig sind, aber sie schafft auch gleichzeitig in den massenhaften und unterdrückten Arbeitern die Gesellschaftsklasse, die mehr und mehr gezwungen wird, die Benutzung dieser Reichthümer und Produktionskräfte für die ganze Gesellschaft – statt wie heute für eine monopolistische Klasse – in Anspruch zu nehemen.

N° 30.                                               Mittwoch, den 12. April                                            1871

Die Belagerung von Paris. Erste Periode. *

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Die Rolle, welche die Männer, die sich am  4. September als Regierung der Nationalen – Verteidigung proklamirten, zu spielen hatten, war eine dreifache. Sie beschränkte sich nicht auf die Mauern von Paris, sie endete nicht an den Grenzen Frankreichs, es war das Loos Europas, das der ganzen Welt, das auf dem Spiel stand.

Was hatten sie  Europa gegenüber, der ganzen Welt gegenüber zu thun? Sie hatten zu erklären, daß sie nicht bloß die eindringenden Preußen bekämpften, sondern das Regime, welches an der Spitze der feindlichen Heere die Dreieinigkeit Wilhelm – Bismarck – Moltke repräsentirte. Wenn auch das monarchisch – capitailistische Europa sich gegen sie verbündet hatte, die junge Republik mußte ihm den Fehdehandschuh hinwerfen, wie einst ihre ältere Schwester im Jahre 1792.

N° 35.                                           Sonnabend, den 29. April                                              1871

                                                          Politische Uebersicht

Die Lage von Paris hat sich noch nicht geändert. In die Waagschale des politischen Gleichgewichts, welches sich bis jetzt Versailles und Paris halten, fangen aber nun die größeren Städte an, ihr moralisches Gewicht zu Gunsten der Kommune zu werfen, welchem wohl bald die materielle Unterstützung folgen dürfte. Lyon und noch andere Städte bemühen sich nämlich, einen Vergleich zwischen Paris und Versailles anzubahnen, und zwar auf Grund der kommunalen Selbständigkeit  von Paris sowie aller Städte, denen die Versailler Versammlung in ihrer reaktionären Wuth bekanntlich das Recht auf Selbstbestimmung abgesprochen hat. Auch die schon erwähnte republikanische Liga will den Vergleich nur unter Durchführung seines ursprünglichen kommunalen Programms, wonach Paris die am 18. März errungene Freiheit und Selbständigkeit behalte. (...)

N° 45.                                             Sonnabend, den 3. Juni                                               1871 

Juni 1848, März – Mai 1871..... ?

Am Sonntag nach achttägiger Straßenschlacht, erlag die Kommune. Die zweite Woge der sozialistischen Springfluth ist an den Mauern der Bourgeoisiegesellschaft zerschellt. Aber neue Sturmwellen, mächtiger als die zerschellten, wälzen sich heran – vielleicht noch eine wird zurückgeworfen, allein kein Gott, kein Mensch kann das Verderben abwenden von dem morschen Bau. (...) 

Nr. 46.                                            Mittwoch, den 7. Juni                                                  1871

                                                         Politische Uebersicht   

(...) In englischen Blättern lesen wir: „900 Nationalgarden von Belleville suchten durch die preußischen Linien zu entfliehen. Die Preußen erschossen einhundert und lieferten die übrigen aus. –

Weiteres über die Pariser Bluthochzeit: „Zahl der auf Seiten der Kommune Gefallenen und Hingerichteten (schreibt man dem „Daily Telegraph“ unter 29. Mai aus Paris) wird wahrscheinlich nie bekannt werden. In der Kaserne nahe dem Stadthause fanden gestern den ganzen Nachmittag hindurch Hinrichtungen statt. Jedesmal, nachdem eine Gewehrsalve gefeuert worden war, sah man geschlossene Hospitalkarren herauskommen, die mit Toten angefüllt waren. Seit gestern sind über 20,000 Personen verhaftet worden! Schon verschafft sich eine starke Stimmung Ausdruck, daß die Leiden der Hauptstadt während der letzten beiden Monate in der Schwäche der Regierung begründet seien, welche die Stadt am 18. März im Stiche ließ....Stündlich kommen neue Einzelheiten über verübte Gewalttaten zu Tage. Bei der Barrikade in der Nähe des Café wurden einige Verwundete  lebendigen Leibes in einem Graben verscharrt. Ihr Stöhnen während der Nacht war fürchterlich. (...)

Bebel’s Rede über die Annexion von Elsaß – Lothringen.

Gehalten in der Reichstagsitzung vom 25. Mai 1871.

                                                                                                         182

Präsident: Der Abgeordnete Bebel hat das Wort.

Abgeordneter Bebel: Meine Herren, der Abgeordnete Windhorst begann bei der zweiten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfs seine Rede damit, daß er sagte, die Annexion sei eine Thatsache geworden, es sei deshalb über die Annexionsfrage nicht mehr zu sprechen.

Meine Herren, ich bin anderer Ansicht; obgleich die Annexion eine Thatsache ist, halte ich es doch für durchaus nöthig, gegen die Annexion zu sprechen und die Schäden und Nachtheile nachzuweisen, die sie meiner festen Überzeugung nach für die deutsche Zukunft in sich schließt. Ich gehöre nicht zu Denjenigen, die blindlings Thatsachen insofern anerkennen, daß meinen sie, müßten nicht mit diesen Thatsachen rechten, sondern sich damit zufrieden erklären. Nein, meine Herren, es war alles Vergangene in der Welt einmal eine Thatsache und ist dennoch über den Haufen geworfen worden, und ich glaube, daß die jetzt vollendete Thatsache der Annexion auf länger als zehn Jahre hinaus keine feste Thatsache bleiben wird, und insofern ist es Nothwendig, daß wir uns vergegenwärtigen, welche Zukunft uns bevorsteht. (...)

Meine Herren, es ist in der Vorlage den Elsaß – Lothringern sogar das Recht genommen worden, daß sie über ihre eigenen Angelegenheiten bestimmen dürfen. Sie haben in den Beschlüssen, die sie in der zweiten Berathung gefaßt haben, ausdrücklich ausgesprochen, daß es bis zum ersten Januar 1873, also nunmehr  noch auf zwei volle 17 Monate hinaus, die Diktatur in Elsaß – Lothringen aufrecht erhalten werden müsse. Meine Herren, es ist sehr interessant, gerade von liberaler Seite die Ansichten zu hören, die dafür sprechen, eine solche Diktatur aufrecht zu erhalten. Ich bin dem Herren Abgeordneten Treischke sehr dankbar dafür, daß er mit rückhaltloser Offenherzigkeit die Gründe angegeben hat, die seiner Meinung nach dafür sprechen, eine solche Diktatur nothwendig zu machen, und welche dieselbe rechtfertigen sollen. Meine Herren, es ist von dem Herren Abgeordneten Treischke unter Anderem gesagt worden, es sei wichtig, unsere Verwaltung, die preußischen Verwaltungsmaxime in Elsaß – Lothringen sobald als möglich zur Geltung zu bringen.
Aber welcher Art sind denn diese Verwaltungsmaxime? Derjenige Beamte, der gegenwärtig in Elsaß und Lothringen vorzugsweise kommandirt, ist der bekannte, oder ich möchte vielmehr sagen der berüchtigte Herr von Kühlwetter, (Stimmen rechts oho!) der sich durch seine reaktionären Maßnahmen gegen die liberale Presse, gegen den fortschrittlichen Bürgermeister Tryss einen europäischen Ruf, aber keinen guten europäischen Ruf erworben hat. (Sehr wahr! Links) (...)

Meine Herren, mögen die Bestrebungen der Kommune in Ihren Augen auch noch so verwerflich oder – wie gestern privatim geäußert wurde – verrückte sein – seien Sie überzeugt, das ganze europäischen Proletariat und Alles, was noch ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit in der Brust trägt, sieht auf Paris. (große Heiterkeit) Meine Herren, und wenn auch im Augenblick Paris unterdrückt ist, dann erinnere ich sie daran, daß der Kampf in Paris nur ein kleines Vorpostengefecht ist, daß die Hauptsache in Europa und noch bevorsteht, und daß ehe wenige Jahrzehnte vergehen, der Schlachtruf des Pariser Proletariats: Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Noth und dem Müßiggang!“ der Schlachtruf des gesamten europäischen Proletariats sein wird. (Heiterkeit) (...)

Der Herr Abgeordnete Treischke hat ferner am Sonnabend ausgesprochen, es gelte vor allen Dingen, das Gefühl für die monarchischen Institutionen wieder wachzurufen. Der Herr Abgeordnete Treischke ist allerdings Geschichtsprofessor; aber ich bezweifle doch, daß er das innere geistige Leben der Völker genau kennt; (Heiterkeit) denn sonst, meine Herren, könnte er unmöglich glauben, daß bei einer Bevölkerung mit solch revolutionären und republikanischen Traditionen, wie sie die elsässische Bevölkerung seit 80 – 90 Jahren in Verbindung mit Frankreich durchgemacht hat, es unmöglich sei, das monarchische Gefühl in Elsaß – Lothringen wieder herzustellen. (...)

                                                                                                        183

Ich von meinem Standpunkte aus protestire ich entschieden gegen die Annexion, weil ich sie für ein Verbrechen gegen das Völkerrecht halte, weil ich sie für einen Schandfleck in der deutschen Geschichte halte. Ich hoffe, daß die elsässische Bevölkerung ihrer freiheitlichen Mission bewußt, den freiheitlichen Kampf gemeinsam mit uns in Deutschland aufnehmen werde, damit endlich die Zeit komme, wo die europäischen Bevölkerungen ihr volles Selbstbestimmungsrecht erlangen, was sie aber nur bekommen können, wenn die Völker Europas in der republikanischen Staatsform das Ziel ihrer Bestrebungen erblicken. (Unruhe)

Französische und deutsche Annectirungen.

(Aus Wiener „Tagespresse“.) Vom Main, im Mai 1871

Handelt es sich darum, das preußische Verfahren gegen Frankreich zu rechtfertigen, so ist stets die Phrase bereit: „Die Franzosen hätten es ebenso gemacht, wenn sie gesiegt hätten!“ Ich werde mich nicht mit dem Nachweis aufhalten, daß das nichts heißt, als: Wir thun selbst, was wir Anderen zum Verbrechen anrechnen.

Ist nun diese an sich hinkende Ausrede auch nur wahr in ihrer anderen Bedeutung? Nicht einmal dies.

Die Franzosen haben allerdings, nachdem der König von Preußen ihnen im Baseler Frieden das deutsche linke Rheinufer überlassen hatte, und der deutsche Kaiser dann gezwungen war, zuzustimmen, dieses Gebiet ihrem Staate einverleibt. Aber wie verfuhren sie dabei? Haben sie die Einwohner ebenso, wie es jetzt in Elsaß – Lothringen geschieht, politisch und in gewisser Beziehung selbst bürgerlich rechtlos gestellt? Haben sie dieselben auf Jahre hinaus von der Volksvertretung ausgeschlossen, einer Diktatur unterworfen und unter absolutes Willkürregiment gebeugt? Das gerade Gegentheil haben sie gethan.

Sobald die förmliche Abtretung und die Organisation  der neuen Departments erfolgt war, galten die Bewohner des neu erworbenen Landes als Franzosen und wurden als solche behandelt; sie genossen sofort alle Rechte, wie sie auch die gleichen Pflichten zu übernehmen hatten. Die Verfassung des Staates bestand für sie wie für alle anderen Franzosen, und an der Spitze dieser Verfassung (es wurde die Konstitution des Jahres III der Republik) erschien die Erklärung der „Menschenrechte“ in Folge deren sofort die Aufhebung der Feudallasten, die Befreiung des Grundes und des Bodens, die Einführung der Gewerbefreiheit und der übrigen sozialen Errungenschaften jener großen Revolution statt fand. (...)

N° 52.                                             Mittwoch, den 28. Juni                                                1871

Mit dieser Ausgabe beginnt unter dem Titel „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ die Vorgeschichte und die Geschichte des Pariser Kommuneaufstandes, der am 18. März 1871 seinen Ausgang genommen hatte. Die letzte Folge erscheint in der Ausgabe N° 61 vom 29. Juli 1871.

Der Bürgerkrieg in Frankreich.

Adresse des Generalrathes der internationalen Arbeiterassoziation an alle Mitglieder in Europa und den Vereinigten Staaten.

Am 4. September 1870, als die Pariser Arbeiter die Republik proklamirten, der man fast in demselben Augenblick ohne eine einzige Stimme des Widerspruchs zujubelte – da nahm eine Cabale stellenjagender Advokaten mit Thiers als Staatsmann und Trochu als General Besitz vom Hotel de Ville (Stadthaus). Diese Leute waren damals durchdrungen von einem fanatischen Glauben an den Beruf von Paris, in allen Epochen geschichtlicher Krisis, Frankreich zu vertreten, daß, um ihren usurpirten Titel als Regenten Frankreichs zu rechtfertigen, es ihnen genügend schien, ihre verfallenen Mandate für Paris vorzuzeigen. In unserer zweiten Adresse über den letzten Krieg, fünf Tage nach dem Emporkommen dieser Leute, sagten wir Euch, wer sie waren. Und dennoch, im Sturm der Ueberrumpelung, mit den Führern der Arbeiter noch in Bonaparte’s Gefängnissen, und mit den Preußen schon im vollen

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Marsch auf Paris, duldete Paris ihre Ergreifung der Staatsmacht; aber nur auf ausdrückliche Bedingung hin, daß diese Staatsmacht dienen sollte einzig uns allein dem Zweck der nationalen Vertheidigung. Paris aber war nicht zu vertheidigen, ohne seine Arbeiterklasse zu bewaffnen, sie in eine brauchbare Kriegsmacht zu verwandeln und ihre Reihen durch den Krieg selbst einzuschulen. Aber Paris in Waffen, das war die Revolution in Waffen. Ein Sieg von Paris über die preußischen Angreifer wäre ein Sieg gewesen des französischen Arbeiters über den französischen Kapitalisten. In diesem Zwiespalt nationaler Pflicht und Klasseninteresse zauderte die Regierung der nationalen Vertheidigung keinen Augenblick – sie verwandelte sich in eine Regierung des nationalen Verraths.

N° 55.                                            Sonnabend, den 8. Juli                                                 1871

Arbeitermetzelei in Königshütte.                        Breslau, den 4. Juli 1871

Mittwoch, den 29. traf plötzlich und überraschend die Nachricht ein, daß in Königshütte Arbeitertumulte stattfänden. Man war um so mehr verwundert, weil man sonst von den polnischen Arbeitern volle Unterwerfung, ja knechtischen Gehorsam gewöhnt war; doch reißt endlich der allzu straff gespannte Bogen. Nur die außerordentlich starke Bedrückung, die nicht menschenwürdige soziale Lage konnten diese Vorfälle herbeiführen, da die Arbeiter dortiger Gegend politisch völlig indifferent und religiös fanatisch katholisch gesinnt sind, sich daher völlig von Pfaffen leiten lassen. Der eigentliche Grund war nicht die Einführung von Kontrollmarken, obwohl dieselben dem Arbeiter bedeutende Erschwerungen bereiteten, sondern die Verlängerung der Arbeitszeit von 8 auf 12 Stunden mit Beibehaltung des alten Lohnsatzes. Wenn  nun die Arbeiter Könighütte’s leider bedauerliche Excesse begangen haben, so ist lediglich diese unmenschliche Forderung daran Schuld. (...)

Mit der Ausgabe Nr. 55 beginnt auch eine Serie unter dem Titel: „Zur Erinnerung an die deutschen Mordspatrioten 1806 – 1807“, die nur mit Unterbrechung der Folgen in den Ausgaben Nr. 60, 63, 64 und 65 bis zur Ausgabe Nr. 76 vom 10. September 1871 fortgesetzt wird.

Der ironisch gewählte Titel lässt schon die vernichtende Kritik erahnen über die Zustände in der preußischen Armee zu dem Zeitpunkt, die sich auszeichnete durch völlige Desorganisation, Hunger durch Mangel an Verpflegung, unzureichende Ausrüstung und Nachschub an Munition, was, alles zusammen genommen, zur Demoralisierung der Truppe führte, ganze Einheiten warfen ihre Waffen weg und ergriffen die Flucht.

Die Folgen geben einen aufschlussreichen Überblick über das Kriegsgeschehen in Preußen in den Jahren 1806 und 1807 und über das gänzliche Versagen seiner politischen und militärischen Führung. Auffällig ist, dass der Name Napoleon I. in den zahlreichen Kämpfen und Niederlagen Preußens kaum erwähnt wird.

In den Ausgaben Nr. 56 vom 12. Juli 1871 und 57 vom 16. Juli 1871 werden die Schlachten bei Jena und Auerstedt abgehandelt, mit der Ausgabe Nr. 58 vom 20. Juli 1971 beginnt mit der Bezeichnung: Kapitulation Nr. 1 die kontinuierliche Aufzählung bis zur letzten Folge Nr. 76 vom 20. September 1871. Mit Kapitulation Nr. 23 endet die Schilderung des endgültigen Zusammenbruchs allen preußischen Widerstandes auch im Festungsbereich. Es wird

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dargestellt, dass die Übergabe der Festungen oft geschah, ohne dass  die Kapazitäten an Munition und Verpflegung erschöpft waren, dennoch der Kampfeswille vorschnell erlahmte.

Hier einige Auszüge:

Zur Erinnerung an die deutschen Mordspatrioten. 1806 – 1807.

Es ist männiglich bekannt, daß Preußen 1806 in jämmerlicher Weise zu Fall gekommen ist. Die schmutzige Kette der schmachvollen Einzelheiten des Zusammensturzes ist den Blicken des ganzen Volkes aufs Sorgsamste entrückt worden. Die Geschichtsbücher gehen hurtig in kindisch – dummer Vaterlandsliebe und Unwissenheit über diesen Zeitpunkt hinweg. (...)

Den Franzosen konnte nie daran gelegen sein, die innere Fäulnis ihrer damaligen Gegner zu enthüllen, weil sie sonst ihre eigene „Gloire“ mit in den Koth zogen.

Reichlichen, wenn auch nicht vollständigen Aufschluß bietet das Buch: „Der Krieg von 1806 und 1807. Ein Beitrag zur Geschichte der preußischen Armee, nach den Quellen des Kriegsarchivs, bearbeitet von Eduard Höpfner, Generalmajor und Direktor der Königlichen allgemeinen Kriegsschule. Zweite Auflage. Berlin 1855“.

Die erste war 1850 erschienen. In der 1849 geschriebenen Vorrede sagt er: zum Schluß muß der Verfasser noch die Quellen erwähnen, deren er sich zu seiner Arbeit bedient hat. Es sind außerdem allen zugänglichen gedruckten Werken besonders die Akten gewesen,  welche aus den gerichtlichen Untersuchungen hervorgegangen sind, die nach dem Kriege gegen diejenigen eingeleitet wurden, welche durch Kapitulation oder sonst wie in feindliche Gefangenschaft gerathen waren, oder die sich wegen anderer Ereignisse ausweisen mußten, daß sie ihre Schuldigkeit gethan hatten. Was aber in dem vorliegenden Werke gegeben worden, beruht zum großen Theil auf gerichtlich festgestellte Aussagen. Außerdem hat der Verfasser aber auch die Akten des geheimen Staatsarchivs........ vielfältig benutzt.

N° 56                                                 Mittwoch, den 12. Juli                                              1871

                           Zur Erinnerung an die deutschen Mordspatrioten 1806 – 1807

                                                                          Jena

Die Infantrie des Generals Tauentzien wird zurückgeworfen. „Der General bemüht sich lange vergeblich, um dem Artilleriefeuer der Franzosen gewachsen zu sein, die Granatbatterie Tülmann ins Gefecht zu bringen, erst als er gegen den Führer zum Äußersten geschritten war, rückte die Batterie in die Linie.....diese Batterie wurde später auf dem Rückzuge von ihrer Deckung, einer halben Schwadron Gettkandt – Husaren verlassen, blieb in einem tiefen mit Weiden bepflanzten Graben liegen und fiel dem Feinde in die Hände. – (...)

Die preußische Kavallerie glänzte eben so wenig als die sächsische. 250 Holtzendorf – Kürassiere, welche die preußische reitende Batterie Steinwehr vertheidigen sollten, schlugen sich jämmerlich gegen das französische Chasseurregiment, gaben „Fersengeld, brachten  Unordnung, und das ganze warf sich auf die weiter zurückstehende Infantrie und durchbrach diese“. Die Batterie Steinwehr wurde verloren; mit der Kavallerie war nicht Ernstes mehr zu unternehmen. (...)

N° 57                                            Sonnabend, den 16. Juli                                                1871

                          Zur Erinnerung an die deutschen Mordspatrioten 1806 – 1807

                                                                  Auerstedt

(...) Man war in Deutschland, und doch hatten die Soldaten hungern müssen. Im Vorposten und Kundschafterdienst waren die Deutschen schlechter bedient als die Franzosen. Vom eigenen Vaterlande hatte man keine oder sehr schlechte Spezialkarten. Die Bekleidung der Armee war ganz jämmerlich. (...)

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„Man hatte die Armee in einer Organisation und in einer Ausrüstung belassen, die der Kriegsführung der Zeit nicht mehr angemessen war, indem man nichts von den neueren Kriegserfahrungen angenommen, das alte Linearsystem strikte beibehalten hatte desselben – nicht wie die Engländer – vorzugsweise auszubilden, so daß man der neuen Taktik der Franzosen mittellos gegenüber stand, und eigentlich von Tiralleur – und Artilleriefeuer allein geschlagen wurde, indem man in dem reichen Lande, in dem man sich befand, sich nicht nur Requisition entschließen konnte und Leute und Pferde hungern ließ.

Schlimmeres als den Rückzug von Jena und Auerstedt haben die Franzosen im letzten Krieg nicht geleistet. „Das Ganze glich völlig dem Zuge einer Kavallerie. Die Leute warfen sich auf alle Häuser, um Hunger und durst zu stillen, oder zerstreuten sich auf dem Felde, um Rüben zu suchen. Wagen, einzelne Geschütze, Jäger und Infanterie, einzelne Reiter alles bunt durcheinander. (...)

(...) Der Feldadjudant, Major Graf Dönhof, wurde von dem Hohenzollern am 15. morgens zu Napoleon nach Weimar gesandt mit einem in elendem Französisch geschriebenen Bettelbriefe, den Höpfner vorzieht nicht in deutscher Uebersetzung zu geben, darin steht zu lesen:

„Eure kaiserliche Majestät wollen doch ja sich mit mir verständigen, und die Beziehungen wieder aufnehmen, die so glücklicher Weise bisher zwischen uns bestanden haben. Mit der größten Aufrichtigkeit reiche ich die Hand dazu, gerade wie ich mit der größten Breitwilligkeit entgegengekommen wäre, wenn das Glück meine Waffen begünstigt hätte.

Sire, theilen Sie mir die Grundlagen mit, auf die hin Eure Majestät Alles der Vergessenheit anheim geben wollen, was uns entzweite, da doch unsere Freundschaft über alle Zweifel erhaben sein sollte. Eure Majestät werden mich bereit finden, Allem zuzustimmen, was auf immer unsere Einigkeit herstellen kann. Eure Majestät erhabene Seele und Aufrichtigkeit sind mir zum voraus sichere Bürgschaften dafür, daß Sie nichts verlangen werden, was gegen meine Ehre und die Sicherheit meiner Staaten ist.“.....

Dabei war dieser Friedrich Wilhelm insgeheim unter Kontrakt mit den Russen, die ja auch offen vorgaben, ihm zu Hülfe zu ziehen, während sie allerdings ungestört dort hinten in Europa gegen die Türken hin räubern wollten. (...)

N° 71.                                          Sonnabend, den 2. September                                       1871 

                         Zur Erinnerung an die deutschen Mordspatrioten 1896-1807

                                                             Zustände in Schlesien

Die Civilverwaltung   Schlesiens war in den Händen eines traurigen Ritters des fridericianischen Patriotismus, des Grafen Hoym, die Militärangelegenheiten in denen das Generalmajor Lindener. Der Bildung von so genannten Land – Reserve – Bataillionen widersetzte sich Hoym, „weil er sich nie von dem Nutzen, wohl aber von dem nicht zu übersehenden Schaden solcher Aufgebote überzeugen konnte, und schauderte, wenn er nur daran dachte. Auch erklärte Hoym öffentlich, „daß Alles verloren und alle Anstrengungen umsonst seien,“ und als die Niederlage der preußischen Armee in Schlesien bekannt geworden war, befahl er einen Erlaß an die Einwohner: „im Falle einer feindlichen Invasion, den feindlichen Truppen mit Bereitwilligkeit und höflichen Betragen zuvorzukommen, und, soweit es die Kräfte erlauben würden, ihre Forderungen zu befriedigen, sich auch die Annäherung des Feindes, in Zeiten hierzu gefaßt zu machen – und eine solche Aufforderung wurde sogar in der Festung Schweidnitz, unter den Augen des Kommandanten, den Bürgern vom Magistrat durch öffentliche Anschläge mitgetheilt.“ Höpfner fügt hinzu, daß  ein solcher Erlaß „im völligen Gegensatz zu dem Landsturm – Edikt von 1813“ war. In Frankreich wollten die Deutschen aber jüngsthin die Franzosen nach den Grundsätzen Hoyms handeln sehen, obgleich ihn niemand zu Hause zu vertheidigen wagt. (...)

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N° 72.                                           Mittwoch, den 6. September                                         1871 Die heilige Allianz der Völker!

Ich sah den Frieden jüngst herniedersteigen,

Er streute Blumen rings und lichtes Gold;

In allen Thälern schlief ein holdes Schweigen,

Wo eben noch des Krieges Sturm gegrollt.

„Erwacht!“ so klangs von seinem Göttermunde,

„Erwacht!“ vom Ebro bis zu der Wolga Strande!

„Schließt Eure Reih’n zum großen Völkerbunde,

„Reicht Euch die Bruderhand!“ (...)

Gedicht in sechs Strophen von Béranger*

* Der berühmte Chansonnier und größte Lyriker Frankreichs, geboren 1780, gestorben 1857. Obiges Gedicht wurde genau vor 50 Jahren (1821) zum ersten Mal veröffentlicht.

N° 77.                                         Sonnabend, den 23. September                                      1871

                                                            Politische Uebersicht

Das Versailler Ordnungsbanditenparlament hat sich vertagt, nachdem es noch durch Annahme eines von Bismarck angebotenen Vertrages zur raschen Räumung Frankreichs sein Verständniß des internationalen Charakters der Reaktion bethätigt hatte. Besagter Vertrag, der damit besteht, daß  gegen gewisse mit Bezug auf Elsaß und Lothringen bewilligte Zollunionen, die deutsche Okkupationsarmee bis auf 50000 Mann sofort zurückgezogen wird, beweist schlagend, daß  der „geniale Staatsmann“  aus dem furchtbar gespannten Verhältnis zu Frankreich herauszukommen wünscht – ein Wunsch, der natürlich unerfüllbar ist. –

N° 80.                                             Mittwoch, den 4. Oktober                                          1871

Beilage Nr. 80 des „Volksstaat“.

Sozialismus uns Kommunismus.

In Berlin, am Montag, den 28. August, referirte ich in unsern Verein über Sozialismus und Kommunismus; meine Worte fanden in der stark besuchten Versammlung Beifall, und man beschloß sie als besondere Broschüre zum Behufe der Agitation zu veröffentlichen. Ich entschloß mich daher zu folgendem gedruckten Referate: Damit man gleich wisse, worauf ich lossteuere, - so begann ich – wolle ich von vorn herein sagen, dass für mich der Sozialismus die Frage sei, auf welche der Kommunismus die Antwort gebe; „jener Frage „wie?“, dieser Antworte ich“; jener sei die Theorie, dieser die Praxis; wer wahrhaftiger Sozialist sein wolle, müsse Kommunist sein; das Eine sei die zwingende Folge des Andern.

Mit der Gesellschaftswissenschaft habe man sich schon vor mehr denn zwei Jahrtausenden bei den Griechen eingehend beschäftigt, wie ich in kurzen Zügen an Platon’s Idealstaat und an den politischen Untersuchungen des Aristotoles nachwies, von denen der Erstere freilich nur für den Kriegerstand, schon stark kommunistische Forderungen gestellt habe, der Letztere aber besonders durch seine Lehre von der Sklaverei, die er durch die natürlichen Verschiedenheiten und durch die Niedrigkeit der Gesinnung der Sklaven zu rechtfertigen suchte, uns zum Beweise dafür diene, daß  selbst die größte Gelehrsamkeit der damaligen Zeit einseitig bornirt gewesen sei, sobald es sich um die Berechtigung der Unterdrückten gehandelt habe, und doch gehe aus der Untersuchung hervor, daß  der höchste Grundsatz, der in einem gut geordneten Staatswesen zur Geltung kommen müsse, der der Gerechtigkeit sei, ein Satz,

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der noch heute und auch für uns unerschütterlich fest stehe. Jene Griechen hatten aber nur ein theoretisches Interesse an ihren Untersuchungen gehabt; praktisch auf die Gestaltung der Staatsverhältnisse einzuwirken, hatten sie weder beabsichtigt noch vermocht, und der Versuch, der unter Dionysius dem Jüngeren auf Sicilien gemacht worden sei, die platonischen Lehren im Staatswesen zur Geltung zu bringen, sei zweimal kläglich gescheitert. Das Mittelalter sei so sehr mit dem „Gottesstaat“ – und über einen solchen habe auch der „heilige“ Augustinus geschrieben, - beschäftigt gewesen, daß  der Untersuchung, wie die Erde in einen solchen umzuwandeln sei, einstweilen das Faustrecht unter den Menschen Platz gegriffen habe. Erst zur Zeit der Reformation sei einer der Humanisten Englands, ein Standesgenosse unseres Thronerschütternden Bismarck, von dem wir trotz Held’s* flammender Aufforderung dazu eine ähnliche Thätigkeit wohl kaum zu erwarten hätten, mit einer Schrift hervorzutreten, die die soziale Frage von neuem in Angriff genommen habe. Bei diesem wunderbaren Buche „De optimo republicae statu“ (Ueber die beste Staatsverfassung) verweilte ich etwas länger, indem ich aus dessen zweiten Theile über den Staat der Utopier, und die Verfassung der Amauroten Manches zu Belege dafür beibrachte, wie der Verfasser, der Staatskanzler Thomas Morus, zum Theil weiter gegangen sei, wie wir heutzutage. So sei in jenem Staate der Normalarbeitstag nur 6 Stunden lang gewesen. Und dauernder Unterschied zwischen Stadt – und Landbewohnern habe nicht existirt. Doch schon die Namen: Staat der Utopier, d. h. „Staat, der noch nicht vorhanden ist und Armauroten, d. h. „Unbekannte“ geben uns zu verstehen, daß  Morus uns nur ein Phantasiegebilde vorzuführen beabsichtigte, und wenn ihm sein Herzensfreund Desiderius Erasmus das prächtige Büchlein „Lob der Narrheit“ widmete, so liege darum die Andeutung, ein wie wunderlicher Narr derjenige gewesen sein muß, der den Gedanken fassen wollte, daß  ein solcher Staat ins Leben treten könne. (...)

Frage nun, wie die erstrebte Umwälzung der bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen solle vollzogen werden und ob nun in offener Empörung sich gegen den Besitz zu erheben beabsichtige, so sei die Antwort darauf, daß  sich diese Umwälzung von selber vollziehen müsse und werde. Blutige Revolutionen, die erfolgreich sein sollen, können nicht künstlich erzeugt werden, da der Unterdrücker im Besitze ungeheurer Machtmittel sei und es thöricht wäre sich nutzlos hinzuopfern. Aber die geistige Revolution, d. h. die Agitation für den zukünftigen Staat, müsse fortdauernd auf dem Wege der Selbstentwicklung und der Belehrung der noch unbefangenen ins Werk gesetzt werden..

Berlin, 12. September     Gustav Kwasniewski

* Besagter Berliner Zeitungsrenomist und 48er Straßendemokrat hat vor mehreren Monaten nämlich an Bismarck ein offenes Schreiben gerichtet, in dem er ihn zur Lösung der sozialen Frage aufforderte.   D. Red. D. V.

N° 93.                                        Sonnabend, den 18. November                                        1871

Ein Geschichtsschreiber 1)

Latter Day Pamphlets by Thomas Carlyle.

N° 1: The Present Time. – N° 2: Model Prisons. – London, 1850. (Pamphlete des jüngsten Tags. Herausgegeben von Thoma Carlyle. N° 1: die Gegenwart. N° 2: Mustergefängnisse. – London 1850.

Thomas Carlyle ist der einzige englische Schriftsteller, auf den die deutsche Literatur einen direkten und sehr bedeutenden Einfluß ausgeübt hat. Schon aus Höflichkeit darf der Deutsche seine Schriften nicht unbeachtet lassen.

Wir haben aus der neuesten Schrift von Guizot ( 1. Heft III. der N. Rh. Z.) gesehen, wie die Kapazitäten der Bourgeoisie im Untergehen begriffen sind. In den vorliegenden zwei Broschüren von Carlyle erleben wir den Untergang des literarischen Genies an den akut gewordenen geschichtlichen Kämpfen, gegen die er seine verkannten unmittelbaren, prophetischen Inspirationen geltend zu machen sucht.

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Thomas Carlyle hat das Verdienst gegen die Bourgeoisie aufgetreten zu sein, zu einer Zeit, wo ihre Anschauungen, Geschmacksrichtungen und Ideen die ganze offizielle englische Literatur unterjochten, und in seiner Weise, die mitunter sogar revolutionär ist. So in seiner französischen Revolutionsgeschichte, in seine Apologie Cromwells, in dem Pamphlet über den Chartismus, und in „Past and Presence2).“ Aber in allen diesen Schriften hängt die Kritik der Gegenwart eng zusammen mit einer seltsamen Apotheose3) des Mittelalters, auch sonst häufig bei englischen Revolutionären z. B. bei Cobett und einem Theil der Chartisten. Während er in der Vergangenheit wenigstens die klassischen Epochen einer bestimmten Gesellschaftsphase bewundert, bringt ihm die Gegenwart zur Verzweiflung, graut ihm vor der Zukunft. Wo er die Revolution anerkennt oder gar apotheosirt4) konzentrirt sie sich ihm in den einzelnen Individuen, einem Cromwell oder Danton. Ihnen widmet er denselben Heroenkultus, den er in seinen „Lectures on Heroes“ 5) als einzige Zuflucht aus den verzweiflungsschwangeren Gegenwart als eine Religion gepredigt hat.

Wie die Ideen so der Styl Carlyle’s. Er ist eine direkte, gewaltsame Reaktion modern = bürgerlichen englischen Recksniff = Styl 6) dessen gespreizte Schlaffheit, vorsichtige Weitschweifigkeit und moralisch sentimental zerfahrene Langweiligkeit von den ursprünglichen Erfindern, den gebildeten Cockneys 7) auf die ganze englische Literatur übergegangen ist. Ihr gegenüber behandelte Carlyle die englische Sprache wie ein vollständig rohes Material, das er von Grund aus umzuschmelzen hatte. Veraltete Wandlungen und worte wurden wieder hervorgesucht und neue erfunden nach deutschem Jean Paul’schen Muster. Der neue Styl war oft himmelstürmend und geschmacklos, aber häufig brillant und immer originell. Auch hier zeigen die Latter – Day Pamphlets einen merkwürdigen Rückschritt.

Uebrigens ist es bezeichnend, daß  aus der ganzen deutschen Literatur derjenige Kopf, der am meisten Einfluß aus Carlyle geübt hat, nicht Hegel war, sondern der Literarische Apotheker Jean Paul.

Der Kultus des Genius, den Carlyle mit Strauß theilt, ist in den vorliegenden Broschüren der Genius abhanden gekommen. Der Kultus ist geblieben.

  1. Die nachstehende Kritik Carlyle’s ist dem vierten Heft (April 1850) der „Neuen Rheinischen Zeitung“ politisch – ökonomische Revue, redigiert von Karl Marx“ entnommen. Sie erhält durch den jetzt grassirenden Heroenkultus noch ein besonderes Zeitungsinteresse, welches dadurch erhöht wird, daß  Carlyle’s neueste Helden der Amerikanische Sklavenpeitscher = Hauptmann Jefferson Davis und der „geniale Staatsmann“ Bismarck sind., was wenigstens eine gewissen Consquenz in der Auswahl verräth.  Die hier charakterisirte Mauer der sog. Geschichtsschreibung wird in Deutschland hauptsächlich von Johannes Scherr kultivirt, den wir schon früher mit Fug und Recht als Affen Carlyle’s bezeichnet haben.
  2. Vergangenheit und Gegenwart.
  3. Vergötterung. 4) vergöttert. 5) Vorträge über Helden und Heldenkultus.
  1. pharisäerhaft, heuchlerisch, selbstzufirieden.
  2. Spitzname der Londoner Philister.

N° 94.                                           Mittwoch, den 22. November                                        1871

                                                           Politische Uebersicht

                                                           Recht für den Arbeiter

Wegen der Teilnahme an den Königshütter „Unruhen“ wurden im Juli d. J. 117 Arbeiter verhaftet, und, obgleich es sich sofort herausstellte, daß  Verabredungen und Vorbereitungen nicht stattgefunden hatten, und folglich kein planmäßiges Handeln oder gar Complott vorlag, so wurden doch sämtliche Verhaftete 5 Monate lang in Untersuchungshaft gehalten, bis zum

                                                                                                           190                                                                                                 

Beginn der Schwurgerichtsverhandlungen in Beuthen. Die Verhandlungen bestätigten nur, daß  dem Exzeß jeder Charakterzug eines Complotts abging, daß  er völlig spontan ( nicht durch äußere Einflüsse veranlasst) gewesen war, und „Rädelsführer“ nicht existirten. Das Urtheil ist nun gefällt sechsunddreißig Arbeiter sind zu Zuchthaus von 1 Jahr bis 1 Jahr und 8 Monate verurtheilt, neunundfünfzig zu Gefängnis von 4 Wochen bis 1 Jahr, und nur zweiundzwanzig freigesprochen.

Ein Geschichtsschreiber. (Schluß)

Man sieht, wie der „Edle“ Carlyle von einer durchaus pantheistischen Anschauungsweise  angeht. Der ganze geschichtliche Prozeß wird bedingt nicht durch die Entwicklung der lebendigen Massen selbst, die natürlich von bestimmten aber selbst wieder historisch erzeugten wechselnden Voraussetzungen abhängig ist; er wird bedingt durch ein ewiges für alle Zeiten unveränderliches Naturgesetz, von dem er sich heute entfernt und dem er sich morgen wieder nähert; und auf dessen richtige Erkenntniß Alles ankommt. Diese richtige Erkenntniß des ewigen Naturgesetzes ist die ewige Wahrheit, Alles andere ist falsch. Mit dieser Anschauungsweise lösen sich die wirklichen Klassengegensätze, so verschieden sie in verschiedenen Epochen sind,  sämtlich auf in dem Einen großen und ewigen Gegensatz Derer, die das ewige Naturgesetz ergründet haben und danach handeln, der Weisen und Edlen, und Derer, die es falsch verstehen, es verdrehen und ihm entgegen wirken, der Thoren und Schurken. Der historisch erzeugte Klassenunterschied wird so zu einem natürlichen Unterschied, den man selbst als einen Theil des ewigen Naturgesetzes anerkennen muß, indem man sich vor dem Edlen und Weisen der Natur beugt: Kultus des Genius. Die ganze Anschauung des historischen Entwicklungsprozesses verflacht zur platten Trivialität der Illuminaten -  und  Freimaurerweisheit des vorigen Jahrhunderts zur flachen Moral der Zauberflöte und zu einem unendlichen verkommenen banalisirte Saint – Simonismus. (...)

N° 97.                                          Sonnabend, den 2. Dezember                                         1871

                                                          Politische Uebersicht

Zum Kapitel vom Preußischen Schulmeister „der bei Sodawa etc. siegte.“ In der Debatte um das Pfaffenmaßregelungsgesetz sagte der Fortschrittliche Abgeordnete Richter: „Die Regierungen wollen dem Volk keine Waffen gegen den Ultramontanismus in die Hand geben; sie wollen ihn nur abhalten, in ihre eigene Machtsphäre einzugreifen. Von Staats wegen lässt man die Jugend systematisch verdummen, und die Alten will dann durch Zwangsmittel vor den Folgen ihrer Dummheit schützen.“ Diese „Verdummung der Jugend von Staats wegen“ geschieht bekanntlich in den Schulen durch die schulregulativirten Schulmeister haben allerdings „bei Sadowa etc. gesiegt. –

N° 101.                                         Sonnabend, den 16. Dezember                                      1871

Der Sozialismus des „Neuen Sozialdemokrat“. ( Aus der „Demokratischen Zeitung“)

Es ist recht erfreulich, daß  der  „Neue Sozial = Demokrat“ nunmehr seine Maske, die er bisher vorgehalten, fallen gelassen hat: er veröffentlicht in jeder Nummer Verleumdungen und Verdächtigungen gegen die internationale Arbeiterassoziation, in edlem Wetteifer mit der „Norddeutschen Allgemeinen“ und der „Kreuzzeitung“ , welche mit vielem Behagen seine Ergüsse abdrucken; dieselben rühren zumeist von einem gewissen Herrn Schneider berüchtigten Stuttgarter Angedenkens, her und sind fast wörtlich identisch mit den bereits von Polizeispionen in deutschen offiziösen Blättern wiedergegebenen „Enthüllungen“.

                                                                                                       191                                                                                              

 

 

 

 

 

 

 
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