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N° 1. Mittwoch, den 3. Januar 1872
Der Volksstaat
(Früher Demokratisches Wochenblatt)
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Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der internationalen
In der ersten „Volksstaat“ - Ausgabe des Jahres 1972 wird das vom 7. bis 9. August 1869 in Eisenach beschlossene Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands (SDAP) im vollen Wortlaut abgedruckt, nach dem es erstmalig in gleicher Weise in der Ausgabe Nr. 80 vom 4. Oktober 1871 veröffentlicht worden war.
Ein nationalökonomischer Vortrag.
(gehalten im Berliner Demokratischen Arbeiterverein)
Meine Herren! Gestatten Sie mir, ehe ich mein eigentliches Thema beginne, eine kurze Einleitung, die Ihnen einige heute fast allgemein Ihr richtig gehaltene Sätze in das Gedächtnis zurückrufen soll. Es ist Ihnen bekannt, daß der Staat im Mittelalter getragen wurde von der Idee der Herrschaft. Nicht blos im Politischen, sondern auch im Wirthschaftlichen galt der Satz, daß der Staat alles zu ordnen und zu beaufsichtigen habe, - da wurde bestimmt, welche Waaren eingeführt und welche ausgeführt werden durften, Handel und Produktion waren gebunden durch hergebrachte Gewohnheiten – ich erinnere Sie nur an die Zünfte. Als nun mit dem Beginn des vorigen Jahrhunderts die Idee der persönlichen Freiheit sich zu entwickeln und mehr und mehr um sich greifen begannen, endlich in der französischen Revolution von 1789 ihren Triumph feierten, - da entstand die Idee des wirthschaftlichen Liberalismus. – Francois Guerney, der Leibarzt Ludwig XV. , ist der Vater dieser Richtung; von ihm ausgehend, hat die Idee, daß auch in wirthschaftlicher Beziehung volle Freiheit helfen müsse, sich immer mehr Bahn gebrochen und ist heute in den bürgerlichen Kreisen Europas fast durchweg die herrschende geworden. „Der Staat darf sich in die wirthschaftliche Bewegung nicht einmischen ist der die ganze liberale volkswirthschaftliche Schule beherrschende Grundsatz. Während nun zu Anfang die folgende, von Guerney aufgestellte Lehre galt, daß alle wirthschaftlichen Werthe, also alle Güter und Waaren, kurz alles, was der Mensch besitzt, seine Entstehung der Natur verdanke, wurde durch die großen englischen National = Ökonomen Adam Smith der Satz aufgestellt, daß die Arbeit die Quelle aller Güter sei. Obschon dieser Satz in der Wirthschaft noch heute unbestritten gilt, wird er doch jetzt von der von der sogenannten Manchester = Partei bald entschiedener bald unbedingter geleugnet. (...)
Diese großen englischen Forscher hatten nun die Aufgabe, die Wissenschaft erst durch Beobachtung und Registrierung der im Verkehr sich wiederholenden Vorgänge zu schaffen,
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die Gesetze dieses Verkehrs zu ergründen und festzustellen. Es entging ihnen nicht, daß in einem völlig sich selbst überlassenden Verkehr die Lage der Arbeiter eine traurige sein und bleiben müsse, - Ihnen brauche ich wohl nicht noch das sogenannte Ricardo’sche Lohngesetz zu citiren. Ich will nur dabei bemerken, daß mit diesem Gesetze ein hocus pocus getrieben wird, der zur Verwirrung der Köpfe viel beigetragen. Jene großen englischen Ökonomen bezeichnen dieses Gesetz – als die natürliche Folge des freien Verkehrs, als ein natürliches Gesetz, – heute sagt man, sie hätten es für ein Naturgesetz erklärt, und jeder, der nun dieses Gesetz als richtig anerkenne, bekenne damit, daß den Arbeitern überhaupt nicht zu helfen sei, denn gegen ein Naturgesetz könne man doch nicht ankämpfen! Es ist aber, wie gesagt, kein Naturgesetz, sondern nur die natürliche unserer wirthschaftlichen Verhältnisse; mit Aenderung der Ursache, der kapitalistischen Produktion, fallen selbstredend die Folgen derselben fort. (...)
Ich komme jetzt zu dem Inhalt des Marx’schen Werkes: „Das Kapital“. (...)
Sie sehen, meine Herren, daß auch Marx es betont, wie der einzelne Kapitalist, der einzelne Grundbesitzer nicht verantwortlich gemacht werden kann, nicht verantwortlich gemacht werden darf für das, was sich naturgeschichtlich entwickelt hat, für den Ausbeutungsprozeß des Kapitals. (Fortsetzung folgt)
Aus Amerika
In Massachusets hat die politische Arbeiterpartei bei der letzten Wahl eine arge Niederlage erlitten, da sie einige Tausend Stimmen weniger auf ihre Kandidaten vereinigte, als letztes Jahr. Ihr Organ, sowie aufmerksam und in der Nähe beobachtende Mitglieder der Partei schreiben diesen Verlust der Aufnahme des Frauenstimmrechts in das Parteiprogramm zu. In Newyork hat die kürzlich erwähnte Arbeiterpartei nicht einmal Erwähnung gefunden in dem veröffentlichten Wahlresultat. Auch war zu guter Letzt nur ein einziger Kandidat davon übrig geblieben, eine Lehre, daß jedem Kampf eine Organisation vorangehen muß.
N° 2. Sonnabend, den 6. Januar 1872
Poltische Uebersicht
Wie unsere Leser wissen, brachte Fürst Bismarck auf der Salzburger Konferenz die soziale Frage zur Besprechung, und soll er sich dort mit seinem Freund – Feind dahin verständigt haben, daß man die soziale Frage „studiren“ und auf Grund der zu machenden „Studien“ eine „Lösung“, d. h. Ausdeutung derselben im Bismarck = Beust’schen Interesse anbahnen müsse. Man munkelte von Denkschriften, die gewechselt sein sollten, und ganz neuerdings verlautete aus Berlin, daß dort im Handelsministerium Konferenzen über zu treffende Maaßreglen abgehalten worden seinen, an denen u. A. auch Herr Max Hirsch teilgenommen habe. Hr. Hirsch, der sich auf diese Weise von der ........zum Regierungspräsidenten befördert sah, hat in einer Erklärung gegen den „Neuen Sozialdemokrat“ heftigen Protest erhoben und jede Betheiligung in Abrede gestellt. Wir müssen ihm glauben. Dagegen ersehen wir aus der letzten Nummer der Berliner „Volkszeitung“, daß der Lehrer und Chef des Hrn. Max Hirsch, der Ex – Altverehrte Schulze wirklich in Regierungssozialismus macht. (...)
Ein Nationalökonomischer Vortrag.
(Gehalten im Berliner Arbeiterverein.) (Fortsetzung)
Folgen wir nun den Marx’schen Untersuchungen: Alle Dinge, die die Menschen sich aneignen, haben einen Werth, denn ein durchaus werthloses Ding wird kein Mensch haben wollen. So weit die Sachen nun nützlich sind, zu irgend einem Zwecke brauchbar erscheinen, haben sie für den Menschen einen Gebrauchswerth. Robinson auf seiner einsamen Insel schafft sich durch seine Thätigkeit nur Gebrauchswerthe, und wie ihm, ist es auch den Menschen in frühesten Zeiten ergangen. Durch die Theilung der Arbeit ist es aber dahin gekommen, daß die Menschen nicht für sich, nicht für den eigenen Gebrauch die Gegenstände ihrer Kunstfertigkeit schaffen, sondern sie arbeiten in der Absicht ihre Produkte
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gegen andere umzutauschen, die sie selbst nicht haben, aber gebrauchen. Es ist selbstverständlich, daß man nur solche Gegenstände, Sachgüter, eintauschen und vertauschen wird und kann, die Gebrauchswerthe sind, man darf aber nicht glauben, daß Tauschwerth und Gebrauschswerth ein und dasselbe seien. Der Gebrauchswerth ist die zur Befriedung menschlicher Bedürfnisse den Gütern anhaftende natürliche Eigenschaft derselben; der Tauschwerth dagegen ist etwas Anderes, erst aus den gesellschaftlichen Verhältnissen Entstandenes. Es gibt Gegenstände, wie z. B. die Luft, der Sonnenschein, welche für den Menschen den allerhöchsten Gebrauswerth haben, - denn ohne Luft und Sonnenschein kann der Mensch ja nicht existieren – denen aber kein Tauschwerth anhaftet. Festzuhalten ist, daß der Tauschwerth einer Sache deren Gebrauchswerth voraussetzt. Letzterer, der Gebrauchswerth, ist der stoffliche Träger des Tauschwerths.
N° 3. Mittwoch, den 10. Januar 1872
Ein nationalökonomischer Vortrag. (Gehalten im Berliner Demokratischen Arbeiterverein)
(Fortsetzung)
Wir wissen also, daß der Arbeiter seine Arbeitskraft auf dem Markte verkaufen muß und verkauft; fragen wir nun, welches ist denn nun der Werth dieser Waare? Der Tauschwerth ist, wie uns bekannt, die zur Herstellung der Waare gesellschaftlich nöthige Arbeitszeit. – Jede menschliche Arbeit ist ein Verausgaben von menschlicher Lebenskraft; Muskel, Nerven, und Hirn werden dabei verbraucht und durch Nahrung wieder ersetzt; - die Arbeitskraft wird also durch ein gewisses Quantum von Nahrungsmitteln erhalten, resp., wenn erschöpft, wieder hergestellt, und der Tauschwerth der Arbeitskraft ist also nur gleich dem Werthe der zu ihrer Wiedererlangung nöthigen Lebensmittel. Da aber der Fortpflanzungstrieb der stärkste im Menschen ist und ohne fortwährende Wiedererzeugung die Arbeiter aussterben würden, muß der für die Hingabe der Arbeitskraft gezahlte Preis, d. h. ihr eigener Werth gleich sein der zur Erhaltung der Fortpflanzung der Arbeiter nöthigen Subsistenzmittel.
Sie sehen, meine Herren, daß wir auf diesem Wege zu demselben Lohngesetz gekommen sind, welches die englischen Oekonomen durch Beobachtung der Wirkungen von Nachfrage und Angebot gefunden haben. – Der Arbeiter hat also seine Arbeitskraft verkauft, erhält deren Tauschwerth in seinem Lohn, und der Käufer der Waare tritt damit in den Besitz des Gebrauchswertes derselben. Er läßt den Arbeiter für sich arbeiten und das Produkt der Arbeit gehört ihm.
Regierungssozialismus.
Die hochkonservative „Berliner Revue“ erscheint seit einiger Zeit unter dem Titel: „Die Wacht an der Mosel“ und hat in ihrer ersten Nummer erklärt: „Es scheint das Zeitalter des Sozialismus gekommen, wohlan, so wollen wir in konservativen Sozialismus machen.“
Diese sehr gut redigirte Wochenschrift hat seit längerer Zeit dem Treiben der Berliner Sozialdemokratie große Aufmerksamkeit geschenkt, öfter Stellen aus dem „Neuen Sozial =Demokrat“ abgedruckt und wiederholt ausgesprochen, daß die Ansicht dieses Blattes in Bezug auf den Kapitalismus von ihr getheilt werde; vor der „internationalen Sekte“ hat sie selbstverständlich einen „wohlbegründeten Abscheu“.
Wir geben unseren Lesern nachstehend einen Auszug aus einem Artikel jenes Blattes, der wegen seines Inhalts und seiner Folgen bemerkenswerth erscheint:
„Die schlimmsten Feinde der Arbeiter sind Diejenigen, welche auf abenteuerliche Weise locken, ihnen Ziele vorstecken, die in langer, langer Zeit nicht, wenn überhaupt, zu erreichen sind, und zu denen der Weg durch Seen von Menschenblut führen muß.“ „Die Führer der deutschen Sozialdemokratie hatten bisher in ihrer Partei eine beneidenswerthe Autorität.- So Lassall, so v. Schweitzer. Diese Autorität geht ihnen heute ab; die jetzigen Führer lassen sich von der Menge treiben; sie führen nicht mehr, - sie glauben zu schieben und werden geschoben.
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Von Bebel und seiner internationalen Sekte sehen wir natürlich ab; diese ist so staatsgefährlich, daß keine Regierung, die national ist, sie dulden kann.
N° 4. Sonnabend, den 13. Januar 1872
Ein nationalökonomischer Vortrag. (Gehalten im Berliner Demokratischen Arbeiterverein.)
(Schluß)
(...) Es würde zu weit führen, wenn ich den höchst interessanten, aber das Herz des Menschenfreundes zusammenschnürenden Berichten noch weiter folgen wollte; ich gehe daher zu etwas anderem über und zeige Ihnen nun noch, wie sich in der heutigen Produktionsweise das Kapital neu erzeugt.
Wir wissen, daß zur
N° 5. Mittwoch, den 17. Januar 1872
Die Inauguraladresse von Karl Marx anlässlich der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation 1864.
Männer der Arbeit!
Es ist eine große Thatsache, daß das Elend der Arbeiterklassen sich in den Jahren 1848 – 1864 nicht vermindert hat, obgleich gerade diese Periode in den Annalen der Geschichte beispiellos dasteht in Bezug auf die Entwicklung ihrer Industrie und das Wachstum ihres Handels. Im Jahre 1850 prophezeite ein gemäßigtes Organ der britischen Bourgeoisie, anscheinend im Besitz von mehr als gewöhnlichen Kenntnissen, daß, wenn die Ein – und Ausfuhr England’s um 50% steigen, der Pauperismus in England auf den Nullpunkt sinken würde. Aber ach! Am 7. April 1864 entzückte Mr. Gladstone, der englische Schatzkanzler, seine Zuhörerschaft durch den Nachweis, daß der Gesamtwerth der englischen Ein – und Ausfuhr im Jahre 1863 auf 443,955,000 Pfund Sterling angeschwollen sei, eine Summe welche ungefähr den dreifachen Betrag des Umsatzes in dem erst vor Kurzem verflossenem Jahr 1843 ausmache. Bei alledem aber war er genöthigt, auch des sozialen Elends zu gedenken. Er mußte sprechen von Denjenigen, die an der Grenze der Hungersnoth angelangt seien, von Arbeitslöhnen, die um keinen Pfennig gestiegen seien, vom menschlichen Leben, welches in neun Fällen unter zehn nur ein Kampf um die tägliche Existenz sei.
N° 6. Sonnabend, den 20. Januar 1872
Die Inauguraladresse von Karl Marx anlässlich der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation 1864 (Schluß)
Nach den Fehlschlägen der Revolutionen von 1848 wurden auf dem Continent alle Parteiorganisationen und Parteijournale der arbeitenden Klassen durch die eiserne Hand der Gewalt zermalmt, die fortgeschrittenen Söhne der Arbeit flohen in Verzweiflung nach der transatlantischen Republik, und die kurzlebigen Träume von Emanzipation der Arbeiterklasse zerrannen in einer Epoche fieberhafter Industriethätigkeit, sittlicher Versumpftheit und politischer Reaction. Die Niederlage der arbeitenden Klassen auf dem Continent verbreitete bald ihre ansteckende Wirkung auf die andere Seite des Kanals. Während die totale Niederlage ihre continentalen Brüder ihre eigene Sache brach, gab sie den Grundbesitzern und Kapitalisten die einigermaßen erschütterte Zuversicht wieder. Uebermüthig zogen dieselben Zugeständnisse zurück, welche bereits angekündigt waren.
N° 9. Mittwoch, den 21 Januar 1872
Politische Uebersicht
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Die Neunstundenarbeit ist in vielen Englischen Städten f+r verschiednen Geschäftszweige in dem neuen Jahre in Kraft getreten, was zu vielen Festlichkeiten Anlaß gegeben hat. Ueberhaupt macht die Neunstundenbewegung in England ununterbrochen Fortschritte. Wie wir aus dem letzten „Beehive“43 ersehen, haben die Bauarbeiter in 40 Städten Englands theils verkürzte Arbeitszeit gefordert, und ist infolge einer Versammlung der reichsten Bauunternehmer Englands, welche vorigen Dienstag in Manchester statt hatte, der Beschluß gefaßt worden, daß das Verlangen einer wöchentlichen Arbeitszeit von 54 Stunden (9 Stundentag) durchaus gerechtfertigt sei. Hiernach ist die baldige Einführung der neunstündigen Arbeitszeit in dem Bauhandwerk mit Bestimmtheit zu erwarten; und wenn einmal zwei so mächtige Arbeiterkörperschaften, wie die Eisen – und Bauarbeiter den neunstündigen Normalarbeitstag durchgesetzt haben, läßt sich nicht bezweifeln, daß derselbe bald auch den übrigen Arbeitern zu Theil sein wird.-
N° 15. Mittwoch, 21. Februar 1872
Die soziale Frage und unsere Gesetzgeber
Für jeden denk – und urtheilsfähigen Menschen, zu welcher Partei er sich auch zähle, steht jetzt wenigstens der Satz fest, daß nur auf dem Wege der Gesetzgebung eine gewaltsame soziale Revolution vermieden werden kann. Freilich, die Hoffnungen eines Jeden, der einen friedlichen Verlauf wünscht, müssen sehr zusammenschrumpfen angesichts der skandalösen Unwissenheit und Leichtfertigkeit, welche unsere Gesetzgeber bei Behandlung der herrschenden gesellschaftlichen Uebelstände zur Schau tragen. Bekannte doch neulich im preußischen Abgeordnetenhaus (Sitzung vom 22. Januar d. J.) der Abgeordnete Berger, „nicht zwanzig Abgeordnete hätten eine Ahnung von der Thatsache gehabt, daß mehr als zwei Drittel aller Steuerzahlenden zur untersten Steuerklasse gehörten.“ – mit anderen Worten: nicht zwanzig preußische Abgeordnete hätten eine Ahnung von der Lage der Volksmassen und von den herrschenden Nothständen! Wie ist aber auf dem Weg der Gesetzgebung an die Abstellung von Uebeln zu denken, von denen die ungeheure Mehrheit der Gesetzgeber keine „Ahnung“ hat?
N° 18. Sonnabend, 2. März 1872
Etwas für die „nationalen“ Geschichtsbücher.
Die Fortsetzung des Krieges gegen Frankreich nach der Schlacht bei Sedan und den Verhandlungen bei Ferrières ist darauf zurückzuführen, daß die deutsche Presse (ohne Zweifel offiziell inspirirt) fortwährend von den uns „schändlich geraubten“ alten Reichslanden gesprochen hat. –
Dies ist aber eine historisch unwahre Behauptung, wenn die folgenden Thatsachen unparteiisch berücksichtigt werden. –
Zuförderst Lothringen. – Nach Joh. Georg Büsch (Weltgeschichte I. Theil Pag. 308) ist Lothringen im Jahre 1735 von Oesterreich an Frankreich im Tausch gegen das Großherzogthum Toscana abgetreten worden. –
Auf Lothringen kann also der Ausdruck: „Das uns schändlich geraubte“ alte Reichsland keinen Falls eine irgendwie begründete Anwendung finden.
Hinsichtlich des Elsaß aber besitzen wir in Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Krieges eine Autorität, worauf man sich in Deutschland gerne beruft. Er sagt nun (II. Theil Pag. 252): „Endlich, (d.h. gleich nach der Niederlage der Schweden bei Nördlingen 1634 z. Septbr.) war der Zeitpunkt erschienen, welchen Richelieu längst mit ungeduldiger Sehnsucht entgegenblickte. Nur die völlige Unmöglichkeit, sich auf einem anderen Wege zu retten, konnte die protestantischen Stände Deutschlands vermögen, die Ansprüche Frankreichs auf das Elsaß zu unterstützen. Dieser äußerste Nothfall war jetzt vorhanden; Frankreich war unentbehrlich, und es ließ sich den lebhaften Antheil, den es von jetzt an dem deutschen Kriege nahm, mit einem teuren Preise bezahlen. Voll Glanz und Ehre betrat es jetzt den politischen Schauplatz. Schon hatte Oxenstierna, dem es wenig kostete, Deutschlands Rechte
und Besitzungen zu verschenken, die Reichsfestung Philippsburg und die noch übrig verlangten Plätze an Richelieu abgetreten, jetzt schickten die oberdeutschen Protestanten auch in ihrem Namen eine eigene Gesandtschaft ab, das Elsaß, die Festung Breisach (die erst erobert werden sollte) und alle Plätze am Oberrhein, die der Schlüssel zu Deutschland waren, unter französischen Schutz zu stellen. – Was der französische Schutz bedeutete, hatte man an den Bisthümern Metz, Tull und Verdun gesehen, welche Frankreich schon seit Jahrhunderten, selbst gegen ihre rechtmäßigen Eigenthümer beschützte. – Das Trier’sche Gebiet hatte schon französische Besatzungen.......
„So schimpflich wurden Deutschlands Rechte von Deutschen Ständen an diese treulose habsüchtige Macht verkauft, die, indem sie mit frecher Stirne die ehrenvolle Benennung einer Beschützerin annahm, bloß darauf bedacht war, ihr Netz auszuspannen, um in der allgemeinen Verwirrung sich selbst zu versorgen.“ –
So weit Schiller. Was er vorstehend berichtet, geschah 1635, und von da an bis zum Westfälischen Frieden 1648 gab Frankreich unausgesetzt für die Sache der Reformation und der deutschen protestantischen Reichsstände Subsidien und Hülfstruppen bis gegen Ende des Krieges; Frankreich und Schweden standen allein gegen den Kaiser und die katholische Liga im Felde, denn alle protestantischen Reichsstände mit alleinige Ausnahme des Landgrafen von Hessen – Cassel hatten, erschöpft und mutlos, sich vom Kampfe zurückgezogen. Die Franzosen unter Turenne und die Schweden unter Wrangel und Königsmark waren demnach von den deutschen Reichsständen gänzlich verlassen und setzten den Krieg allein fort, den sie dann 1648 siegreich beendeten. – (...)
Die Stadt Straßburg ward allerdings etwa 50 Jahre später von Louis XIV. ohne Kriegserklärung besetzt, aber auch ohne Widerstand, weil die Hälfte des Senats und der Bürgerschaft damit einverstanden war, und die andere Hälfte vom Kaiser ohne Unterstützung gelassen war. Die Franzosen zogen damals ein unter einem Goldregen und nicht unter einem Kugelregen, wie wir unsererseits im letzten Kriege.-
Daher ist nichts naturgemäßer als die Antipathie der Elsässer gegen die Annexion. –
Daß übrigens die durch unsere hyperloyale Presse eingebürgert Floskel von: „schändlich geraubten alten Reichslanden“ der historischen Wahrheit ins Gesicht schlagen heißt (natürlich auf höhere Inspiration), sollte auch überdem noch jedem Unparteiischen einleuchtend sein, wenn er sich die beiden Friedensschlüsse von 1814 und 1815 vergegenwärtigt.
Damals war Frankreich ebenfalls von unseren Truppen besetzt und lag noch viel erschöpfter und wehrloser zu unseren Füßen, als jetzt, und dessen ungeachtet machte man mit Lothringen und Elsaß gerade eine Ausnahme zu Gunsten der Franzosen, indem man beide Länder nicht gleich den neueren Eroberungen wieder zurückverlangte, sondern sie als integrirenden Theil des französischen Staats anerkannte und eine beträchtliche Geldentschädigung annahm. –
Diese beiden Friedensschlüsse (1814-15) sind allerdings im Einklang mit dem Westfälischen Frieden und der Schillerschen Geschichte des Dreißigjährigen Krieges zu bringen, nicht aber die im vorigen Jahre den Franzosen auferlegten Bedingungen.
Was man 1815 als integrirenden Theil Frankreichs anerkannte, nennt man nach einem um zwei Generationen verlängerten Besitz mit einem Male „schändlich geraubte Reichslande“, desintegrirt sie ohne Umstände und annektirt sie samt 5 Milliarden, obwohl die Fortsetzung des Krieges nach den Unterhandlungen von Ferrières nicht Frankreichs, sondern Preußens Wille war. –
Frankreich auf dringende Aufforderung der deutschen protestantischen Reichsstände opferte großartige Geld – und Truppenunterstützungen während 13 Jahre und rettete die Sache der Protestanten und der Reformation, wofür ihm das Elsaß abgetreten und zugesprochen wurde. Wie ist nun da billiger – und gerechterweise von „schändlichem Länderraub“* zu sprechen? Wie will man das den Franzosen verständlich machen? Und das wäre doch nöthig, um mit ihnen im Frieden leben zu können.
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Wie Lothringen und Elsaß vor ein paar hundert Jahren französisch geworden sind einerseits, und wie diese Provinzen jetzt preußisch geworden sind andererseits, darin liegt ein so furchtbarer Contrast, der so schwer zu Ungunsten Preußens wiegt, daß die Franzosen eine Nation von Schafen oder Lämmern sein müssten, um auf mehr als einen kurzen Waffenstillstand mit ihnen zählen zu können.
Wenn die deutsche Presse während der Friedensvorschläge der Franzosen bei Ferrières ihre Schuldigkeit gethan haben und die Geschichte der Abtretung der alten Reichslande nicht gefälscht hätte, so hätte die Fortsetzung des Kampfes und ein baldiger neuer blutiger Krieg sehr wahrscheinlich vermieden werden können.
Das Verbrechen einer solchen Fälschung immer und immer und immer wieder zur Kenntniß des getäuschten Volkes zu bringen, das ist Aufgabe der sozial – demokratischen Presse.
N° 19. Mittwoch, 6. März 1872
An unsere Parteigenossen!
Wie Ihr wißt, beginnen Montag den 11. März die Schwurgerichtsverhandlungen in dem „Hochverratsprozesse“ gegen uns. Viele von Euch werden denselben beiwohnen wollen. Dies veranlaßt uns, die dringende Aufforderung an Euch zu richten, weder durch Zeichen des Beifalls noch durch Mißfallen die Verhandlungen zu unterbrechen. Geschehe was da wolle, verhaltet euch ruhig. Mag unsere Gegnerschaft durch bübische Hetzartikel, oder durch bezahlte Agents provocateurs Euch reizen zu suchen, macht diese perfiden Machinationen durch Eure Besonnenheit zu Schanden. Die Abrechnung wird nicht ausbleiben. Leipzig, den 3. März.
Bebel, Liebknecht, Hepner.
Diese Mitteilung und Ankündigung, die in der folgenden Nr. 20 vom 9. März noch einmal wiederholt wird, enthält den Hinweis auf die Anklage wegen Hochverrat gegen die drei Unterzeichner. Der Prozeß selber sowie die Reaktionen darauf werden in den darauf folgenden Ausgaben des „Volksstaat“ breiten Raum einnehmen. Die Darstellungen und Berichte erlauben einen Einblick, inwieweit Rechtstaatlichkeit, Meinungs – und Pressefreiheit in dem historischen Zeitraum als gewährleistet angesehen werden können.
N° 20. Sonnabend, 9. März 1872
Humanität und ökonomische Weisheit unserer Bourgeoisiespitzen.
I.) Die Handels – und Gewerbekammer von Plauen, deren Vorsitzende die Herren Fabrikant Franz Mammen und Buchbinder Schiller sind, haben am 6. Febr. beschlossen.
„Die Kammer wolle die königliche Staatsregierung ersuchen, dahin zu wirken, daß in der Reichsgewerbeordnung, was deren Bestimmungen über die Beschäftigung von Kindern und jugendlichen Arbeitern in Fabriken betrifft, 1) die zulässige Arbeitszeit der Kinder von 12-14 Jahren von 6 auf 7 Stunden täglich erhöht, 2) bei jungen Leuten von 14-16 Jahren die Beschränkung der Arbeitszeit auf zehn Stunden aufgehoben, 3) die Vorschrift wegen jedesmaliger Gestattung von Bewegung in freier Luft während der gesetzlichen Arbeitspausen an die Voraussetzung an die Möglichkeit einer solchen geknüpft, 4) der zulässige Beginn der Arbeitszeit von 51/2 auf 5 Uhr vorverlegt, 5) das ausdrückliche und besondere Verbot der Beschäftigung von Jugendlichen Arbeitern an Sonn – und Feiertagen sowie während der von dem ordentlichen Seelsorger für den Katekumenen – und Konfirmationsunterricht bestimmten Stunden in Wegfall gebracht. 6) Die Vorschrift wegen vorheriger Anzeige bei der Ortspolizeibehörde bei beabsichtigter regelmäßiger Beschäftigung von jugendlichen Arbeitern in einer Fabrik beseitigt, 7) für von jugendlichen Arbeitern die vorgeschriebene halbjährliche Anzeige der Anzahl dieser Arbeiter bei der Ortspolizeibehörde ein bestimmter Zeitpunkt, nämlich die letzte Woche des Juni und die letzte Woche des Dezember oder am liebsten blos der letztere festgesetzt, 8) in das Arbeitsbuch auch eine Rubrik der täglichen Arbeitszeit eines jeden Arbeiters aufgenommen und 9) die Strafbestimmungen wegen Annahme von Kindern
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zur Beschäftigung in Fabriken auch auf die rechtlichen Vertreter dieser Kinder, mit deren Genehmigung die Annahme dieser Kinder erfolgt ist, ausgedehnt, daß ferner 10) in der Ausführungsverordnung, die bei Ausstellung eines Arbeitsbuches zu entrichtende Gebühr ganz in Wegfall gebracht wird oder höchstens auf den Kostenpreis festgestellt, nicht minder aber 11) daß die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen über die Beschäftigung von Kindern in Fabriken überall gleichmäßig mit größter Strenge durchgeführt und dabei insbesondere die Mitwirkung der Lehrer in geregelter Weise in Anspruch genommen werde. Die Minoritätsanträge der Kommission auf Herabsetzung des Minimaljahres für die Zulässigkeit der Beschäftigung in Fabriken von 12 auf 10 oder wenigstens auf das 11. Lebensjahr, der Majoritätsantrag auf völlige Beseitigung der Arbeitsbücher und der einstimmige Kommissionsantrag auf Aufnahme einer Bestimmung des Inhalts in die Reichsgewerbeordnung, daß Kinder entweder nur am Vormittage oder nur am Nachmittage in Fabriken beschäftigt werden dürfen, erregten ein sehr lebhafte Debatte, vermochten aber die Mehrheit der Kammer nicht für sich zu gewinnen.“
Dies der Beschluß. Die Plauen’sche Gewerbekammer gilt für die „freisinnigste“ in Sachsen (ihr Vorsitzender, Fabrikant Mammen, gerirt sich als „Demokrat“) und hat sogar den Ruf der „Arbeiterfreundlichkeit“ erworben. Und diese „freisinnigste“, „arbeiterfreundlichste“ Handelskammer legt ihr Gewicht in die Wagschale gegen die kärglichen Bestimmungen des Norddeutschen Gewerbegesetzes zu Gunsten der vom Kapital ausgebeuteten Kinder. Die Ausbeutungszeit jetzt schon so reichlich bemessen, daß von halbwegs genügendem Schulbesuch nicht die Rede sein kann, soll noch ausgedehnt, und zwei Jahrgänge mehr der heranwachsenden Jugend sollen dem Moloch – Alles, was über 14 Jahre zählt, schutzlos auf den „Arbeitsmarkt“ geschleudert werden!
Wohl steht der Kapitalismus in feindlichem Gegensatz zur Humanität; wohl ist die ganze heutige Produktionsweise mit ihrer Herabwürdigung des Menschen zum bloßen Produktionselement, zur Waare ein Hohn auf die Menschheit, allein nirgends tritt dies so grell hervor als in der Frage der Kinderarbeit. (...)
Wir wiederholen: Die Handels – und Gewerbekammer von Plauen gilt für die „freisinnigste“ und „arbeiterfreundlichste“ Sachsens – die Arbeiter mögen sich nun selbst an den Fingern abzählen, was ihr Loos sein würde, wenn die Gesetzgebung in den Händen der „freisinnigen“ und „arbeiterfreundlichen“ Bourgeoisie wäre.
N° 21 Mittwoch, 13. März 1872
Arbeiter = Verhältnisse im Mittelalter
Von C. A. S.
Es ist wirklich rührend, zu sehen, wir die entschiedensten Gegner sofort einig werden, wenn es sich darum handelt, den bösen Sozialismus zu bekämpfen. Bekanntlich haben die von der Manchesterpartei über ganz Europa ausgesandten „volkswirtschaftlichen „Freihandels = Hausirburschen“ die Phrasen ihres besten Advokaten, des Herrn Bastiat überall hin verbreitet, um aus denselben, die Segnungen des „Freihandels“ zu beweisen. Zur Bekämpfung er sozialen Wahrheiten ist noch keine Schrift geeigneter, als die des großen literarischen Diebes Bastiat, weil derselbe die Harmonielehre in glänzender Form mit großer sophistischer Schlauheit zu vertheidigen versteht.
Aber von Niemand ist der Satz, daß durch Zunahme der Industrie („Industrieblüthe“ nennt es Hr. Max Wirth) die Lage der Arbeiter von selbst besser werden müsse, mit größerer Verlogenheit gepredigt worden, als von Hrn. Thiers in seiner 1848 kurz nach der Junischlacht erschienenen Schrift: Ueber das Eigenthum.“ Er sagt darin:
„Eines Tages wird auch der Arme jene ausgesuchten Nahrungsstoffe, jene schönen und gesunden Kleidungsstücke besitzen, um die Ihr die Reichen so sehr beneidet; ja, er wird sie besitzen, wenn die Gesellschaft fortfährt zu arbeiten. Noch vor drei oder vier Jahrhunderten bedeckten die Könige auf ihren Burgen die Fußböden mit Stroh; heute schreitet der
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bescheidenste Kaufmann in seinen Zimmern auf wollenen, geblümten Teppichen umher. Um dahin zu gelangen, hat die Gesellschaft Jahrhunderte gearbeitet; mag sie nur in ihrer Arbeit unaufhaltsam fortfahren, und gar bald wird der Arme mit dem Reichen gleiches Loos theilen. Möge aber auch die Gesellschaft bis auf diesen Punkt gelangt sein, das Gewebe wird ebenso an Feinheit gewonnen haben. Immer wird Reichthum, Wohlhabenheit, Mittelstand ( dem man hoffentlich nicht mehr die Bezeichnung „Armuth“ wird geben können) bestehen, denn diese drei Abstufungen müssen im Zusammenhange mit denen der menschlichen Industrie stehen, um das theure und billige Produkt zu bezahlen. Die Industrie hat in ihrem Fortschreiten stets, wie eine auf dem Marsch befindliche Colonne, Vor – und Nachtrab und Centrum.“
Man sieht, der alte Schutzzöllner Thiers geht mit den Freihandelsmännern Hand in Hand gegen die Sozialisten und leistet im Verdrehen der Thatsachen das Unglaulichste! Im Vordersatz wird gleiches Loos für Alle in Aussicht gestellt, im Nachsatz die Nothwendigkeit der Ungleichheit bewiesen.
Wir wollen nun den vorne citirten Satz unserer Gegner durch geschichtliche Untersuchung indirekt widerlegen; wenn durch Zunahme von Industrie und Vermehrung des Capitals die Lage der Arbeiter von selbst besser wird, so muß, umgekehrt, zu jener Zeit, in der Beides noch wenig entwickelt war, diese Lage bedeutend schlechter gewesen sein als heute. (...)
Als im 12. und 13. Jahrhundert die große Strömung der Deutschen nach Osten beginnt, als Brandenburg, Pommern, Mecklenburg, Schlesien, Mähren, Böhmen durch Gründung von Städten und Klöstern colonisirt wurden, da erhielt jede Stadt soviel Wald, Weide und Wiese verliehen, daß jeder Bürger Brennholz nach Belieben bekommen und Vieh in unbegrenzter Menge halten konnte. Wie gering der Werth der Weide und des Futters geachtet wurde, geht aus einer Bestimmung des Sachsenspiegels hervor, nach welcher jeder Reisende Futter für sein Pferd an beliebiger Stelle nehmen durfte.
Es ist erklärlich, daß bei solchen landwirtschaftlichen Verhältnissen eine im Verhältniß bedeutend größere Viehzucht vorhanden sein musste als heute. Bei dem Mangel an Communikationsmitteln war es unmöglich weit zu verfahren; es wurde daher fast überall nur der eigene Bedarf an Weizen, Roggen, Hafer, Hirse u.s.w. gebaut, und der freibleibende Grund und Boden war nur durch Viehzucht nutzbar zu machen. Wir haben nur wenige sichere Nachrichten über diese Verhältnisse; aber was wir haben, deutet als Folge der starken Viehzucht auf einen Fleischverbrauch, von dessen Größe wir uns kaum eine Vorstellung machen können. So hatte Franfurt a/M im Jahre 1308 neben 52 Fleischereien noch zehn jüdische Schlächter; in Folge der großen Concurrenz wurden diesen Letzteren verboten, mehr als 2500 Stück Rindvieh im Jahre zu schlachten! Diese Zahlen einer annähernd genauen Rechnung zu Grunde gelegt, giebt bei einer Bevölkerungszahl von höchstens 12000 Menschen einen jährlichen Consum von 250 Pfd: Rindfleisch pro Kopf !* Welche Zahl von Schafen, Schweinen und Gänsen nebenbei noch verzehrt wurden ist nicht ersichtlich; wir können aber aus einem anderen Umstand schließen, daß jeder Bürger damals, wie heute noch auf dem Lande, sein Schwein mästete und schlachtete, zu dem oben angeführten Verbrauch an Rindfleisch also noch ein gut Theil anderes Fleisch pro Kopf hinzugerechnet werden muß. Wir schließen dies aus dem Umstand, daß das freie Umherlaufen der Schweine in den Straßen der Stadt durch Verordnung verboten wurde in Frankfurt im Jahre 1421, in Ulm 1410, in Nürnberg 1475, in Halle 1611. (...) (Schluß folgt)
* In Frankfurt müssen die Messen in Rechnung gezogen werden, die jedes Jahr auf mehrere Wochen bedeutende Menschenmassen in die Stadt führten. Außerdem ist – ganz abgesehen von Kaiserkrönungen und Reichstagen – noch zu berücksichtigen, daß Frankfurt im Mittelalter, wie wohl kaum eine zweite deutsche Stadt, Verkehrszentrum gewesen ist, und zwar nicht blos für den allgemeinen Handel, sondern namentlich auch für die dicht bevölkerte Umgegend. Die Tatsache, daß das Volk im Mittelalter weit besser genährt war als heute, wird durch diese Modifikation der obigen Berechnung nicht im Mindesten berührt.
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Auszüge und Bericht über den Leipziger Hochverratsprozeß
In der Ausgabe N° 21 begannen die Berichte über den Leipziger Hochverratsprozeß.
Anklageschrift der Staatsanwaltschaft.
An die Anklagekammer
Des Königl. Bezirksgerichts zu Leipzig.
In der Geschichte begegnet man immer und immer wieder dem Bestreben, die monarchische Staatsform in die republikanische umzuwandeln. Von Denen, welche diesem Bestreben huldigen, wird die republikanische Staatsform erstrebt theils aus rein politischen, theils aus sozialen Gründen; die Republik wird ausdrücklich als diejenige Staatsform hingestellt, unter welcher allein die besitzlosen, auf den Verdienst ihrer Hände angewiesenen Arbeiter = Klasse all’ das Glück erblühen werde, als dessen ausschließliche und unberechtigte Inhaber die durch den Besitz begünstigten Klassen angesehen werden.. Man stellt die Arbeit dem Kapital, das Proletariat der Bourgeoisie gegenüber. Die Arbeiter = Klassen, welche von der republikanischen Staatsform und ihrem Gefolge das Ende ihrer Leiden erwarten, schaaren sich um die Männer, welche – gleichviel aus welchen persönlichen Beweggründen – als Feinde des monarchischen Prinzips auftreten, die Gedanken einzelner Führer werden bei der Leichtigkeit und Schnelligkeit der in der Neuzeit gebotenen Verkehrsmittel und bei der in Presse und den Vereinen gewährten Freiheit alsbald das Allgemeingut der Massen, und jemehr die republikanischen und sozialrepublikanischen Bestrebungen sich ausbreiten, umsomehr räumlich sich ausbreiten, umsomehr wird die Nothwendigkeit einer einheitlichen Leitung erkannt, welche die unter sich verwandten und ineinander greifenden Bestrebungen concentrirt. Von hervorragender Bedeutung in dieser Beziehung ist die im September 1864 erfolgte Bildung der Internationalen Arbeiter = Assoziation. Sie kam zu Stande bei Gelegenheit einer zu Gunsten der damals in vollem Aufstande begriffenen Polen in London abgehaltenen öffentlichen Meetings, welches von Engländern, Franzosen, Polen, Italienern und Deutschen zahlreich besucht wurde. Die Internationale Arbeiter = Assoziation sollte ein die Arbeiter = Interessen aller Länder umfassendes Institut sein, und an ihre Spitze wurde ein Generalrath gestellt, welcher aus Vertretern der nach Ländern und Sprachen gebildeten Gruppen sich zusammensetzte und in London seinen Sitz nahm.
Kurz vorher war durch Lassalle in den Abreiterkreisen der Anschauung Bahn gebrochen und Ausdruck verliehen worden, daß die Arbeiter, um ihr Ziel zu erreichen, thatkräftig in die Politik einzugreifen und die politischen Verhältnisse Deutschlands von Grund aus umgestaltet hätten, und Karl Marx, welcher das provisorische Programm und die provisorischen Statuten der Internationalen Arbeiter = Assoziation verfasste, stellte die Eroberung politischer Macht als eine Hauptaufgabe der Arbeiter und die völlige Emanzipation der Arbeiter als das große Endziel hin.
Das Marx’sche Programm und die Marx’schen Statuten wurden auf dem September 1866 in Genf abgehaltenen Kongress genehmigt, und dadurch wurde der Einfluß des Generalraths auf die Arbeiterbewegung der ganzen civilisirten Welt gesichert. Marx über nahm in dem Generalrathe die Abteilung für die Arbeiter deutscher Zunge, und mit ihm setzten die Arbeitervereine Deutschlands in Verkehr.
Von da ab tritt der politische Charakter der Arbeiterbewegung immer mehr in den Vordergrund. (...)
Im Monat September 1868 wurde in Nürnberg der 5. Vereinstag deutscher Arbeitervereine abgehalten, dabei beteiligten sich unter Anderen
der Drechslermeister Ferdinand August Bebel aus Köln am Rhein und
der Schriftsteller Wilhelm Philipp Martin Christian Ludwig Liebknecht aus Gießen
- beiderseits in Leipzig wohnhaft- und Bebel fungirte als Präsident.
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Auf diesem Vereinstage gelangte durch einen vorzugsweise von Bebel und Liebknecht mit zu Stande gebrachten Mehrheitsbeschluß folgendes Programm zur Annahme:
Der zu Nürnberg versammelte 5. deutsche Arbeitertag erklärt in nachstehenden Punkten eine Uebereinstimmung mit der Internationalen Arbeiter = Assziation:
a) die Emanzipation der arbeitenden Klassen muß durch die arbeitenden Klassen selbst erkämpft werden.
Der Kampf für die Emanzipation der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für Klassenprivilegien und Monopole, sondern für gleiche Rechte und Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft.
b) die ökonomische Abhängigkeit des Mannes der Arbeit von den Monopolisten (ausschließlichen Besitzer) der Arbeitswerkzeuge bildet die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form des sozialen Elends, der geistigen Herabwürdigung und der politischen Abhängigkeit.
c) Die politische Freiheit ist die unentbehrliche Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen.
Die soziale Frage ist mithin untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt und nur möglich im demokratischen Staate.
Der letzte Satz wurde in dem mit dem Jahre 1868 unter Liebknecht’s Redaktion und Bebel’s Betheiligung ins Leben getretenen „Demokratischen Wochenblatt“ in einer Reihe von Aufsätzen weiter ausgeführt, und man gelangte zu dem Schlusse:
Das Programm, das Alle eint, und dessen Ausführung im Einzelnen den Führern der großen deutschen Aktions – und Volkspartei zu überlassen sei, könne nur das nächste Ziel des Kampfes sein: der ungetheilte deutsche Volksstaat auf breitester demokratischer Grundlage mit beschließenden Parlamente und demokratischer Spitze! (...)
Das „Demokratische Wochenblatt“ und der „Volksstaat“ durchweht der Geist der Revolution, für sie werden die Massen bereit gemacht. So heißt es in dem „Volksstaat2 vom Jahre 1869.
Nr. 4.
Die Freiheit und Einheit Deutschlands kann sich nur miteinander vollziehen und nur in der Entthronung aller Fürsten bestehen.
Nr. 10.
Die Besprechung der spanischen Revolution:
Die spanischen Republikaner haben noch nicht begriffen, daß das Bürgerthum nicht ohne das Proletariat erfolgreich gegen den Militarismus kämpfen kann, und daß der gemeinsame Kampf ein gemeinsames Ziel bedingt: die sozial = demokratische Republik!
Nr. 24.
Nur in festgeschlossener Masse, in organisirter Gemeinschaft sei das große Ziel zu erreichen, grundfalsch sei der Versuch, an einem zu engen und baufälligen Gebäude zu repariren, zweckmäßiger sei, den ganzen alten Bau einzureißen, und ein stattliches, wohnliches Gebäude herzurichten, man müsse alle Hände, alle Mittel zusammenfassen, um denen das Haus nöthigenfalls über den Kopf einzureißen, die ein Interesse daran haben, die alte Baracke aufrecht zu erhalten. Darum also: Zusammenfassen der Kräfte, systematischer Kampf!
Jahrgang 1870
Nr. 11.
Ist die Einheit der Partei hergestellt, dann haben wir heute die 100,000 mann, die Lassalle für nothwendig hielt, und vielleicht mit majestätisch ruhigem Ernste in den gesetzgebenden Körpern oder mit wildwehendem Lockenhaar wird dann die Revolution vollzogen werden, deren Ziel die Aufhebung der heutigen ungerechten staatlichen und
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gesellschaftlichen Verhältnisse und die Einführung des sozial = demokratischen Volksstaat sein wird, der rothen Republik.
Nr. 19.
Hier steht in erster Linie die politische Revolution. Es ist nicht daran zu denken, daß die europäischen Monarchen sich selbst den Todesstoß versetzen werden.
Nr. 29.
Ohne ein wenig Gewalt werden die alten Parteien das Scepter nicht aus der Hand geben, vermittels dessen die ganz Staatsmaschine im Gange gehalten wird. Auch dann also, wenn das Stimmrecht ein wirkliches Arbeite r= Parlament geschaffen hat, werden wir nicht durch das Wort, sondern nur durch die entschlossene That zum eigentlichen Siege gelangen. Bildung, Organisation eines Revolutionsheeres ist die Hauptsache!
Nr. 59.
So lange die Völker das monarchische, auf ihr Kosten gehaltene Regiment zu erdulden fortfahren, kann zwischen ihnen der Friede nicht gesichert werden.
Nr. 73.
- nachdem die Proklamirung der Republik in Frankreich Sympathien gewidmet, und ein darauf sich beziehendes Manifest der französischen Sektion der Internationalen Arbeiterassoziation abgedruckt worden -
Die Franzosen haben ihre Pflicht getan, thun wir die unserige!
Jahrgang 1871
Nr. 45.
Politische Uebersicht
Juni 1848- März – Mai 1871.?
Am Sonntag, nach achtstündiger Straßenschlacht, erlag die Kommune. Die zweite Woge der sozialistischen Springflut ist an den Mauern der Bourgeoisgesellschaft zerschellt. Aber neue Sturmwellen, mächtiger als die zerschellte, wälzen sich heran – vielleicht noch eine wird zurückgewiesen, allein kein Gott, kein Mensch kann das Verderben abwenden von dem morschen Bau. Jubelt Ihr „Sieger“ so lang ihr die innere Angst zu übertäuben vermögt! Auch wir jubeln, inmitten der Trauer um die gefallenen Brüder, denn der Kampf hat und gezeigt, wie wir seit 1848 erstarkt sind, und wir können die Zeit berechnen, wo Ihr uns nicht mehr besiegen werdet. (...)
Liebknecht und Bebel haben, wie vielfache theils bei ihnen, theils auswärts vorgefundenen Korrespondenzen ergeben, seitdem sie ihre Thätigkeit den sozial = demokratischen Bestrebungen zugewandt, mit Parteigenossen verschiedener Länder und Nationen einen schriftlichen Verkehr unterhalten, welcher mit den Wegen zur Erreichung ihrer oberwähnten Ziele sich beschäftigt, und aus denen hervorgeht, daß man für gut befunden hat, nicht nur die Arbeiterklassen (weiße Sklaven) gegen die Arbeisherren (ausbeutende Klasse) in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise anzureißen, sondern auch dem bäuerlichen Elemente und dem Militär den Geist der Sozialdemokratie einzuhauchen, und sie zu Gegnern, Feinden der bestehenden Staatsverhältnisse zu machen. (...)
N° 22 Sonnabend, 16. März 1872
Wir setzen heute fort die in Nr. 21 irrthümlich ohne Ueberschrift begonnenen Mittheilungen über die
Verhandlungen des Leipziger Hochverraths = Prozesses.
Schluß der ersten Sitzung.
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Nachmittags 4 Uhr eröffnete der Präsident die Verhandlungen wieder und theilte mit, daß der Antrag des Vertheidigers, Herrn Freytag, behufs der Requisition nach Gießen über den Ursprung des aus jenem Orte stammenden Schriftstückes, morgen zur Abstimmung gelangen werden. Es rekapitulirt alsdann die Anklageakte und ersucht die Geschworenen, sich insbesondere klar zu machen: ob diese Bestrebungen die Aufhebung der sächsischen Regierung in ihren wesentlichen Bestandtheilen zum Zwecke hatten, und legt alsdann den Angeklagten die einzelnen zur Beantwortung vor. (...)
Präsident: Sie bestreiten nicht, daß Marx ein Leiter der Internationalen sei.
Liebknecht: Marx ist ein Bahnbrecher der sozialistischen Ideen, eine nationalökonomische Capacität, kein Führer der Internationalen. Es gibt keinen solchen, Marx ist nur korrespondirender Sekretär für Deutschland.
Prsäsident: Sie korrespondiren mit Marx?
Liebknecht: Noch jetzt. Er ist mein Freund.
Präsident: Befragt Bebel in Betreff der Verbindung mit der Internationalen.
Bebel: Eine gesetzwidrige Verbindung der Partei mit der Internationalen bestand und besteht nicht es sind nicht einmal Beiträge nach London gezahlt worden. Die staatsanwaltliche und polizeiliche Auffassung des Wortes Revolution ist in vielfachen Artikeln des Volksstaat und in Broschüren von Seiten unserer Partei stets zurückgewiesen worden. Ich schließe mich den hierauf bezüglichen Ausführungen Liebknechts an und verweise besonders auf die Broschüre von Lassalle: Die Wissenschaft und die Arbeiter, wo Bedeutung des Wortes Revolution wissenschaftlich entwickelt wird. Angeklagter verliest die betreffende Stelle Seite 17 der Broschüre „Arbeiterprogramm“ von Lassalle, wo ebenfalls nachgewiesen wird, daß eine Revolution sich nicht machen lassen. Nur Tollköpfe können sich das einbilden.
Auch eine Reihe von Artikeln im „Volksstaat“ mit der auffallenden Ueberschrift „Die soziale Revolution“ besagt dasselbe und diese Artikel sind von Behörden nicht verfolgt worden. Anweisungen von London haben wir nie befolgt. (...)
Sitzung vom 12. März.
Der von Liebknecht und Bebel unterzeichnete Aufruf vom 25. Juni 1869 an die Parteigenossen, gerichtet gegen Hrn. von Schweitzer und schließend mit dem Präsidenten als sehr wichtig behandelten Ausruf: „Hoch die Sozial = Demokratie! Hoch die Internationale Arbeiter = Organisation!“ und wird ebenfalls verlesen. Es lautet:
Parteigenossen! (...) Es wird sich zeigen, ob die Corruption, die Gemeinheit, die Bestechlichkeit auf jener Seite, oder die Ehrlichkeit oder die Reinheit der Absichten auf unserer Seite den Sieg davon trägt.
Unsere Losung sei: Nieder mit der Sektiererei! Nieder mit dem Personenkultus! Nieder mit den Jesuiten, die unser Prinzip in Worten anerkennen, in Handlungen es verrathen! Hoch lebe die Sozial = Demokratie, hoch die Internationale Arbeiter = Assoziation!
Leipzig, den 25. Juni 1869. Liebknecht. Bebel.
Angekl. Liebknecht: Er werde später Gelegenheit haben, sich ausführlicher über dieses Schriftstück zu äußern. Es sei bloß eine kleine Episode des Kampfes, den sie gegen den preußischen Regierungssozialismus und seine Satelliten zu führen gehabt hätten. (...)
Verhandlung von Mittwoch, d. 13. März 1872.
Präsident: (den Angeklagten unterbrechend): Für den Gerichtshof kann nur die von den Gesetzen gegebene Auffassung des Begriffs „Revolution“ maßgebend sein. Sie scheinen mehr zu ihren Parteigenossen als zu dem Gerichtshofe zu sprechen. Ich kann nicht dulden, daß Sie den Gerichtshof über den Begriff des Revolutionären belehren wollen.
Bebel: Das fällt mir auch gar nicht ein; betreffs des Sprechens zu meinen Parteigenossen erkläre ich, nicht zu wissen, ob auch nur ein Einziger derselben im Auditorium sich befindet.
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Da aber dieses „revolutionär“ und „Revolution“ eine so hervorragende Rolle in der Anklage spielt, so bin ich berechtigt, meine persönliche Anschauung hierüber darzulegen. (...)
Hierauf richtet der Präsident die Anfrage an die Angeklagten die Frage, ob das vormittags verlesene Communistische Manifest“ zu den als Flugschriften unter den Arbeitern vertriebenen Sachen gehöre.
Die Frage wird von sämtlichen Angeklagten verneint. (...)
Arbeiter = Verhältnisse im Mittelalter.
Von C. A. S. (Schluß)
Fast jede Chronik aus jener Zeit erzählt uns von dem Unwesen, welches die fahrenden umherziehenden Studenten und Schüler mit dem Gänsestehlen trieben; wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, daß diese nahrhaften Tiere in großartigen Mengen gehalten wurden. Wasser und Gras, welches zur Aufzucht der jungen Tiere nöthig ist, war nach unserer vorstehenden Schilderung über all in Menge vorhanden, und wir wissen ja auch, daß die Martinsganz damals in keinem Hause gefehlt hat.
Bei dieser Unmasse von Fleisch war es selbstredend, daß auch der geringste Leibeigene jährlich mehr davon verzehrte, als heute ein Mann aus dem Mittelstande; in Wohnung, Kleidung und sonstigen Annehmlichkeiten des Lebens standen die damaligen Arbeiter den unserigen in demselben Verhältnisse nach wie der damalige Schloßherr dem heutigen reichen Gutsbesitzer. Aber in der Hauptsache, in der guten, kräftigen Ernährung sind wir trotz, oder richtiger, wegen unserer fortschreitenden Cultur gewaltig zurückgegangen.
Wir finden ein klare Darstellung der Art und Weise, wie die damaligen Arbeiter beköstigt wurden, in der 1482 unter den Herzögen Ernst und Albrecht erlassenen Landes = Ordnung von Sachsen.
Es wird in derselben gegen die unmäßigen Forderungen der „Werk – und Dienstleute“ bestimmt: „Die Werkleute sollen mit 18 Groschen Wochenlohn
„und täglich, mittags und abends, mit vier Essen,
„Suppe, zweierlei Fleisch und Gemüse, an Fastagen
„aber mit fünf Essen, Suppe zweierlei Fisch und zwei
„Gemüsen, zufrieden sein.“
Aehnlich waren die Fleischrationen überall. So bekam ein Vorwerksverwalter auch einem Contract von 1569 für sich und zwanzig Dienstknechte jährlich von der Herrschaft 2 Ochsen und zwanzig Faß Wildpret geliefert. Wir können nicht angeben, wie groß ein solches Faß gewesen, daneben sind aber doch wohl, da von dem nöthigen Fett nicht gesprochen wird, Schaafe und Gänse zur Konsumption selbst gezogen worden.
So war die Ernährung der Arbeiter auf dem Wege der Verordnung geregelt und beschaffen, ehe die „Industrieblüthe“ das Loos derselben veränderte. (...)
Schon die vorerwähnte Landes – Ordnung von Sachsen wirft 1482 den Herrschaften vor: „daß sie auch selbst untereinander Ursache gewest, indem daß einer von dem andern
„gleichem Gesinde mehr Lohn, bessere Kost, denn der andere
„gegeben, dadurch einer dem anderen das Gesinde entzogen, aus "dem ohne Zweifel denen unseren großer Unrath und Schaden "entstanden", und um dergleichen zu verhindern, wird die vorstehende Bestimmung über Lohn und Kost erlassen.
Allmählich wird das Lehns=und Hörigkeitsverhältnis im Wege der Gesetzgebung zur persönlichen Abhängigkeit von den Herren ausgebildet. 1536 wird in Brandenburg den Bauern verboten in die Stadt zu ziehen; 1572 wird in der Neumarkt den Bauern geboten, ihren Herrn wöchendlich zweimal, im Monat August, während der Erndte, aber "so oft der Herr seiner bedürfe", zu dienen.
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Erst in dieser Zeit erhält der Gutsherr das Recht auch auf die Dienste der Kinder seiner Hörigen: sie müssen ihm ebenso wie die Eltern dienen. Wo sich das Verhältnis nicht von selbst ausbildet, entstehen Verordnungen zur allmählichen Einführung desselben, es sind die Gesindeordnungen des 16. Jahrhunderts. Aber auch die Städte fangen den Druck an; wir finden schon 1537 eine Gesinde = Ordnung in Augsburg. (...)
Die Einziehung der Klostergüter und der Dreißigjährige Krieg mit seiner Vernichtung des Wohlstandes bringen eine schnelle und entscheidende Wendung zum Schlechteren hervor.
Die Gegenden, in denen der Krieg längere Zeit gewüthet, waren total verödet; die Dörfer verbrannt und ohne Bewohner, der Acker seit Jahren nicht bestellt, die Viehherden aufgezehrt. Man kann sich kaum eine Vorstellung von der Verwüstung machen, die dieser Krieg in Deutschland gebracht hat. Um nur einige Zahlen anzugeben, so waren in der Grafschaft Henneberg in Thüringen in 19 Dörfern von 1773 Familien nur noch 316, von 1717 Häusern nur noch 627 übrig geblieben.
Die Lehnsleute waren selbstverständlich auch nach erfolgten Frieden nicht in der Lage, die oft rückständigen Abgaben zu leisten und fielen dadurch ganz in die Gewalt der Herrschaften, welche nun den Zwangsdienst auch in solchen Gegenden einführten, in denen er früher nie bestanden hatte. (...)
Um billige Arbeiter zu behalten, wird der Uebertritt nach den Städten, wo nicht ganz verboten, doch arg erschwert; ja selbst den Kindern der Freien auf dem Lande erst nach 2 bis 4jähriger Dienstzeit bei der Herrschaft die Erlernung eines Handwerks gestattet. Die Städte bleiben selbstverständlich in dieser allgemeinen Tendenz der Zeit nicht zurück; diese Gesinde = Ordnungen werden immer strenger, es werden allgemeine Lohnmaxima festgestellt, dabei aber billigere Löhne erlaubt und befürwortet, eine Idee, die selbst der alte Fritz noch 1766 seinen Bauern in Preußen empfiehlt. Charakteristisch ist die Strafbestimmung: das Gesinde, welches mehr Lohn, als erlaubt annimmt, wird mit Körper = und Freiheitsstrafe, die Herrschaft, welche mehr Lohn giebt, mit Geldstrafe bedroht!
Neben dem Verlust der Freiheit tritt nun auch schlechtere Kost für die Arbeiter auf, die jedoch im Vergleich zu der unserer Fabrikarbeiter noch reichlich und genügend genannt werden kann. Wir citiren den Erlaß des Administrators August von Sachsen vom 6. Juli 1652, nach welchem die Knechte im Magdeburgischen erhalten sollen: wöchentlich 1 ½ Pfd. Speck mit Butter zusammen, oder im Winter und zur Fastenzeit 3 groß oder 4 kleine Heringe und 14 Käse, dazu täglich 2 Pfd. Brod. Außerdem sollen sie bekommen, Mittags und Abends zur Fürkost Suppe und Rüben, Erbsen, Kohl und dgl. hierzu Butter oder Käse; des Sonntags, Diensttags und Donnerstags statt Butter und Käse, Fleisch, Speck, Fische, Kaldaunen zum Gemüse. Während der Erndte und an hohen Festtagen war ein Maaß gutes Bier zu reichen, sonst sollte sich das Gesinde mit schwachen Gebräu begnügen.
Mit der, aus dem Vergleich dieses Küchenzettels mit dem von 1482, deutlich hervortretenden Verschlechterung der Nahrung nimmt auch die Behandlung der Arbeiter an Härte zu; die Mißhandlungen müssen doch wohl überhand genommen haben, denn es existirt eine Verordnung, in der Friedrich August von Polen und Sachsen den Herrschaften vorhält, daß sie ihre „Dienenden gar zu strenge tractirten, und bedenken sollten,
daß „Dienstboten ebenfalls Menschen seien.“ (...)
N° 23. Mittwoch, 20. März 1872
Verhandlungen des Leipziger Hochverrathsprozesses. III
Es erfolgt die Vernehmung Bebels, an welchen der Präsident die Frage richtet, on er jene oben erwähnten 3000 Francs aus dem Revolutionsfonds noch etwas zu sagen habe.
Bebel: Die Geschichte des Revolutionsfonds ist mir so gut wie unbekannt, ich war damals noch zu jung. Den ersten Aufschluß erhielt ich 1868 in Nürnberg (5. Arbeiter = Vereinstag), wo ich Dr. Ladendorf zum zweiten Mal in meinem Leben sah.
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Präsident ( den Redner unterbrechend ): Ich wollte keine lange Rede von Ihnen, sondern nur Auskunft über die 3000 Francs.
Bebel: Erlauben Sie Herr Präsident, ich will Einiges erwähnen, was noch gar nicht in den Akten enthalten ist, es handelte sich 1869, da ich Vorsitzender, Leipzig Vorort des Verbandes deutscher Arbeiter = Vereine war, um eine lebhafte Bekämpfung des Herrn v. Schweitzer – und demnach fehlte es, da der Ausschuß an den Bestrebungen der Internationale (1868 in Nürnberg ) und geschwächt hatte – an Geld. Da trifft ein Brief von Ladendorf ein, der mir 3000 Francs zu „persönlicher Verfügung“ anbietet. Ich nahm sie und verwendete sie; es war das jedoch vor der Gründung der sozialdemokratischen Arbeiter = Partei.
Präsident ( erstaunt ): Es sind also mehr, als jene in den Akten erwähnten 3000 Francs aus dem Revolutionsfonds geflossen?
Bebel: Noch viel mehr! ( Bewegung und Gelächter im Zuschauerraum – „So, so“, des Präsidenten. )
Kurz vor der Eröffnung des Eisenacher Kongresses wurden mir wiederum 500 Francs zur Verfügung gestellt. Ich nehme keinen Anstand, dies Alles zu sagen – es ist ja frei und offen zu bekennen, und theilweise sind im Demokratischen Wochenblatt hierüber vor Jahren schon Quittungen veröffentlicht, welcher der Staatsanwaltschaft sicher nicht unbekannt blieben. Bis zu den letzterwähnten 500 Frcs. einschließlich derselben, wurden also die betreffenden Gelder nicht für die Partei gegeben; diese bestand bis dahin noch nicht. Auf dem Eisenacher Kongreß aber war Dr. Ladendorf auch zugegen und er erklärte seine Bereitwilligkeit, die Unterstützung auch der Partei aus dem Revolutionsfonds zu bewirken. Dies geschah – die in den Akten erwähnten 3000 Francs wurden an den Ausschuß gezahlt. Mir persönlich wurden auch noch einmal 500 Francs übermittelt zur Bestreitung der Kosten der Reise Liebknechts nach Basel und einer von mir nach Süddeutschland unternommenen Agitationsreise. Daß Herr von Schweitzer sich die Quelle unserer Mittel nicht enträthseln konnte, ist mir erklärlich. (...)
Vierte Sitzung, Donnerstag, d, 14. März.
Die Wiederaufnahme der Verhandlungen erfolgt durch den Präsidenten gegen 9 Uhr. Von den heute vorgeladenen Zeugen sind zwei:
Der Stadtrath Albert aus Merane und der Weber Höra aus Plauen, erschienen, doch nur, um sofort wieder ihre vorläufige Entlassung zu erhalten. Die beiden anderen:
Der Advokat Kirrbach aus Plauen und Dr. Max Hirsch sind nicht zur Stelle.
Der Staatsanwalt Hoffmann erwähnt noch in Betreff des gestern vorgelesenen „kommunistischen Manifestes“, daß dasselbe durch Auffindung unter den Papieren des Angeklagten Liebknecht unter die Beweismittel gekommen sei. Liebknecht habe außerdem seiner Zeit erklärt, er habe einen Wiederabdruck des kommunistischen Manifestes beabsichtigt.
Liebknecht: Allerdings war ich für einen Abdruck, jedoch in einer veränderten, den heutigen Verhältnissen entsprechenden Form. Das kommunistische Manifest stammt aus dem Jahre 1848, seitdem ist Vieles in der Welt anders geworden und ich habe mich für den Abdruck einer Umarbeitung, resp., wenn diese nicht vorgenommen werden sollte, für den unveränderten Abdruck nur unter der Voraussetzung einer erklärenden Vorrede erklärt.
In Betreff der Schrift: „Die Forderungen des Volkes im Augenblicke der Revolution“, welche der Staatsanwalt als einen „Anfang des kommunistischen Manifestes“ behandelt, fordert derselbe die Verlesung.
Liebknecht hat hiergegen nichts einzuwenden.
Advokat Freytag (Leipzig) aber protestirt gegen die Verlesung.
Auf die Bemerkung des Staatsanwaltes, daß dieses Schriftstück wesentlich zu den Akten gehöre, erklärt Bebel, die Schrift sei ihm fremd und stamme aus den Akten des Braunschweiger Hochverrathsprozesses. Dort in Braunschweig habe man nicht einmal angegeben können, auf welche Weise dieses Schriftstück zu den Akten gekommen sei.
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Präsident: Sie sollten sich über Ihre Bestimmung zu der Verlesung des fraglichen Schriftstückes erklären.
Bebel: Ich protestire gegen die Verlesung.
Staatsanwalt Hoffmann: Das fragliche Schriftstück ist unter den Papieren des Angeklagten Liebknecht gefunden worden. Die Entscheidung über Verlesung oder Nichtverlesung stelle ich der Diskretion des Herrn Präsidenten anheim.
Die Entscheidung wird vorläufig vertagt und (...)
(...) Nachdem Liebknecht noch kurz über die politische Stellung der deutschen Sozialdemokratie und das Verhalten der preußischen Regierung gesprochen hatte, schloß er wie folgt: „Die Angriffe und Verleumdungen der Feinde übergehe ich mit Verachtung. Ich rechne sie mir zur Ehre an, und erblicke in der Thatsache, daß die gesammte feudale, klerikale und Bourgeoisiepresse uns jetzt mit Koth bewirft, einen Beweis dafür, daß wir auf dem rechten Weg sind, daß unsere Hiebe gesessen haben. Aber anders ist es, wenn von befreundeter Seite unser Auftreten falsch aufgefaßt wird. Und das ist uns, speziell mir gegenüber, seitens der belgischen Parteigenossen geschehen. Brüsseler „Inernationale“ und der „Werker“ von Lüttich haben neulich erklärt, mein Kampf mit Schweitzer sei ein rein persönlicher Streit.
Ich hoffe nach dieser Darlegung werden die belgischen Collegen die Ungerechtigkeit ihres Urtheils begriffen haben. In Schweitzer bekämpfe ich das Prinzip der Diktatur und die politische Corruption. Das Wort Diktatur wird vielfach missbraucht. Ja – in Zeiten der Revolution ist die Diktatur nöthig, aber nicht die Diktatur eines Einzelnen, sondern die Diktatur des Klubs, des Volks, der Arbeiter, wie 1793 in Frankreich. Wer sich persönlich zum Diktator aufwerfen will, den kann man, wie ich einst Lassalle sagte, in ruhigen Zeiten einfach auslachen; in revolutionären Zeiten schießt man ihm eine Kugel vor den Kopf. Die Person Schweitzers war mir, ist mir völlig gleichgültig. Der Kampf, der gegen ihn und seine Helferhelfer geführt wurde, war nicht ein persönlicher Kampf, sondern ein Kampf der Sozialdemokratie gegen den Imperialsozialismus und gegen den Bismarck’schen Cäsarismus. (...)
Auf den Wunsch eines Delegirten, doch etwas über das „Märtyrerthum“ Schweitzers zu hören, das viele Arbeiter irre gemacht habe, berichtet Liebknecht, wie Schweitzer allerdings zweimal zu Gefängnisstrafe verurtheilt worden sei – „die Richter sind nicht in die Bismarck’sche Politik eingeweiht – ( vielleicht war es auch bloße Komödie“) aber jedes Mal war seine Haft eine Scheinhaft. „Im Jahre 1866 war er wegen Majestätsbeleidigung eingesperrt. Wohlan, Bismarck setzte seine große Aktion ins Werk, es kam ihm darauf an, das Volk, das den infamen Bruderkrieg, für sich zu gewinnen. Schweitzer wurde aus dem Gefängnis entlassen, angeblich wegen Krankheit. Der kranke Schweitzer aber durchzog mit obrigkeitlicher Bewilligung Preußen und das übrige Deutschland, und agitirte für Bismarck, indem er den Arbeitern vorredete, der Krieg zwischen Oesterreich und Preußen ginge sie nichts an, sie sollten nur ruhig die Darlehensscheine nehmen, welche die Regierung zur Ermöglichung ihrer brudermörderischen Politik gegen den Willen der Kammer ausgegeben hatte u.s.w. Das wohlvorbereitete Preußen siegte über das unvorbereitete Oesterreich, eine Amnestie wurde verkündet und Schweitzer brauchte nicht in das Gefängnis zurückkehren.
Voriges Jahr wurde er abermals verurtheilt – zu drei Monaten. Im Dezember ging er ins Gefängnis; kaum saß der darin, so schrieb er an einen Freund, er werde sich auf Weihnachten Urlaub geben lassen. Kurz vor Weihnachten erkrankte plötzlich sein Vater und nun konnte der Urlaub erfolgen, ohne daß es verdächtig schien. Allein es steht fest, daß Schweitzer den Urlaub angekündigt hatte, ehe er von der Krankheit seines Vaters eine Ahnung hatte. Seinen „Urlaub“ benützte er wieder zur Agitation, und zwar gegen wen? Gegen uns, die Internationalen. Als er seine Absicht, so weit es möglich war, erreicht hatte, und der Reichstag, dem er gleich mir angehört, bald zusammengerufen werden sollte, kehrte er ins
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Gefängnis zurück, und musste nach einigen Wochen, bei Beginn der Session, als Reichstagsmitglied wieder entlassen werden.
Nach Schluß der Session blieb er noch einige Wochen lang frei, weil er seine Maßregeln gegen den Eisenacher Kongreß zu treffen hatte, und als er Alles hübsch verordnet, ging er ins Gefängniß, wie man in eine feines Hotel geht, und hat jetzt in Rummelsburg bei Berlin seinen Sommeraufenthalt. Er geht spazieren, kurz, er lebt wie ein Fürst. Das ist das Märtyrerthum Schweitzers.“ (...)
Der Kampf, den wir meinen, ist ein Kampf der Geister, und nach unserer Anschauung sollte des Menschen einziges Kampfmittel sein Hirn sein. Oder läge darin nicht des Menschen höchste Kraft? Doch gewiß – denn an physischer Kraft wird er vom Thiere vielfach bedeutend übertroffen. Wenn nun gar ein Mann der Wissenschaft, wie Marx, von einem „Kampfe“ spricht, so kann dieser doch unmöglich etwas Anderes, als den geistigen Kampf gemeint haben. – Anstößig ist dem Herrn Präsidenten auch der Schlußruf der Inauguraladresse: „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ Was heißt das? Es heißt Ihr Unglücklichen, Ihr Elenden, Ihr Ausgebeuteten, Ihr Armen aus allen Ländern der Welt vereinigt Euch! Also nicht die Armen eines Landes, sondern aller Länder! Gut, das Christenthum ist in Deutschland Staatsreligion – nun – das Christenthum machte ja auch, und dadurch ward es groß, den Nationalgott der Juden zu einem für alle Völker, alle Länder! Und was fordert die Internationale in Summa? Sie fordert, daß alle Menschen sich bestreben, die christliche Forderung der Liebe zu allen Menschen auch in politischer und sozialer Beziehung, über Grenzphähle und Schlagbäume hinaus, zur Wahrheit zu machen. Wenn aber Jemand in dieser Forderung Hochverrath sehen sollte, so würde er damit nichts Anderes bekennen als die Anschauung; „Die allgemeine Liebe unter den Menschen, die allgemeine Verbrüderung, der Friede mit einem Worte, ist unverträglich mit dem Bestande der Monarchen!“ (...)
Die Aufgabe der Internationalen, die Emanzipation der arbeitenden Klassen, ist eine Kulturaufgabe, eine Aufgabe von der höchsten Moralität und – diese so vielgeschmähte, als fähig aller Schandthaten hingestellte Internationale, welche Erklärung gibt sie ab?
Sie erklärt: „daß alle Gesellschaften und Individuen, die sich ihr anschließen, Wahrheit, Gerechtigkeit und Sittlichkeit anerkennen als die Regel ihres Verhaltens zu einander und zu allen Menschen, ohne Rücksicht auf Farbe, Glaube oder Nationalität; keine Pflichten ohne Rechte, keine Rechte ohne Pflichten!“ (...)
Fünfte Sitzung Freitag, den 15. März.
Der Präsident eröffnet die Verandlungen gegen 9 Uhr und theilt zunächst mit, daß die Zeugen aus Plauen, da sie durch eine längere Abwesenheit vom Hause in ihrem Gewerbe geschädigt zu werden fürchteten, bald gehört zu werden wünschen.
Auf Befragen erklärt sich sowohl der Staatsanwalt als die Vertheidigung mit der baldigen Entlassung dieser Zeugen nach ihrer Vernehmung einverstanden und beantragt nur Advokat Freytag (Leipzig), daß die beiden Polizeikommissäre unter den Zeugen von dieser Entlassung ausgeschlossen würden.
Die Vorladung der Zeugen wird veranlaßt und zunächst erhält das Wort Bebel. (...)
„Wenn die Emancipation der arbeitenden Klassen deren gegenseitigen brüderlichen Beistand erfordert, wie können sie die diese große Mission erfüllen, wenn die auswärtige Politik der Regierungen strafbare Pläne verfolgt, nationale Vorurtheile in Bewegung setzt, und in Raubzügen das Blut und den Schatz des Volkes vergeudet? Nicht die Weisheit der herrschenden Klassen, sondern der heldenmüthige Widerstand der arbeitenden Klassen von England war es, was den Westen Europas verhinderte, sich Hals über Kopf in einen infamen Kreuzzug für die Verewigung und Fortpflanzung der Sklaverei auf dem jenseitigen Ufer des atlantischen Oceans zu stürzen. (...)
Sechste Sitzung Sonnabend, den 16. März.
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Eröffnung durch den Präsidenten gegen 9 Uhr. Zunächst theilt derselbe mit, daß auf Wunsch der Geschworenen bei der heutigen Sitzung insofern eine Abkürzung eintreten solle, als mit Uebergehung der bisher gebräuchlichen Pause der Schluß um 1 Uhr Nachmittags erfolgen werde.
Die Abhörung der drei noch vorgeladen gewesenen Zeugen: die Polizeikommissare, Weller von Dresden und Kneschke von Leipzig, sowie des Dr. Max Hirsch aus Berlin ist sowohl von Seiten der Vertheidigung, wie auch der Staatsanwaltschaft, Verzicht geleistet worden, wogegen sich zu erklären der Gerichtshof keine Veranlassung findet.
Die bei Liebknecht vorgefundenen 100 Stück Mitgliedskarten der Internationalen Arbeiter = Assoziation erkennt dieser, sowie auch Bebel und Heppner, als echt an.
Staatsanwalt Hoffmann beantragt, daß diese Karten auch den Herren Geschworenen vorgelegt würden und ferner beantragt er die Verlesung des Inhalts der Rückseite dieser Karten. Diesen beiden Anträgen wird Folge gegeben.
N° 24 Sonnabend, 23. März 1872
Verhandlungen des Leipziger Hochverrathsprozesses. IV.
Siebente Sitzung, Montag, den 18. März.
Präsident v. Mücke eröffnet gegen 9 Uhr Vormittags die Verhandlungen. Zunächst werden 3 Brief = Concepte vom Braunschweiger Ausschuß an den General = Rath und darauf 3 Briefe von Marx an den Ausschuß verlesen.
Präsident: Aus den Briefen geht klar und deutlich hervor, daß zwischen dem Ausschuß und dem General = Rath eine offizielle Verbindung stattgefunden hat. Der Ausschuß wollte zwar die Autorität des General = Raths nicht recht anerkennen, die Briefe an denselben sind aber offiziell gehalten. Der Ausschuß schreibt als solcher an Marx und Marx schreibt im Auftrage des General = Raths an den Partei = Ausschuß. (...)
Liebknecht: Er leugne nicht, daß eine Verbindung zwischen Marx und dem Ausschuß stattgefunden. Jedoch sei von einer autoritären Gewalt des General = Raths über den Ausschuß nirgends die Rede. Es handele sich bei der verlesenen Correspondenz blos um die Verlegung, resp. Vertagung des Congresses. (...)
Achte Sitzung, Dienstag, den 19. März.
Eröffnung gegen 9 Uhr.
Der Präsident erklärt: Zunächst werden Artikel aus dem „Volksstaat“ vorgelesen werden. Der „Volksstaat“ ist Parteiorgan. Die Angeklagten haben bereits früher ihr Verhältnis zu demselben auseinandergesetzt. Liebknecht war Redakteur, Hepner sein Gehilfe und also nicht selbstständig, Bebel hatte die Expedition. Der Ausschuß übte das Aufsichtsrecht über das Blatt. Die drei Angeklagten wurden für die Mühwaltung bezahlt. Herr Bebel verzichtete während des Krieges auf sein Honorar.
Advokat Freytag (Leipzig) veranlaßt die Feststellung des Umstandes, daß Bebel nur bis zur Untersuchung thatsächlich die Expedition des „Volksstaat“ besorgte. Während der Untersuchung that es ein Stellvertreter, nach derselben gab Bebel die Expedition gänzlich ab. Auch wird konstatirt, daß Hepner seit einiger Zeit verantwortlicher Redakteur ist.
Aus Nr. 1 vom Jahre 1869 an die Parteigenossen vorgelesen, welcher vom Ausschuß und der Redaktion unterzeichnet ist.
Der Präsident hebt aus dem Schriftstücke den Schluss hervor, welcher lautet: "Es lebe der sozial=demokratische Volksstaat, es lebe die sozial=demokratische Agitaion."
Die Angeklagten haben zu dem Vorgelesenen nichts zu bemerken. (...)
Advokat Freytag (Plauen): Der Herr Präsident hat früher ausgesprochen, daß die soziale Frage mit der gegenwärtigen Anklage nicht zu schaffen habe, weshalb auch jede weiter Diskussion über dieselbe fernbleiben solle. Es scheint mir aber nach dem soeben Vorgekommenen,
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sei der Präsident nun anderer Meinung geworden. Ich ersuche den Herrn Präsidenten hierüber um einen definitiven Bescheid, da sich im letzteren Falle die Vertheidigung anders einrichten müßte.
Präsident: Ich habe niemals Veranlassung genommen, auf die soziale Frage einzugehen. Ich bin jedoch genöthigt, jeden verlesenen Artikel zu motiviren.
Es wird hierauf ein Artikel des „Volksstaat“ über das Misslingen der spanischen Republik verlesen.
Präsident: Aus diesem Artikel erhellt, daß die sozialdemokratische Arbeiterpartei sich nicht mit der Erreichung einer Republik begnügen will, sondern eine sozialdemokratische Republik erstrebt.
Liebknecht bekennt sich als Verfasser und sonst in Betreff dieses Artikels nichts zu erwähnen.
Ferner gelangt ein Artikel aus N° 13 des „Volksstaat“ betitelt: Politische Uebersicht, zur Verlesung. Derselbe bezieht sich in seinem ersten Theil auf die Erschießung Robert Blum’s.
Präsident aus dem verlesenen Artikel geht hervor, daß die Partei in ihren Forderungen weiter geht, als man zur Zeit Robert Blum’s gegangen. Er spricht ferner vom „Kampfe“ und daß man für die zu erstrebenden Forderungen auch zu sterben bereit sein müsse.
Liebknecht: Es ist sehr natürlich, daß wir heut weitergehende Forderungen stellen, als 1848. Wir kämpften 1848 und 1849 für die Freiheit und Einheit Deutschlands; auch jetzt kämpfen wir für die Freiheit und jeder ehrliche Mann, zu welchen Ideen er sich auch bekennt, muß bereit sein für dieselbe zu sterben.
Präsident: Sie würden sich also nicht scheuen, in einen Kampf einzutreten?
Liebknecht: Ich habe 1849 für die Verfassung, die die deutschen Fürsten umzustürzen beabsichtigten, gekämpft und würde heut, wenn ähnlich, wie zur Zeit des Frankfurter Parlaments, irgend ein Fürst oder Fürsten die rechtmäßige Verfassung umstürzen wollten, ohne Säumen die Flinte von der Wand nehmen und mich in den Kampf begeben. (Lautes Bravo im Publikum. Bewegung.) (...)
Neunte Sitzung, Mittwoch, 20. März.
Eröffnung der Sitzung gegen 9 Uhr.
Zur Verlesung gelangt ein Aufruf von Seiten der französischen Arbeitergesellschaften und Sektionen der Internationalen Arbeiter = Assoziation an das deutsche Volk und an die Sozialdemokraten Deutschlands.
Präsident: dieser Aufruf enthält die Worte: „Es lebe die allgemeine Republik! Laßt uns durch unser Bündniß die vereinigten Staaten von Europa gründen“! Das entspricht dem anerkannten Programm der Angeklagten und da man unter der allgemeinen Republik natürlich nur eine Europäische verstehen kann, so ist die Hoffnung der Franzosen auf die Gründung der Republik in Deutschland wohl so klar, daß die Herren Angeklagten nicht dazu zu sagen haben werden.
Liebknecht: Wir haben es hier nicht mit den Hoffnungen der französischen Arbeiter, sondern mit der gegen uns erhobenen Anklage auf Vorbereitung zum Hochverrath zu thun.
Advokat Freytag (Leipzig): Ich betone, daß die Ueberschrift des Aufrufes sich in erster Linie an das deutsche Volk, in zweiter Linie erst an die Sozialdemokraten Deutschlands wendet. Ferner wird als letzte Absicht der Verfasser hingestellt: „Vertilgung des internationalen Hasses, allgemeine Entwaffnung und allgemeine Harmonie.“ In dieser Absicht meinen die französischen Sozialisten, seien gewiß die Deutschen mit ihnen einig. (...)
N° 25 Mittwoch, 27. März 1872
Zehnte Sitzung, Donnerstag, 21 März.
Eröffnung gegen 9 Uhr.
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Der Präsident verliest zunächst den von der Vertheidigung provozirten Beschluß des Gerichtshofes, wonach die Berliner Rede von Liebknecht trotz des Protestes beider Sachwalter zur Verlesung kommt, weil es sich hier um die Flugschrift handelt, welche in Sachsen verfolgt werden kann.
Advokat Freytag (Leipzig): Ich melde schon jetzt wegen dieses Beschlusses die Nichtigkeitsbeschwerde an. Es werden hiernach Schriftstücke verlesen, welche schon eine, noch dazu durch Amnestie bereits erledigte Bestrafung des Angeklagten in Preußen zur Folge gehabt haben und wegen welcher das Leipziger Bezirksgericht auch schon längst einen Strafantrag, nicht aber wegen Vorbereitung zum Hochverrath, gestellt hatte.
Advokat Freytag (Plauen): Ich schließe mich dieser Nichtigkeitsbeschwerde an und füge derselben noch eine zweite hinzu. Hier wurde der Artikel aus dem „Felleisen“ mit zur Verlesung gebracht, welcher. im Demokratischen Wochenblatt abgedruckt, vor den Leipziger Gerichten schon vor langer Zeit eine Verurtheilung des Angeklagten Liebknecht zu vier Wochen Gefängniß „wegen Verbreitung staatsgefährlicher Lehren“ zur Folge hatte. Die vier Wochen hat Liebknecht verbüßt. Es ist das Charakteristische dieses Prozesses, daß man Sachen als Beweismaterial vorbringt, wegen welcher die Angeklagten längst zur Verantwortung gezogen sind.
Staatsanwalt Hoffmann: die letztere Nichtigkeitsbeschwerde kommt zu spät. Sie musste vor der Verlesung fraglichen Schriftstücks angemeldet werden.
Advokat Freytag (Plauen): Sie kommt nicht zu spät; es ist im Gegentheil nur mein guter Wille, daß ich sie jetzt schon anbringe. Verpflichtet wäre ich dazu erst am Schluß der Verhandlungen.
Advokat Freytag (Leipzig) schließt sich Dem an. (...)
Präsident: Herr Liebknecht entwickelt in dieser Flugschrift seine schon oft hier zu Tage getretenen Theorien. Hervorzuheben ist die Anschauung, daß die Ziele der Arbeiterpartei nicht zu erstreben seien durch parlamentarischen Kampf, sondern daß die Frage schließlich gleich jeder anderen Machtfrage auf der Straße gelöst werden müsse. Auch sind zwei fett gedruckte Stellen hervorzuheben, nämlich auf S.11: „Revolutionen werden nicht mit hoher obrigkeitlicher Erlaubniß gemacht; die sozialistische Idee kann nicht innerhalb des heutigen Staats verwirklicht werden; sie muß ihn stürzen, um ins Leben zu treten. Kein Friede mit dem heutigen Staat!“ und ferner auf Seite 15: Von dem Moment an, wo jeder Zweifel in Bezug auf die politische Stellung der Sozialdemokratie beseitigt ist, wo die Sozialdemokratie, ohne den Klassenkampf gegen die Bourgeoisie zu vernachlässigen, auch den politischen Kampf führt – haben wir die Massen der Arbeiter hinter uns, können wir sagen: „Berlin gehört uns.“
Und dann gehört uns Deutschland; denn hier in Berlin sitzt der Hauptfeind, hier wird die Entscheidungsschlacht geschlagen. Von Berlin aus wurde Deutschland geknechtet; in Berlin muß Deutschland befreit werden.“ (...)
Elfte Sitzung, Freitag, 22. März.
Eröffnung gegen 9. Uhr.
Staatsanwalt Hoffmann kommt auf die von der Vertheidigung gestern angemeldete Nichtigkeitsbeschwerde zurück. Aus den Akten des Bezirksgerichtes Leipzig (1869) geht hervor, daß Liebknecht zur Verantwortung gezogen wurde, weil er das Programm des „Felleisen“ abgedruckt. Das Urtheil lautete auf 6 Wochen Gefängniß, wenn Liebknecht 1869 einen Theil, den anderen bis auf einen Tag 1870 verbüßte. Der eine Tag blieb unverbüßt, um eine Verschmelzung oder Mitanrechnung der Strafe für den Fall einer Verurtheilung in gegenwärtigem Prozeß möglich zu machen. Nachdem über Herrn Liebknecht jenes Urtheil gesprochen, nachdem er wußte, daß das Felleisen Strafbar sei, hat er dennoch wiederholt im Volksstaat dasselbe Blatt empfohlen. Der Staatsanwalt überreicht hierauf die fraglichen Akten sowie die Nummern 26, 50, 52, und 79 des Volksstaat vom Jahre 1870, welche die Empfehlung des „Felleisen“ enthalten.
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Liebknecht: Ich habe schon öfter konstatirt, daß regelmäßig wiederkehrend die Parteiblätter im „Volksstaat“ empfohlen wurden.
Die Vertheidiger halten trotz der Verlesung der fraglichen Empfehlungen ihre Nichtigkeitsbeschwerde aufrecht und
Advokat Freytag (Leipzig) bemerkt: Daraus, daß ein einzelner Artikel des „Felleisen“ strafbar befunden worden ist, kann nicht die Strafbarkeit des „Felleisen“ an sich gefolgert werden. Wir haben auch die Nichtigkeitsbeschwerde nicht angemeldet um der Empfehlung willen, sondern weil ein Artikel unter der Bezeichnung als Belastungsmaterial vorgelesen wurde, um deswillen Liebknecht bereits angeklagt und bestraft ist.
Bebel: Wenn die Logik des Herrn Staatsanwalt richtig ist, so ist sie auch auf den Volksstaat anwendbar. Derselbe ist in vielen Artikeln schon bestraft – folglich müßte der Volksstaat an sich als staatsgefährlich bestraft werden. (...)
Zwölfte Sitzung, Sonnabend, 23. März.
Eröffnung gegen 9 Uhr.
Die auf Antrag der Vertheidigung vorgeladenen Zeugen kommen zu Vernehmung und zunächst tritt ein der Zeuge Kaufmann Hermann Franz Wilhelm Brake aus Braunschweig, 29 Jahre alt. Derselbe ist mit den Angeklagten weder verwandt noch verschwägert, dagegen kennt er dieselben ämmtlich.
Auf spezielle Befragung des Präsidenten gibt Brake an, daß er Parteimitglied noch jetzt ist und daß er seiner Zeit dem Braunschweiger Ausschuß als Kassirer angehört hat. Der Ausschuß bestand aus fünf Mitgliedern unter welchen sich auch die beiden anderen Zeugen, Spier und Bonhorst befanden. Wegen des September = Manifestes wurden wir in Braunschweig verhaftet und nach Lötzen transportirt. Hierauf folgte eine Untersuchung wegen Hochverraths. Diese wurde schließlich fallen gelassen und eine Anklage wegen geringerer Vergehen angestrengt. Ich ward zu 16 Monaten verurtheilt, das Urtheil wurde kassirt und schließlich erfolgte eine Verurtheilung zu 3 Monaten auf Grund eines bis dahin nicht angezogenen Paragraphen.
Während meines längeren Aufenthaltes in Leipzig habe ich mit den Familien der Angeklagten verkehrt, mit den Angeklagten über mein abzugebendes Zeugnis nicht gesprochen. In Betreff des Verhältnisses des Ausschusses zu den Angeklagten ist zu sagen, daß Redaktion und Expedition des „Volksstaat“ unter dem Ausschuß standen. Jedoch war eine Entlassung der Redakteure und Expedienten, so ohne weiteres dem Ausschuß nicht möglich, da über den Ausschuß noch die Kontrollkommission und der Parteikongreß stand. Bei Gelegenheit eines Zwiespaltes mit Liebknecht wies uns Letzterer auch darauf hin. Auf die Haltung des Parteiorgans hatte der Ausschuß einen Einfluß, jedoch konnte er natürlich die einzelnen Artikel nicht kontrolliren.
N° 26 Sonnabend, 30. März 1872
Allem voran steht dick gedruckt folgende Mitteilung:
Die Geschworenen haben die gestellten Fragen mit mehr als 7 Stimmen in Bezug auf Liebknecht und Bebel mit Ausnahme des Punktes g bejaht, in Bezug auf Hepner verneint. Der Gerichthof erkannte gegen die beiden Verurtheilten auf zwei Jahre Festungshaft, 2 Monate Untersuchungshaft eingerechnet.
Parteigenossen!
Bürgerliche Geschworene haben uns verurtheilt, wo Juristen und Richter vom Fach keine Schuld zu finden vermochten. Wir werden die uns zuerkannte Strafe zu tragen wissen. An Euch, Parteigenossen, ist es nun, auf das Urtheil zu antworten, indem Ihr Eure Anstrengungen für die Ausbreitung unserer Partei verdoppelt. Vor allen Dingen
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sucht dem Parteiorgan immer weitere Kräfte zu öffnen! Der Quartalswechsel steht vor der Thür. Thut euer Möglichstes, um dem „Volksstaat“ neue Abonnenten zuzuführen!
Wirke Jeder soviel er kann, und die Zeit wird nicht mehr fern sein, wo Urtheile, wie das jetzt gegen und gefällte, unmöglich sind!
Hoch die Sozialdemokratie! Nieder mit der Klassenherrschaft!
Leipzig, 27. März. A. Bebel, W. Liebknecht.
Zu unserer Verurtheilung.
Durch die Behauptung des Präsidenten von Mücke, daß wir nach der Veröffentlichung des Wahrspruchs bloß über die Höhe des Strafmaßes reden dürften, wurden wir gestern verhindert, folgende Erklärung abzugeben:
„Der Wahrspruch der Herren Geschworenen ist nicht wahr. Was wir gewollt und gethan, haben wir ohne Hehl bekannt; ein hochverrätherisches Unternehmen im Sinn des Strafgesetzbuchs haben wir nicht vorbereitet. Wenn wir schuldig sind, ist jede Partei schuldig, die nicht gerade am Ruder ist. Indem man uns verurtheilt, ächtet man die freie Meinungsäußerung. (...)
Dreizehnte Sitzung, Montag, 25. März.
Die Tribünen sind übermäßig gefüllt, ebenso der untere Zuschauerraum. Wegen des trüben Wetters muß der Saal erleuchtet werden.
Gegen 9 Uhr eröffnet Präsident v. Mücke die Verhandlungen, indem er die Geschworenen folgende Fragen vorlegt: Ist der Angeklagte Wilhelm, Philipp, Martin, Christian, Ludwig Liebknecht schuldig dadurch, daß er innerhalb der letzten 10 Jahre vom 10. Dezember 1870 zurückgerechnet mit dem Vorhaben, die Verfassung des Norddeutschen Bundes, jetzigen deutschen Reiches und des Königreiches Sachsen gewaltsam zu ändern
a., im Monat August 1869 zu Eisenach neben anderen hervorragenden Parteigenossen die sozial = demokratische Arbeiterpartei mit gegründet,
b., die Redaktion des seit dem 1. Oktober 1869 unter dem Titel „der Volksstaat“ ins Leben getretenen Preßorgans der gedachten Partei besorgt, auch thätiger Mitarbeiter an erwähnten Preßorganen gewesen,
c., in der gedachten Zeitung beharrlich und planmäßig um deren, vernehmlich den Arbeiterkreisen angehörigen Leser für das oben gedachte, gewaltsame Vorhaben zu gewinnen, nicht nur Grundsätze, welche dem Letzteren entsprechen, verbreitet, sondern insbesondere auch die Arbeiter darauf, daß nicht blos durch das moralische Gewicht der Majorität in den gesetzgebenden Versammlungen, sondern schließlich nur durch Gewalt die damaligen Staatseinrichtungen und die auf ihr gegründeten wirtschaftlich = gesellschaftlichen Zustände beseitigt werden können, hingewiesen und geradezu an sie, zugleich unter Erinnerung an die Vorgänge bei früheren politischen Revolutionen die Aufforderung auf den Zeitpunkt des gewaltsamen Umsturzes durch engen Anschluß an einander, durch einheitliche Organisation und sonst sich vorzubereiten und dazu sich bereit halten, gerichtet,
d., nicht nur selbst Schriften, in denen zu gewaltsamer Abänderung der Staatsverfassung aufgereizt und aufgefordert wird, zur Verbreitung gebracht und empfohlen, sondern außerdem auch bei der Verbreitung solcher Schriften durch den gewählten Parteiausschuß zu Braunschweig, indem er selbigem nach dieser Richtung hin Vorschläge gemacht, mitgewirkt,
e., für Gründung von Arbeitervereinen in den einzelnen Orten als Lokalvereine der Partei, welche durch Vertrauensmänner und sonst mit dem erwähnten Parteiausschusse in dem engsten Verkehre gestanden, mit Erfolg gewirkt,
f., nicht nur selbst in Volksversammlungen in verschiednen Theilen des deutschen Reiches als Agitator für die bezeichneten Zwecke der Partei auftreten, sondern auch für die Entsendung anderer Personen als Agitatoren thätig mitgewirkt,
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g., die Landbevölkerung und das Militär durch Artikel in der Zeitschrift „der Volksstaat“ und durch sonstige Schriften zur Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen aufzureizen und zu unterwühlen versucht, endlich
h., nicht nur dafür gesorgt, daß die sozialdemokratische Arbeiterpartei als ein Glied der Internationalen Arbeiter = Assoziation, einer die nämlichen revolutionären Ziele wie die Erstere verfolgenden über Europa und Amerika verbreiteten Verbindung von Arbeitern und anderen Personen aufgetreten ist, sondern auch mit dem Generalrathe der Internationalen Arbeiter = Assziation, dessen Anweisungen er ebenso wie der Parteiausschuß in Braunschweig gefolgt, bezüglich des Vorgehens der sozial = demokratischen Arbeiterpartei in politischer Richtung in Verkehr gestanden,
Handlungen vorgenommen zu haben, wodurch das hochverrätherische Unternehmen, die Verfassung des Königreiches Sachsen und die Verfassung des Norddeutschen Bundes, jetzigen deutschen Reiches gewaltsam zu ändern, vorbereitet worden ist? –
Die Fragestellung in Bezug auf den Angeklagten Bebel ist gleichlautend, nur daß unter b statt „bei der Redaktion“ „als Expedient und Mitarbeiter“ zu lesen ist. (...)
Auf Antrag der Vertheidigung tritt eine Pause von 20 Minuten ein.
Nach Wiederaufnahme der Verhandlungen erklärt sich die Staatsanwaltschaft mit der Fragestellung einverstanden. (...)
Vertheidigungsrede des Advokaten Freytag (Leipzig).
Advokat Freytag (Leizig): Meine Herren Geschworenen!
Ich verzichte gern auf die Wiederholung der Rede des Herrn Staatsanwalt, muß aber zu meinem Erstaunen über die Begründung seiner Anklage nach nunmehr 14tägigen Verhandlungen Ausdruck verleihen. Ich glaubte jetzt endlich den Kern der Anklage zu entdecken, glaubte nun endlich zu vernehmen, was für Schuld den Angeklagten eigentlich beigemessen werde, und was bekamen wir statt dessen zu hören?
Ein Ragout von Reden und Aeußerungen Anderer; wir sehen Schriften angezogen, die in den Jahren 1847 und 48 geschrieben sind und erfahren, daß die Gesinnung der Angeklagten angeschuldigt wird, während keine Thatsache vorgeführt ist, die bewiese, daß die Angeklagten ihre Ideen mit Gewalt durchzusetzen beabsichtigt hätten. (...)
N° 27 Mittwoch, 3. April 1872
Zum Leipziger Hochverrathsprozeß.
Das Urtheil in dem Prozeß gegen Liebknecht und Bebel hat in den weitesten Kreisen das peinlichste Aufsehen erregt. Ein großer Theil der halbwegs unabhängigen Presse ( die „Frankfurter Zeitung“, der „Frankfurter Beobachte“, der „Nürnberger Correspondent“, die „Mittelrheinische Zeitung“, die „Berliner Volkszeitung“, u. s. w.) hatten schon vor Schluß des Prozesses einstimmig ihr Urtheil dahin abgegeben, daß der Prozeß ein Tendenzprozeß sei, und daß die Geschworenen unzweifelhaft freisprechen würden. Ebenso einstimmig waren alle uns zu Gesicht gekommenen Zeitungen darin, daß die Leitung der Verhandlungen durch den Präsidenten den Schein der Parteilichkeit und unstatthafter Beeinflussung trage.
Wir wollen uns hierüber vorläufig eines Urtheils enthalten, fühlen uns aber um so mehr verpflichtet, auf eine Reihe von Vorfällen aufmerksam zu machen, welche den Prozeß und sein Endresultat in sehr eigenthümlichen Lichte erscheinen lassen.
In erster Linie ist es allgemein als höchst anstößig empfunden worden, daß während der Dauer des Prozesses regelmäßig jeden Abend eine Anzahl geschworener, der Staatsanwalt und Mitglieder des Gerichtshofes in der Restauration von Schatz (in der Ritterstraße) zusammenkamen, und daß dort, wie durch Zeugen nachgewiesen werden kann, der Prozeß öfter Gegenstand der Verhandlungen bildete.
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An einem dieser Abende richtete der Geschworene Kaufmann B. an den Geschworenen Rittergutsbesitzer W. folgende Bemerkung: „Ich möchte wissen, ob der Präsident (des Schwurgerichtshofes), wenn man ihn auf das Gewissen fragte, ob die Angeklagten juristisch schuldig sind, dies bejaht. Für moralisch schuldig halte ich sie, aber nicht für juristisch.“ Wir wissen nicht, ob der Geschworene B. dem Präsidenten diese Frage vorgelegt hat; ist es geschehen, schlimm genug, denn darüber herrscht in ganz Leipzig, bei Freund und Feind und bei den Angeklagten am allerwenigsten, kein Zweifel, daß der Präsident den Angeklagten entschieden feindlich gesinnt, und ihre Verurtheilung in seinen Augen eine Nothwendigkeit war. –
N° 28 Sonnabend, 6. April 1872
Urtheile der Presse über den Leipziger Hochverrathsprozeß. (Fortsetzung)
Das Organ des preußischen Kronprinzen, „altliberale“ und „neukonservative“ „Spener’sche Zeitung“ findet den Leipziger Hochverrathsprozeß „sehr unpassend“, und „vom Stanpunkt des Staatswohls selbst gefährlich“; sie schließt ihren Artikel mit den Worten: „Wir bedauern, daß die Staatsanwaltschaft durch ihr Vorgehen den Angeklagten eine persönlich Bedeutung beigelegt hat, aus welcher die im Absterben(!) begriffene sozialistische Bewegung nur neue Nahrung schöpfen wird.“
Letzteres ist ebenso richtig, als die vorhergehende Behauptung falsch, daß die sozialistische Bewegung im Absterben begriffen sei. –
Die (heftig antisozialistische) Wiener „Tagespresse“ schreibt unterm 29. März:
„Immer peinlicher wird das Aufsehen, welches der Leipziger Prozeß und dessen Verlauf bei allen Organen hervorruft, die nicht in Stieber den Retter der Ordnung verehren und überhaupt eine Kritik über die neue Polizeiwirthschaft, die sich in Deutschland stets tiefer einfrisst, zu fällen wagen. Die „Frankf. Ztg.“ Stellt den Leipziger Hochverrathsprozeß auf gleicher Linie mit dem berüchtigten Kölner Commnistenprozeß und sonstigen Produkten polizeilichen Hypereifers. Sie schreibt: (Folgt der bereits in voriger Nr. abgedruckte Artikel der Fr. Zt.) „Dies Urtheil stimmt wohl nicht mit den Stimmen jener Organe überein, welche mit der Einkerkerung der beiden Sozialisten eine „erlösende That“ preisen, aber dafür ist es richtiger und mit den Lehren der Geschichte vereinbarer. Es ist heller Wahnwitz, Tendenzen durch Festungshaft ausrotten zu wollen. Dies beweist am besten England, wo die republikanische Bewegung nur deshalb ungefährlich verläuft, weil man Dilke und Odger frei umhergehen läßt“ –
Die Berliner „Demokratische Zeitung“ schreibt in ihrer Nummer vom 31. März:
„Der Leipziger Prozeß hat unsere vielgerühmte deutsche Justiz in einem keineswegs glänzenden Lichte erscheinen lassen. Man spricht, zumal, wenn man sich der errungenen Großmachtsatellung erinnert, nicht ohne eine gewisse Beschämung von der Angelegenheit, deren Charakter als ein ganz plump eingefädelter Tendenzprozeß sich nun einmal nicht hinwegleugnen läßt. (...)
Das nationalliberale „Norddeutsche Wochenblatt“ schrieb im Verlauf des Prozesses:
„Der ganze Prozeß macht, wie wir konstatiren müssen, bei einem großen Theile des unparteiischen Publikums einen der Anklage ungünstigen Eindruck. Von dem Standpunkte der Anklage aus kann man schließlich jeden liberalen Schriftsteller wegen Hochverraths belangen, wenn man die von ihm in einem mehrjährigen Zeitraume geschriebenen und in verschiedenen Zeitschriften sammelt und geschickt gruppirt. Und ebenso verhält es sich auch mit den Ctitaten aus den Agitationsreden. Derartige Prozesse nennt man Tendenzprozesse. (...)
Die Vertheidigungsrede Freytags (Plauen) nebst dem Schlusse der Verhandlungen.
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Vierzehnte Sitzung, Dienstag den 26. März.
Eröffnung der Sitzung um 9 Uhr.
Der Präsident ertheilt das Wort dem Advokat Freytag (Plauen): Meine Herren Geschworenen! Ich habe mir, nachdem mein Bruder gestern sich nicht mit Meinungen und Ansichten beschäftigt, für meine Rede ein näheres Eingehen auf die vorgeführten Tatsachen vorgenommen. Erlauben Sie, daß ich zu diesem Zwecke einen kurzen Ueberblick der den Angeklagten schulgegebenen Thaten gebe und an der Hand derselben untersuche, ob sie unter die rechtlichen des Strafgesetzes fallen oder nicht. Vorausschicken will ich dabei, daß ich ein Feind der Geschworenengerichte bin, weil sich gar zu oft thatsächliche Momente und rechtliche Beziehungen miteinander vermischen und dann äußerst schwer, manchmal selbst von Juristen auseinander zu halten sind. Ueber Diebstahl und Mord zu entscheiden, daß mag auch dem Laien ohne besondere Schwierigkeiten möglich sein; nicht so bei dem Prozeß wie der vorliegende. Wäre derselbe Juristen zur Entscheidung übergeben, mir würde um das Urtheil nicht bange sein – sie müßten freisprechend urtheilen. Es haben dies auch – in Braunschweig – bereits Juristen gethan. Aber gegenüber der Geschworenenbank, ich gestehe es, ist mir bange geworden – noch mehr, als ich sah, in welcher Weise das Material zum Vortrag gelangte. Mir haben die Verhandlungen nicht den Eindruck gemacht, als habe sich die frohe Hoffnung des Herrn Staatsanwalts, Sie in das „Treiben der Partei“ möglichst einzuweihen, erfüllt; mir haben sie den Eindruck gemacht, als hätten sie die möglichste Verwirrung in die Sache gebracht. (…)
Mit der geschichtlichen Entwicklung der Arbeiterbewegung werde ich Sie nicht solange aufhalten, wie der Herr Staatsanwalt, dessen Ausführungen von Anfang bis zum Ende auf Unrichtigkeiten beruhen. und denen ich wünsche, daß ihnen die Geschichtsschreiber einst „mildernde Umstände“ angedeihen lassen mögen. (…)
Das Bestreben der Angeklagten hatte zum Ziele die Förderung des Arbeiterstandes – die Angeklagten wollten der Arbeiterklasse behilflich sein zur Erlangung einer maßgebenden Stellung im Staate, sie wollten dieselbe durch Bildung zur dermaleinstigen Behauptung einer solchen Stellung befähigen. (…)
Man sagt wohl, es sei erst Material zu sammeln gewesen, um auf Grund desselben zu entscheiden, ob ein Hochverrathsprozeß einzuleiten sei. Ich denke, es ist diesmal umgekehrt gewesen. Erst war die Ordre vorhanden, einen Prozeß einzuleiten – und als man derselben nachzukommen sich entschloß da fing man erst an, das denn doch nöthig erscheinende Material zusammenzusuchen. (…)
In der soeben angezogenen wissenschaftlichen Arbeit Bebels ist am Schluß gesagt, es gebe zur Erreichung des Zieles der Angeklagten nur zwei Wege, einen kürzeren, den der Gewalt – und einen längeren, den der friedlichen Entwicklung. Daraus soll nun gefolgert werden, daß der kürzere den Angeklagten der angenehmere sein müsse und daß sie entschlossen seien. Aber spricht sich Bebel dahin aus? Oder sagt er: „Es gibt nur einen, nämlich den der Gewalt.“ – oder sagt er: Es gibt zwar zwei Wege, aber nur den einen, den der Gewalt, wollwn wir beachten.“? Er sagt weder das Eine, noch das Andere – er spricht nur von der Möglichkeit des Eintretens dieser oder jener Eventualität – und darin soll eine Vorbereitungshandlung zu Hochverrath liegen?! (…)
N° 29 Mittwoch, 10. April 1872
Urtheile der Presse über den Leipziger Hochverrathsprozeß. (Fortsetzung)
Das ultranationalliberale „Regensburger Tageblatt“ schreibt in seiner Nr. 92:
„Die ganze liberale Presse stimmt mit unseren Ausführungen über den Mißgriff überein, den die sächsische Regierung mit der gerichtlichen Verfolgung der Sozialisten gethan. Was wir vorausgesehen, trifft ein. Die beiden Verurtheilten Bebel und Liebknecht spielen die Rolle, welche sie vor Richtern und Geschworenen gespielt, stolz und ruhig weiter. Die neueste
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Nummer ihres Organs, der „Volksstaat“ bringt Aufrufe, die nach Fassung und Inhalt volles Zeugnis ihrer Dreistigkeit geben. Nachdem die sächsische Regierung die falsche Bahn der Verfolgungen gegen die sozialdemokratische Arbeiterpartei betreten, muß sie mit Polizeimaßregeln fortfahren. So hat jetzt das Polizeiamt der Stadt Leipzig durch öffentlich erlassenes Verbot die fernere Mitgliedschaft und die Leistung von Beiträgen an die Kasse der in Eisenach constituirten sozial = demokratischen Arbeiterpartei, welche als ihr Organ die Zeitschrift „Volksstaat“ erklärt hat, sowie die Anwerbung für diesen Verein bei Vermeidung einer Haftstrafe von vier Wochen untersagt.“
Der ultramontanen „Kölnischen Volkszeitung“ schreibt man unterm 29. März aus Berlin:
„Die Verurtheilung Bebel’s und Liebknecht’s hat hier eine nicht geringe Sensation erregt. Selbst unsere nationalliberalen erfaßt ein leichtes Gruseln vor der tendenziösen Aspecten des Leipziger Hochverrathsprozesses. Ehe noch das Urtheil gesprochen war, schrieb eines derselben: „Nein, diese Männer sind keine Hochverräther; sie könnten es werden, wenn sie Geld hätten. Aber für die Möglichkeit, einmal ein Verbrecher werden zu können, soll Urtheil und Strafe erst noch gefunden werden.“ Seitdem ist das Urtheil gefällt worden, und die öffentliche Meinung spricht sich in derselben Richtung aus. Politiker, die weit davon entfernt sind, die sozialistischen Theorien Bebel’s und Liebknecht’s zu theilen, verurtheilen in nicht gelinder Weise die Apparate, welche bei dem Prozesse in Bewegung gesetzt wurden. Sie sagen, Herr v. Bismarck habe einen Schlag gegen das rothe Gespenst der Internationale führen wollen, und das sächsische laissez – faire wäre vielleicht nicht fallen gelassen worden, wenn nicht in Berlin der Wunsch existirt hätte, ein warnendes Exempel zu statuiren. (…)
Die Prager „Politik“ schreibt unterm 30. März:
„Der Verlauf desselben hat nach der gesammten unabhängigen und freisinnigen Presse = Anschauung keinerlei Anhaltspunkten zur Annahme eines vorbereiteten Hochverrathes, um so weniger, als man bezüglich der las Belastungsmaterial vorgeführten einzelnen Reden und Schriften der Angeklagten nie vorher eine Verurtheilung hatte erwirken können; also auch die Gesammtheit derselben nicht strafbar sein. Daß die Leipziger Geschworenen die soziale Frage durch ihren Wahrspruch nicht nur nicht einer friedlich sich entwickelten Lösung entgegengeführt, sondern Oel ins Feuer gegossen haben, bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung.“
G. Fr. Kolb schreibt in der Wiener „Tagespresse“ vom 4. April:„Der Leipziger Hochverrathsprozeß ist ein deutliches Zeichen, in welcher reaktionären Strömung sich Deutschland nach seinen Siegen wieder befindet. Er ist nichts anderes als die alte Demagogenhetze in neuer Form. Der ganze Gang des Prozesses wird als Muster einer unbefangenen Prozedur nicht gelten können“.
Die „Nürnberger Presse“, ein nationalliberales Organ, schrieb vor Bekanntwerden des Ausgangs des Prozesses in Nr. 11:
In Sachsen erregt gegenwärtig der Hochverrathsprozeß gegen die Sozialdemokraten Bebel, Liebknecht und Heppner großes Aufsehen. So wenig wir über die Ziele und Mittel mit den genannten übereinstimmen, , so müssen wir doch lebhaft wünschen, daß dem freien Worte und der freien That, dem freien Versammlungs – und Vereinsrechte, innerhalb deren Grenzen sich die Angeklagten augenscheinlich gehalten haben, durch ein freisprechendes Urtheil der Geschworenen die gebührende Genugtuung nicht versagt werde; zu Tendenzprozessen ist in Deutschland heutzutage kein Raum mehr.“ (!!!) (…)
Ein Urtheil über den Nationalstolz.
Die wohlfeile des Stolzes ist der Nationalstolz. Denn er verräth in dem damit in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, in dem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen theilt. Wer
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bedeutende Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen.“ (Schopenhauer Parerga 1,181)
N° 31 Mittwoch, 17 April 1872
Urtheile der Presse über den Leipziger Hochverrathsprozeß. (Fortsetzung)
Der „Elbinger Anzeiger“ (Volkszeitung für die Provinz Preußen) spricht sich, obgleich er so blöde ist zu sagen, daß „selbst die Angeklagten dem Präsidenten von Mücke das Zeugnis strenger Unparteilichkeit (!) geben müssen“, am 4. April Folgendes aus:
„Wir sind zwar weit davon entfernt zu glauben, daß die Herren Bebel und Liebknecht vor dem Gericht ihr vollständiges, den bestehenden Verhältnissen feindliches Programm entwickelt haben, aber immerhin ist die Freimüthigkeit anzuerkennen, mit welcher die sozialdemokratischen Führer Aufschluß über ihre Absichten und Pläne gegeben. Es fragt sich nur, ob es nicht besser gewesen wäre, den Leipziger Sozialdemokraten keinen Prozeß zu machen. Die verurtheilten Arbeiterführer sind ohne Zweifel politische Märtyrer geworden. Wir wollen dieser Art Märtyrer keine große Wichtigkeit beilegen, denn im deutschen Volke hat ja die Sozialdemokratie nur wenig (?) Boden, doch Reclame hat der Prozeß und die Verurtheilung der sozialdemokratischen Bestrebungen immerhin gemacht.“ -
Die in Stettin erscheinende „Ostsee = Zeitung (und Börsennachrichten der Ostsee)“ schreibt unterm 27. März, nachdem sie „eine große Befriedigung darüber verspürt, daß dem frivolem Treiben der Herren Liebknecht und Bebel auf einige Zeit ein Ende gemacht ist,“ wie folgt: „Immerhin wäre es wohl gescheiter gewesen, die Anklage wäre überhaupt nicht erhoben worden. Hochverrathsprozesse, wenn sie nicht bereits gegen eine vollendete That gerichtet waren, haben wohl kaum jemals den beabsichtigten Zweck erreicht; und am wenigsten ist diese zu erwarten, wenn sie, wie im vorliegenden Falle, in der Hauptsache gegen eine mit naiver Offenheit betriebene Agitation gerichtet waren. Das offene Aussprechen revolutionärer Wünsche mag zeitweise ansteckend wirken, doch wird es bald, wenn es eben beim Wünschen bleibt, langweilig. Wird dagegen dieses offene Aussprechen zum Hochverrath gestempelt, so tritt an seine Stelle nur zu leicht die geheime Verschwörung, deren Reiz weit nachhaltiger zu sein pflegt. (…)
Offenen Brief an Heinr. v. Sybel.
Herr Professor!
Ihre durch die „Kölnische Zeitung“ jüngst verbreiteten Vorträge über „die Lehren des heutigen Sozialismus und Kommunismus“ veranlassen mich, Sie öffentlich zu adressiren. Die billige Voraussetzung, daß die Sache, d. h. wissenschaftliche Forschung und Wahrheit, mehr gilt, auch ihnen mehr gilt, als Persönlichkeit, ermuthigen den unterzeichneten Handwerker, gegen den akademischen Gelehrten aufzutreten. Die betreffenden Vorträge, zu Nutz und Trost der Fabrikanten, speziell der Barmer, gehalten, haben sich die wissenschaftlichste und eminenteste Pointe des Sozialismus, haben sich das vielgepriesene und vielgeschmähte Werk von Karl Marx, „Das Kapital“ zum Gegenstand kritischer Betrachtung erkoren.
Gestatten Sie, ich bitte, daß ich Ihnen meine Anerkennung ausspreche für die Geschicklichkeit, welche verstanden hat, die Sache am Schopf, und nicht an irgend einen nebenaushängenden Zipfel zu fassen. Auch bekenne ich, in etwas erbaut zu sein von der anständigen Form, welche nicht, wie wir Sozialisten das bisher gewohnt sind, den Gegner mit leidenschaftlicher Schmähsucht, sondern mit Gründen zu widerlegen sucht.
Was nun aber den Kern, was Ihre vermeintliche Widerlegung angeht, fühle ich von dem unmaßgeblichen Bewußtsein besserer Einsicht in die Sache mich zu dem Geständnis gedrängt, daß der Herr Professor das Schwarze verfehlt, ja nicht einmal die Scheibe getroffen hat.
Bei der näheren Begründung dieses Urtheils halte ich mich an die Reihenfolge Ihres Vortrags und unterstelle bei anderweitigen Lesern eine bedächtige Prüfung des Inhalts.
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„Marx‘ Styl,“ lautet die einleitende Kritik, „ist nicht eben erfreulich; als guter Hegelianer strebt er die ungeheure Masse seines Stoffs auf die Entwicklungsmomente eines einzigen Grundbegriffs zurückzuführen und wird dadurch in seinem Raisonnement oft unerträglich oft unerträglich weitschweifig, oft in lästiger Weise schwerfällig. Bündig aber und geschlossen ist seine Erörterung im höchsten Grade; wer ihm die ersteren Sätze zugibt, wird unwiderstehlich zur Anerkennung der letzteren Folgerungen gedrängt.“ (…)
Gehen wir nun von der Form zur Sache, vom Styl zum Thema. Marx lehrt, daß die Größe des Tauschwerths gleich gleich ist der auf der Waare verwendeten gesellschaftlich nothwendigen Arbeitszeit.
Herr v. Sybel will glauben, daß der Tauschwerth einer Waare sich nach Mühe und Ausgaben richtet, welche die Erzeugung gekostet hat, d. h. für den Verkäufer, aber für den anderen Theil, für den Ankäufer sei die Sache ungültig. Der Käufer frage nicht, wie viel Zeit die Herstellung der Waare gekostet, sondern ob der Gebrauch ihm durch die Befriedigung eines Reizes oder Bedürfnisses ein entsprechendes Quantum Lebenskraft eintrage. Der Werth der Kohle steige im Winter, weil (Achtung!) der gleichen Körperwärme mehr Kohle benöthigt sei. (…)
Das größere Bedürfnis nach Kohle im Winter kann allerdings, „wenn die Quanta der Grubenarbeiter dieselbe bleiben,“ den Preis steigern, weil Zufuhr und Nachfrage bekanntlich den Preis unter und über den Werth vairiren, aber immerhin bleibt der Werth d. i. der allgemeine Preis, abhängig von dem Quantum gesellschaftlicher Arbeit, das, wie Marx sich ausdrückt, zur Produktion erheischt ist. (…)
Die Prämisse*) des Sozialismus, daß in der gegebenen Natur die menschliche Arbeit es allein ist, welche Werthe erzeugt und vermehrt, wollen Sie, als Advokat der herrschenden Klassen, nicht gelten lassen. Wie Theologen gegen die Naturwissenschaft, so gehen Sie gegen die unzweifelhaftesten Sätze der politischen Oekonomie an. Was im geschichtlichen Verlauf dieser Wissenschaft schon unzählige Mal abgefertigt ist, tischen Sie von neuem auf. Der Werth soll Ihnen nicht nur von der Arbeit, sondern zugleich auch von der Energie des Bedürfnisses produzirt sein, weil, so antworte ich, Sie die Unterschiede zwischen Preis und Werth und zwischen Privat = und Politischer Oekonomie total verkennen. (…)
Mit der Versicherung u. s. w. Ihr ergebenster
Siegburg 9. April 1872 J. Dietzgen
Lohgerber
N° 32 Sonnabend, 20. April 1872
Politische Uebersicht
Der englische Landarbeiterstrike dehnt sich immer mehr aus und hat nun Cambridgeshire ergriffen. In vielen Grafschaften haben die Landarbeiter schon „Unions“ gebildet, und die Organisation, obgleich jung, flößt den Farmern solchen Respekt ein, daß sie Warwickshire, dem Centrum der Bewegung, trotz des vor Kurzem ausgesprochenen heroischen: Niemals! Bereits in Unterhandlungen mit der Union getreten sind. (…)
Opfer der heutigen Production. In den Kohlengruben von Pennsylvanien wurden im Jahre 1871, einem amtlichen Bericht zufolge, durch Unfälle 372 Personen getödtet und 622 verletzt. Es wird veranschlagt, daß ein Drittel der Getöteten seinen Tod durch Mangel zweier Schachten, ein Sechstel durch mangelhafte Schornsteine und das Uebrige Sechstel durch andere Ursachen fand.
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Ein Zeugniß.
In die „Augsburger Allgemeine Zeitung“ hat sich nachstehendes Urtheil über den Krieg und die Stellung der verschiedenen Parteien verirrt;
„Unglücklicherweise ist der aufgeklärteste Theil der Nation, der sich des erhabenen Ranges, den Deutschland in der europäischen Zivilisation einnimmt, am mindesten Werth gezeigt hat. Die Politiker und Gelehrten haben den nationalen Haß entzündet…Da die Deutschen sich an Intelligenz und Moral für höher halten, hätten sie nicht stolz darauf sein sollen, eine neue Ära in den Kriegen und der Politik Europas einzuleiten. Diese Idealisten wurden Sklaven der Thatsache und Anbeter der triumpfirenden Gewalt…Die einzigen Protestationen, die sich gegen diese Verderbniß des Deutschen Geistes diese Demoralisation, die der Sieg hervorgebracht, erhoben, gingen von den Mitgliedern der fortgeschrittenen Partei aus, von denen, gegen welche man als Beleidigungen die Namen Sozialdemokraten und Materialisten geschleudert hat und die in Wahrheit allein das Gefühl der Gerechtigkeit und des Idealen besaßen. Im Gegensatz dazu waren es die Männer der Geistlichkeit, welche im höchsten Grade ungerechte Leidenschaften bekundeten und durch ihr Wort entfachten, welche der Mißbrauch der Gewalt hervorbringt. Während die Offiziere, voll von der fatalistischen Lehren der modernen (Sybel, Treitschke etc.) Schule, lachend sagten: „Was heißt Recht, was heißt Gerechtigkeit; es giebt keine anderen als die Thatsache und die Gewalt“ verkündeten die Prediger im ernsten Tone: „ Gott hat gerichtet, Er ist mit dem Sieger.“…Einen Geistlichen, der mir diese unvernünftige Theorie vom Gottesgericht auseinandersetzte, frug ich: „Gott hat sich auch gegen Abel zu Gunsten Kains ausgesprochen?“ Auf diese Weise waren Bibelgläubige und Hegelianer, Orthodoxe und Atheisten in derselben Anbetung der Gewalt einig, in derselben Mißachtung des Gewissens und der Freiheit, und der Rechte des Menschen…Prediger hetzten die preußische Armee gegen die Franzosen auf, indem sie den Krieg mit den Kämpfen des Volkes Gottes gegen die Philister und Amalekiter verglichen. Sie hatten das Neue Testament vergessen, um sich nur des Hasses und Grimmes des Alten zu erinnern; aber sie dachten nicht daran, daß, wenn man den Propheten des Alten Bundes gleichen will, man nicht der Schmeichler, sondern der Ankläger ungerechter Könige sein muß. Diese bibelgläubigen Orthodoxen heben übertriebene und leidenschaftliche Anklagen gegen die französische Nation verbreitet, während sie bei ihren Landsleuten Alles bewundern und entschuldigen. Dank ihnen ist in Deutschland eine Heuchelei entstanden, die dem Jesuitismus in Nichts nachgiebt…“
Die Manchestertheorie,
d. h. die Ansicht, daß der Staat die Dinge laufen lassen muß, wie sie gehen (laissez faire et aller) verliert und den einsichtsvollen Bourgeois immer mehr an Boden. Selbst ein so hervorragendes Organ der besitzenden Klasse wie die „Augsburger Allgemeine Zeitung“ nimmt keinen Anstand, über das Manchesterthum in folgender Weise den Stab zu brechen: „Es erkennt zunächst den bestehenden Vermögenszustand als rechtsgültig an; es adoptirt das Privateingenthum, das Vertragsrecht, das Erbrecht; nur fordert es die Beseitigung aller nicht aus jenen Begriffen sich ergebenen Beschränkungen ihrer Durchführung. Das Manchesterthum ist ein fanatischer eines rein logisch durchgebildeten Privatrechtssystems, während ja doch gerade im Privatrecht das Wohl der Gesamtheit so häufig die Anerkennung von Rechtssätzen entgegen der Logik verlangt. (…)
„Daß auch das Schiff des Manchesterthums uns trotz seiner Angst vor dem Sturm rettungslos der sozialen Revolution zutreibt, dies kann dem aufmerksamen Beobachter gar nicht mehr zweifelhaft sein. Man kann nicht gegen die Arbeiter vom Prinzip des laisser faire et laisser passer zu Gunsten von Repressionsmaßregeln abgehen, wenn man jenes Prinzip zu Gunsten des Kapitals aufrecht erhält. Die tiefe Unsittlichkeit unseres Börsenschwindels, das lawinenartige Anwachsen des großen Kapitals ohne jedes Verdienst seines Trägers, die
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furchtbare Machtsteigerung desselben gegenüber den notleidenden (und nicht nur Arbeiter=) Klassen, der Zustrom des Proletariats nach den großen Zentren gefährlicher Bewegungen, die süffisante Abweisung auch der berechtigten Forderungen der Arbeitnehmer besonders in der Presse, der Sturm des Unwillens in der öffentlichen Meinung über die Anstrengungen des Arbeiterstandes, die Chansen von Angebot und Nachfrage zum eigenen Besten gegen die Arbeitgeber zu gebrauchen, der Eingang, den gerade deshalb die sozialistische, ja kommunistische Bewegung in den unteren Schichten der Gesellschaft findet: …das Alles sind die Symptome einer höchst bedenklichen Krankheit, die unter den Händen des Manchesterthums ausgebrochen ist, und zu deren Heilung dieses auch kein einziges Mittel vorzuschlagen weiß.
„Die es rief, die Geister, wird es nun nicht los.“
Und sein Gesamturtheil faßt der Autor in Folgendem zusammen:
„Wir glauben allerdings, daß die Tage des Manchesterthums gezählt sind, trotz seiner mächtigen Bundesgenossen: der publizistischen Presse, des individuellen Egoismus, des großen Kapitals, der Ruhe um jeden Preis, der feigen Angst, dem Medusenhaupt der sozialen Frage ernst in die Augen zusehen.“
Sozialismus und Kommunismus und ihr Einfluß auf die geistige und sittliche Entwicklung der Menschheit. (von Max Reißer, Breslau) I.
Eines der wuchtigsten Mittel, die sozialistischen oder kommunistischen Bestrebungen vor der großen Masse des Volkes zu verdächtigen und ihren Einfluß auf sie zu verhindern, ist, sie als feindlich und entgegengesetzt den Errungenschaften des Menschengeistes und seinem Fortstreben nach höherer Vollkommenheit darzustellen.
Man vertraut der Sittlichkeit der körperlich darbenden Menge, daß sie den Abscheu vor geistiger Vernichtung bewähre, der sie abhalten könnte, eine Verbesserung ihres physischen Befindens auf dem Wege des „kulturfeindlichen“ Sozialismus anzustreben, und beschuldigt sie in demselben Athemzuge des Mangels an geistigem Streben, durch den allein der Sozialismus kulturvernichtend wirken könnte.
Wunderbarer Widerspruch in diesem Appell an die geistige Würde des Volkes und jener Furcht vor der Herrschaft des Sozialismus, jenen volltönenden Phrasen von seiner Sittenvernichtung, wie sie in den bombastischen Proklamationen und Artikeln von seinen Gegnern in die Welt hinausgerufen werden, um, gleich einem frommen: Alle guten Geister loben Gott den Herrn, - die beängstigende Erscheinung zu bannen! Vergebens! – Der Sozialismus und in ihm der Kommunismus ist nun einmal kein Gespenst, das vor einer zu Gott flehenden Beschwörungsformel erschrickt und demüthig in das Schattenreich zurückschleicht, und seine schreckhafte „Culturfeindlichkeit“ ist, wie jene Gebilde des Aberglaubens, die Gespenster, ein Erzeugniß nur der geistigen Nacht, eine Vorstellung der geängstigten, kritiklosen Einbildungskraft; und ebenso wie mit dem Glauben an die Nomaden des „Jenseits“, die Gespenster, auch jenes unbedingte Vertrauen auf die Gottgläubigkeit der guten Geister sich vermindert hat, ebenso werden dereinst, wenn volle Klarheit über das Wesen des kommunistischen Gespentes verbreitet sein wird, auch jene sinnlosen Beschuldigungen dem verdienten Belächeltwerden verfallen. (…)
Urtheile der Presse über den Leipziger Hochverrathsprozeß. (Fortsetzung)
Der berühmte Kriminalist (Strafprozeßlehrer) Temme schreibt in Nro. 100 und 101 der Wiener „Tagespresse“:
„Zu den bemerkenswerthesten politischen und gerichtlichen Ungeheuerlichkeiten der neueren Zeit gehört der in diesen Tagen zu Leipzig abgespielte Prozeß Bebel=Liebknecht.
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Ich sage „politischen und gerichtlichen“. Fahren die Gerichte des neuen deutschen Reiches in ihren Verfahren und Entscheidungen auf eine Weise fort, wie wir es in Leipzig jetzt gesehen haben, so wird man freilich bald jedes gerichtliche Urtheil ein politisches nennen müssen. (…)
N° 33 Mittwoch, 24. April 1872
Unsere Civilisation.
Wir müssen hier nicht in eine detaillirte Kritik unserer modernen Kulturzustände eingehen; nicht nachweisen, daß allen menschenfressenden Götzen des Alterthums und der späteren Zeiten zusammen genommen in Jahrtausenden nicht so viel Menschenopfer gebracht worden sind, als dem heut herrschenden Militarismus und Mommonismus in einem Jahrzehnt; nicht ausführen, daß die einfachen Kenntnisse der ungeheuren Majorität des Volkes systematisch vorenthalten sind, und daß selbst die herrschende Minorithät der Regel noch aller wichtigeren Erfordernisse der Bildung ermangelt, und in Rohheit, Aberglauben und Vorurtheilen versunken ist – wir wollen uns für heute begnügen, dem Leser ein Sittenbild vorzuführen, daß zwar nur einen einzelnen Fall umfaßt, aber die Selbstsucht und Barbarei unserer ganzen Gesellschaft grell hervortreten läßt. (…)
Italienische Polizeiwillkür.
Von unserem Parteigenossen Ingenieur Th. Cuno aus Düsseldorf geht uns folgendes Schreiben zu: „….Seit ungefähr einem Jahre war ich in Mailand als Ingenieur einer Maschinenfabrik thätig, bezog einen guten Gehalt, kümmerte mich wenig um Politik und Agitation, obwohl ich ein eifriges Mitglied der Internationale bin. Gegen Ende vorigen Jahres machte ich die Bekanntschaft mehrerer Mazzinianer, die mich in einen von ihnen gegründeten Arbeiter = Verein einführten. Dadurch nun, daß ich mit derartigen „kompromitirten Individuen“ umging, wurde auch ich in den Augen der italienischen Polizeispione ein „Kompromitirter“. Tag und Nacht verfolgten mich in Civil gekleidete Spione, um meine Wege und „Gewohnheitetn“ auszuspürnasen. Natürlich war mir dies höchst langweilig und schrieb deßhalb an den Questor von Mailand, mich über diese „Maßregel“ beschwerend; es wurde der betreffende Brief in einem radikalen Mailänder Blatte abgedruckt. Darauf erhielt ich ein „freundliche Einladung“ und wurde mir eröffnet, ich hätte „aufreizende Reden gegen die mir so gastfreundliche italienische Regierung“ gehalten, und würde man mich, wenn ich so fortführe „an die Grenze“ bringen, Ich erklärte: nie gegen die Regierung weder gesprochen noch geschrieben zu haben, und verlangte eine Konfrontation mit denjenigen Individuen, die derartiges von mir gehört, - es erfolgte daraufhin keine Antwort. (…)
Urtheile der Presse über den Leipziger Hochverrathsprozeß. (Fortsetzung)Die „Vossische Zeitung“ eines der hervorragendsten Organe der Berliner Bourgeoisie und jedenfalls das anständigste unter denselben – schreibt unterm 6. April: „Mit dem Prozeß gegen Bebel und Liebknecht in Leipzig ist eine ganze Reihe von politischen Verfolgungen abgeschlossen, welche aus dem anfange des Krieges mit Frankreich datirten. Man erinnert sich, daß damals der Gouverneur der deutschen Küstenländer, General Vogel von Falkenstein, den Kriegszustand über seinen Bezirk verhängte, ohne den politischen Belagerungszustand hinzuzufügen, d. h. die Zivilgesetze für suspendirt zu erklären und Kriegsgerichte an Stelle der gewöhnlichen Gerichtshöfe zu setzen. Dennoch wurden mit sehr freier Anwendung des Art. 68 der Bundesverfassung, ehe noch das darin vorbehaltene Bundesgesetz erlassen war (es existirt auch heute noch nicht) und mit Umgehung des im genannten Artikel vorbehaltenen preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand in Hannover und Königsberg (hier auch Johann Jacoby) mehrere Personen wegen sozialistischer und politischer Propaganda verhaftet und in einer entfernten Festung an der russischen Grenze internirt. Keiner von den Verhafteten hat von den Gerichten verurtheilt werden können, allgemein wurden die gegen sie ergriffenen Maßregeln scharf getadelt, und wenn Jacoby nicht eine separatistische Richtung in
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der Politik eingeschlagen hätte, wäre er bloß wegen der Einsperrung in Lyk zum Abgeordneten für das Abgeordnetenhaus und den Reichstag gewählt worden. (…)
„Wir leben eben in der Zeit des Erfolges und gerade die Gegend, in welcher sich das Drama des Sozialistenprozesses abspielte, ist hiervon bekanntlich ganz besonders inficiert, so daß die Anklage kaum ein günstigeres Terrain hätte auswählen können.
„In Süddeutschland wäre eine Verurtheilung der Angeklagten durch Geschworene nicht wohl denkbar gewesen. (…)
Wir wollen hoffen, daß dergleichen Erscheinungen, wie dieser ganz Prozeß, der in hohem Grade an den berüchtigten Kölner Kommunisten = Prozeß erinnert, nicht mehr vorkommen. Wir wollen die Franzosen in andern Dingen nachahmen als in dieser das Ansehen der Gerichte untergrabenden Sitte des parteiischen Eingreifens des Präsidenten in die Verhandlung.“ (Fortsetzung folgt)
Sozialismus und Kommunismus und ihr Einfluß auf die geistige und sittliche Entwicklung der Menschheit. II. (Schluß)
Die Freiheit der Entschließung, insoweit sie überhaupt denkbar, ist mit Rücksicht auf unsere Abhängigkeit von der organischen Besonderheit des Individuums*) ist das natürliche Recht des Menschen auch bei der Wahl des Gatten.
Man hat mit der ökonomischen Emanzipation des Arbeiterstandes, mit der Aufhebung des Privateigenthums, mit der Einführung der genossenschaftlichen Arbeit, die Möglichkeit einer äußeren Beschränkung des Willens in der Wahl des Lebensgefährten abgeschlossen, man hat das Naturgesetz wieder zur Geltung gebracht, die Eheschließung, die Ehe auf die reine Zuneigung, die instinktive Liebe gegründet.
Es wäre inkonsequent, wollte man die Ehe nach dem Schwinden der Liebe einen tyrannischen gesetzlichen Zwang an ihre Stelle treten, durch künstliche Gesetze zum Schaden der Gesellschaft das zusammenhalten lassen, was natürliche Gesetze schon getrennt haben.
Die mögliche Freiheit des Willens soll nicht blos bei der Eheschließung, sie musß auch bei der Ehetrennung walten dürfen, die letztere muß durch eine Veränderung der gesellschaftlichen Ansichten des schändlichen Gewandes entkleidet werden, das sie heut befürchtet und verachtet sein läßt. (…)
*Der Wille des Menschen wird nicht nur beeinflußt durch äußere Gesetze und Verhältnisse, sondern auch durch die innere Beschaffenheit des Individuums. Vorübergehende Zustände des Körpers, die andauernde Beschaffenheit unseres Gemüthes (Gemüthsart, Temperament) wirken wesentlich ein auf die Art und die Kraft unserer Beschlüsse. (Anm. des Verf.)
N° 34 Sonnabend, 27. April 1872
Urtheile der Presse über den Leipziger Hochverrathsprozeß. (Fortsetzung)
Das „Felleisen“ Organ der Deutschen Arbeiterbildungsvereine in der Schweiz, äußert sich wie folgt: „Bismarck muß freie Geister, die ihm unbarmherzig die Wahrheit sagen, stumm machen; die sächsischen Geschworenen, durch den Zensus, aus dem sie hervorgehen, sämtlich der Klasse der Bourgeoisie angehörig, gehen auf dem Leim, aus Unwissenheit und Furcht verurtheilen sie die Angeklagten wegen der einzigen Ursache, daß sie Sozialisten sind; Bebel und Liebknecht kommen zu zwei Jahren Festung – das ist in kurzen Worten das Gerippe des Prozesses. (…)
Politische Uebersicht.
Das Reichspreßgesetz soll in der nächsten Session vor den Reichstag kommen, was sehr gut ist, denn das Reichspreßgesetz wird dem Charakter des Reichs gemäß ein Reichsknebelgesetz sein. Aus den Erklärungen des Preußischen Finanzministers ersehen wir. Daß der in Preußen bereits eingeführte Finanzstempel über das ganze Reichsgebiet ausgedehnt werden soll, und
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aus offiziösen Mitteilungen erhellt ferner, daß sich der Bundesrath auch für die Cautionen entschieden hat, und zwar, wie „liberale“ Blätter ohne ein Wort der Mißbilligung naiv ausplaudern, um in Bayern den „billigen ultramontanen“, und in Sachsen den „billigen sozialdemokratischen“ Blättern das Dasein zu erschweren, resp. Unmöglich zu machen – (…)
„Humanität“ der Versailler. Der „Temps“ bringt ein Schreiben von einem ehemaligen Bewohner von Neu = Caledonien, über die Natur und Beschaffenheit der Orte, welche für die Deportation der Commune = Sträflinge ausersehen wurden. Vorerst weist der Schreiber daraufhin, daß die im Gesetze genannte Halbinsel Ducos keine Halbinsel sondern eine Insel ist oder vielmehr ein unfruchtbarer Felsen von 4000 Hektare Flächeninhalt auf dem sich eine kleine sumpfige Ebene und ein kleines unbedeutendes Wässerlein befindet. Die sodann als einfacher Deportationsort bezeichnete Fichteninsel ist zwar besser gewählt, enthält aber schon eine gewisse Anzahl von Eingeborenen, Colonisten und Missionare, die alles urbare Land bebauen, so daß für die neuen Ankömmlinge eigentlich kein Platz mehr vorhanden ist. Was die Insel Mare betrifft (Loyality = Gruppe) so ist dieselbe eine Korallenbank, die bisher weder erforscht noch colonisirt worden ist. Ihr Boden ist unergiebig und wasserlos; die Eingeborenen, welche man dort findet, trinken Regenwasser, welches sie in Cisternen sammeln und sind nebstdem Menschenfresser. Zum größten Theil nähren sie sich vom Fischfang, der jedoch eine ihnen eigene Geschicklichkeit erfordert. –
Nun – unter den Neukaledonischen Menschenfressern sind die sozialistischen Arbeiter immer noch besser dran als in den Klauen der Versailler Gesellschaftsretter, auf deren Geheiß neuerdings eine erklekliche Anzahl von Todesurtheilen gefällt worden ist. (…)
N° 35 Mittwoch, 1. Mai 1872
Politische Uebersicht.
Bekanntlich fand vor kurzem in Spanien eine Neuwahl der Cortes statt, die den offiziellen telegraphischen Depeschen zufolge, eine enorme Majorität für die Regierung geliefert haben sollte. Authentische Berichte lassen diese Majorität allerdings sehr bedeutend zusammenschrumpfen, allein eine Majorität bleibt immerhin, wenn auch eine numerisch ziemlich schwache. Wie dieselbe erlangt worden ist, zeigt nachstehender Aufruf des Wahlkommitee’s von Sevilla, der zugleich ein Schlaglicht auf die in Spanien herrschende Stimmung wirft. Der Aufruf lautet: „Wähler! Unser theures Vaterland ist die Beute politischer Banditen, die aller Moral spotten, die Gesetze mit Füßen treten und das edle Banner Spaniens besudeln. . .Wir die Vertreter der großen politischen Parteien, welche das Gefühl der Würde verbindet, wir erklären dieser nichtswürdigen Bande, deren Byzanz sich geschämt hätte, Krieg auf Tod und Leben. (…)
Die Republik und die Gegenrevolution.
Von Emilie Acollas.
Herr Redakteur!*)
Wenn ich die Debatte eingetreten bin, welche durch Herrn Professor Dameth begonnen wurde, so geschah es, weil diese Debatte sich auf die Hauptfrage unserer Zeit bezieht all‘ unserer Gedanken bildet; außerdem schien es mir, als ob Herr Professor Dameth weder die Wunde noch das Heilmittel gekennzeichnet habe.
Was richtet denn Frankreich zu Grunde? Weshalb sinkt die Nation, welche die Bewegung des 18ten Jahrhunderts hervorgebracht, welche die Welt einen Diderot, d’Alembert, Rousseau, Voltaire, Montesquieu, Turgot, Condorcet geschenkt, welche die französische Revolution gemacht hat, - weßhalb sinkt diese Nation seit drei Viertel = Jahrhunderten immer mehr herab? Was wäre nöthig zu ihrer Auferstehung? Unter welchen Bedingungen könnte die Welt vor einer so schrecklichen Katastrophe, wie dem Dahinschwinden Frankreichs, bewahrt werden? Das sind Fragen, welche ich meinerseits zu beantworten suchen werde, und zwar in den Spalten Ihrer Zeitschrift, wenn Sie mir gütigst die Erlaubniß dazu geben. (…)
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Die Revolution kann friedlich sein, wie es auch die abstrakte Vernunft verlangt, und wie es zahlreiche Beispiele beweisen können. Die Gegenrevolution ist stets nothwendigerweise eine gewaltsame, denn, da sie den Zweck hat, die Herrschaft der Gewalt zu verlängern, hat sie zur Erreichung dieses Zwecks nur die Wahl, entweder die bestehende oder eine neue Gewalt zu Hilfe zu rufen.
Uebrigens selbst wenn sie zur Gewalt zurückgreift, vorausgesetzt, daß sie es nur in dem allernothwendigsten Maße thut, ist die Revolution stets durchaus berechtigt; doch soll dies nicht heißen, daß sie stets opportun (zu gelegener Zeit) ist, denn niemals legen die Menschen ungestraft den Geist der Gesittung bei Seite, und daher hat die Revolution nur unter drei Bedingungen das Recht zur Gewalt zu greifen:
Wenn die Rechtsverletzung eine schwere ist;
Wenn die Verletzung nur durch Gewalt wieder gut gemacht werden kann;
Wenn die Umstände die Anwendung der Gewalt begünstigen. (…)
Ich jetzt kann meine Auseinandersetzung beginnen, und, welche Vorwürfe mir mein Kollege auch machen wird, sicherlich nicht den, daß ich mich nicht bemüht habe, die Debatte so vollständig und umfassen wie möglich zu machen.
Ich werde zeigen:
Endlich werde ich mich über das allgemeine Stimmrecht, als Basis der modernen Demokratie aussprechen; ich werde seine vernunftgemäßen Lebensbedingungen nennen und versuchen seine Funktion zu bestimmen. (Fortsetzung folgt)
N° 36 Sonnabend, 4. Mai 1872
Berliner Briefe.
Der Reichstag tagt, aber seinen Sitzungen beizuwohnen, ist zum Sterben langweilig. Das merken auch die Mitglieder, deren Plätze knapp zur Hälfte belegt sind, das zeigt auch die Leere und Oede der Tribünen, auf denen nur ganz vereinzelt eine kleine Zahl biederer Provinzialen sich sehen läßt, um die „Vertreter der Nation“ in Augenschein zu nehmen. (…)
Aus Spanien.
(Einer Originalkonferenz der Brüsseler „Liberté entlehnt)
Saragossa, 9. April. Seit dem Sturz der Kommune ist die bedeutendste Kundgebung, welche die Internationale als Körper vollzogen hat, die Abhaltung des zweiten Kongresses der spanischen Internationalen, in einem Lande, wo sie außerhalb des Gesetzes stehen.
Trotz der Verfolgungen und der Acht = Erklärung seitens der Regierungsgewalt hat die Internationale nicht aufgehört zu leben und die Arbeiterklasse zu organisieren. Im September 1871 gab es in Spanien nur 12 Lokal = Föderationen, heute zählt man 40 konstituirte und 50, die im Begriff sind sich zu konstituiren. (…)
Die Republik und die Gegenrevolution. I (Fortsetzung)
Von Emilie Acollas.
Das Verdienst des Jahrhunderts, welches die französische Revolution gemacht hat, ist, eine neue Rechtsauffassung gefunden zu haben, nämlich folgende:
Die Völker gehören sich selbst an;
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Die Individuen gehören sich selbst an.
Ich weiß bestimmt, daß die zweite dieser Formel – logisch die erste – diese Grundidee, daß die Menschen sich selbst angehören, im achtzehnten Jahrhundert noch nicht bis zu dieser gewissermaßen mathematischen Gewißheit gelangt war, welche sie in unseren erworben hat; Jean = Jacques*) der große Jean = Jacques, welcher nur der einen wie von der andern so tief durchdrungen war, verstand es nicht, die eine mit der andern zu verbinden, und er, der unsterbliche Theoretiker des Rechts der Völker auf sich selbst, er, der gegen die Usurpation (Gewalt = Anmaßung) der Könige den Todesstreich geführt, er ließ sich, als es sich um das Recht des Menschen aus sich selbst handelte, von dem falschen Licht blenden, das ihm von Genf und Rom kam, er, der mächtige Zerstörer so vieler Dogmen, er hat ein neues nicht das am wenigsten verderbliche, in die politische Wissenschaft eingeführt, das von der Volkssouveränität, und indem Jean = Jacques so das Recht des Einzelnen dem Recht aller opferte, sah er die Tyrannei nur in einer Person und setzte nur an ihre Stelle die Tyrannei in mehreren Tausend oder Millionen von Köpfen. (…) *Rousseau
Ich weiß wohl, das die Bastarde Montesquieu’s (ich spreche von den Monarchisten von 1789, nicht von denen unserer Zeit, denn die sind Mißgeburten) ich weiß wohl, daß die Verfassungsgeber von 1789 an eine Monarchie gedacht haben, welche dies so wenig wie möglich ist, (…)
Nach der Verfassung von 1791 gab es zwei Klassen von Bürgern, die aktiven, welche allein das Stimmrecht besaßen, die passiven, welche der Enscheidung jener unterworfen waren.
Um aktiv zu sein waren, außer dem Alter von 21 Jahren folgende zwei Bedingungen nochtwendig: man mußte
Das war nicht Alles; es gab zwei Wahlklassen, und in die höhere konnte man nur durch eine Abgabe von 10 Arbeitstagen gelangen.
Endlich war nur derjenige wählbar, welcher eine Steuer von einer Mark Silber oder 54 Livres (Francs) bezahlte.
Das ist also das Endresultat jener Revolution, welche im Namen der Menschenrechte gemacht wurde! Der Bürger ist also nicht mehr der Priester, nicht mehr der Edelmann, aber es ist der Besitzende; der Monarch ist allerdings nicht mehr der König, aber die Bourgeoisie hat den Thron stehen lassen und hat sich auf den Platz des Königs gesetzt. (…)
Die Verfassung von 1793 porklamirt die Republik als die eine untheilbare; aber die Idee der Autonomie des Individuums ist nicht die Einheit und Untheilbarkeit der Republik, sonder die Föderation* derselben; es ist das lokale Leben, welches seine Thätigkeit bewahrt und vermehrt und sich mit dem allgemeinen Leben verbündet und in Uebereinstimmung setzt; und wenn diese Thätigkeit auf diese Weise nicht bewahrt und vermehrt werden, wenn diese Harmonie nicht entstehen, wenn die feste Ordnung nicht bewerkstelligt werden kann, dann ist es sogar das Recht des Theiles, sich vom Ganzen zu scheiden.
Die Verfassung von 1793 läßt außerdem das Band bestehen, welches seit Jahrhunderten die Kirche an den Staat fesselt, und die Revolution von 1792 hat sich sogar soweit verirrt, eine besondere Civilverfassung für den Klerus auszuarbeiten. Erst viel später im Jahre 1795 (am 5. Februar des Jahres III) gelangte man zum richtigen Prinzip und sprach man die Trennung der Kirche vom Staate aus. (…)
*Wer den Ausführungen des Verfassers aufmerksam folgt wird finden, daß ihm der Gedanke einer Föderativrepublik, im gewöhnlichem Sinne des Wortes, ferne liegt, daß es ihm nur darauf ankommt, die Rechte des Individuums, der Minorität zu wahren, damit z: B. , wie es im vorigen Jahr der Commune gegenüber geschah, die bäuerliche Majorität sich unterfangen
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darf, im Namen der Volkssouveränität und der Staatseinheit das städtische Proletariat zu massakriren. R. d. V.
Kommunismus und Sozialismus und ihr Einfluß aud die geistige und sittliche Entwicklung der Menschheit. II.
Wenn sich, wie bisher geübte auflösende; zerlegende Betrachtungsart uns gezeigt hat, der Kommunismus vom Sozialismus sich nicht abtrennen läßt, wenn ihn der Sozialismus in sich schließt, dann haben wir die Erklärung des Wortes Sozialismus schon gewonnen.
Der Sozialismus ist alsdann der Inbegriff der Lehren von der Gesellschaftsform, welche die natürliche Gleichberechtigung aller menschlichen Individuen zum Ausdruck bringt, er ist die Lehre von der Herrschaft der Gesellschaft, der Summe der gleichwerthigen Einzelnen, gegenüber der Praxis des Standes – und Klassenherrschaft von ehemals und heut.
Wiewohl es im Allgemeinen nicht logisch ist, Begriffe aus der Abstammung und der Bedeutung der sie üblich bezeichnenden Worte zu definiren, weil bei der Bezeichnungswahl häufig Willkür und die Unklarheit, die in der ersten Zeit nach der Belebung des Begriffes natürlich ist, bestimmend wirkt, so vermögen wir doch in unserem Falle dieses Verfahren ohne Schaden anzuwenden, weil wir im Vorangehenden bereits Begriff und Wort kritisch beleuchtet haben.
Das Wort „Sozialismus“ enthält genau die soeben gegebene Erklärung des Begriffes, die Lehre von der Berechtigung der Gesellschaft, das Wort Kommunismus von dem lateinischen communis, gemeinsam, drückt die Beziehung des willensbegabten Menschen zu denjenigen Dingen aus, welche vermöge ihrer organischen Willenlosigkeit, der Verfügung des willensbegabten Menschen unterstellt sind, es drückt die Besitz – und Eingenthumsverhältnisse der Gesellschaft aus. (…)
N° 38 Sonnabend, 11. Mai 1872
Die Republik und die Gegenrevolution. (Fortsetzung)
Endlich athmen wir auf; der Mann (Napoleon) liegt am Boden, die alte Monarchie erscheint wieder, sie oktroyirt die Charte. Aber wer untergräbt diese Charte von den ersten Tagen an, die Revolution oder die Gegenrevolution? Wer begeht jenes Attentat auf das Gewissen durch das Gesetz über die Beobachtung des Sonntags und des Frohnleichnamsfestes? Wer begeht das Attentat auf das Denken durch das Gesetz über die Preßzensur? Die Revolution oder die Gegenrevolution? Wer unterdrückt, beleidigt, reizt, erniedrigt die ganze Masse der Nation?
War diese Nation, dies große Frankreich des 18. Jahrhunderts nicht dadurch genug erniedrigt, daß es zuerst unter die Füße eines korsischen Banditen fiel, dann unter die Zwerge des alten Regime, und wieder zurück unter den korsischen Banditen? (…)
Und im Jahre 1830, als diesmal die Bourgoisie mit Herrn Thiers an der Spitze, das Volk zur gewaltsamen Revolution getrieben, was hat man, nachdem die Bourgoisie jene Begeisterung, jenes vergossene Blut zu ihrem eigenen Vortheil ausgebeutet, nachdem sie ihrer Art gemäß die Julirestauration herbeigeführt, während der nächsten 18 Jahre gesehen? Wahrlich, was Einen daran zweifeln machen mußte, daß Frankreich seine Rolle im Werke des Weltfortschritts festhielt.
Die „Macht“ – was man in unserer Sprache des Bas = Empire (des Niederen (Zweiten) Kaiserreichs) des Bonaparte, mit diesem Namen nennt – geht über von Lafitte auf Périer, von Périer auf Soult, von Soult auf Molé, von Molé auf Thiers, von Thiers auf Guizot, - und all diese Menschen haben nur einen Gedanken: die Revolution zu vernichten, und während dieser ganzen Zeit hat die Bourgeoisie nur ein „Ordnungs“ = Stichwort: Geld gewinnen, und wenn die unterdrückten, ausgehungerten Volksmassen Freiheit und Brod verlangen, antwortet man ihnen mit Kartätschen.
Das sind die Thaten der Gegenrevolution unter dem Juliregiment. (…)
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Weiter, wer hat Bonaparte zum Präsidenten gemacht? Wer hat die römische Expedition veranstaltet? Wer hat dummerweise das Gesetz gegeben, welche das allgemeine Stimmrecht verstümmelte? Wer hat diese schmutzige Herrschaft geschaffen, die mit einem infamen Verrath und einen Fälschungs = Akt begann, diese Herrschaft der Verbannungen, des Blutes, des Kothes, welche den Ruin des Gewissens vollendet hat?
Nochmals, war es die Revolution oder die Gegenrevolution?
Die Revolution ist leider zu spät gekommen, um diese Pestilenzen wegzufegen.
Und wer hat, um die Dynastie zu retten, um sich selbst zu retten, um die Rückkehr zur Vernunft, zum Recht, um die noch mögliche Wiedergeburt, um die Republik zu verhindern, Preußen den Krieg erklärt? (…)
Lassen wir also unsere Verblendung hinter uns, betrachten wir die Thatsachen ohne Voreingenommenheit und hüten wir und vor Allem, ungerecht zu sein gegen Diejenigen, welche leiden, um die Schuld denen abzunehmen, welche genießen; doch ich habe übergenug bewiesen, welche von beiden, die Revolution oder die Gegenrevolution, sei 80 Jahren provozirt, welche sei dreiviertel Jahrhunderten triumphirt, und welche endlich, vermöge ihrer Thorheiten, ihrer Gewaltthätigkeiten, ihrer Ausschreitungen jeder Art, Frankreich dem Abgrund entgegengeführt. (Forts. Folgt)
Die Finanzwelt.
Eine recht lebhafte, durchaus getreue Schilderung dieses modernen Raubritterthums seitens eines Fachmanns verirrte sich vor einiger Zeit in das „Leipziger Tageblatt“, dessen Bourgeois=Leserkreis – gleich scharfsinnig wie seine Redaktion – jedenfalls zum größten Theil keine Ahnung hatte von dem sich der nachfolgende Artikel mit der sonstigen Haltung dieses Blattes befindet. In dem Artikel heißt es:
„Wie hoch ein großer Theil der Hausse* ist, wie sehr die Lüge alle Börsenkreise vergiftet hat, zeigen die starken Rückgänge, welche, sobald ein ungünstiger Wind weht, sogleich zu Tage da treten und einen Abgrund ahnen lassen, über den die Schritte der Börsenspieler leicht dahingleiten. Der natürliche Grund liegt darin, daß die unsichersten, am leichtesten einzuschüchternden Elemente der Speculation sich im Mommonstempel** breit machen und, nachdem die erste Zeit versäumt in Exentricitäten*** des entgangenen Gewinnst einzuholen versuchen. Andererseits arbeiten die Gründerkonsortien (Gründergesellschaften) unaufhörlich daran, die Börse zu demoralisiren und die Leichtgläubigkeit der Spiellustigen auszubeuten. Rasch den Agiogewinnst eincassiren ist die höchste Weisheit der Börsenverständigen, und in jetziger Zeit ist diese Kunst nicht schwer; bringt doch jedes neugeborene der Gründungskonsortien einen Schatz mit auf die Welt. Millionen werden von den Bankiers im Handumdrehen gewonnen…Mag auch viel Blendwerk mit unterlaufen, die Thatsache steht fest, daß ohne alle Mühe von Leuten, die ohnehin schon mit Glücksgütern gesegnet sind, auf Grund dessen immer größere Reichthümer zusammengerafft werden, Reichthümer, die zu kollosaler Höhe anwachsen.
„Gesellschaftszustände wie die gegenwärtigen aber, wo das privilegirte Piratenthum+ der Capitalmacht ungestört sein Abschlachtungssystem ausüben darf und die eine kleinere Hälfte sich im hellsten Sonnenlichte des Besitzthums sonnt, während der andere Theil kaum mühselig ein kärgliches Dasein fristet, können keine guten Folgen haben. Freilich weniger an den Gründern haftet die Schuld als an der überall eingerissenen Spielwuth. Findet diese nicht aber wieder ihre Begründung in dem ganzen Zuschnitt unserer Einrichtungen? (…)
*Steigen der Course; Gegentheil: Baisse
**Börse; Mammon: Geldgott.
***eigentlich: Ausschreitungen, Übertreibungen, hier: maßlos unvernünftige Speculationen.
+ Räuberthum, Pirat eigentl. Seeräuber.
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N° 39 Mittwoch, 15. Mai 1872
Urtheile der Presse über den Leipziger Hochverrathsprozeß. (Fortsetzung)
Die in Königsberg erscheinenden „Demokratischen Blätter“, herausgegeben von S. Kokosky, enthalten in ihrem 3. Heft einen Artikel „Der Leipziger Hochverrathsprozeß und die Presse“ in dem es heißt: Wer nur irgend mit der socialen Bewegung in Deutschland vertraut ist und sein Wissen nicht allein aus der trüben Quelle der Bourgeoisie = Presse hergeholt hat, mußte sich von vornherein sagen, daß es an jeder Begründung einer Anklage auf Hochverrath gegen Bebel und Liebknecht fehlen werde. (…)
Die Republik und die Gegenrevolution. III
Von Emilie Acollas. (Fortsetzung)
Das allgemeine Stimmrecht.
Nothwendige Bedingungen, um es zur Wahrheit zu machen. – Begrenzung seiner Funktion.
Was ist das allgemeine Stimmrecht? Was ist nöthig, damit es eine gewisse Wahrhaftigkeit besitze? Welches ist seine Funktion in der Demokratie? Das sind die Punkte, zu denen ich mich jetzt wende.
Daß zunächst im Staatswesen das allgemeine Stimmrecht die Folge des Prinzips die Autonomie der menschlichen Person ist, das ist an sich klar, und, solange es Fragen geben wird, die nur durch die Entscheidung der ganzen gesellschaftlichen Masse gelöst werden können, solange wird das allgemeine Stimmrecht die unvermeidliche Basis der demokratischen Regierung bleiben. (…)
Zunächst kenne ich kein System, welches einen genauen Maßstab für die politische Reife abgeben könnte, und außer dem allgemeinen Stimmrecht kenne ich keins, welches dem Rechte genügt.
Einer der ersten Publizisten unserer Zeit, John Stuart Mill, hat allerdings vorgeschlagen, das Stimmrecht allen Denen zuzuerkennen, welche lesen können, aber nur diesen.
Ich meinerseits theile die Meinung Mills nicht und habe zwei Gründe dagegen.
Erstens finde ich, wenn Mill, indem er die politische Handlungsfähigkeit jeden des Lesens unkundigen aberkennt, den Gedanken gehabt hat, dadurch einen indirekten Zwang für Jeden auszuüben, daß er sich und die Seinigen mit den elementarsten Kenntnissen ausrüste, diesen Zwang ungerecht und unwirksam. Und wenn derselbe Autor der Meinung ist, daß allein die des Lesens Kundigen im Stande sind, ein freies Stimmrecht auszuüben, so würde, für Frankreich wenigstens,* (ich glaube leicht) beweisbar sein, welche nicht lesen können, mehr politische Einsicht besitzen, als Andere, welche es können. (…)
Und selbst nachdem das allgemeine Stimmrecht das zweite Kaiserreich zweimal geschaffen, selbst nachdem es die Versammlung von Versailles gewählt hat, gebe ich nicht zu, daß es seine Unfähigkeit gezeigt hat, dem Recht das Übergewicht zu geben und Frankreich zu retten. Was die Praxis aber klar gezeigt hat, und was übrigens auch leicht vorauszusehen war, das ist: um dem allgemeinen Stimmrecht eine gewisse Wahrhaftigkeit zu geben, dazu genügt nicht ein Dekret, welches im Prinzip jeden 21jährigen zu Wähler macht. (…)
Die erste Bedingung ist die, daß, nach dem Ausdrucke eines berühmten Schriftstellers, „der Unterricht in Strömen auf das Haupt des Volkes ausgegossen werde“, und daß, sobald er staatlicher Unterricht ist, er aufhöre, religiös zu sein, um rein wissenschaftlich zu werden. (…)
Die zweite Bedingung ist, daß die Presse ihrerseits sich im Gebiete der höheren Fragen zur Erzieherin der Massen macht, d. h. daß der Journalis, statt der Mann einer Partei, einer Clique oder eines Sonderinteresses zu sein, statt das Gift der Gesinnungslosigkeit zu bereiten, statt auf Leichtgläubigkeit und Dummheit der Menge zu spekuliren, statt sich von Lügen zu
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nähren, zum Verbreiter der Wahrheit werde, und keine andere Sorge habe, als ihren Triumpf zu sichern. (…)
Lasse man es sich indessen gesagt sein! Es handelt sich für uns Franzosen, für alle Europäer, darum, die Welt neu zu gestalten, die Welt des Rechts zu schaffen, die Welt der Autonomie, und wenn wir in uns selber nicht das nöthige moralische Leben haben, dann geschieht uns recht, wenn wir untergehen, dann muß die Fackel der Idee in kräftigere Hände übergehen. (…)
*Das gilt auch für andere Länder. Wir getrauen uns Tausende von englischen Arbeitern zu produziren, die nicht (oder unvollkommen) lesen können, und doch von Nationalökonomie und Politik hundertmal mehr verstehen, als der Harmonieapostel Hirsch und parlamentarische Ellenredner Lasker, die beide gewiß des Lesens kundig sind. Ueberhaupt ist das Lesen an sich keine Bildung, sondern nur ein Mittel der Bildung; und wo den Massen, wie dies die heutige Klassenherrschaft mit sich bringt, die Bildung systematisch vorenthalten wird, kann das Lesen unmöglich für die Massen einen bildnerischen Zweck erfüllen, sondern wird im Gegentheil geradezu ein Mittel der Verdummung, indem es die herrschenden Klassen in den Stand setzt, dem Volk in der Schule und außerhalb der Schule (in Gestalt von muckerisch = servilen Schriften, Zeitungen u. s. w.) eine geistige Nahrung zuführen, durch welche Denkfähigkeit und Charakter zerstört werden. Wenn die Kunst des Lesens in Deutschland nicht so allgemein wäre, so würde in Deutschland auch die politische Niedertracht und Beschränkung nicht so allgemein sein. R. d. V.
Offener Brief an Herrn Professor v. Sybel.*
Herr Professor!
Der zweite Theil Ihres Vortrags veranlaßt mich, den einfachen Arbeiter, so kurz als möglich die Hauptmomente, welche nichts als Unsinn enthalten, an Ihren Augen vorüber zu führen. Sie müssen, Herr Professor, nicht verdrießlich werden, wenn ich Ihnen im Laufe dieser Zeilen zu beweisen versuche, daß Sie sich in der ökonomischen Wissenschaft grobe Unwahrheiten luß
An einer Stelle Ihres Vortrags lassen Sie sich wie folgt vernehmen: „Mit jedem Bildungsfortschritt erweitert sich die Anzahl der Gegenstände, die als unerläßlich zum Leben gelten. Die Lebensgewohnheit schafft fort und fort neue Bedürfnisse, denen sie allgemeine Anerkennung erringt. Was nach dieser Gewohnheit als Lebensnothdurft bezeichnet wird, regulirt auch den Arbeitslohn, und so wird aus diesem allmählich eine ganz andere Größe, die eine Reihe von Bestandtheilen enthält, welche mehr liefern, als die bloße Abwehr des Hungertodes erfordert. Dieser Umstand gestattet deshalb auch einen kräftigen Willen und einer tüchtigen Einsicht, immer noch zurückzulegen und zu sparen, so daß bei fortschreitender Bildung schon der Minimalsatz des Arbeitslohnes selbst das eherne Lohngesetz Lassalle’s Lügen straft.“
Herr Professor, welcher Spaßvogel hat Sie hier zum Besten gehabt? Dachten Sie denn gar nicht daran, daß das eherne Lohngesetz oder „Hungergesetz“, wie Sie’s selber nennen, von der ganzen ökonomischen Wissenschaft anerkannt ist? Nicht die sozialistischen Oekonomen haben dieses Gesetz entdeckt und nachgewiesen, sondern gerade die Schule, die Sie so hoch verehren, die anti = sozialistische Schule selbst ist es gewesen, welch dieses „grausame Gesetz“ – wie Lassalle es nennt – ans Tageslicht gezogen hat. Nach obigem Satz, den Sie jedenfalls in Ihrem Redefluß und gehobener Brust Ihren Zuhörern zum Besten gegeben haben, müßten die Schlesischen Weber des Eulengebirges, welche so ziemlich an Kartoffelsuppe und trocken Brod gewöhnt sind, sich umgekehrt die Speisen des Herrn Reichenheim angewöhnen, und für dieselben wäre also die soziale Frage gelöst.
Wenn Sie, Herr Professor, in obigem Satze sagen, daß der Arbeitslohn sich nach der Lebensnothdurft richtet, und wenn Sie am Schluß Ihres Satzes sagen, daß der bloße
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„Minimalsatz“ des Arbeitslohnes das eherne Lohngesetz Lassalle’s Lügen straft, dann befinden Sie sich in einem großen Widerspruch.
Denn, wenn man in einem Athemzug anerkennt, daß das zum Lebensunterhalt Nothwendigste den Arbeitslohn regulirt, (abgesehen davon, daß Sie sich falsch ausgedrückt haben, denn der Lebensunterhalt regulirt nicht den Arbeitslohn, sondern umgekehrt der Arbeitslohn richtet sich nach dem nothwendigsten Lebensunterhalt und derselbe steht im Laufe verschiedener Zeiten mehr darunter als darüber!) und dann das eherne ökonomische Lohngesetz als Lüge bezeichnet, macht man sich der großen Confusion schuldig. Und da sie Lassalle’s „Hungergesetz“ citiren, so müssen sie doch wissen, daß er für das eherne ökonomische Lohngesetz eine Masse von Zeugen anführt, und zwar glaubwürdiger Zeugen, Männer der Wissenschaft, und nicht etwa bloß erklärte Sozialisten. Hören Sie z. B. was J. B. Say über den Arbeitslohn sagt: „Das Angebot der Arbeit wächst mit der Nachfrage nach derselben. Die Nachfrage kann den Arbeitslohn ein wenig über die Höhe bringen, welche nothwendig ist, damit die Arbeiterfamilien existiren und sich fortpflanzen können, das heißt über die Höhe, welche nothwendig ist, damit die Arbeiterfamilie genug Kinder aufziehen kann, um Vater und Mutter zu ersetzen. Wenn der Arbeitslohn nur ein wenig über diesen Stand hinausgeht, so vermehren sich die Arbeiterkinder und das größere Arbeitsangebot gleicht sehr bald die gestiegene Nachfrage aus.“
Oder hören Sie, Herr Professor, was ein anderer Oekonom – Adam Smith – über das eherne ökonomische Lohngesetz oder „Hungergesetz“ sagt: „Wenn die Nachfrage nach Arbeitern beständig wächst, so muß der Arbeitslohn nothwendig einen solchen Antrieb zur Verheirathung und zur Vervielfältigung der Arbeiterzahl geben, daß sie im Stande sind, dieser immer wachsenden Nachfrage durch ein gleichfalls stets wachsendes Angebot zu entsprechen.“ „Die übermäßige Vermehrung von Arbeitern, welche in einer Zeit eintritt, wenn der Arbeitslohn durch steigende Nachfrage nach Arbeitern ein wenig über die Höhe hinaus geht, welche nothwendig ist, damit die Arbeiter am Leben bleiben, wird der Arbeitslohn wieder auf seinen früheren Stand und darunter zurück drängen.“
Man könnte noch mehr Nichtsozialisten anführen, aber dies ist überflüssig, weil man bereits aus obigen Citaten zur Genüge ersehen kann, daß die Arbeiter in ihrer großen Mehrheit nicht mehr verdienen, als was zum Leben nothwendigst erforderlich ist.
Dann noch den Arbeitern das alte Märchen vom „Sparen“ vorplaudern – klingt wie bittern Hohn. Herr Professor, im 1848er „Kommunistischen Manifest“, welches von Carl Marx und Friedrich Engels verfaßt ist, heißt es unter Anderem, daß die Bourgeoisie auch den Mann der Wissenschaft in ihre Dienste genommen hat, und wie wahr dies ist, das kann man recht deutlich an Ihnen wahrnehmen; denn wie ein Mann von Wissen bekannte wissenschaftlich Lehrsätze so verdrehen kann, wie Sie es gethan haben, das läßt sich nicht anders als nach jenem Satze im „Kommunistischen Manifest“ erklären. Sie lassen sich im Laufe Ihres Vortrags über Lassalle weiter vernehmen wie folgt: „Nicht viel besser als auf dem Gebiete der Nationalökonomie steht es bei Lassalle auf dem Gebiete des Rechts.“
Wenn dieser „unwissende“ Lassalle noch lebte, so wäre es sehr fraglich gewesen, Herr Professor; ob Sie die Courage gehabt hätten, wenn auch hinter Schloß und Riegel, einen solchen Vortrag zu halten. Es heißt dann im Laufe Ihres Vortrags über die Grund – und Bodenfrage weiter:
„Denn wenn man z. B. den Grundbesitz, oder mit Carl Marx das Privateigenthum überhaupt für unerlaubt, dem Rechtsbewußtsein widersprechend erklärt, so würden, falls diese Ansicht Gesetzeskraft erhielte, alle früheren Besitzer ohne jede Entschädigung ihr Eigenthum verlieren.“ –
Ueber diesen Punkt – ob Entschädigung oder nicht – sind die Ansichten verschieden; die Entscheidung hierüber wird Sache der Zukunft sein,**) – Sie sagen dann weiter über die Abschaffung des Privateigenthums: „Daß der Staat die Befugniß hat, solche Rechtsverhältnisse, die mit den Sittlichkeitsbegriffen im Widerspruch stehen,
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abzuschaffen, wird Niemand bestreiten.“ Herr Professor, hier sind Sie bald wider Willen ein Communisten = Anhänger geworden. Doch Sie sorgen ein paar Sekunden nachher dafür, daß Sie aus dieser Gefahr herauskommen, indem Sie sagen: „Ein Gesetz, welches dem Menschen verböte, in seinen Kindern und Werken fortzuleben, würde die menschliche Natur in ihren Bestandtheilen verstümmeln, und eben diese Wirkung würde das Gesetz haben, welches das Erbrecht abschaffte.“
Also die Abschaffung des Erbrechts würde die menschliche Natur „verstümmeln,“ ja, Herr Professor, wenn Sie die Ausbeutungs = Natur der Kapitalisten gemeint haben, dann haben Sie Recht; aber die können Sie ja nicht gemeint haben, wie Ihr übriges Gefasel beweist. Spaßeshalber will ich noch einen Satz aus Ihrem Bimbamgeläute abschreiben, welcher so recht deutlich zeigt, daß Sie zu derjenigen Kategorie von Gelehrten gehören, welche im Dienste der Bourgeoisie stehen, und das Proletariat zu täuschen beabsichtigen, gehören. Sie sagen: „Aber auch das Bedürfnis schafft Werthe, nicht blos die Arbeit.“
Wenn in den Casinos auf den Bällen der Bourgeoisie die Champagnerpfropfen knallen, wenn die Bourgeoisie in schönen Carossen dahersaust, sich mit schönen Gäulen oder sonst wie die Zeit vertreibt, dann verschwendet dieselbe nicht den „Entbehrungslohn“, sondern erzeugt vielmehr – nach Ihrer Bedürfnistheorie – Werthe von immenser Bedeutung! Ein netter Professor! Rich. Schmelzer
*S. Nr. 31. Wir werden dem Gelehrten Hrn. Professor ein Exemplar der Nummer des „Volksstaat“ zuschicken, und sind begierig, ob er dem „einfachen Arbeiter“ Schmelzer die Antwort ebenso schuldig bleibt, wie vorher dem „Lohgerber“ Dietzgen. R. d. V.
**Oder genauer, es hängt von dem Verhalten der herrschenden Klassen ab. Machen sie eine gewaltsame Lösung der sozialen Frage nöthig, so müssen sie auch auf Confiskationen gefaßt sein, während, falls sie zu reformatorischen Uebergangsregeln die Hand reichen, der Weg der Ablösung sicher ist. Das Schicksal der amerikanischen Sklavenhalter ist ein lehrreiches Exempel. Sie hatten die Wahl zwischen Ablösung der Sklaverei mit Entschädigung, oder Kampf für die Fortdauer der Sklaverei. Sie zogen den Kampf vor, und – die Sklaverei ist ohne Entschädigung abgeschafft worden. Ex uno discimus omnia. In diesem einen Bespiel können unsere Monopolisten des Eigenthums ihre Zukunft wie in einem Zauberspiegel lesen. R. d. V.
Bebel’s Rede in der Salzsteuerdebatte.
Der Reichstagssitzung vom 1. Mai 1872.
(Nach dem amtlichen stenographischen Berichte)
Meine Herren! Ich bin selbstverständlich nicht in der Lage, die Ansichten, die soeben der Herr Reichskanzler entwickelt hat, irgendwie zu theilen, ebenso wie ich nicht in der Lage bin, den Ansichten der Herren, die vorher von verschiedenen Seiten laut geworden sind, meine Zustimmung geben zu können. (…)
N° 40 Sonnabend, 18. Mai 1872
Politische Uebersicht.
Ein verspäteter Fastnachtsscherz. Am Dienstag sagte Fürst Bismarck im Reichstag: „Nach Canossa gehen wir nicht, weder staatlich noch kirchlich.“ Sehr tapfer, nachdem wir soeben aus dem Schloßhof von Canossa hinausgeworfen worden sind. Solche Tapferkeit ist auch nach dem Sinn der Reichstagsmajorität: sie klatschte wie toll Beifall und – votirte die vom neuen Luther für den Botschafterposten beim Papst geforderten 15,000 Thlr.
Neuestes Stückchen deutscher Cultur – für die „verkommenen“ Franzosen. Während der jüngsten General = Universtätskneiperei in Straßburg wurde Baron von Aufseß, ein schwerkranker Mann mit schneeweißem Haar, von 2 deutschen Professoren, die (obendrein irrthümlicherweise – denn der Mann war fanatischer deutschthümer) gedacht hatten, er fände
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an der „Wacht am Rhein“ keinen gefallen, derartig mit Faustschlägen und Fußtritten mißhandelt, daß er ein paar Tage nachher starb. Dies Stückchen von deutschem Mordspatriotismus (über das in nächster Nr. mehr) zeigt die bestialische Natur der im „heiligen Krieg“ entfesselten Leidenschaften und bildet den würdigen Pendant des „Deutschland in den Tuilerien“: hier viehische Rohheit, dort schuftigste Hundedemuth – das ist der „Deutsche Patriot“ mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung. –
N° 41 Mittwoch, 22. Mai 1872
Aus Spanien.
(Fortsetzung des Berichts über den Kongreß zu Saragossa nach der Brüsseler „Liberté“)
Die beiden Hauptfragen, welche den Kongreß beschäftigten, waren: die Organisation und das Eigenthum. Vorläufig wollen wir uns mit dem ersten Punkte beschäftigen.
Das Cirkular der Bakuin’schen „Föderation des Jura“, welches in der Internationalen eine Spaltung hervorgerufen und zwei Centren zu schaffen drohte, hat nur für Italien einige Wichtigkeit, wo die proletarische Bewegung ganz jung und in Händen doktrinärer Idealisten ist. Gleichwohl hat das Cirkular auch in Spanien einigen der Assoziation Vorwand zum Störungmachen in der Internationalen gegeben. Die Bakunin’sche „Alliance“ hatte sich hier als geheime Gesellschaft konstituirt, die sich aus den energischen und begabtesten Mitgliedern der Bewegung rekrutirte, und sich zur Aufgabe setzte, die Internationale zu leiten und über die Reinheit ihrer Prinzipien zu machen; mit einem Wort, die „Alliance“ war eine Aristokratie innerhalb der Internationalen. – (…)
N° 42 Sonnabend, 25. Mai 1872
Die Republik und die Gegenrevolution.
Von Emilie Acollas (Schluß)
Welches ist nun die Funktion des allgemeinen Stimmrechts? Ist es allmachtig? Hat es das Recht, alle Fragen nach Gutdünken zu entscheiden?
Ich wiederhole zunächst, daß ich mich ganz und gar von der Ausdrucksweise aller politischer fern halte, vor allem der Jean Jacques Rouusseau’s, welcher erklärt, die „Souveränität“ liege in der Nation. Ich erkenne keinen andern Souverän über mir an als mich selber; oder, um gemäßigter, korrekter zu reden, ich erkenne kein anderes Recht über mich an als das, welches ich selber habe; ich bin eine freie Thätigkeit mit derselben Berechtigung, wie die anderen Menschen, wie die anderen Menschen, meine Brüder; ich erkläre mich für autonom gegenüber den anderen gegenüber den anderen autonomen Menschen.
Die Souveränität besitzt Keiner von uns, und nicht deshalb, weil wir uns zu 20 oder 40 Millionen vereinigen, taucht diese Souveränität, welche in keinem Einzelnen von uns eingeschlossen ist, plötzlich aus der Gesamtheit hervor.
Die Wahrheit ist, daß dies Wort „Souveränität“ und verwirrt!
Nicht wir sind souverän, sondern die Ordnung der Dinge, von der wir alle, Atome wie wir sind, abhängen; was souverän, das sind die nothwendigen Beziehungen der Dinge untereinander – mit einem Wort, das Gesetz.
Ueberlassen wir also, wenn wir von uns selber sprechen, den „Souverän“ den alten Büchern, und bedienen wir uns nur der Sprache der Vernunft.
Im Ideal würde das Gebiet des allgemeinen Stimmrechts der mathematische Punkt sein, und ebenso wie nach dem tiefen Ausspruch Destuti’s de Tracy „die Regierungen Geschwüre sind, welche man so viel wie möglich einschränken muß“, ebenso ist das allgemeine Stimmrecht ein Uebel, von dem der republikanische Staat ohne Zweifel nie genesen wird, aber dessen Herrschaft man ebenfalls so viel wie möglich zu beschränken suchen muß.
Zunächst mangelt dem allgemeinen Stimmrecht jede Kompetenz, sogenannte prinzipielle Fragen zu entscheiden, und die einzige Ursache, weshalb man dies nicht sieht, ist die, daß
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die politische Wissenschaft noch nicht begründet, daß die Politik bis jetzt überhaupt noch gar keine Wissenschaft ist. Was würde der Astronom sagen, wenn man ihm vorschlüge, über die Frage der Bewegung der Erde um die Sonne oder die tägliche Bewegung der Erde um sich selbst abstimmen zu lassen? Die Astronomie würde antworten, nicht die Zahl der Stimmen entscheide über eine wissenschaftliche Wahrheit; und wenn es Kopernikus oder Galilei wäre, könnte man als Ketzer mit Ketten belasten, er würde doch nicht widerrufen. (…)
Mich zu den Reichen, zu allen Besitzenden überhaupt wendend, sage ich: Erkennt ihr dem allgemeinen Stimmrecht das Recht zu, jenen Zustand zu beschießen, der euch erbleichen macht, den schrecklichen Kommunismus? Ja oder nein! Ich, der ich dem Staat jedes Eigenrecht streitig mache, bin Gegner des Kommunismus, ich bin Gegner der Strafverordnungsgewalt in den Händen des Staates, denn ich habe sicherlich keinen Geschmack an dem Mönchsthum unter irgend einer Form, und da der Kommunimus, die ökonomische Mönchsherrschaft, die Autonomie der menschlichen Person verletzt*), so bestreite ich dem allgemeinen Stimmrecht ganz entschieden das Recht, den Kommunismus einzuführen. – Wie viel Beifall werde ich erndten, indem ich dies ausspreche, und zwar von einer Seite, von der man ihn mir niemals gespendet hat! (…)
*Wir brauchen kaum zu bemerken, daß wir mit dieser Auffassung des Communismus nicht übereinstimmen. Der Communismus, gegen den sich Acollas hier verwahrt, war nur ein wilder Traum, an den kein vernünftiger Arbeiter mehr glaubt. Der echte, auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende Communismus bezweckt nicht die Zerstörung, sondern die Rettung des Individuums, das in der heutigen Gesellschaft erdrückt, verkrüppelt oder zum mindesten einseitig entwickelt wird. R. d. V.
N° 43 Mittwoch, 29. Mai 1872
Zur Erinnerung an die letzten Maitage 1871.
Hört ihr’s wimmern aus der Erde? Hört ihr’s dröhnen durch die Lüfte?
Stürzt die Welt in Rauch und Flammen? Oeffnen Gräber sich und Grüfte,
Bleiche Schreckgestalten speiend, rauchgeschwärzte blut’ge Leichen,
Die geballt zu wüstem Knäuel, noch die starre Hand sich reichen?
Wehe! Wehe! Daß die Sonne diesen Tag voll Nacht und Grauen
Ihres Auges Strahl geliehen. Daß sie leuchtend kam zu schauen,
Wie ein Volk in heil’gem Kampfe für die höchsten Menschenrechte
Sich verblutet, eine Beute grausam feiger Henkersknechte, (…)
Gedicht zum Pariser Aufstand der Kommune.
Beilage zu Nr. 43 des „Volksstaat“.
Darwinismus und Sozialismus.
Von A. T. aus Eisenach.
Die Darwin’sche Theorie sucht die Entstehung der Arten im Thier = und Pflanzenreiche zu erklären. Sie läßt die Entstehung des ersten Organismus, der Zelle, als bis dahin unerklärbar, unberücksichtigt, und baut von hier aus die ganze Reihe der Organismen auf. Änderungen der klimatischen und topischen*) Verhältnisse unseres Erdkörpers, die das eine Individuum mehr bestrafen als das andere, veränderte Lebensweise, vor alle, aber die geschlechtliche Zuchtwahl und der Kampf ums Dasein sollen die Spaltungen der Arten hervorgerufen haben. Wenn man die einschlagenden Werke Darwins und Häckels mit ihren reichen Belegen für diese Hypothese**) liest, so muß sich jeder vorurtheilsfreie und denkende Mensch sagen, daß diese Hypothese auf wenigstens ebenso festen Füßen steht als alle anderen Ansichten der Geologen über die Urzeiten unseres Planeten.
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Um uns aber die Wirkungen der geschlechtlichen Zuchtwahl und des Kampfes ums Dasein im Sinne des englischen Naturforschers klar zu machen, wollen wir einige von ihm selbst gebrauchte Beispiele wählen.
Die Hasen des Nordens und der schneebedeckten Alpen sind weiß; diejenigen unserer Breiten haben hingegen eine Farbe, die derjenigen der gewöhnlichen Erdkrume zum Verwechseln ähnlich sieht. Die teleologischen***) Schwätzer finden hierin eine weise Vorsicht der Natur. Der Schöpfer gab dem nordischen Hasen ein weißes Kleid, um ihn auf der Schneedecke vor seinen Feinden zu verbergen; in unseren milderen Breiten war aber die graue Farbe zur Erreichung desselben Zweckes vortheilhafter und Herr Lampe ward darum grau equipirt. Solche Erklärungen sind aber für den Naturforscher leere Phrasen; wer noch nach Zweckbegriffen beurtheilt und erklärt, darf auf den Namen eines Naturforschers keine Ansprüche mehr erheben. Darwin als echter Forscher kehrt die Sache um und sagt; eben weil der eine Hase weiß und der andere grau ist, lebt jener im Norden und dieser in milderen Breiten. Höchst wahrscheinlich haben die Hasen in der Urzeit alle erdenklichen Farben besessen. Im Norden, wo während der der größten Zeit des Jahres der Schnee den Boden bedeckt, hatten aber die Hasen im weißen Pelze einen immensen Vortheil im Kampfe ums Dasein über ihre nichtweißen Collegen. (…)
Gehen wir einen Schritt weiter und beschauen wir einmal unsere modernen Culturstaaten. Auch hier finden wir einen fortdauernden Kampf um die Existenz. Aber nicht mit gleichen Waffen, wie bei den Kindern der Hinterwäldner Nordamerika’s, wird gerungen. Der Reiche bringt schon bei der Geburt eine Waffe mit, gegen die der Arme nicht anzukämpfen vermag. Der Sieg im Kampfe ums Dasein fällt daher selten dem geistig und körperlich Begabteren, sondern fast stets dem Reicheren zu. Im Kapital und seiner heutigen Anwendung findet Letzterer eine Waffe gegen seine Brüder, wie sie erfolgreicher nicht ersonnen werden kann. Wie die Spanier durch die Inquisition, so greift die moderne Zeit durch die heutige Produktionsweise, welche den Unterschied zwischen Arm und Reich zu einem dauernden macht, mit frevelnder Hand in ein Naturgesetz, und wer an den verderblichen Folgen noch zweifelt, der beschaue nur mit kritisch sichtendem Auge die heutige Gesellschaft. Seltener und seltener werden die Charaktere, während man die blasirten Flachköpfe mit dem Besen zusammenkehren kann. (…)
*örtlichen
**Annahme, System
*** Die Vertheidiger der Ansicht, daß die ganze Welt, mit Allem was sie enthält, von einem allweisen und allgütigen Gott zu einem bestimmten Zwecke „geschaffen“ worden sei.
N° 45 Mittwoch, 5. Juni 1872
Das Einkommen und seine Vertheilung. Von E. A. S.
Aus den Untersuchungen von Karl Marx wissen unsere Leser, daß der Werth einer Sache nur in der „allgemeinen menschlichen, gesellschaftlich nothwendigen Arbeit, gemessen nach Zeit“, besteht, welche in der Sache, dem Gute enthalten, geronnen ist. So wenig interessant solche Definitionen für Jeden sind, der sich noch nicht mit Volkswirthschaft beschäftigt hat, so nothwendig sind sie doch, um den Zusammenhang des volkswirthschaftlichen Lebens verstehen zu können; von der richtigen Erkenntniß des Werthbegriffs hängt ein großer Theil der sozialen Entwicklung der Völker ab., was sich deutlich an den Zuständen in England und Frankreich erkennen läßt.
In England hält die Wissenschaft in ihren besten Vertretern an der von Adam Smith entdeckten Wahrheit fest, daß die menschliche Arbeit allein den Werth erzeuge. Dieser Satz ist 1837 von dem Amerikaner Carey – an dem, beiläufig gesagt, der Franzose Bastiat literarischen Diebstahl begangen hat, indem er den Inhalt von Carey’s Schriften theiweise als sein geistiges Eigenthum in die Welt schickte – genauer dahin formulirt werden, daß der
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Werth der Waare gleich sei den Wiederherstellungskosten. Die Erklärung ist präziser als die von Adam Smith, weil in ihr Rücksicht genommen wird auf die so häufige Thatsache, daß durch eine neue Arbeit ersparende Erfindung der Werth der nach der nach der alten Methode gefertigten Produkte – obgleich in ihnen mehr Arbeit enthalten ist – fällt, und sich dem Werth der durch die neue arbeitssparende Maschine hergerichteten Waare gleichstellt. (…)
Die gesellschaftliche Wirkung, daß jede Arbeit einen Ueberschuß läßt, befähigt nun einzelne Manschen, sich mit anderen, als direct Einkommensgüter erzeugenden Arbeiten abzugeben; - der Arzt und der Lehrer können nun von dem Arbeitsertrage mitleben. Man mag sich eine Organisation der Gesellschaft denken, wie man will, immer wird, wenn die Cultur nicht aufhören soll, ein Theil der Menschen von der produktiven Arbeit befreit sein müssen, um als Lehrer, Arzt, Verwaltungsbeamter zu fungiren; - das Einkommen dieser Leute wird aus dem Arbeitsertrag der eigentlichen produktiven Arbeiter, d. h. derer, die Waare anfertigen, welche auf dem Markt von Hand zu Hand verkauft werden kann – bestritten werden müssen.
Die unproduktiven Arbeiter, wie Adam Smith sie nennt, leisten der Gesellschaft oft wesentliche Dienste, müssen also auch von der Gesellschaft erhalten werden.
Durch gesellschaftliche Arbeitstheilung haben es die Menschen also dahin gebracht, daß die Arbeiter mehr Güter erzeugen, als zu ihrem, der Arbeiter, Lebensunterhalt nothwendig ist.
Diesen Sinn hat der, von Herrn Schultze = Delitzsch in seinem Arbeiter = Katechismus so falsch angewendete Bastiat’sche Satz: „daß innerhalb der Gesellschaft, im Austausche der wechselseitigen Arbeitserzeugnisse und Leistungen die Kräfte des Menschen weit über seine Bedürfnisse hinausgehen.“ (…)
N° 46 Sonnabend, 8. Juni 1872
Das Einkommen und seine Vertheilung. (Schluß)
Wir können das Gesamteinkommen einer Nation in zwei Theile zerlegen; in den einen Theil, der von der Rente absorbirt, also ohne alle Arbeit erworben wird, und in den noch übrigbleibenden Rest, welcher als Arbeitslohn den Arbeitern – hier im weitesten sinne des Wortes – zu Gute kommt. Je größer der eine Theil, desto kleiner naturgemäß der andere.
Je mehr also von dem Gesamteinkommen des Volkes zur Zahlung der Renten verwendet werden muß, desto kleiner der für die Arbeiter übrigbleibende Theil – je größer die Summe des Arbeiter = Einkommens, desto kleiner wird der Antheil der Rente. (…)
N° 48 Sonnabend, 15. Juni 1872
Zwei Arbeiter = Kongresse in Berlin. II
B. wir kommen zur Generalversammlung des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins“, welche von Mittwoch den 22. Mai an, also unmittelbar nach dem „deutschen Webertag“, tagte. Was auf der Generalversammlung Alles verhandelt wurde, wissen wir nicht, interessirt uns auch nicht. Nur zwei Beschlüsse sind es, die von uns von hoher Wichtigkeit sind, und die wir deshalb hier beleuchten wollen.
Allerdings stehen und in Bezug auf jene Beschlüsse nur Privatmittheilungen zu Gebote, offiziell ist davon im „Neuen“ nicht erwähnt worden*); denn trotz des Abgangs von Schweitzer herrscht das alte Vertuschungs = und Unterdrückungssystem in Bezug auf Alles, was den leitenden Herren vom „Neuen“ nicht paßt, weil es den Mitgliedern des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins“ gestatten würde, ein wenig hinter die Coulissen zu sehen, in ungeschwächtem Flor fort und nur durch Zufall kommt dann und wann etwas von den inneren Vorgängen ans Tageslicht. (…)
Herr v. Schweitzer und der „Neue Sozialdemokrat“.
Ein altes sprichwort sagt: „Wenn zwei Spitzbuben sich zanken, kommt der ehrliche Mann zu seinem Recht“. Das bestätigt sich wieder in dem famosen Streit, den die Erklärung des Herrn v. Schweitzer zwischen diesem und dem „Neuen“ hervorgerufen hat.
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In den Nummern vom 7. Juni noch setzte sich Hr. Hasenclever auf das hohe Pferd und versuchte, unsere Anfrage in spöttischen „witzig“ sein sollender Weise abzufertigen. Mittlerweile hatte aber die Erklärung Schweitzers die Runde durch die Presse gemacht, und so mußte Herr Hasenclever denn in der Nummer vom 9. Juni selbst offen zugeben, was einzugestehen ihm sicher sehr sauer geworden ist.
Diese famose Erklärung des „Neuen“ vom 9. Juni bestätigt Alles, was wir seither über das Treiben des Hrn. V. Schweitzer gesagt haben, und insofern konnten wir mit ihr zufrieden sein. (…)
Politische Uebersicht.
Von der „Freiheit“ im „Neuen Reiche“ – außer allenfalls die Freiheit des Lynchens, zu Deutsch des Todtschlagens (S. Straßburg) – reden selbst Nationalliberale nicht mehr; aber viel besser ist’s nicht mit der „Einheit“ bestellt, und was wir bei der Debatte über die Reichsverfassung im Dezember 1870 sagten, hat sich vollständig bewahrheitet. Die sogenannten „Bundesgenossen“ haben keine Lust, Preußische Vasallen zu sein, und befinden sich, nachdem die Herrlichkeit kaum fünf Vierteljahre gedauert, in offener Meuterei. Vor weinigen Tagen versetzte der Württembergische Minister Mittnacht den Reichstag in sprachlosen Erstaunen durch eine giftige Attacke auf die Wirthschaft im Bundesrath, welcher das willenlose Werk = und Spielzeug des Hrn von Bismarck sei, und kaum hatte sich das „nationale“ Publikum von der Entrüstung über diesen „unerhörten Skandal“ einigermaßen erholt, so geschah das noch „Unerhörtere“, daß die Majorität des Bayerischen (Kammer =) Militärausschusses die Bemerkung eines Mitglieds, „die Bayerische Armee könne auch gegen die Preußen zu kämpfen haben“, mit wüthendem Bravo begrüßte. Das sind allerdings Symptome, die „nationalen“ Gemüthern die Freude an dem Bismarck’schen Machwerk vergällen müssen. (…)
Deutsche Justiz. Wer noch im Zweifel darüber gewesen sein sollte, daß der Prozeß gegen die Leipziger „Hochverräther“ im Geist des neuen „Reichs der Gottesfurcht und frommen Sitte“ geführt worden, wird durch folgende amtliche Notiz des „Leipziger Tageblatt“ Gewißheit erlangen: „Leipzig, 10. Juni. Dem Direktor des Bezirks zu Zittau, Herrn von Mücke, ist von Seiner Majestät dem Kaiser das Ritterkreuz des königl. Preußischen Kronenordens dritter Klasse mit rothem Kreuze auf weißem Felde.“ verliehen worden.“
Die Nennung des preußischen Kronenordens schließt die Möglichkeit aus, daß irgend ein anderer Kaiser als der Berliner „Heldengreis“ gemeint sei, etwa der Kaiser von Birmah oder China. (…)
N° 49 Mittwoch, 19. Juni 1872
Der Geldsack.
Ob ihr einen König habt Kön’ge werden oft gestürzt
Heuer zum Regneten Abgeknickt wie Reiser,
oder ob ihr seid begabt Und das Leben gar gekürzt
Mit ‚nem Präsidenten; Manchen mächt’gen Kaiser:
Habt ihr Konstitution, Keine Revolution
Oder habt ihr keine: Jemals, aber keine,
Einer sitzet auf dem Thron; Stürzte diesen noch vom Thron;
Und hernieder voller Hohn Höher als ein Göttersohn
Blick er dieser Eine – Dünkt sich dieser Eine –
Der Geldsack, der Geldsack! Der Geldsack, der Geldsack! (…)
Ad. Schults (Haus der Welt) 1858
Urtheile der Presse über den Leipziger Hochverrathsprozeß. (Fortsetzung)
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Wenn wir einige Wochen keine Auszüge gebracht haben, so ist der Grund einzig und allein darin zu suchen, daß wir den Lesern Wiederholungen ersparen wollten. (…)
Noch viel entschiedener als die Deutsche, hat die auswärtige: die Französische, Schweizer und Amerikanische Presse den Prozeß verdammt. Auch in der Englischen Presse, auf die unsere „Nationalen“ so großes Gewicht legen, war die Mißbilligung allgemein. (…)
Politische Uebersicht.
„Am 14. Juni 1849 – also ungefähr jetzt vor 23 Jahren – begann der Angriff der preußischen Truppen unter dem Oberbefehl des dermaligen Prinzen von Preußen (des nunmehrigen deutschen Kaisers) auf die Kämpfer für die deutsche Reichsverfassung in der nördlichen Pfalz. Bei der Ueberzahl der Truppen mußten die Reichsverfassungskämpfer weichen. Eine aus Rheinhessen bestehende Nachhut von 17 Mann wurde im ehemaligen Schloßgarten von Kirchheimbolanden abgeschnitten und gefangen genommen. Die sämtlichen Unglücklichen, Jünglinge von den edelsten, reinsten Gesinnungen, geleitet von hochherzigsten Patriotismus, wurden bis zum letzten Mann erschossen. Am Sonntag den 16. ist nun ein Denkmal zu Ehren dieser wirklichen Märtyrer für die deutsche Einheit und Freiheit auf dem Kirchhofe zu Kirchheimbolanden eingeweiht worden“. –
Dem „genialen“ Staatsmann, den es vor nahezu 3 Jahren nicht genirte, in der Kammer für die Jesuiten eine Lanze zu brechen, sind dieselben augenblicklich etwas unbequem und darum droht er, er, der Vertreter der „politischen Heuchelei“, also des plattesten Jesuitismus, seinen „Brüdern in Christo“ mit dem Ausweisungsgesetz, das die Herren im „Reichstag“ pflichtschuldigst annehmen werden. Durch dieses Ausnahmegesetz wird natürlich nebenbei noch der Zweck erreicht, für die Zukunft ein Mittel an der Hand zu haben, durch das man auch Andere als „Jesuiten“ sich vom Halse schaffen kann. –
Wie sich Bismarck die Lösung der Arbeiterfrage denkt. Nach westphälischen Zeitungen hat die preußische Regierung im Regierungsbezirk Arnsberg einen „Fabrikinspektor“ angestellt. Die Obliegenheiten, die demselben zustehen, lassen keinen Zweifel aufkommen, daß es sich hier bloß auf eine polizeiliche Ueberwachung der Arbeiter abgesehen ist. Unter Anderm hat der „Fabrikinspektor“ „auf das sittliche und körperliche Wohl der erwachsenen Arbeiter in den Fabriken und auf das Verhältniß derselben zu den Arbeitgebern, namentlich auf Arbeiter = Coalitionen (Strikes) zu achten und darüber an die königliche Regierung zu berichten.“ Ausbeutung und Unterdrückung – etwas Anderes haben die Arbeiter vom heutigen Staat nicht zu erwarten; und nur politische Kinder konnten glauben, Herr von Bismarck werde den Arbeitern etwas à la „englische Fabrikinspektoren“ als Präsent überreichen; denn für eine Junkerregierung ist nicht einmal dieses Kraut gewachsen. –
N° 51 Mittwoch, 26. Juni 1872
Wie Proudhon die Wohnungsfrage löst.
Von Friedrich Engels.
In der Nr. 10 und folgenden des „Volksstaat“ findet sich eine Reihe von sechs Artikeln über die Wohnungsfrage, die aus dem Grund Beachtung verdienen, weil sie – abgesehen von einigen längst verschollenen Belletristereien der vierziger Jahre – der erste Versuch sind, der Schule Proudhons nach Deutschland zu verpflanzen. Es liegt hierin ein so ungeheurer Rückschritt gegen den ganzen Entwicklungsgang des deutschen Sozialismus der gerade den Proudhon’schen Vorstellungen schon vor 25 Jahren den entscheidenden Stoß gab*), daß es der Mühe werth ist, diesem Versuch sofort entgegen zu treten.
Die sogenannte Wohnungsnoth, die heutzutagein der Presse eine so große Rolle spielt, besteht nicht darin, daß die Arbeiterklasse überhaupt in schlechten, überfüllten, ungesunden Wohnungen lebt. Diese Wohnungsnoth ist nicht etwas der Gegenwart eigenthümliches; sie ist nicht einmal eins der Leiden, die dem modernen Proletariat gegenüber allen früheren unterdrückten Klassen, eingenthümlich sind; im Gegentheil, sie hat allen unterdrückten
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Klassen aller Zeiten ziemlich geleichmäßig betroffen. Um dieser Wohnungsnoth eine Ende zu machen, giebt es nur ein Mittel, das: die Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Klassen durch die herrschende Klasse überhaupt zu beseitigen. – (…)
Diese Miethsnot trifft den Arbeiter also sicher härter als jede wohlhabende Klasse; aber sie bildet ebenso wenig wie die Prellerei des Krämers, einen ausschließlich auf die Arbeiterklasse drückenden Uebelstand, und muß, soweit sie die Arbeiterklasse betrifft, bei gewissem Höhegrad und gewisser Dauer, ebenfalls eine ökonomische Ausgleichung finden.
Es sind vorzugsweise diese der Arbeiterklasse mit anderen Klassen, namentlich dem Kleinbürgerthum gemeinsamen Leiden, mit denen sich der kleinbürgerliche Sozialismus, zu dem auch Proudhon gehört, mit Vorliebe beschäftigt. Uns so ist es durchaus nicht zufällig, daß unser deutscher Proudhonist sich vor Allem der Wohnungsfrage, die, wie wir gesehen haben, keineswegs eine ausschließliche Arbeiterfrage ist, bemächtigt und daß er sie, im Gegentheil, für eine wahre, ausschließliche Arbeiterfrage erklärt.
„Was der Lohnarbeiter gegenüber dem Kapitalisten, das ist der Miether gegenüber dem Hausbesitzer.“
Dies ist total falsch.
Bei der Wohnungsfrage haben wir zwei Parteien einander gegenüber, den Miether und den Vermiether, oder Hauseigenthümer. Der erstere will vom letzteren den zeitweiligen Gebrauch einer Wohnung kaufen; er hat Geld oder Kredit – wenn er auch diesen Kredit dem Hausbesitzer selbst wieder zu einem Wucherpreise, einem Miethzuschlag, abkaufen muß. Es ist ein einfacher Waarenverkauf; es ist nicht ein Geschäft zwischen Proletarier und Bourgeois, zwischen Arbeiter und Kapitalisten; dem Miether – selbst wenn er Arbeiter ist – tritt er als vermögender Mann auf, er muß seine ihm eigenthümliche Waare, die Arbeitskraft, schon verkauft haben, um mit ihrem Erlös als Käufer des Nießbrauchs einer Wohnung auftreten zu können, oder er muß Garantien für den bevorstehenden Verkauf dieser Arbeitskraft geben können. Diese eigenthümlichen Resultate, die den Verkauf der Arbeitskraft an den Kapitalisten hat, fehlen hier gänzlich. (…)
(…) Dieses einfache ökonomische Verhältniß drückt sich im Kopf eines Proudhonisten folgendermaßen aus:
„Das einamls gebaute Haus dienst als ewiger Rechtstitel auf einem bestimmten Bruchtheil der gesellschaftlichen Arbeit, wenn auch der wirkliche Werth des Hauses längst schon mehr als genügend in der Form des Miethzineses an den Besitzer gezahlt wurde. So kommt es, daß ein Haus, welches z. B. vor 50 Jahren gebaut wurde, während dieser Zeit in dem Ertrag seines Miethzinses 2, 3, 5, 10 mal u. s. w. den ursprünglichen Kostenpreis deckte.“
Hier haben wir gleich den ganzen Proudhon. Erstens wird vergessen, daß die Hausmiethe nicht nur die Kosten des Hausbaues verzinsen, sondern auch Reparaturen und den durchschnittlichen Betrag schlechter Schulden, unbezahlter Miethen, sowie gelegentlichen Leerstehens der Wohnung zu decken hat. Zweitens wird vergessen, daß die Wohnungsmiethe ebenfalls den Werthaufschlag des Grundstücks, auf dem das Haus steht, mit zu verzinsen hat, daß also ein Theil davon in Grundrente besteht. Unser Proudhonist erklärt zwar sogleich, daß
dieser Werthaufschlag, da er ohne Zuthund des Grundeigenthümers bewirkt, von Rechts wegen nicht ihm, sondern der Gesellschaft gehört; er übersieht aber, daß er damit in Wirklichkeit die Abschaffung des Grundeigenthums verlangt, ein Punkt, auf den näher einzugehen uns hier zu weit führen würde. (…)
*In Marx, Misère de la Philosophie etc. Bruxelles et Paris 1847.
Der „Neue“
Hat uns ein seiner Nr. 69 daran gemahnt, daß wir „nicht so viel Ehrgefühl besessen haben“, von seiner „letzten unanfechtbaren Widerlegung“ (in Nr. 62 des „Neuen“) unserer „unwahren Verdächtigungen“
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und seinen „Nachweis, daß in böswilliger und planmäßig gegen den „Allgemeinen deutschen Arbeiterverein“ gehetzt wird, Notiz zu nehmen. – (…)
N° 52 Sonnabend, 29. Juni 1872
Wie Proudhon die Wohnungsfrage löst.
Von Friedrich Engels. (Fortsetzung)
Nach dem Vorhergehenden können wir schon im Voraus wissen, wie unser Proudhonist die Wohnungsfrage lösen wird. Einestheils haben wir die Forderung, daß jeder Arbeiter seine eigene, ihm gehörende Wohnung haben muß, damit wir nicht länger unter den Wilden stehen. Andererseit haben wir die Versicherung, daß die zwei=, drei=, fünf= oder zehnmalige Bezahlung des ursprünglichen Kostenpreises eines Hauses in der Gestalt von Miethzins, wie sie in der That stattfindet, auf einen Rechtstitel beruht und daß dieser Rechtstitel im Widerspruch mit der „ewigen Gerechtigkeit“ sich befindet. Die Lösung ist einfach: wir schaffen den Rechtstitel ab und erklären kraft der ewigen Gerechtigkeit den gezahlten Miethzins für eine Abschlagzahlung auf den Preis der Wohnung selbst. (…)
Und so geschieht es hier. Die Anschaffung der Miethwohnung wird als nothwendig proklamirt, und zwar in der Gestalt, daß die Verwandlung jedes Miethers in den Eigenthümer seiner Wohnung gefordert wird. Wie machen wir das? Ganz einfach: „Die Miethwohnung wird abgelöst…Dem bisherigen Hausbesitzer wird der Werth seines Hauses bis auf den Heller und Pfennig bezahlt. Statt daß, wie bisher, der bezahlte Miethzins den Tribut darstellt, welchen der Miether dem ewigen Rechte des Kapitals bezahlt, statt dessen wird von dem Tage an, wo die Ablösung der Miethwohnung prokalmirt ist, die vom Miether bezahlte, genau geregelt Summe die jährliche Abschlagsumme für die in seinem Besitz übergegangene Wohnung,…Die Gesellschaft…wandelt sich auf diesem Wege in eine Gesamtheit unabhängiger freier Besitzer von Wohnungen um.“
Der Proudhonist findet ein Verbrechen gegen die ewige Gerechtigkeit darin, daß der Hauseigenthümer ohne Arbeit Grundrente und Profit aus seinem im Hause angelegten Kapital herausschlagen kann, Er dekretirt, daß dies aufhören muß; daß das in Häuser angelegte Kapital keinen Profit, und soweit es gekauften Grundbesitz vertritt, auch keine Grundrente mehr einbringen soll. Nun haben wir gesehen, daß damit die kapitalistische Produktionsweise, die Grundlage der jetzigen Gesellschaft, gar nicht berührt wird. Der Angelpunkt, um den sich die Ausbeutung des Arbeiters dreht, ist der Verkauf der Arbeitskraft an den Kapitalisten, und der Gebrauch, den der Kapitalist von diesem Geschäfte macht, indem er den Arbeiter weit mehr zu produziren nöthigt, als der bezahlte Werth der Arbeitskraft beträgt. Dies Geschäft zwischen Kapitalist und Arbeiter ist es, das all den Mehrwerth erzeugt, der nachher in Gestalt von Grundrente, Handelsprofit, Steuern u. s. w. auf die verschiedenen Unterarten von Kapitalisten und ihren Dienern sich vertheilt. (…)
N° 53 Mittwoch, 3. Juli 1872
Beschlüsse des Generalraths der Internationalen Arbeiterassoziation vom 18. Juni 1872.
In Erwägung, daß der Baseler Kongreß Paris zum Sitz des nächsten Kongresses bestimmt hatte; daß der Generalrath, gemäß Art. 4 der Statuten, Angsichts der Unmöglichkeit, den Kongreß in Paris abzuhalten, denselben durch Beschluß vom 12. Juni 1870 nach Mainz berief, wo seine Zusammenkunft jedoch durch den Ausbruck des deutsch = französischen Krieges verhindert wurde; daß die heutigen Regierungsverfolgungen gegen die Internationale sowohl in Frankreich als Deutschland die Berufung des Kongresses nach Paris oder Mainz nicht gestatten; daß Art. 4 der Statuten den Generalrath ermächtigt, im Nothfall den
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Bestimmungsort des Kongresses zu verlegen; beruft der Generalrath den nächsten Kongreß der Internationalen Arbeiterassoziation für Montag, den 2, September 1872, nach dem Haag (Holland)
In Erwägung,
daß die für den Mainzer Kongreß, der am 5. September 1870 eröffnet werden sollte, auf die Tagesordnung gesetzten Fragen, keineswegs den gegenwärtigen Bedürfnissen der Internationalen entsprechen – Bedürfnissen, tief beeinflußt von den seither eingetretenen großen geschichtlichen Ereignissen; daß zahlreiche Sektionen und Föderationen beantragt haben, die Revision der allgemeinen Statuten und Verwaltungsverordnungen dem nächsten Kongreß zu unterbreiten; daß die jetzt in fast allen Ländern Europas gegen die Internationale gerichteten Verfolgungen ihr die Pflicht auferlegen, ihre Organisation zu kräftigen; mit dem Vorbehalt, ein durch die Vorschläge der Sektionen und Föderationen vervollständigtes Programm später veröffentlichen zu können; setzt der Generalrath auf die Tagesordnung des Haager Kongresses als wichtigste Frage: die Revision der allgemeinen Statuten.
Im Auftrage des Generalraths:
Karl Marx, korr. Sekretär für Deutschland.
Wie Proudhon die Wohnungsfrage löst.
Von Friedrich Engels (Schluß)
Unser Proudhonist ist aber mit seinen bisherigen Leistungen in der Wohnungsfrage nicht zufrieden. Er muß sie von der platten Erde in das Gebiet des höheren Sozialismus erheben, damit die doch auch hier als ein wesentlicher „Bruchtheil der sozialen Frage“ sich bewähren.
„Wir nehmen nun an, die Produktivität des Kapitals werde wirlich bei den Hörnern gefaßt, wie das früher oder später geschehen muß, z. B. durch ein Uebergangsgesetz, welches den Zins aller Kapitalien auf Ein Prozent festsetzt, wohl gemerkt, mit der Tendenz, auch diesen Prozentsatz immer mehr dem Nullpunkt zu nähern., so daß schließlich nichts mehr bezahlt wird, als die zur Umsetzung des Kapitals nöthige Arbeit. Wie alle anderen Produkte ist natürlich auch Haus und Wohnung in den Rahmen dieses Gesetzes gefaßt…Der Besitzer selbst wird der Erste sein, der seine Hand zum Verkauf bietet, da sein Haus sonst unbenützt und das in ihm angelegte Kapital einfach nutzlos sein würde.“
Dieser Satz enthält einen der Hauptglaubensartikel des Proudhon’schen Katechismus und giebt ein schlagendes Exempel von der darin herrschenden Konfusion.
Die „Produktivität des Kapitals“ ist ein Unding, das Proudhon von den bürgerlichen Oekonomen unbesehen übernimmt. Die bürgerlichen Oekonomen fangen zwar auch mit dem Satz an, daß die Arbeit die Quelle allen Reichthums und das Maß des Werths aller Waaren ist; aber sie müssen auch erklären, wie es kommt, daß der Kapitalist, der Kapital zu einem industriellen oder Handwerksgeschäft vorschießt, nicht nur sein vorgeschossenes Kapital am Ende des Geschäfts zurückerhält, sondern auch noch einen Profit obendrein. Wie müssen sich aber in allerlei Widersprüche verwickeln und auch dem Kapital eine gewisse Produktivität zuschreiben, Nichts beweist besser, wie tief Proudhon noch in der bürgerlichen Denkweise befangen ist, als daß er sich diese Redensart von der Produktivität des Kapitals aneignet. Wir haben gleich am Anfang gesehen, daß die sogenannte „Produktivität des Kapitals“ nichts anderes ist, als die ihm (unter den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen, ohne die es eben kein Kapital wäre) anhaftende Eigenschaft, sich die unbezahlte Arbeit von Lohnarbeitern aneignen zu können.
Aber Proudhon unterscheidet sich von den bürgerliche Oekonomen dadurch, daß er diese „Produktivität des Kapitals“ nicht billigt, sondern im Gegentheil in ihr die Verletzung der „ewigen Gerechtigkeit“ entdeckt. Sie ist es, die es verhindert, daß der Arbeiter den vollen
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Ertrag seiner Arbeit erhält. Sie muß also abgeschafft werden. Und wie? Indem der Zinsfuß durch Zwansgesetze herabgesetzt und endlich auf Null reduzirt wird. Dann hört nach unserem Proudhonisten das Kapital auf produktiv zu sein.
Der Zins des ausgeliehnen Geldkapitals ist nur ein Theil des Profits; der Profit, sei es des industriellen, sei es des Handelskapitals, ist nur ein Theil des, in Gestalt von unbezahlter Arbeit, der Arbeiterklasse durch die Kapitalistenklasse abgenommenen Mehrwerths. Die ökonomischen Gesetze, die den Zinsfuß regeln, sind von denen, die die Rate des Mehrwerths regeln, so unabhängig, wie dies überhaupt zwischen Gesetzen einer und derselben Gesellschaftsform stattfinden kann. Was aber die Vertheilung dieses Mehrwerths unter den einzelnen Kapitalisten angeht, so ist klar, daß für Industrielle und Kaufleute, die viel von anderen Kapitalisten vorgeschossenes Kapital in ihrem Geschäft haben, die Rate ihres Profits in demselben Maß steigen muß, wie – wenn alle anderen Umstände sich gleichbleiben – der Zinsfuß fällt. Die Herabdrückung und schließlich: Abschaffung des Zinsfußes würde also keineswegs die sogeannte „Produktivität des Kapitals“ wirklich „bei den Hörnern fassen“, sondern nur die Vertheilung des der Arbeiterklasse abgenommenen unbezahlten Mehrwerths unter die einzelnen Kapitalisten anders regeln, und nicht dem Arbeiter gegenüber dem industriellen Kapitalisten, sondern dem industriellen Kapitalisten gegenüber dem Rentier einen Vortheil sichern.
Proudhon, von seinem juristischen Standpunkt aus, erklärt den Zinsfuß, wie alle ökonomischen Thatsachen, nicht durch die Bedingungen der gesellschaftlichen Produktion, sondern durch die Staatsgesetze, in denen diese Bedingungen einen allgemeinen Ausdruck erhalten. Von diesem Standpunkt aus, dem jede Ahnung des Zusammenhanges der Staatsgesetze mit den Produktionsbedingungen der Gesellschaft abgeht, erscheinen diese Staatsgesetze nothwendigerweise als rein willkürliche Befehle, die jeden Augenblick ebensogut durch ihr direktes Gegentheil ersetzt werden können. Es ist also nichtsleichter für Proudhon, als ein Dekret zu erlassen – sobald er die Macht dazu hat – wodurch der Zinsfuß auf ein Prozent herabgesetzt wird, Und wenn alle anderen gesellschaftlich Umstände bleiben, wie sie waren, so wird dies Proudhon’sche Dekret eben nur auf dem Papier existiren. Der Zinsfuß wird sich nach wie vor nach den ökonomischen Gesetzen regeln, denen er heute unterworfen ist, trotz aller Dekrete; kreditfähige Leute werden nach Umständen Geld zu 2, 3, 4 und mehr pCt aufnehmen, ebensogut wie vorher, und der einzige Unterschied wird der sein, daß die Rentiers sich genau vorsehen, und nur solchen Leuten Geld vorschießen, bei denen kein Prozeß zu erwarten ist. Dabei ist dieser große Plan, dem Kapital seine „Produktivität“ zu nehmen, uralt, so alt wie die – Wuchergesetze, die nichts anderes bezwecken, als den Zinsfuß zu beschränken, und die jetzt überall abgeschafft sind, weil sie in der Praxis stets gebrochen oder umgangen wurden, und der Staat seine Ohnmacht gegenüber den Gesetzen der gesellschaftlichen Produktion bekennen mußte. Und die Wiedereinführung dieser mittelalterlichen, unausführbaren Gesetze sollen „die Produktivität des Kapitals bei den Hörner fassen?“ Man sieht, je näher man den Proudhonismus untersucht, desto reaktionärer erscheint er.
Und wenn dann der Zinsfuß auf diese Weise auf Null heruntergebracht, der Kapitalismus also abgeschafft ist, dann wird „nichts mehr bezahlt, als die zur Umsetzung des Kapitals nöthige Arbeit.“ Da soll heißen, die Abschaffung des Zinsfußes ist gleich der Abschaffung des Profits und sogar des Mehrwerths. Wäre es aber möglich, den Zins durch Dekret wirklich abzuschaffen, was wäre die Folge? Daß die Klasse der Rentiers keine Veranlassung mehr hätte, ihr Kapital in Gestalt von Vorschüssen auszuleihen, sondern es selbst oder in Aktiengesellschaften für eigene Rechnung industriell anzulegen. Die Masse des der Arbeiterklasse durch die Kapitalistenklasse abgenommenen Mehrwerths bliebe derselbe, nur ihre Vertheilung änderte sich, und auch das nicht bedeutend. (…)
N° 55 Mittwoch, 10. Juli 1872
Der Staat und die Eisenbahnfrage.
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Es ist bekanntlich eine der sozialistischen Hauptforderungen, daß alle Verkehrsmittel – wie heute bereits die Post – in den Händen des Staats konzentriert werden, weil nur hierdurch die Ausbeutung des Publikums durch Einzelne verhindert und nur durch die Gesammtmittel der Verkehrs = Bereich in möglichster Vollkommenheit besorgt werden kann.
Auf dem Anfang Mai in Leipzig versammelten deutschen Handelstage – bestehend aus den Delegirten der deutschen Handelskammern – wurde nun unter Anderm auch die eisenbahnfrage diskutirt. In einer vom Ausschuß jener Corporation vorgeschlagenen Resolution über diesen Punkt heißt es unter 3):
„Abgesehen davon, ob eine Vergleichung der Staatsbahnen mit demjenigen der Privatbahnen zu Gunsten der ersteren ausfallen würde, ist eine Abhülfe der bestehenden Uebelstände von einem Uebergange des gesammten Eisenbahnbetriebs in die Hände des Staats nicht zu erhoffen.“
Beim Lesen dieser Resolution ist man leicht versucht, zu glauben, daß nur die Angst, in den Verdacht des Sozialismus zu gelangen, die Koryphäen des deutschen Handels verleitet hat, gegen ihre, durch die alltägliche Erfahrung gewonnene bessere Ueberzeugung, „Abgesehen davon, ob“ statt: „Abgesehen davon, daß“ zu setzen. Man wird in dieser Vermuthung bestärkt, wenn man den vom Delegirten Witte = Rostock gestellten Gegenantrag liest, der also lautet:
„Der deutsche Handelstag muß mit aufrichtigem Bedauern erklären, daß die seit einer Reihe von Jahren aus der Mitte des Handels und Gewerbestandes und durch dessen Organe unablässig erhobenen Beschwerden in Betreff des Verkehrs auf den deutschen Eisenbahnen bisher eine genügende Abhülfe nicht erzielt, noch in Aussicht gestellt haben, daß vielmehr die beklagten Uebelstände je länger desto empfindlicher werden. (…)
N° 56 Sonnabend, 18. Juli 1872
„Der alte und der neue Jesuitismus,
Oder die Jesuiten und die Freimaurer“ ist der Titel einer „Klostergefängnisarbeit“ von Berhard Becker, die wir unseren Lesern nur empfehlen können. Nicht als ob wir dem Verfasser in jedem Punkte beistimmen. Er überschätzt unzweifelhaft die Bedeutung des Freimaurerordens. Daß derselbe in der Welt eine politische Rolle gespielt hat und noch spielt, daß er in Deutschland speziell ein propagandistisches Werkzeug des preußischen Partikularismus ist, kann Niemand bestreiten; es ist aber entschieden zu weit gegangen, wenn das „Preußische Kaiserreich als eine Schöpfung der Freimaurer“ bezeichnet wird. (S. 19) Der Freimaurerorden hat zur Herbeiführung des Kaiserreiches mitgewirkt – wenn auch nicht annähernde in dem gleichen Maße wie das Berliner Preßbürau und die mit demselben verbundene Bücherfabrik der Droysen, Sybel, Mommsen und Konsorten – allein gemacht hat er es nicht; das Kaiserreich wäre auch ohne Freimaurerorden gekommen, denn es ist seinem Wesen nach ein nothwendiges Produkt der politischen und ökonomischen Zustände Deutschlands und des übrigen Europa – Zustände, welche die preußische Regierung verstanden und klug ausgenutzt hat, während ihre Nebenbuhlerin, die östereichische, in stupider Verkennung der Zeitbedürfnisse, über den obendrein mit Windeiern gefüllten Eulennestern der Vergangenheit brütete und sich die frischen Früchte der Gegenwart vor der Nase wegstibitzen ließ. Doch das im Vorbeigehen. Sehr gut zeigt die Broschüre den jesuitischen Charakter des heutigen Staats und der heutigen Gesellschaft, und lehrreich ist besonders das Kapitel von der „jesuitischen Sittlichkeit“ und dem „Begriff der Moral überhaupt“. Wir theilen den Schluß der Broschüre mit:
„Am 6. März des laufenden Jahres äußerte Bismarck im Berliner Herrenhause (siehe Frankfurter Zeitung vom 8. März 1872, zweites Blatt, Nummer 68):
„Es gibt eine Partei, deren Ideal in der Zeit liegt, in der das Kommando des Rittmeisters schwächer wird als der Einfluß des Beichtvaters….Dieses Ideal unzuverlässiger Rekruten
wird nicht erreicht werden…“
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In diesen Bismarck’schen Worten ist die Bedeutung der ganzen kirchlichen Bewegung der Neuzeit trefflich charakterisirt. Mit den lauteren Ideen der Gegenwart, mit den Forschungen der Wissenschaft, mit dem Ringen der arbeitenden Klassen nach Gleichberechtigung und nach Abschaffung der von einseitigen Gesetzen geschützten Ausbeutung der Händekraft hat der wüste Katholiken = Lärm nicht das Entfernteste zu thun. dieser Kampf der modernen Jesuiten gegen die alten Ordensbrüder ist ein Streit unter Sumpfbewohnern. Es ist ein Herrschaftshader der Reaktionäre untereinander. Es ist ein widerlicher Krakehl, von welcher Seite man ihn auch betrachten möge. Dem Junker Rittmeister ist bange, daß ihm der Mann der Kutte die Rekruten unfolgsam macht. Mit anderen Worten, es handelt sich darum, ob der Staat der Bevorrechteten ein kaiserlicher Militär = und Gamaschenstaat oder ein päpstlicher Pfaffenstaat sein, ob der Krummstab oder der Säbel über die leidende, ausgebeutet Menschheit führen soll. Bisher hatten wir allen Grund zur Annahme, daß diese Frage bereits durch die große geschichtliche Thatsache entschieden und ins Trockne gebracht worden wäre. Im Mittelalter war ein solcher Kampf am Platze; jetzt von der Höhe der Neuzeit aus besehen, erscheint er dagegen als Lappalie, ja noch mehr, als Karrikatur und Faschingsposse. Aber dieser galvanisirte Krieg zwischen den Unken und den Fröschen zeigt uns, in welchen Träumen sich die zäsaristische Gevatterschaft wiegt. Schon dünken sich die Kaiserlichen die Herren der Welt. (…)
Doch das preußisch = deutsche Kaiserthum merkt selber, daß es nicht mehr in die neue Zeit paßt. Es fühlt sich unheimlich. Es ist nach Römerzügen und ruhmänischen Türkenkriegen lüstern. Aber das heilige römische Reich deutscher Nation läßt sich nicht wiederherstellen. (…)
Bebels Rede in der Jesuitendebatte des Reichstags vom 17. Juni 1872.
Meine Herren, der englische Kulturhistoriker Buckle sagt in seiner Geschichte der Civilisation, daß der beste Maßstab für die Kultur eines Volkes der sei, welche Bedeutung das Volk religiösen Streitgkeiten beilege, und er geht dabei von der Ansicht aus, daß, jemehr in in einem Volke religiöse Streitigkeiten vorhanden seien, um desto niedriger die Kulturstufe sei, die es einnehme. Meine Herren, ist diese Auffassung richtig – und sie ist es nach meiner Ueberzeugung – dann ist es allerdings mit dem deutschen Volke und seiner Kultur sehr traurig bestellt. Meine Herren, es werden hier in einer Session Wochen und Monate lang Sitzungen gehalten, es werden großartige Gesetze berathen, die das Volk in die bedeutendste Mitleidenschaft führen; aber, meine Herren, bei keinem dieser Gesetze hat man es der Mühe werth gefunden, mit solcher Gründlichkeit zu Werke zu gehen als mit dieser Sache, welche ich nach meiner Ansicht gar keine Bedeutung beilegen kann. Denn, meine Herren, dieser Religionsstreit, richtig aufgefaßt, ist nicht weiter als ein Scheingefecht, eine Komödie, dazu bestimmt, das Volk von seinen wahren Interessen abzuziehen, es glauben zu machen, daß hier wirklich in dem Streit um religiöse Dogmen sein Heil und seine Zukunft begründet liegen. Meine Herren, die religiösen Anschauungen, die politischen Institutionen und sozialen Einrichtungen eines Volkes sind jederzeit harmonisch – Eins resultirt aus dem Anderen, und
wenn wir die beiden hier einander gegenüberstehenden Parteien, die auf das lebhafteste sich bekämpfen, charakterisiren wollen, dann können wir sagen, daß der Katholizismus das Prinzip der Vergangenheit, den mittelalterlichen Staat vertritt, der Protestantismus den modernen Staat. Meine Herren, wenn es den Herren von der ultramontanen Partei gelungen ist, eine größere Zahl ihrer Vertreter in den Reichstag zu bringen, dann ist ihnen das nicht möglich gewesen, weil sie bestimmte religiöse Anschauungen haben, sondern weil sie mit den religiösen Anschauungen zugleich ganz bestimmte soziale und politische Anschauungen und Grundsätze vertreten. (…)
N° 57 Mittwoch, 17. Juli 1872
Die Internationale in Amerika.
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Unsere Leser werden aus unseren amerikanischen Korrespondenzen bereits ersehen haben, daß in den vereinigten Staaten unter den Mitgliedern der Internationale eine Spaltung eingetreten ist. Was sich in New York in den letzten Monaten ereignet hat, ist in der that so neu in der Geschichte der Internationalen, daß es im Zusammenhng dargestellt zu werden verdient. Wir legen dabei einen Artikel der „Emmancipation“ von Madrid (22. Juni) zu Grunde und ergänzen ihn aus den uns vorliegenden Original = Dokumenten.
Bekanntlich haben in Europa die Bourgeoisie und die Regierungen aus der Internationalen einen erschrecklichen Popanz gemacht, der auch seinen Zweck erfüllte und alle guten Bürger so entsetzt hat, daß niemand zu befürchten braucht, die Internationale werde je durch einen Massenzutritt bürgerlicher Elemente ihren ursprünglichen Zwecken entfremdet werden. In Amerika geht das ganz anders. Dinge, worüber europäische Bourgeois und Regierungen in Krämpfe geraten, erscheinen dort im Gegentheil interessant. Eine Gesellschaft, die ohne grundbesitzenden Adel und ohne Monarchie auf rein bürgerlicher Grundlage großgewachsen ist, lacht über die kindischen Todesängste der europäischen Bourgeoisie, die noch immer nicht – auch in Frankreich wenigstens geistig nicht – der Zuchtruthe der Monarchie und des Adels entwachsen ist. Je fürchterlicher also die Internationale also in Europa erschien, je ungerheuerlicher die Korrespondenten der amerikanischen Presse sie darstellten – und Niemand versteht greller zu malen als diese Herren – desto mehr fand man in Amerika, daß die Internationale sich jetzt dazu eigne; kapital aud ihr herauszuschlagen, Geldkapital und politisches Kapital. (…)
Der Krieg kam endlich zum Ausbruch zwischen den Staats = Ausbeutern, Stellenjägern, Freiliebenden, Geisterklopfern und anderen bürgerlichen Schwindlern auf der einen Seite, und auf der anderen den Arbeitern, die in ihrer Einfalt sich in der That eingebildet hatten, die Internationale Arbeiter = Association sei, auch in Amerika, eine Organisation nicht der Bourgeois, sondern der Arbeiterklasse. Die deutsche Sektion Nr. 1 verlangte vom Central = Komitee die Entfernung der Sektion 12 und die Ausschließung der Delegirten aller Sektionen, die nicht aus mindestens zwei Dritteln von Lohnarbeitern beständen. Auf diese Forderung hin spalteten sich das Centralkomtee; ein Theil der Deutschen und die Irländer nebst einigen Franzosen unterstützten die Sektion 1, während die Amerikaner nebst der Mehrzahl der französischen und zwei deutschen (Schweizerischen) Sektionen ein neues Centralkomitee bildeten. (…)
Politische Uebersicht.
Von unserm heidenmäßig vielen Geld, auf das die Milliardebegeisterten Patrioten seit länger als einem Jahr pochen – im Geiste hoffend, die blanken Goldfrancs in ihre Taschen wandern zu sehen, ist merkwürdigerweise nirgends was zu finden. Anläßlich der jüngsten Verhandlungen mit Frankreich über die Zahlungstermine der letzten drei Milliarden sagt der conservative, aber vom Berliner Preßbureau unabhängige „Nürnberger Correspondent“:
„Es ist unwahr, wenn die Provinzial = Correspondenz“ versichert, Deutschland habe finanziell die entfernteren Zahlungstermine ruhig abwarten können. Deutschland und Norddeutschland insbesondere braucht die halbe Milliarde, welche jetzt in einigen Wochen eingehen soll, ganz nothwendig. (…)
N° 58 Sonnabend, 20. Juli 1872
Was die Bourgeoisie unter „Recht“ versteht. II.
In Nr. 31 des „Volksstaat“ theilten wir einen Artikel der Berliner „Volkszeitung“ (betitelt „Hochverräther und Demagogen“) mit, in dem das Leiborgan der angeblich den „Rechtsstaat“ erstrebenden Preußischen Fortschrittspartei durchzuführen suchte, daß die Verurtheilung der Leipziger „Hochverräther“ juristisch zwar nicht gerechtfertigt sei, daß die Geschworenen aber trotzdem ganz Recht gehabt, ihr Schuldig über Männer auszusprechen, die nach dem „Volksgefühl“, d. h. nach dem Gefühl des Artikelschreibers und seiner Parteigenossen, der Fortschritts = Bourgeois, das Verbrechen des Hochverraths
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(nämlich des Hochverraths an den Gesellschafts = und Eigenthumsbegriffen der Fortschritts = Bourgeoisie) begangen hätten. (…)
Politische Uebersicht.
Gegen die Republik. Als Ende 1870 von unsern Reichstagsabgeordneten ausgesprochen wurde, daß Graf Bismarck den Krieg nach Sedan blos noch gegen die Republik führe, wurde dies Seitens der Gegner in Wort und Schrift auf das Entschiedenste bekämpft und gesagt, für den genialen Staatsmann sei es völlig gleichgültig, ob Frankreich eine monarchische Reichsverfassung habe oder nicht, Das dies falsch ist, liegt für Jeden, der denken und die Handlungen auf ihre Beweggründe zurückführen kann, von vornherein auf der Hand; und daß Graf Bismarck nach Sedan von dem Gedanken beherrscht wurde, um jeden Preis die Republik zu vernichten und das Kaiserreich des „lieben Bruders auf Wilhelmshöhe“ wieder herzustellen, wird durch tausend Thatsachen bewiesen, während nicht eine sich finden läßt, die auf das Gegentheil hindeutete. (…)
N° 59 Mittwoch, 24. Juli 1872
Politische Uebersicht.
Eine kleine Reminiszenz. Im Frühjahr 1813 sagte bei der Haustafel zu St. Petersburg die Kaiserin von Rußland: „Aber Herr Baron, wenn jetzt das deutsche Volk auch nur einen einzigen Franzosen über die Grenze läßt, dann werde ich es mein Leben lang verachten.“ Der Angeredete erhob sich, blaß vor Zorn und erwiderte: „Kaiserliche Majestät, Sie würden Unrecht haben, das Deutsche Volk zu verachten; ich weiß, wie das Volk bereit war, überall seine Pflicht zu thun. Hätte man es zu gebrauchen gewußt, kein Franzose wäre an die Elbe, geschweige denn an den Dnieper gekommen. Nicht das Deutsche Volk, sondern Ihre Vettern, die Deutschen Fürsten, tragen die schuld an unserer Schmach.“
Der Mann, der so sprach, war der Freiherr von Stein, dessen Denkmal neulich enthüllt wurde. Er ist längst todt, kann also vom Staatsanwalt nicht wegen Majestätsbeleidung belangt werden; wenn er aber heut lebte, dann wäre er, der Mann, der niemals das Rückgrath zu beugen vermochte und Knechtsinn für das ekelhafteste aller Laster hielt, sicherlich anders vom Deutschen Volk, wenn auch nicht von den Deutschen Fürsten, urtheilen. –
N° 60 Sonnabend, 27. Juli 1872
Politische Uebersicht.
Ein leutseliger Prinz. Durch die patriotischen Zeitungen geht jetzt die hochinteressante Nachricht, daß „unser Fritz“, nicht Fritz Hatzfeld, geborener Mende, sondern Fritz, Kronprinz von Preußen und – wenn sein Vater nicht das neue Reich überlebt – künftiger Deutscher Kaiser, in Potsdam die dortige militärische Badeanstalt zu besuchen und sich mitten unter den gemeinen Soldaten zu baden pflegt, Nun, Reinlichkeit ist eine schätzbare Eigenschaft, und über den Geschmack läßt sich nicht streiten. Jedenfalls ist es kein schlechtes Zeichen, daß unsere Fürsten schon zu derartigen Kunststücken ihre Zuflucht zu nehmen für nöthig halten. Indeß hat die Sache doch auch ihr Bedenkliches. Von Fürsten gilt in weit höherem Gradeals von anderen Menschen das Sprichwort: „Kleider machen Leute,“ und wenn die Pommerischen und Märkischen Gott =, König, = und Vaterland = Soldaten „ihren Kronprinz“ zu oft in puris naturalibus sehn, und sich überzeugen, daß er im Naturzustand nur ist, was sie selber sind und vielleicht etwas weniger, dann könnten sie sehr leicht zu der hochverrätherischen Schlußfolgerung gelangen, daß das Königthum nur in Kleidern steckt, und es wäre nicht unmöglich, daß in der militärischen Badeanstalt zu Potsdam das „Steinchen“* sich fände, über das unsere nationale Presse seit drei Wochen mit denkervölkischen Ernst und Scharfsinn nachgrübelt. –
*Vor mehreren Wochen schrieb der Papst in einem Hirtenbriefe von einem „Steinchen“, das, wenn es ins rollen käme, „den thönernen Koloß, genannt deutsches Reich, zertrümmern werde.“
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N° 61 Mittwoch, 31 Juli 1872
Politische Uebersicht.
Der deutsche Servilismus, der seine Säfte vornehmlich aus dem „Heldengreis“ und dem „Genialen“ zieht, und sich in zweiter Linie dem „liberalen“ Kronprinzen zuwendet, der bekanntlich zu seiner ältesten Tochter „Dicke Lotte“ sagt, - der deutsche Servilismus hat sich neulich ein 10jähriges Kind zum Objekt seiner Nahrung ausgesucht. „Prinz Heinrich, der zweite sohn des Kronprinzen, wird am 14. August zehn Jahre alt und tritt dann als Seekadett in die Marine“, verkündet die „Köln Ztg.“. „Freuen wir uns daher der Theilnahme, welche der deutschen Seemacht von oben her zu Theil wird, und wünschen wir unserem jungen Prinzen „Heinrich dem Seefahrer“ Glück und Heil!“ (…)
Gegenüber dieser Kriecherei erinnert die „Süddeutsche Post“ an den Ausspruch des „alten Fritz“: „Junge Grafen, die nichts lernen, seindt Ignoranten bey allen Landen, in England ist der Sohn des Königs nur Matrose auf ein Schiff, um die Manoeuveres (Manöver) dieses Dienstes zu lernen, Im Fall nun einmal ein Wunder geschehen und aus einem Grafen etwas werden sollte, so Mus er sich auf Titel und geburth nichts einbilden, den das seindt nur narrenpossen, sondern es kömt nur allezeit auf seine Merit personell an. Die „Süddeutsche Post“ meinte jedenfalls selber nicht, daß sich ihr Citat auch auf den „Prinzen“ Heinrich anwenden lasse. (…)
N° 62 Sonnabend, 3. August 1872
Politische Uebersicht.
Es vergeht kein Tag, ohne daß die deutschen Zeitungen über Mißhandlungen von Soldaten durch ihre Vorgesetzten zu berichten hätten: Mißhandlungen, die nicht selten zum tod, häufig zum Selbstmord der Betroffenen, in keinem Fall aber zur entsprechenden Bestrafung des schuldigen Vorgesetzten führen. (…)
Einige Bemerkungen über Produktionsgenossenschaften
Aus dem Bericht des Herrn Kreuzler in Würzburg.
Die Nummer 59 des „Volksstaat“ enthält einen Bericht aus Würzburg, demnach eine Anzahl der besten Arbeiter sich geeinigt hat, eine Produktionsgenossenschaft der Schneider zu gründen, und ihre Collegen ersucht, ihnen in dieser Beziehung mit Rath beizustehen. Wenn ich nun auch gerade nicht College bin, so war mir doch bereits Gelegenheit gegeben, diese Frage der Erwägung zu unterziehen. Als in diesem Frühjahr in Königsberg der Strike der Schneider ausbrach, machte ich denselben den Vorschlag, ein Arbeitsbüreau zu gründen, daß später die Grundlage einer Produktionsgenossenschaft bilden könnte. Während des Strikes war zu letzteren keine Zeit; das Arbeitsbüreau sollte augenblicklichen Bedürfnissen etwas abhelfen, zu gleicher Zeit war es auch ein Mittel, eine Pression auf die Arbeitgeber zu üben. Das Arbeitsbüreau hat verhältnismäßig hat bisher wenig leisten können und da nach Beendigung des Strikes in der für das Schneiderhandwerk lebhaftesten Saison die einzelnen Kräfte hinreichend in Anspruch genommen waren, als daß sie sich auf so neue Versuche einlassen konnten, so blieb die Ausführung des weitergehenden Planes noch ausgesetzt, während das Arbeitsbüreau noch besteht und einzelne Bestellungen des Publikums selbstständig übernimmt.
Gerade bei der Gründung einer Produktions = Genossenschaft kommt es wesentlich auf die Prinzipien an, von denen dieselbe ausgeht. Nichts ist widerlicher, wie Lassalle sagt, als Genossenschaften von Arbeitern „mit Arbeitsmitteln und Kapitalistengesinnungen“. Der sozialistische Gedanke, daß der volle Ertrag der Arbeit gebührt, muß zur Geltung kommen. Würden nun beispielsweise die sich associirenden Schneider in Würzburg in der Lage sein, daß sie sämtlich vollständig von der Genossenschaft beschäftigt werden, so wäre diese Frage
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leicht erledigt; der betreffende Geschäftsgewinn würde einfach verhältnismäßig dem gezahlten üblichen Arbeitslohn hinzugerechnet werden. Es tritt nun die Frage nahe: Können diejenigen Würzburger Schneider, welche sich verbinden wollen, ihr Unternehmen gleich in der Ausdehnung begründen, daß sie Allen ausreichende Beschäftigung gewähren? Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte dies nicht der Fall sein. Würde nun der Gewinn nach der Kopfzahl oder nach der Höhe der Geld = Einlagen bemessen werden, so würde durch die Arbeiter selbst die kapitalistische Produktionsweise gebilligt. Hiervon ist vollständig abzusehen. (…)
N° 63 Mittwoch, 7. August 1872
Politische Uebersicht.
In seiner Schrift: „Das Eigenthum ist Diebstahl“*), welche schon vor der französischen Revolution erschien, sagt Brissot, der später der zweite Führer der Girondisten wurde – der erste war, bezeichnend für diese Partei von Redekünstlern und Parlamentsschauspielern, eine Frau, die Roland –, es sei unmöglich, die Grenzlinie zwischen „ehrlichen“ und „unehrlichen“ Wettbewerb zu ziehen, und ein Spekulant unterscheide sich in nichts Wesentlichem von einem Spitzbuben. Als Brissot Führer der die Bourgeoisie vertretenen Girondisten ward und in dieser Eigenschaft für die „Heiligkeit des Eigenthums“ einstehen mußte, hatte er viel von dieser „Jugendsünde“ zu leiden, die seine Gegner ihm unverdrossen vorhielten, allein das erschütterte nicht die Richtigkeit des von ihm aufgestellten Satzes. Daß das Börsenspiel – um von den andern Methoden des Erwerbes nicht zu reden – auf den schamlosesten Diebstahl hinausläuft, wird heute selbst von den Vertretern der Bourgeoisgesellschaft ziemlich allgemein anerkannt. (…)
Die angeblichen sozialen Theorien und die wirklichen politischen Bestrebungen des Herrn Bakunin.
Vorwort.
Auf Seite 11 seiner Schrift „l’Empire Knouto – Germanique et la Révolution Sociale*)“ empfielt Herr Bakunin der Demokratie die Tugend des Mißtrauens, „weil die Demokratie zu allen Zeiten das Opfer und der Geprellte aller ehrgeizigen und intriguanten Klassen und Individuen gewesen ist, , die sie unter dem Vorwande, sie zu leiten und zum sicheren Hafen zu führen, abscheulich ausgebeutet und betrogen haben.“ (…)
Der angebliche Collektivismus des Herrn Bakunin.
Die letzte Nummer der Herzen = Ogareff’schen „Glocke“, erschienen am 1. Dezember 1868, brachte einige kurz zuvor von Herrn Bakunin auf dem Friedenskongreß zu Bern gehaltenen Reden. In der zweiten Sitzung des Kongresses beantragte Herr Bakunin: „als die dringlichste Frage die der „égalisation économique et sociale des classes et des individus“ (ökonomischen und sozialen Nivellirung der Klassen und Individuen) als nothwendig zur Verwirklichung von Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden anzuerkennen und auf die Tagesordnung zu setzen.“ „Eure schöne Civilisation, ihr Herrn vom Westen“, sagte Herr Bakunin zur Motivirung seines Antrags, „auf die ihr uns Barbaren des Ostens gegenüber so stolz seid, ruhte von jeher und heute noch auf der ausschließlich physischen Zwangsarbeit einer ungeheuren Majorität, die Mitten in allen euren Freiheiten sklavisch bleibt, einer Majorität, die thierisch zu leben verurtheilt ist, damit eine kleine exklusive Minderheit menschlich lebe…Und diese monströse Ungleichheit der Lebensbedingungen in eurem System ist nicht etwas, was sich mit der Zeit von selbst verbessert, sondern liegt in dem Geiste dieser Civilisation selbst als ewige Nothwendigkeit, weil eure Civilisation wesentlich beruht auf der absoluten Trennung der geistigen von den körperlichen Arbeiten. Dieser Zustand kann nicht von Dauer sein. Die Arbeiter Europas, sich mehr und mehr vereinend, sind entschlossen, die Politik in die eigenen Hände nehmen; ihre Politik selbst zu machen, d. h. die Politik der Emanzipation der Arbeit
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von dem drückenden und gehässigen Joch des Kapitals. Sie wollen auch Menschen sein durch Intelligenz, Wohlstand und Freiheit. Sie wollen, daß es statt der bisherigen zwei Klassen nur noch eine einzige Gesellschaft gebe, die, auf die Gerechtigkeit und die Arbeit gründet, Allen den gleichen Ausgangspunkt, gleichen Unterhalt, gleiche Erziehung und gleichen Unterricht in allen Graden des Wissens, dieselben Arbeitsmittel biete und – nicht durch Gesetze, sondern durch die Natur ihrer Organisation selbst – Jeden in gleicher Weise zwinge, so gut mit dem Kopfe als mit den Händen zu arbeiten.“ (Kolokol, 1868, Seite 211, 212.)
In einer zweiten, im Laufe derselben Sitzung gehaltenen Rede sagte Herr Bakunin u. A.:
„Weil ich die ökonomische und soziale Gleichmachung der Klassen und Individuen fordere, weil ich mit dem Brüsseler Kongreß mich für das Collektiveigenthum erklärt habe, hat man mir vorgeworfen Communist zu sein. Welchen Unterschied, hat man mir gesagt, machen Sie zwischen Communismus und Collektivismus? Ich bin wirlich erstaunt, daß Herr Chaudey, der Testamentsvollstrecker Proudhons, diesen Unterschied nicht kennt. Ich verabscheue den Communismus, weil er die Verneinung der Freiheit ist und ich nichts Menschliches denken kann ohne Freiheit. Ich bin kein Communist, weil der Communismus alle Kräfte der Gesellschaft konzentrirt und aufgehen läßt im Staate, weil er nothwendig zur Centralisation des Eigenthums in den Händen des Staates führt, während ich die Abschaffung des Staates überhaupt will. Ich will de Organisation des Staates und des collektiven und sozialen Eigenthums von unten nach oben durch die Stimme der Genossenschaft, und nicht von oben nach unten durch irgend eine Autorität. Indem ich die Abschaffung des Staates will, will ich die Abschaffung des persönlichen Erbeigenthums, das nur die Staatseinrichtung, nur eine Consequenz des Prinzips des Staates ist. In diesem Sinne, meine Herren, bin ich Collektivist und durchaus kein Communist. „Jetzt will ich sagen, was ich unter ökonomischer und sozialer Gleichmachung der Individuen verstehe. Die politische Gleichheit, die Gleichheit der politischen Rechte ohne die ökonomische, ist eine Lüge. Soll sie eine Wahrheit werden, dann müssen die ökonomischen Ursachen des Klassenunterschiedes verschwinden, – es muß das Erbrecht abgeschafft werden, welches die beständige Quelle aller sozialen Ungleichheiten ist. (…)
N° 66 Sonnabend, 17. August 1872
Die angebliche sozialen Theorien und die wirklichen Bestrebungen des Herrn Bakunin.
II. Der Anti = Collektivismus des Herrn Bakunin.
Von den blauen Republikanern zu Bern war Hr. Bakunin Derjenige, der „alle Staaten“ „abschaffen“ will, Auch die Republik. Denn auch sie mit ihrer ganzen „heuchlerischen Civilisation“ beruht ja nach Herrn Bakunin darauf, daß nur die Bourgeois denken und gebildet sind, während die Arbeiter eine sklavisch = thierische Existenz führen. Es ist unbegreiflich, wie die Herren zu Bern das ihnen vorgelegte Programm ablehnen konnten: predigt nich die
Bourgeoisie seit hundert Jahren die „Abschaffung des Staats“ und die Ersetzung desselben durch „Freiheit“ d. h. durch Angebot und Nachfrage? (…)
Wenn die Theorie von der „Abschaffung des Staats“ richtig war, so waren Freiheit und Republik ebensolche Gegensätze, wie Freiheit und Monarchie. Ja noch unversöhnlichere, weil die Republik doppelgängerisch die Maske der Freiheit sich anmaßt. Der Krieg zwischen einer Republik und einer Monarchie konnte also Herrn Bakunin nur insofern angehen, als er ihm Gelegenheit gab, seine Theorie von der „Fäulniß der westlichen Civilisation“ und von der Nothwendigkeit, den Staat abzuschaffen auch an der Republik aufzeigen. (…)
N° 68 Sonnabend, 24. August 1872
Die angeblichen sozialen Theorien und die wirklichen politischen Bestrebungen des Herrn Bakunin.
VI. Die „Internationalität“ des Herrn Bakunin.
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Herr Bakunin verwendet einige Kapitel seiner Broschüre über das „deutsche Knutenreich“ darauf, seinen französischen Lesern zu erzählen, daß die deutsche Bourgeoisie tief unter der Bourgeoisie aller anderen Länder stehe, indem sie seit 300 Jahren nie, auch nicht in der Idee, der Freiheit, sondern nur dem Knechtssinn gehuldigt habe. Die Deutschen haben, entwickelt Herr Bakunin auf S 91 der erwähnten Schrift, nicht nur ihre eigene, sondern auch die Sklaverei Rußlands auf dem Gewissen. Denn die altrussische Sklaverei war ein naturwüchsiger Zustand, der sich unter dem Einfluß der Ideen des Westens in liberalem, demokratischen, humanem Sinn entwickeln konnte und mußte, wenn er nicht von den Deutschen mit ihrer polizistischen, bureaukratischen und militärischen Wissenschaft zu einem förmlichen System ausgebildet worden wäre. Die Czaren sind Deutsche, und durch Deutsche herrschen sie. Die Russen aber, Volk von Adel und Popen (Geistlichkeit), strengen sich an, das deutsche Joch abzuschütteln. (…)
Herr Bakunin versteigt sich zu der Behauptung, nicht nur aller revolutionären That, sondern sogar jeden liberalen Gedankens sei Deutschland seit mehr als 300 Jahren – seit Ulrich von Hutten – baar und unfähig. Zur Widerlegung dieser Behauptung brauchen wir nur auf die zahlreiche Dichter und Schriftsteller hinweisen, und in deren Werken die reinste Humanität, der edelste Bürgersinn und die glühendste Freiheitsliebe ausgeprägt ist. Von ihnen allen weiß Herr Bakunin nur den einen Arndt zu nennen, und auch von diesem kennt nur die Worte: „So weit die deutsche Zunge klingt“ und „Mein Vaterland muß größer sein!“*)
*Anmerkung der Redaktion: Herr Bakunin hat nicht immer über die Deutschen so verächtlich gedacht: Im April 1870, als er es versuchte, sich in den „Volksstaat“ einzuschmuggeln, wußte er sehr wohl zwischen dem „idealen“ und dem „offiziellen“ Deutschland zu unterscheiden. So sagte er in seinem „Briefe über die revolutionäre Bewegung in Rußland“ („Volksstaat“ vom 16. April 1870) – in welchem er sich beschwert, daß die Deutschen, „die in so großem Rufe des Wissens und der Ehrlichkeit stehen und überdies durch eine merkwürdige Fähigkeit ausgezeichnet sind, die Menschen und die Dinge, ebenso wie die Nationen und die Individuen, in ihrer nackten und lebendigen Wirklichkeit, in ihrer objektiven Wahrheit zu erfassen, – sobald es sich um die Russen und Rußland handelt, alle diese ihre Nation auszeichnenden, hervorragenden Eigenschaften verläugnen“ – „Von Lomonossow an (Mitte des 18. Jahrhunderts) bis auf diesen Tag und besonders während der letzten 30 Jahre der Sklaverei unter Nicolaus, war die Wissenschaft, die Philosophie, die Poesie und die Musik Deutschlands unsere Zuflucht und unser einziger Trost.“ –
N° 70 Sonnabend, 31. August 1872
Das Werk von Karl Marx. I.
Als im Jahre 1859 die Marx’sche Schrift „Zur Kritik der politischen Oekonomie“ erschien, da schlummerte die deutsche Arbeiterbewegung, um dem ersten kurzen Erwachen in den Jahren 1848 – 1850 zu träumen und sozusagen unter der Decke zu wachsen. Die wissenschaftliche That, welche Marx in genannter Schrift zu Gunsten der Arbeiter vollführte, war nur Wenigen und diese Wenigen waren keine Arbeiter. Allein das dargeliehene Pfund ward trotzdem nicht vergraben. Die Verhältnisse machten sich geltend; unter dem Druck derselben fing der Riese Arbeiterstand an, sich zu recken und zu strecken, so daß schon im Winter 1862 – 1863 an seine Organisation zu selbstständiger Thätigkeit geschritten werden mußte. Die Lassalle’schen Schriften erschienen. Sie boten neben vielen Selbstständigen und Genialen in vortrefflicher, populärer Sprache auch das, was Marx auf den Tisch der Wissenschaft ausgebreitet hatte.
Aber damit nicht genug. Die Wissenschaft des vierten Standes wuchs mit dem vierten Stand selbst. Und es konnte nicht anders sein, denn ein Stillstand würde Rückschritt, ein Wegwerfen der Leuchte der Wissenschaft aber Verzicht auf Fortschritt bedeutet haben.
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So geschah denn bald eine neue wissenschaftliche That: 1867 erschien ein zweites national = ökonomisches Werk von Karl Marx, betitelt „das Kapital.“
Dieses Werk war epochemachend, trotzdem erst ein Theil desselben die Presse verlassen hat. Die National = Oekonomie erlitt durch „das Kapital“ eine Revolution, welche zwar in ihrer Wirkung nicht mit dem Kaiserschnitt zu vergleichen ist, jedoch sich in immer weiteren unwiderstehlich einführt. Nur mit Widerstreben nahm die Presse des Liberal = Oekonomismus Notiz von den Hieben, mit welchen Marx die Manchesterschule und was mit ihr verwandt ist, in seinem Buch zu Paaren treibt. Hier und da ließ sie sich, und dann auch nur flüchtig, auf eine Kritik ein, mußte es jedoch erleben, daß selbst auf dem volkswirtschaftlichen Kongreß 1868 der Marx’schen Begründung des Begriffes Geld Anerkennung zu Theil ward. (…)
N° 72 Sonnabend, 7. September 1872
Das Werk von Karl Marx. II.
Der erste Abschnitt des Werkes, betitelt Waare und Geld, beweist schon, daß Marx sich nicht auf eine „Kritik der politischen Oekonomie“, wie dies der Titel des Werkes besagt, beschränkte, vielmehr selbstständig die Theorie weiter entwickelte und in Bezug auf Waare und Geld nebst denen daraus entsprungenem Folgerungen geradezu zur wissenschaftlichen Höhe hinanführte. Zwar ist die Ergründung der Werthsubstanz (Bestandtheile des Werthes) und der Werthgröße keineswegs neuesten Datums; ältere Wissenschaftler, besonders Engländer, wie Smith und Ricardo, haben hierbei das Meiste gethan. Marx baute auf ihnen weiter und hat da, wo man bisher im Dunkeln irrte, Licht verbreitet. Vorzüglich geschah dies durch die von ihm vollendete Zergliederung, um nicht zu sagen: Enthüllung der Werthform.
Indem Marx die zwei Faktoren der Waare: Gebrauchswerth und Werth klarstellt, bemerkt er: die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswerth. Die Nützlichkeit selbst wird durch die Eigenschaften des Waarenkörpers bedingt, so die des Weizens durch seinen Nährstoff. Der Gebrauchswerth verwirklicht sich nur im Gebrauch oder Verbrauch. Er bildet den stofflichen Inhalt des Reichthums, welches immer der letzteren gesellschaftliche Form sein möge. In der heutigen Gesellschaft bildet er zugleich den sofflichen Träger des Tauschwerthes.
Der Tauschwerth erscheint zunächst als Verhältnisgleichheit, worin sich Gebrauchswerthe einer Art gegen Gebrauchswerthe anderer Art austauschen. Also in Kürze ausgedrückt: ohne Gebrauchswerth kein Tauschwerth, mit welchem vereint ein Ding erst den Charakter einer Waare annimmt. (…)
Erst von dem Zeitpunkte an, wo die einheitliche Werthform der Waarenwelt, indem eine bestimmte Waarenart als allgemeines Aequivalent dient, Festigkeit und allgemein gesellschaftliche Gültigkeit gewonnen hat, tritt das Geld – die Geldform – auf . Die Geldform, worin sich von gesellschaftswegen alle Werthe messen, ist gegründet auf die einfache Waarenform, Gold und Silber bilden ihren stofflichen Träger. Wie jede andere Waare kann das Gold oder Silber seine eigene Werthgröße nur in Beziehung auf ander Waaren ermitteln. Sein eigener Werth ist bestimmt, durch die zu seiner Gewinnung nöthige Arbeitszeit und drückt sich in dem Werth jeder anderen Waare aus, „worin gleichviel Arbeitszeit geronnen ist.“
Die Waaren werden folglich nicht durch das Geld nach einerlei Maaß meßbar, sondern umgekehrt. Weil alle Waaren als Werthe vergegenständlicht menschliche Arbeit, daher an und für sich nach einerlei Maaß meßbar sind, „können sie ihre Werthe gemeinschaflich in derselben besonderen Waare messen und diese dadurch in ihr gemeinschftliches Werthmaaß oder Geld verwandeln. (…)
Die Umwandlung der Waare in Geld oder der Verkauf derselben erfolgt seitens des Waarenbesitzer, um dadurch in den Stand gesetzt zu werden, selbst als Käufer auftreten und somit seine Bedürfnisse befriedigen zu können. Das Geld bezieht sich also wieder auf
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eine andere oder auf mehrere andere Waaren; die erste Waare wurde verkauft, weil sie für ihren Producenten oder Besitzer keinen Gebrauschswerth enthielt. Der Werhtkörper, in den sie sich für ihn verwandelte, diente zum Ankauf von Gebrauchswerthen, gab demnach nur die Form, in welcher die Waaren ihren Werth gegenseitig ausdrücken. Und so geht es beständig weiter; jeder neue Verkauf fängt da an, wo der letzte Kauf geschlossen. Der Kreislauf, welche die eine Waare in ihrem Umwandlungsprozeß beschreibt, „verschlingt sich unentwirrbar mit den Kreisläufen anderer Waaren.“ Das Ganze diese Vorgangs stellt sich dar als Waarencirkulation, wobei das Geld die Funktion des Cirkulations = (Umlaufs =) Mittels verrichtet.
Daß das Geld nicht bloßes Werthzeichen ist, ihm aber auch durch seine bevorzugte Stellung in der Waarenwelt und Waarencirkulation mehr als ein gewöhnlicher Waarengeist innewohnt, wird nun Niemand mehr bezweifeln können. Mag die Waare Geld leiblich (Gold, Silber) oder durch ihren Stellvertreter (Papiergeld etc.) vor uns hintreten, immer wird sie in ihren verschiedenen Fuktionen die ihr von gesellschaftswegen aufgedrückte Auszeichnung bethätigen, gleichviel, ob sie als Mittel der Schatzbildung, als Zahlungsmittel oder als Weltgeld ihren Lauf erfüllt. Diese Auszeichnung liegt darin, daß das Geld als alleinige Werthgestalt des Tauschwerths allen anderen Waaren als bloßen Gebrauchswerthen gegenüber bestimmt und demgemäß, wie sich – höchst beachtenswerth – im Verfolg ergiebt, in der industriellen Gesellschaft zugleich Ausgangspunkt des Kapitals ist. (…)
Politische Uebersicht.
Eine historische Erinnerung. Am 28. Dezember 1791, als der Krieg mit dem konterrevolutionären Ausland sich als unvermeidlich herauszustellen begann, erließ die französische Nationalversammlung (die Legislative) ein Dekret zur Organisation von Freiwilligen = Bataillonen der Nationalgarde. In diesem Dekret wird Jeder, der das Bataillon vor Ablauf eines Jahres verläßt, mit der Strafe bedroht, 10 Jahre lang nicht in der Armee dienen zu dürfen! Der Zudrang unter die Fahnen war damals, das sei im Vorbeigehen bemerkt, so groß, daß man Gesetze erlassen mußte, um das Aufhören ganzer Gewerbe zu verhindern. Also nicht dienen dürfen eine Strafe! Vergleiche man dieses Dekret mit dem Auswanderungsverbot, daß die Preußische Regierung soeben erlassen hat, und wir haben einen jener geschichtlichen Contraste, die Systeme und Zeitepochen charakterisiren. (…)
N° 74 Sonnabend, 14. September 1872
Die Bartholomäusnacht.
Am 24. August war der „dreihundertjährige Gedenktag“ der Batholomäusnacht, der scheußlichsten Blutorgie des Katholizismus; und unsere „nationale“ Presse, voran das Leiborgan des Fürsten Bismarck, die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ versäumte Gelegenheit nicht, mit Behagen auf das furchtbare Schauspiel, und unter frommen Augenverdrehen zu sehen oder wenigstens anzudeuten: „Wir Protestanten sind doch bessere Menschen als diese Mordkatholiken; wir müssen unserem Schöpfer danken, daß wir einen Staatsmann haben, der uns mit seiner noch nie dagewesenen Genialität und Energie von den gottlosen Jesuiten befreit und vor einer ähnlichen Katastrophe bewahrt hat.“ (…)
Kein König ist’s, dessen Gestalt vor uns erscheint. – Nein, ein Mann des Volks, wie Viele behaupten und noch glauben, ein Mann dessen Züge uns allen bekannt sind, dessen Bildniß in der Stube weniger Protestanten, und gewiß keines protestanischen Bauers fehlt. Damals waren schlimme Zeiten für unsere Bauern; geknechtet, ausgesogen, beneideten die Bauern ihr eigenes Zug = und Lastvieh; allein sie fügten sich nicht feig in die Menschenunwürdige Lage, die Adel und Pfaffenthum ihnen bereitet. Sie ergriffen mit Begeisterung die „neue Lehre“, die ihnen „das Reich der Gerechtigkeit“ verhieß, und wollten Ernst machen mit der allgemeinen Brüderlichkeit in Christo. Sie legten den vornehmen Brüdern in Christo ihr Unglück und ihre Forderungen vor. Ihr Unglück maaßlos, ihre Forderungen wunderbar
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mäßig. Und jener Mann aus dem Volke ward gerührt; er erinnerte sich seines Ursprungs und redete den Großen ins Gewissen: „Laßt Euren steifen Muth herunter, und weicht ein wenig von Eurer Unterdrückung und Tyrannei damit der arme Mann Luft und Raum zum Leben gewinne!“
Die hohen Herren verschlossen aber die Ohren; das Placken und Schinden ging lustig weiter. Noch nicht in die Knechtseligkeit harabgesunken, die das politische Ideal der Gegenwart ist, beschlossen die Bauern zuletzt, sich selbst zu helfen. Gleiches Recht für Alle, und ein geeintes Deutschland, das war das Ideal, welches ihnen vorschwebte, und für das sie in den Kampf gingen. Sie hofften von jenem Mann aus dem Volk, welcher den Anstoß zu ihrer Bewegung gegeben, und der gestern erst seine mächtige Stimme zu ihren Gunsten erhoben hatte. Sie hatten nicht lange zu warten. Von neuem dröhnt die mächtige Stimme durch’s Land – doch, welche Enttäuschung für die gläubigen Bauern! Ein Mordruf war es, nicht der ruf nach Gerechtigkeit!
„Die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern soll man zerschmeißen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund todtschlagen muß. - - Die Obrigkeit, welche zaudert, thut Sünde, da den Bauern nicht genügt, selber des Teufels zu sein, sondern viel fromme Leut zu ihrer Bosheit und Verdammnis zwingen. –
Darum liebe Herren (vom Adel)loset hie rettet da, steche, schlage, würge sie wer da kann! Bleibst Du darüber todt, wohl Dir, seligeren Tod kannst Du nimmermehr überkommen. (…)
Der Mann aus dem Volke, der diesen wüthenden Mordruf durch die deutschen Lande ergellen ließ, war der große Reformator Luther, der gründer der protestantischen Kirche.
Wo ist der Unterschied zwischen dem: Steche, schlage, würge sie, wer da kann! Des peotestantischen Kirchengründers, und dem Tue! Tue! (schlagt sie todt! schlagt sie todt!) des katholischen Königs? Höchstens die Zahl der Opfer. Das Tue! Tue1 kostete 30,000 Hugenotten das Leben, und das: Steche, schlage, würde sie, wer da kann beförderte ungefähr doppelt so viel in das Jenseits. (…)
In neuerer Zeit sind die Religionsmetzeleien seltener geworden, und jener protestantische Pfaff, der bei dem berüchtigten Straußenputsch dem fanatischen Landvolk zubrüllte: „Im Namen Gottes schießt!*) (auf das vermaledeite Radikalengesindel) hat wenig Erfolg und, aus Mangel an Gelegenheit wenig Nachahmung gefunden.
Das Volk hat nichts gewonnen. Die Blutkleckse sind im Gegentheil häufiger als je zuvor, und wahrhaftig nicht kleiner. Der mit dem Datum 1871/72, auch „heilige Krieg“ getauft, enthält nach den, höchtswahrscheinlich weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibenden, Angaben des offiziellen Preußischen Statistikers Engel das Blut von über 40,000 deutschen Soldaten; wozu noch das von mindestens 60,000 Französischen Soldaten, Franctireurs und Bauern zu zählen ist, so daß diese verstärkte und verlängerte Ausgabe der Bartholomäusnacht, diese „Blutorgie“ des durch die Herren Bonaparte und Bismarck vertretenen Cäsarismus ca. Hunderttausend Menschen auf den Fleck gekostet hat, doppelt so viel nicht zu rechnen, die nachträglich ins Gras beißen mußten, oder verkrüppelt und siech gemacht worden sind. (…)
Genug: es war eine entsetzliche Unthat, die Massakre des 24. August 1572. Aber die Protestanten haben deshalb kein Recht, einen Stein zu werfen auf die Katholiken: denn die dem Gründer des Protestantismus wesentlich zur Last fallende Massakre des Jahres 1525 war um kein Haar breit besser. Und ihrerseits der Cäsarismus und die Bourgeoisie dürfen keinen Stein werfen auf die Urheber der Pariser Bluthochzeit, denn sis selbst haben in puncto der Mordpraxis ähnliche Resultete aufzuweisen.
Wir aber wenden uns mit gleichem Abscheu ab von dem Pfaffenthum, (dem protstantischen und katholischen), dem Cäsarismus und der Bourgeoisie: dieser unheiligen Dreieinigkeit des Mords.
*) Ende der 30 Jahre wurde David Strauß, der bekannte Verfasser des „Leben Jesu“ (jetzt Naionalliberal) von der radikalen Zürcher Regierung als Professor an die Universtät Zürich berufen. Die Pfaffen aber zeterten und hetzten so lange, bis das bethörte Landvolk
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einen konterrevolutionären Putsch machte. Der Pfaffe, der obigen Mordruf ausstieß, hieß ebenfalls Strauß.
N° 75 Mittwoch, 18. September 1872
Offizieller Bericht des Londoner Generalraths, verlesen in öffentlicher Sitzung des Internationalen Kongresses zu Haag.
Arbeiter!
Seit unserem letzten Kongreß in Basel haben zwei große Kriege das Aussehen Europas verändert: – der deutsch – französische Krieg und der Bürgerkrieg in Frankreich; ein dritter Krieg ging diesen beiden voraus, begleitete sie und wurde noch nach ihnen fortgesetzt – der Krieg gegen die International Arbeiter – Assoziation. (…)
Seine Heiligkeit Papst Pius IX. sagte in seiner Anrede an eine aus Schweizer Katholiken bestehende Deputation: Eure Regierung, welche republikanisch ist, hält sich für verpflichtet, ein schweres Opfer für das, was man Freiheit nennt, zu bringen. Sie gewährt einer Anzahl von Leuten der schlimmsten Sorte das Asylrecht, sie, jene Sekte der Internationalen, welche ganz Europa behandeln möchte, wie sie Paris behandelt hat, Diese Herren von der Internationale, die gar keine Herren sind, sind zu fürchten, weil sie für die Rechnung des ewigen Feindes Gottes und der Menschen arbeiten. Was hat man davon, wenn man sie beschützt! Man muß für sie beten.“ Erst hängt sie, dann betet sie.
Unterstützt von Bismarck, Beust und Stieber, kamen die Kaiser von Oesterreich und Deutschland Anfang September 1871 in Salzburg zusammen, um eine Heilige Allianz – so hieß es – gegen die Internationale Arbeiter = Assoziation zu stiften: „Solch eine europäische Allianz“, erklärte Bismarcks Privatmoniteur, die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, „ist die einzig mögliche Rettung des Staats, der Kirche, der Gesittung, mit einem Wort alles dessen, was die europäischen Staaten konstituirt .“ – Bismarcks wirklicher Zweck war natürlich Allianzen für einen bevorstehenden Krieg mit Rußland zu sichern und die Internationale wurde in Oesterreich nur vorgehalten, wie man einen Stier ein Stück rothes Tuch vorhält.
Lanza unterdrückte die Internationale in Spanien durch ein einfaches Dekret. Sagosta erklärte sie in Spanien für außerhalb des Gesetzes, vielleicht hoffte er sich so mit dem englischen Geldmarkte auf einen besseren Fuß zu stellen. Die russische Regierung, seit der Emanzipation der Leibeingenen auf das gefährliche Auskunftsmittel angewiesen, hatte dem populären Andrängen furchtsame Konzessionen zu machen, um sie morgen wieder zurückzunehmen, fand in dem allgemeinen Hetzruf gegen die Internationale einen Vorwand zur Verschärfung der Reaktion im Innern. Im Auslande hoffte sie hinter die Geheimnisse der Assoziation zu kommen. Es gelang ihr in der That, einen Schweizer Richter zu finden, der in Gegenwart eines russischen Spions eine Haussuchung vornahm in der Wohnung Outine’s, eines
russischen Internationalen und früheren Redakteur der Genfer Égalité, des Organs unserer Schweizer romanische Sektion. Die republikanische Regierung der Schweiz selbst wurde nur durch die Agitation der Schweizer Interationalen daran gehindert, Flüchtlinge der Kommune an Thiers auszuliefern.
Schließlich bewies die Regierung des Herrn Gladstone, außer Stande in Großbritannien einzuschreiten, wenigstens ihren guten Willen durch den Polizei = Terrorismus, den sie in Irland gegen unsere in der Bildung begriffene Sektion ausübte, und durch den Befehl an ihre auswärtigen Vertreter, Informationen über die Internationale einzuziehen. (…)
Ihr Abgeordneten der Arbeiterklasse, versammelt Euch, um die streitbare Organisation eines Bundes zu befestigen, dessen Zweck die Emanzipation der Arbeit ist und die Ausrottung der Nationalkämpfe. Fast in demselben Augenblick versammeln sich in Berlin die gekrönten Würdenträger der alten Welt, um neue Ketten zu schmieden und neue Kriege auszuhecken.
Es lebe die Internationale Arbeiter = Assoziation!
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Die bürgerliche Gesellschaft.
Ein Vortrag, gehalten vor freireligiösen Arbeitern des Wupperthals in Elberfeld = Barmen von J. Dietzgen.
Geehrte Versammlung! Geschriebenen antireligiösen Vorträgen, die durch den Druck veröffentlicht wurden, verdanke ich die Ehre, vom Vorstande ihres freireligiösen Vereins eingeladen worden zu sein, Sie heute Abend zu adressiren. (…)
Uns Antereligiösen sind die Räume zu duftig und luftig, zu unfaßbar. Wir fühlen uns als Bürger der Erde, die uns kein „Jammerthal“ sondern geliebte Heimath sein soll, die wir mit allen Mitteln schmücken und wohnbar machen.
Statt nach dem religiösen Jenseits wollen wir frei = und antireligiös nach einem humanen wohnlichen Diesseits streben, dadurch wird uns Alles das, wovon die Religiösen sagen, daß es Rost und Motten fressen, was sie deshalb geringschätzig als profane Gegenstände ansehen und worüber sie ihre Erkenntniß blind wegstolpern, für uns zu einem wohlwürdigen Thema der Erbauung. (…)
Die Sozialwissenschaft unterscheidet unter Anderem zwischen der feudalen Gesellschaft jüngster Vergangenheit, zwischen der bürgerlichen Gesellschaft der Gegenwart, und zwischen der künftigen Gesellschaft, welche noch in den Plänen der Sozialisten und Kommunisten stecken mag. (…)
Politische Uebersicht.
„Alles Gute, Schöne, Große, was die Menschen = Bestien zu Menschen = Menschen amchte, Alles, was die menschliche Gesellschaft baute und erhält, ehrt und schmückt – Alles kam vom armen Mann, nur vom armen Mann, immer und aller Orten. Nimmer und nirgends ist eine welterlösende Idee, ein befreiender Gedanke, eine Weltgeschicke bestimmende Entdeckung, eine Menschenloos mildernde Erfindung, ein frohlockender Blitz des Genius in einem Palast zur Welt gekommen. Die Propheten, Heilande und Messias, sind allezeit arme Teufel gewesen. (…)
N° 76 Sonnabend, 21. September 1872
Die Verfolgungen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei
Haben in Sachsen, „dem bestregierten Staate Deutschlands“, wie sächsische Partikularisten in glücklicher Selbstüberschätzung es nennen, nachgerade eine Ausdehnung gewonnen und werden mit einer Rücksichtslosigkeit durchgeführt, für welche wir in der Deutschen wie auswärtigen Geschichte vergebens ein Seitenstück suchen. (…)
N° 79 Mittwoch, 2. Oktober 1872
Eine Rede von Karl Marx.
(Die Rede wurde am Schluß des Haager Kongresses auf einer Volksversammlung in Amsterdam gehalten; der Bericht, den wir der Brüsseler „Liberté“ entnommen haben, ist augenscheinlich sehr ungenau und lückenhaft, was wir ausdrücklich hervorheben zu müssen glauben.)
Im 18. Jahrhundert hatten die Könige und die Potentaten die Gewohnheit, im Haag zusammenzukommen, um über die Interessen ihrer Dynastien zu verhandeln.
Gerade an diesem Orte haben wir unseren Arbeitertag abhalten wollen, trotz der Besorgnisse, die man in uns wach zu rufen suchte. Inmitten der reaktionären Bevölkerung haben wir erscheinen wollen, um die Existenz, die Ausbreitung und die Hoffnung auf die Zukunft unserer großen Assoziation zu bekräftigen. (…)
Bürger, denken wir an jenes Grundprinzip der Internationale: die Solidarität! Nur wenn wir dieses lebenszeugende Prinzip auf sichere Grundlagen unter sämtlichen Arbeitern aller Länder stellen, werden wir das große Endziel erreichen, das wir uns gesteckt haben.
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Die Umwälzung muß solidarisch sein, das lehrt uns die Pariser Kommune, die nur deswegen gefallen ist, weil es eben an dieser Solidarität bei den Arbeitern der übrigen Länder gefehlt hat.
Ich meinerseits werde der mir gestellten Aufgabe treu bleiben und werde besändig daran arbeiten, unter allen Arbeitern jene für die Zukunft fruchtreiche Solidarität zu begründen. Nein, ich ziehe mich nicht von der Internationale zurück, und der ganze Rest meines Lebens wird, wie alle meine Bemühungen der Vergangenheit, dem Triumph der sozialen Ideen geweiht sein, die einst – seid davon überzeugt! – die Weltherrschaft des Proletariats herbeiführen werden.
Nr. 83. Mittwoch, 16. Oktober 1872
An die deutschen Arbeiter.
Im „Neuen Sozial = Demokrat“ vom 20. September veröffentlichten die Herren Hasselmann und Hasenclever als Leiter des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“ unter der Ueberschrift: „Ein Wort an die Arbeiter der Eisenacher Partei“ einen Artikel, in welchem mit bekannter Unehrlichkeit und Verlogenheit die sozialdemokratische Arbeiterpartei und speziell die Redaktion des „Volksstaat“ als Urheberin des Streites zwischen den sozial = demokratischen Fraktionen bezeichnet wurde.
In Nr. 78 des „Volksstaat“ haben wir auf jene perfiden Bezichtigungen geantwortet und nachgewiesen, wie gerade der „Neue Sozial = Demokrat“ und seine Leiter es sind, welche die Verfolgung der deutschen Arbeiter systematisch betrieben haben und betreiben. Um aber unsererseits zu beweisen, daß wir aufrichtig und ohne Rückhalt eine Verständigung und Versöhnung wollten, machen wir am Schlusse unserer Antwort folgende Vorschläge: Wir erklären uns bereit sofort alle Polemik gegen den „Neuen Sozial = Demokrat“ einzustellen, wenn derselbe:
„1) unsere Partei ausdrücklich und unzweideutig als eine sozial = demokratische anerkennte, und sie, wenn er von ihr spricht, stets bei dem richtigen Namen nennt, und
„2) daß er die Angriffe gegen die Internationale Arbeiter = Assoziation unterläßt.
„Wir unsererseits erklären, wie wir das schon des Oefteren gethan haben,
„1) daß wir die Mitglieder des Allg. d. A. als unsere Parteigenossen ansehen, was nicht ausschließt, daß wir gegen gewisse Persönlichkeiten im Allg. d. A. so lange ein entschiedenes Mißtrauen hegen werden, bis die von unserer Seite geltend gemachten Verdachtsgründe konklusiv widerlegt sind.
„2) Erklären wir uns bereit, einen Vorschlag zu unterstützen, welcher dahin ginge: einen gemeinschaftlichen Kongreß der beiden Fraktionen einzuberufen, auf welchen die Differenzpunkte behufs einer Einigung beprochen werden. Sollte eine Einigung, resp. Verschmelzung nicht möglich sein, dann müßte wenigstens ein gemeinsames Programm aufgestellt, und die Formen festgestzt werden, innerhalb deren eine gemeinsame Aktion (bei Wahlen, der Agitaion etc.) sich zu bewegen hätte. Ein von beiden Theilen gleichmäßig zu wählender Ausschuß hätte die Ausführung der vereinbarten Punkte zu überwachen. Ferner möchten wir noch die Niedersetzung eines der beiden Fraktionen gleichmäßig zu wählenden Schiedsgerichts befürworten, das die gegen verschiedene Mitglieder einer der beiden Fraktionen von der anderen Seite erhobenen Anklagen zu untersuchen und zu richten hat.“
Wir schlossen diese Vorschläge mit den Worten:
„Auf dem Mainzer Kongreß hat die sozialdemokratische Arbeiterpartei offiziell in feierlicher Form ihrer versöhnlichen Stimmung Ausdruck gegeben; am Allgemeinen deutschen Arbeiter = Verein ist es jetzt, die dargebotene Hand zu ergreifen, und der deutschen Arbeiterwelt den Frieden zu geben.
Leipzig, den 23. September 1872.
Die Redaktion des „Volksstaat“.
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Nr. 84. Sonnabend, 19. Oktober 1872
Politische Uebersicht.
Verrohung. In patriotischen Blättern lesen wir, wie deutsche Offiziere in ihrem Gesellschaftszimmer eine mit dem Blut französische Fahne aufgehängt haben, um sich an dieser glorreichen Trophäe zu laben. Und das amtliche Organ der preußischen Regierung, die „Provinzialcorrespondenz“, schreibt in einem Artikel zur Beschönigung der barbarischen Massenaustreibungen aus Elsaß = Lothringen:
„Getrost darf man die Sorge für die deutsch = nationale Erweckung und Ausbildung derselben jetzt unseren Soldaten aus Pommern oder Schwaben, aus Holstein oder Bayern, aus Hannover oder den Rheinlanden anvertrauen, sowie den ernsten, sittlich und national erhebenden Zucht im Heere.“
Nr. 88. Sonnabend, 2. November 1872
Der 21. September 1792.
Dieser ewig denkwürdige Tag, an welchem der französische Nationalkonvent (gleich nach seinem Zusammentritt) formell die Abschaffung des Königthums erklärte, ist bekanntlich bei seiner jüngsten, achtzigsten Wiederkehr durch Bankette zu feiern, von der „republikanischen“ Regierung verboten worden. Der „Corsaire“ veröffentlichte daher – um das Andenken an das große Ereignis trotzdem im Gedächtniß der Gegenwart zu erhalten – den Sitzungsbericht der Konventssitzung jenes ersten Konventstages und den Bericht der der Konventsitzung vorangehenden Schlußsitzung des Gesetzgebenden Körpers nach der „Gazette de France“ vom 22. September 1792, welche beiden Sitzungsberichte wir des historischen Interesses wegen hiermit unseren Lesern in wörtlicher Uebersetzung unterbreiten.
Gesetzgebender Körper
Die Naionalversammlung versammelte sich am 21. September um 9 Uhr, unter dem vorsitz von Gambon. (…)
Grégoire: „Wozu diskutiren, wenn alle Welt einstimmig ist? Die K…..sind in der moralischen Welt das, was die Ungeheuer in der physischen. Die Höfe sind die Werkstätten der Verbrechen und die Höhlen der Tyrannen. Die Geschichte der Könige ist die Leidensgeschichte der Nationen. Da wir alle von dieser Wahrheit gleich durchdrungen sind, – ist es da noch nötig, zu diskutiren? Ich wünsche, daß mein Antrag zur Abstimmung gebracht werde, – unbeschadet einer nachträglicheren Versehung desselben mit der Wichtigkeit dieses Beschlusses würdigen Erwägungsgründen.“
Ducos: „Die Erwägungsgründe zu Ihrem Beschlusse sind die Geschichte der Verbrechen Ludwig XVI., – eine vom französischen Volke schon gut gekannte Geschichte; ich beantrage also, daß die Erwägungsgründe in den einfachsten Ausdrücken abgefaßt werden; nach dem Licht, welches der 10. August (Tuilleriensturm) verbreitet hat, bedürfen keiner Erklärung.“
Die Diskussion ist geschlossen. Tiefes Schweigen herrscht, Der Grégoir’sche Antrag wird zur Abstimmung gebracht und mit dem Tosen des lebhaftesten Applauses angenommen:
„Der Nationalkonvent erklärt, daß das Königthum in Frankreich abgeschafft ist.“
Die Freudenbezeugungen, Rufe: „Es lebe die Nation“, von allen Zuschauern wiederholt, dauern einige Zeit. Die Sitzung wird um 4 Uhe geschlossen.
Beilage zum Volksstaat Nr. 88.
Der „Neue Sozial = Demokrat“
Antwortet unter dem 19. Oktober auf unsere von ihm so genannten „Schmähartikel“, und macht das alte hinterlistige Maneuver, sich als das Lämmchen und uns als Wolf hinzustellen, der mit allen die deutschen Arbeiter zerreißen wolle.
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Wir haben in Nr. 83 des „Volksstaat“ bewiesen, wie die HH. Hasselmann und Hasenclever ganz im Sinne und nach der Tatik des Herrn von Schweitzer die deutschen Arbeiter zum Nutzen der preußischen zu spalten beflissen sind. Unsere Beweisführung war so konklusiv, daß der „Neue“ es nicht wagt, auch nur mit einem Wort ihre Widerlegung zu versuchen. (…)
Der „Neue“ läßt den „Volksstaat“ von Marx „kommandiren“. Der „Volksstaat“ wird von Niemand kommandirt, und kommandirt Niemand, was freilich der „Neue“ wird schwer begreifen können. Marx speziell bekümmert sich um den „Volksstaat“ weit weniger als uns lieb ist, und der „Neue“ ist ihm so gleichgültig, daß er ihn nicht einmal liest. (…)
Nr. 97. Mittwoch, 4. Dezember. 1872
Aristoteles über die Tyrannei.
Tyrannenherrschaften halten sich auf zwei Weisen. Die ein derselben ist die hergebrachte, nach welcher die meisten Tyrannen regieren. Es bestehen die Mittel, die Tyrannei zu erhalten, darin, daß man die Hervorragenden bricht, die Männer von Muth und Selbstgefühl aus dem Wege räumt, daß man keine Tischgenossenschaften, keine politischen Klubs, keine öffentliche Erziehung (Volkserhebung im demokratischen Sinne. Red.) duldet, sondern überhaupt auf alles Dasjenige scharf achtet, woraus zwei Dinge zu entstehen pflegen: Selbstgefühl und gegenseitiges Vertrauen; daß man ferner die Bildung von geselligen Vereinen oder sonstige Zusammenkünfte zu Gespräch und Unterhaltung verhindert, kurz Alles aufbietet, um die Bürger in mögliche Unbekanntschaft miteinander zu erhalten; denn die Bekanntschaft erhöht das gegenseitige Vertrauen. Auch muß der Tyrann Veranstaltungen treffen, daß ihm nichts entgeht, was die Unterthanen sprechen oder thun, er muß vielmehr Spione halten, wenn irgendwo eine Gesellschaft oder Verein stattfinden. Durch die Furcht vor solchen Subjekten wird einerseits der freie Gedankenaustausch gedämpft, und wenn dennoch ein freies Wort fällt, so kommt es um so sicherer zur Kunde des Tyrannen. Ferner muß er seine Unterthanen gegeneinander verhetzen oder verfeinden, Freunde gegen Freunde, das Volk gegen die Vornehmen, die Reichen unter sich. Er muß einer anderen Tyrannenmaßregel zufolge die Unterthanen arm machen, damit er einerseits seine Leibwache unterhalten kann und andererseits jene vor der Sorge um das tägliche Brod keine Zeit zu gefährlichen Anschlägen haben. Auch Kriege muß der Tyrann anstiften, damit die Unterthanen zu thun und immerfort einen Anführer nöthig haben….Der Tyrann hat keine Freude an einem würdevollen und freimüthigen Charakter, diese Eigenschaften beansprucht der Tyrann nur für sich allein….Drei Dinge strebt die Tyrannei zu bewirken: 1) Kleinmüthige Gesinnung der Unterthanen; 2) gegenseitiges Mißtrauen, denn solange als es nicht Menschen giebt, die einander trauen, ist die Tyrannei sicher. Daher sind denn auch die Tyrannen gegen jeden rechtschaffenden Mann als einen Feind der Regierung auf dem Kriegsfuße nicht blos darum, weil sich solche nicht despotisch beherrschen lassen wollen, sondern auch darum, weil sie unter sich und auch gegen andere auf Treu und Glauben halten und ebensowenig einander überhaupt verrathen; 3) Ohnmacht der Mittel, denn kein Mensch unternimmt etwas, zu dessenAusführung er sich ohnmächtig fühlt, also auch nicht den Sturz einer Tyrannei, wenn ihm die Macht dazu fehlt….Dann aber muß er (der Tyrann) sich beständig den Schein geben, als nähme er es mit der Religion ungemein ernst; dabei darf aber nicht lächerlich abergläubisch erscheinen… –
Nr. 99. Mittwoch, 11. Dezember. 1872
Nationalreichthum.
Wie Frankreich in der politischen Entwicklung uns vorausgeilt ist, so England in sozialer, und wie darum Frankreich ein Zauberspiegel ist, in dem wir unsere politische Zukunft erblicken, so zeigt sich uns England auf gesellschaftlichen Gebiet das bereits Gewordenes, als Fertiges, was bei uns erst werdend, embryonenhaft oder nur in geringem Umfang vorhanden ist.
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Die Ungerechtigkeit der modernen kapitalistischen Produktion liegt hauptsächlich darin, daß sie einzelne Wenige übermäßig bereichert, dagegen die große Masse, und zwar gerade Diejenigen, welche die Werthe schaffen, zur Lohnsklaverei und damit zum Elend in jeder Gestalt verurtheilt: die Schöpfer des Reichthums sind in Mitten der Schätze, die das Werk ihrer Hände sind, dem (schnellen und langsamen*) Hungertod ausgesetzt, dem death by starvation**) der, wenn auch nur in seiner akuten Form, stehende Rubrik der englischen Zeitungen ist; wohingegen die privilegirte Minorität, welche die Schöpfer des Reichthums in ihren Dienst gepreßt hat, ohne selbst Reichthum zu erzeugen, im Ueberfluß schwelgt, und oft ein „Vermögen“ ansammelt, so enorm, daß man in die phantasitische Märchenwelt mit ihren Silberpalästen und Goldtischen zurückgreifen muß, um sich eine Vorstellung zu machen.
Diese Ungleichheit – doppelt verwerflich, weil sie den Genuß von der alle Genußmittel hervorbringenden Arbeit getrennt hat, und der Arbeit die Noth, dem Müßiggang den Ueberfluß zu Theil werden läßt – diese das sittliche Gefühl empörende Ungleichheit ist in England am Weitesten gediehen, weil die Faktoren, welche jetzt auch bei uns in voller Kraft wirken und mit der Zeit genau dieselben Resultate hervorbringen müssen, dort schon früher in Wirksamkeit getreten sind. (…)
Nr. 102. Sonnabend, 21. Dezember 1872
Ueber Atheismus und Theismus. ( Von I. L.)
Die einfachen Wahrheiten sind es gerade, auf die der Mensch immer erst am spätesten kommt. (L. Feuernach)
Die Wahrheit dieser Worte zeigt sich nirgends in so erscheckender Weise als bei dem Gottes = Glauben.
Man ist versucht an der menschlichen Vernunft zu zweifeln, wenn man sieht, wie die größten Denker, die ihr ganzes Leben dem Aufsuchen der Wahrheit widmeten, immer und immer wieder an die Gottesidee anknüpften, wie sie Alle – von dem im grauen Alterthume lebenden jüdischen Philosophen an Philo an – bis zu Cartesius – Leibniz – Hegel, und selbst heute noch haben Viele die unfruchtbare Spekulation nicht aufgegeben: zu beweisen suchen, daß die Gotte = Idee welche Abraham einst ersonnen, wahr sei.
Nachdem die Gottesidee Jahrtausende lang herumgeschleift, von Scotus Erigena, bis auf die Theologen und spekulirenden Philosiophen unserer Tage in allen erdenklichen Formen zurechtgeknetet; die verschiedenen Meinungen über Gott mit dem Schwert in der Hand vertheidigt, sie Ströme von Blut und Thränen gekostet hatte, brachte gegen Ende des vorigen Jahrhunderts Emanuel Kant Licht in den Irrgarten menschlicher Schwärmerei. Kant zeigte: daß Gott für unsere theoretische Vernunft bis jetzt unbewiesen und für immer unbeweisbar bleiben werde – wie wir von jenem transzendentalen Idealwesen – Gott – nichts wissen können; wie jede Beweisführung für das Dasein Gottes eine willkürliche Hypothese ist. (…)
Ein Attribut Gottes ist: die „Ewigkeit seines Wesens“ (d. h. Gott wäre nicht von der Zeit begrenzt). Aber kein Mensch ist im Stande, sich den Begriff – „Ewigkeit“ – auch nur annähernd vorzustellen, mögen wir bis in die entfernteste Vergangenheit zurückdenken oder unsere Gedanken laufen lassen bis zur dunkelsten Zukunft, immer drängt sich unserer Vorstellung ein Punkt auf, wo diese „Ewigkeit“ anfängt – wo sie endigt; und die Ideen; und die Ideen eines Anfangs und eines Endes heben selbstverständlich den Begriff Ewigkeit auf.
Ein weiteres Attribut Gottes ist: die „Unendlichkeit seines Wesens.“ Der Begriff „Unendlichkeit“ steht unserem Fassungsvermögen gerade so fern, läuft demselben geradeso zuwider, wie der Begriff der „Ewigkeit;“ wir können und kein unendliches Wesen denken oder vorstellen, die größten, riesigsten Vorstellungen, die wir uns von einem Wesen machen können, bleiben immer nur die (Vorstellungen) einer großen Endlichkeit. Ein unendliches Wesen ist für uns eine Vorstellungs = und Gedankenummöglichkeit. Unendlichkeit ist etwas, das jedes Begreifen ausschließt. (…)
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Noch zwei göttliche Attribute will ich hier erwähnen, as der „Unerforschlichkeit“ und der „Unergründlichkeit“ seines Wesens, welche die Fabrikanten der Gottesidee als schützenden Panzer um die angeren (Attribute) legten; jedoch sind dieselben so unhaltbar wie die übrigen. Ist Gottes Wesen unerforschlich und unergründlich, woher ihr schlauen Herren, wißt ihr die anderen Eigenschaften so genau? Die beiden letztgenannten Attribute Gottes sind, wie gesagt, nur ein schützender Panzer, doch sind sie so unhaltbar wie die anderen.
Die Attribute Gottes sind für uns ein reines Nichts, leerer Wortschwall; alles das, was wir absolut nothwendig heben müssen, um einen Gegenstand zu denken, ihn zu begreifen, oder uns vorzustellen, schließen sie aus; sie sind das gerade Gengentheil von dem, was einen Gedanken, einen Begriff, eine Vorstellung bildet.Wir können und Endliches, zeitlich Begrenztes und räumlich Undurchdringliches denken. „Unendliches,“ „Ewiges,“ „Überallseiendes“ ist für uns der Inbegriff aller Begriffslosigkeit.
Und solange uns die Herren Theologen keine neuen Sinne schaffen, mit denen wir derartige göttliche Eigenschaften begreifen, bleiben sie für Auswüchse menschlicher Phantasterei. (Schluß folgt)
Nr. 103. Mittwoch, 25. Dezember 1872
Wie die Bourgeoisie die Wohnungsfrage löst. ( Von Friedrich Engels)
In dem Artikel über die proudhonistische Lösung der Wohnungsfrage wurde gezeigt, wie sehr das Kleinbürgerthum bei dieser Frage direkt interessirt ist. Aber auch das Großbürgerthum hat ein sehr bedeutendendes, wenn auch indirektes Interesse daran. Die Moderne Naturwissenschaft hat nachgewiesen, daß die sogenannten „schlechten Viertel“, in denen die Arbeiter zusammen gedrängt sind, die Brutstätten all jener Seuchen bilden, die von Zeit zu Zeit unsere Städte heimsuchen. Cholera, Typhus und typhoide Fieber, Blattern und andere verheerende Krankheiten verbreiten in der verpesteten Luft und dem vergiftetem Wasser dieser Arbeiterviertel ihre Keime; sie sterben dort fast nie aus, entwickeln sich, sobald die Umstände es gestatten, zu epedemischen Seuchen, und dringen dann auch über ihre Brutstätten hinaus, in die luftigeren und gesünderen, von den Herrn Kapitalisten bewohnten Stadtheile. Die Kapitalistenherrschaft kann nicht ungestraft sich das Vergnügen erlauben, epedemische Krankheiten unter der Arbeiterklasse zu erzeugen; die Folgen fallen auf sie selbst zurück, und der Würgeengel wüthet unter den Kapitalisten ebenso rücksichtslos wie unter den Arbeitern.Sobald einmal wissenschaftlich festgestellt war, entbrannten die menschenfreundlichen Bourgois in edlem Wetteifer für die Gesundheit ihrer Arbeiter. Gesellschaften wurden gestiftet, Bücher geschrieben, Vorschläge entworfen, Gesetze debattirt und dekretirt, um die Quellen der immer wiederkehrenden Seuchen zu verstopfen. Die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter wurden untersucht und Versuche gemacht, den schreiendsten Uebelsänden abzuhelfen. Namentlich in England, wo die meisten großen Städte bestanden und daher das Feuer den Großbürgern am heftigsten auf den Nägeln brannte, wurde eine große Thätigkeit entwickelt; Regierungskommissionen wurden ernannt, um die Gesundheitsverhältnisse der arbeitenden Klasse zu untersuchen; ihre Berichte, durch Genauigkeit, Vollständigkeit und Unparteilichkeit vor allen kontinentalen Quellen sich rühmlich auszeichnend, lieferten die Grundlagen zu neuen, mehr oder weniger scharf eingreifenden Gesetzen. So unvollkommen diese Gesetze auch sind, so übertreffen sie doch unendlich Alles, was bisher auf dem Kontinente in dieser Richtung geschehen. Und trotzdem erzeugt die kapitalistische Gesellschaftsordnung die Mißstände, um deren Kur es sich handelt, immer wieder mit solcher Nothwedigkeit, daß selbst in England die Kur kaum einen einzigen Schritt vorgerückt ist.
Deutschland brauchte, wie gewöhnlich, eine weit längere Zeit, bis die, auch hier chronisch bestehenden Seuchenquellen zu derjenigen akuten Höhe sich entwickelten, die nothwendig war, um das schläfrige Großbürgerthum auszurütteln. Indeß wer langsam geht, geht sicher,
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und so entstand auch bei uns auch bei uns schließlich eine bürgerliche Literatur der öffentlichen Gesundheit und der Wohnungsfrage, ein wässeriger Auszug ihrer ausländischen, namentlich englischen, Vorgänger, dem man durch volltönende, weihevolle Phrasen den Schein höherer anschwindelt. Zu dieser Literatur gehört: „Dr. Emil Sax, die Wohnungszustände der arbeitenden Klassen und ihre Reform“, Wien 1869. (…)
Ueber Atheismus und Theismus. Von I. L. (Schluß)
Die Zweckmäßigkeit, die im Universum herrschen soll – „die die Lilien auf dem Felde kleidet und keinen Sperling ohne den Willen des Vaters vom Dache fallen läßt“ – hat von jeher zur Annahme eines Gottes, Welt = Erhalters geführt. Ist wirklich eine solche Zweckmäßigkeit in der Welt vorhanden, wie die Gott = Gläubigen es finden? Nein! Sie selbst von Jugend auf an die Unzweckmäßigkeiten und Widerwärtigkeiten der Natur gewöhnt, daß sie, blind gegen dieselben, eine Zweckmäßigkeit und Vorsehung in das schaffen der Natur hineinzulügen, welche nirgends bestehen als in ihrem befangenen Gehirn.
Wo das Secirmesser der Vernunft den teleologischen Weltenplan untersucht, da muß jeder Zweckmäßigkeits = Begriff als eine Chimäre entweichen, und wir sehen, daß Alles nach unabänderlichen Gesetzen – nicht fragend, ob ganze, in der üppigsten Vegitation stehende , mit lebendigen Wesen bewohnt Erdtheile dabei zu Grunde gehen – sich selbst regiert. (…)
Wo bleibt die Zweckmäßigkeit, wenn in den Jahren des Mißwachsens Tausende dem Hungertode verfallen? Weßhalb hat sie die weise Vorsehung erschaffen, wenn diese nicht im Stande ist ihre Geschöpfe zu ernähren?
Alle Gründe, die für einen teleologischen Weltenplan vorgebracht werden, sind unhaltbare; die Unzweckmäßigkeiten, die herrschen, sind, wie gesagt, dadurch daß wir von Jugend auf an dieselben gewöhnt, für und nicht mehr in dem Grade fühlbar, wie sie thatsächlich vorhanden, aber von einer objektiven Zweckmäßigkeit kann keine Rede sein. Im Plane der Welt ist für den Unbefangenen kein zweckmäßig ordnendes Wesen zu erkennen; das Weltall weist nirgends auf ein solches , am allerwenigsten auf einen „Gott“, der die Welt um des Menschen Willwn geschaffen hätte. Alles folgt unabänderlich einmal gegebenen Gesetzen mit eisener Nothwendikeit. (…)
Allerdings ist uns die Art und Weise des Entstehens, der letzte Grund allen Werdens und Vergehens gänzlich fremd und unbekannt. Aber dieses Nichterkennen des letzten Grundes kann uns nie und nimmer berechtigen, unser Nichtwissen zu verleugnen und mit dünkelhaftem Selbstbewußtsein „Gott“ an die Stelle, wo unseres Wissens Granze ist, als wirkende und treibende Kraft zu setzen.
Leibniz sagt: Das eine Ding hat seinen Grund in einem anderen, der jetzige Zustand in einem früheren, aber das andere Ding und der frühere Zustand haben wieder in einem anderen noch früheren ihren Grund, so daß man auf diese Weise niemals zu einem Grunde gelangt, der nicht selbst wieder einer Begründung bedürfte. Daraus folgt, daß der vollkommene Grund nicht in diesem Einzel = Wesen, sondern in der allgemeinen Ursache zu suchen ist, aus welcher der frühere und gegenwärtige Zustand unmittelbar hervorgeht, nämlich einen allgemeinen intellegenten Urheber, welcher die Ursache von der Existenz der Welt ist und den Grund seines Daseins in sich selber hat.“
Leibniz‘ Schluß auf einen „intellegenten Urheber“ – man könnte auch gerade so gut auf ein beliebiges Wesen schließen – ist eine jener willkürlichen Thesen, an denen die spekulative Philosophie und Theologie so reich sind, mit denen aber nichts bewiesen ist. Es ist gar nicht einzusehen, weßhalb so gut wie der „intellegente Urheber“ den Grund seines Daseins in sich selber haben soll, was am Ende doch viel natürlicher und begreiflicher ist, da selbst mit der Annahme Gottes wir über die letzten Gründe um Nichts klarer werden. Das berühmte Buch „Système de la nature“ sagt treffend, es sei undenkbar, wie ein unmaterielles Wesen auf ein materielles einwirken könne, da es doch keine Berührungspunkte unter ihnen gäbe.Alle Weltanschuungen, welche von einem Gott, Erschaffer, Erhalter etc. reden, sind inhaltsleere,
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über die Gränze unseres Erfahrungs = und Anschauungsvermögens sich erhebende Spekulationen. Die verschiedenen Nebenläufer der Gottesidee, – denn der abstrakte Gottesglaube ist es nicht allein, der die sonderbaren Ausgeburten menschlicher Phantasterei hervorbrachte – alle Irrwege menschlicher Vernunft auf diesem Gebiete nur zu erwähnen, ist hier unmöglich. Sie halten sich alle, wenn nicht an einen persönlichen Gott, so doch an eine „göttliche Substanz“, „Weltgeist“, „Weltseele“ etc.; und beruhen auf denselben spekulativen Hypothesen wie der abstrakte Gottesglaube.
Um den Idealpantheismus eines Hegel oder Schelling zu verstehen, muß amn erst einmal verlernt haben, daß 2 mal 2 = 4 ist. Hier muß man jeden Funken Vernunft bei Seite lassen, um an den philosophischen Unsinn dieser modernen Propheten Geschmack zu finden. Ich setze hier zwei von den, wie mir scheinen will, verständlicheren Stellen her, wenn von einem Verstehen überhaupt die Rede sein kann; ich für meinen Theil gestehe es beschämt ein, daß sie mir unergründliche Orakel geblieben sind. Der große Hegel sagt: „Der Sinn der Erhebung des Geistes ist, daß der Welt zwar Sein zukomme, das aber nur Schein ist, das wahre Sein nur Gott ist. Nur die Nichtigkeit des Seins der Welt ist das Band der Erhebung, so daß das Vermittelnde verschwindet.“ An einer Stelle, wo Schelling das „Absolute“ erklärt, heißt es wörtlich: „Das Absolute ist reine, d. h. von Subjektivität und Objektivität unabhängige Identität, ist sich selbst Stoff und Form, Subjekt und Objekt, und weder das Eine noch das Andere seiend, führt sie für sich selbst und durch sich selbst in beide als die gleiche Absolutheit.“ Jedes erklärende Wort ist hier überflüssig Was nicht Subjekt und nicht Ojekt ist, das bleibt, trotz der spekulativen Bocksprünge des Herrn Schelling, ein Nichts, das Schelling zur Abwechselung einmal das Absolute nennt.
„Ist wie ein Thier, auf dürrer Heide,
„Von einem bösen Geist im Kreis herum geführt,
„Und rings umher liegt schöne grüne Weide. (Goethe’s Faust.)
Wissenschaftliche durch die Erfahrung begründete, Wahrheiten genügen derartigen Leuten nicht; sie spekuliren über Dinge, die in ihrem hochmüthig überschraubten Gehirn entstanden, und beweisen alsdann dieselben, als ob sie objektiv vorhanden wären; so das „Dasein Gottes“, so die „Unsterblichkeit der Seele“; sie setzen nicht, oder wollen nicht einsehen, daß unseren Sinnen Gränzen gesteckt sind, die nicht überschritten werden können, daß unsere Wissenschaft an die Erfahrung gebunden ist.
Über die Entstehung und Erhaltung unseres Universums im Allgemeinen, sowie der einzeln in ihm erscheinenden Wesen können wir nur einmal nichts Bestimmtes wissen. Trotz der riesigen Fortschritte der Naturwissenschaften sind wir über die „letzten Gründe“ noch um Nichts klarer als zu Aristoteles‘ Zeiten; es sind immer nur die Gesetze des Stoffwechsels, denen die Materie unterworfen ist. Und was sie – die Naturwissenschaft – auch zum Nutzen der Menschheit zu Tage gefördert, mit dem letzten „Warum“ plagt sich wol kein vernünftiger Forscher ab; dies wird immer als unbekanntes X stehen bleiben müssen. (…)
Wo einer an Gott glaubt, dort ist ein Golgatha. Dort wird einer gekreuzigt.
Man macht dem Atheismus den Vorwurf, daß er den Menschen zum Thier stemple; gut, wir verzichten auf eure Gottähnlichkeit; wir wissen, daß der Unterschied zwischen Mensch und Thier nur ein gradueller ist. Doch was hat der Glaube aus euch gemacht? Er hat euch in eine Zwangsjacke geschnürt, die euch jede freie Bewegung raubt. Die Laster und Verbrechen, an denen unsere Zeit so sehr krankt, deren Grund man von gewisser Seite her immer und immer wieder im Unglauben sucht und sie demselben so gerne in die Schuhe schiebt, können nur durch eine gründliche naturwissenschaftliche Belehrung geheilt werden, aber nicht durch Traktätlein und frommen Sprüchen. Die Natur droht Jedem, der sich an ihren Gesetzen versündigt, mit schrecklichen Strafen, als Höllenqualen und ewige Verdammniß (…)
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Mit dem letzten Theisten wird auch der letzte Sklave frei werden. Die Zukunft muß dem Atheismus gehören, nur in ihm ist das Heil für die Menschheit, die ihre guten Rechte so lange für einen Wahn verschacherte, zu finden.
Nr. 104. Sonnabend, 28. Dezember 1872
Wie die Bourgeoisie die wohnungsfrage löst.
Von Friedrich Engels. (Schluß des Art. I.)
Unser Verfasser geht nun an die praktische Lösung der Frage. Wie wenig revolutionär der Vorschlag Proudhon’s war, die Arbeiter zu Eigenthümern ihrer Wohnungen zu machen, geht schon daraus hervor, daß der bürgerliche Sozialismus diesen Vorschlag schon vor ihm praktisch auszuführen versucht hatte und noch versucht. Auch Herr Sax erklärt, daß die Wohnungsfrage vollständig nur durch Uebertragung des Eigenthums der Wohnung an die Arbeiter zu lösen sei (Seite 58 und 59). Mehr noch, er verfällt in die dichterische Verzückung bei diesem Gedanken, und bricht in folgenden Begeisterung aus:
„Es ist etwas Eigenthümliches um die im Menschen liegende Sehnsucht nach Grundbesitz, einen Trieb, den selbst das fieberhaft pulsirende Güterleben der Gegenwart nicht abzuschwächen vermochte. Es ist dies das unbewußte Gefühl von der Bedeutung der wirthschaftlichen Errungenschaft, die der Grundbesitz darstellt. Mit ihm bekommt der Mensch einen sicheren Halt, er wurzelt gleichsam fest in den Boden und jede Wirthschaft (!) hat in demselben die dauerhafte Basis. Doch weit über diese materiellen Vortheile reicht die Segenskraft des Grundbesitzes hinaus. Wer so glücklich ist, einen solchen sein zu nennen, hat die denkbar höchste Stufe wirthschaftlicher Unabhängigkeit erreicht; er hat ein Gebiet, worauf er souverän schalten und walten kann, er ist sein eigener Herr, er hat eine gewisse Macht und einen sicheren Rückhalt für die Zeit der Noth; es wächst sein Selbstbewußtsein und mit diesem seine moralische Kraft. Daher die tiefe Bedeutung des Eigenthums in der vorliegenden Frage….Der Arbeiter, hilflos den Wechselfällen der Konjunktur ausgesetzt, in steter Abhängigkeit von dem Arbeitgeber, würde dazu bis zu einem gewissen Grad dieser prekären Lage entrückt, er würde Kapitalist und gegen die Grfahren der Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit durch den Realkredit, der ihm in Folge dessen offen stünde, gesichert. Er würde dadurch aus der besitzlosen in die Klasse der Besitzenden emporgehoben.“ (Seite 63.)
Herr Sax scheint vorauszusetzen, daß der Mensch wesentlich Bauer ist, sonst würde er nicht den Arbeitern unserer großen Städte eine Sehnsucht nach Grundbesitz andichten, die sonst niemand bei ihnen entdeckt hat. (…)
Mit der Ausgabe der Nummer 104 des „Volksstaat“ endet die Publikation für das Jahr 1872.