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Der Volksstaat
(Früher Demokratisches Wochenblatt)
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Der dritte Jahrgang 1871 umfasst 104 Ausgaben, sie bilden die Fortsetzung in Stil und politischer Zielsetzung der vorangegangenen Jahrgänge 1 und 2 1869/70.
Mit Beginn der N° 2 in der Ausgabe vom 4. Januar 1871 finden sich augenfällig und dick gedruckt die Sätze:
Ein billiger Friede mit der französischen Republik!
Keine Annexionen!
Bestrafung Bonaparte’s und seiner Mitschuldigen!
In der Ausgabe N° 7, 21. Januar 1871 wird der Satz wieder aufgenommen und bis zur Ausgabe Nr. 10, 1. Februar 1871 fortgesetzt.
Politische Uebersicht
Die „Norddeutsche Allgemeine“ veröffentlicht folgendes:
Manifest des französischen an das deutsche Volk.
Seit mehr als vier Monaten wüthet ein schrecklicher Krieg zwischen zwei Nationen, die berufen sein sollten, friedlich neben einander zu leben und gemeinsam an dem Wohl der Menschheit zu arbeiten. Der Erfolg der Waffen hat euch Deutsche in das Herz unseres Landes geführt; unsere Felder wurden zertreten, unsere Städte bombadirt, unsere Dörfer eingeäschert. Immer neue Ströme Blutes fließen von beiden Seiten. Mit jedem Schritt, den eure Soldaten vorwärts thun mehren sich die Gräuel. Auf die Zerstörung von Straßburg folgt vielleicht eine schreckliche Verwüstung von Paris. (...)
Doch was nützt das? Das deutsche Volk ist in der Lage, in der das französische Volk nach dem 2. Dezember war: geknebelt an Ohren und Mund, und an einer Stelle, und an seiner Stelle, in seinem Namen spricht eine Dezembergesellschaft von Polizeispionen, Börsenjobbern und anderer Staatsplünderer nebst Adelaiden, sowie 4000 Zeitungsschreibern.
Und auf der Spitze dieser pikanten Pyramide steht Bismarck auf der flachen Hand das deutsche Kaiserthum frei hinaushaltend und von Versailles nach Wien, rufend:
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„Das (deutsche) Kaiserreich ist der Friede!“ Genau dieselben Worte, mit denen Louis Napoleon seine Mordregierung einsegnete: L’empire c’est la paix!“ „Das Kaiserreich ist der Friede“. Dieselben Worte und dieselbe Wahrheit. Wie sollte eine Herrschaft den Frieden bedeuten, die Blut und Eisen zu ihrer Devise erklärt hat? Das deutsche Kaiserthum ist in dem Blut des edlen Standrechts – Märtyrer von 1849 erzeugt, in dem Bruderblut von 1866 getauft worden, in dem Blut des deutschen und französischen Volkes hat es sich groß gebadet von Jahr zu Jahr wird es zu seiner Erhaltung Blut brauchen, und in Blut wird es eines Tages ertrinken. (...)
Einige Aussprüche Lessing’s
(Nach der 10bändigen Ausgabe von 1854 citirt)
Bd, IV. Seite 32. Man könnte sagen, wenn die kriegerischen Eigenschaften durch die Gemeinmachung der Wissenschaften verschwinden, so ist es noch die Frage, ob wir es für ein Glück, oder für ein Unglück zu halten haben? Sind wir deswegen auf der Welt, daß wir uns einander umbringen sollen?
XI., 355. Die Staaten vereinigen die Menschen, damit durch diese und in dieser Vereinigung jeder einzelne Mensch seinen Theil von Glückseligkeit desto besser und sicherer genießen könne. Das Totale der einzelnen Glückseligkeiten aller Glieder ist die Glückseligkeit des Staates. Außer dieser giebt es keine. Jede anderer Glückseligkeit des Staats, bei welcher er noch so wenig Glieder leiden und leiden müssen, ist Bemäntelung der Tyrannen. Anders nicht!
XI., 363. Es wäre sehr zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die über die Vorurtheile der Völkerschaft hinweg wären, und genau wüßten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört. (...)
X., 98. Ich habe überhaupt von der Liebe des Vaterlandes (es thut mir leid, daß ich ihnen vielleicht meine Schande gestehen muß) keinen Begriff, und sie scheint mir aufs höchste eine heroische Schwachheit, die ich gern entbehre.
X.,169. Sagen sie mir von ihrer Berlinischen Freiheit zu denken und zu schreiben ja nichts.... Lassen sie es doch einmal einen in Berlin versuchen, über andere Dinge so frei zu schreiben, als Sonnenfels in Wien geschrieben hat; lassen sie es ihn versuchen, dem vornehmen Hofpöbel so die Wahrheit zu sagen, als dieser sie ihm gesagt hat; lassen sie einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der Unterthanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme erheben wollte, und sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklawischte Land in Europa ist.
X.,249. Im vorigen Kriege*, bin ich in Leipzig für einen Erzpreußen und in Berlin für einen Erzsachsen gehalten worden, weil ich keins von beiden war.
* Die Worte sind 1777 geschrieben.
Die Vertreibung der Deutschen aus Frankreich. I. (Schluß)
Namentlich geriehten die deutschen und französischen Arbeiter hintereinander. Sie zankten schimpften und prügelten sich aus lächerlicher Landesvaterlandsliebe in den Werkstätten, in den Kneipen, in den Speisehäusern. Leider gab es, wie aufrichtig bekannt werden muß, unter den in Paris befindlichen deutschen Arbeitern verhältnismäßig sehr wenige, welche von der erhabenen sozialen Idee der Neuzeit durchdrungen waren. (...)
Politische Uebersicht
Zu ewiger Schande würde dem Volk der Denker die Freude und Wollust gereichen, mit der seine Presse das vermeindliche Bombardement einer von zwei Millionen Menschen bewohnten Stadt begrüßt hat, wenn nicht eine Partei in Deutschland wäre, die Deutschlands
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Ehre, die den echt germanischen Völker verstehenden und völkerverbrüdernden Zug treu bewahrt und auch dem schwer geprüften Brudervolk ohne Unterlaß seine Sympathien treu entgegen getragen hätte. Der Haß zwischen beiden Nationen würde ewig und unauslöschlich sein, könnte nicht eines Tages die sozialdemokratische Partei auftreten und sagen: „Wir haben Euch nie gehaßt; wir haben euch nie beschimpft, wir haben Euch nie Provinzen nehmen wollen. (...)
Die an diesem Tage stattgefundene Kaiserproklamation in Versailles bleibt gänzlich unerwähnt.
Der Kaisertitel (Schluß)
Man wird sagen, vom neuen deutschen Kaiserreich werde dergleichen nicht zu besorgen sein. – Dergleichen allerdings wohl nicht, aber noch schlimmer. Die Reformation wurde, man könnte sagen, um ihren ganzen Geist und Kern gebracht – als man, die Landesfürsten als Landesbischöfe gelten ließ, als man gar einen Frieden schloß auf den Satz: cuijus regio, eius religio (wessen das Land, dessen der Glaube). Wenn jetzt der König von Preußen wirklich Kaiser werden sollte, so würde damit eine Art Papst. – Auf die Beschwerde der Königsberger gegen die Verhaftung Jacoby’s antwortete Bismarck, Ermächtigung und Befehl dazu seien vom König als Bundesfeldherrn ausgegangen, es finde also keinerlei Verantwortlichkeit des Ministeriums dafür statt. (...)
Politische Uebersicht
Die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses in verflossener Woche sind in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerth. Die in Nordschleswig wiedergewählten Abgeordneten Ahlmann und Kryger weigerten sich, wie schon mehrmals früher, den preußischen Unterthaneneid zu leisten, weil ihnen und ihren Wählern durch den Prager Frieden die dänische Nationalität garantirt sei. Das Abgeordnetenhaus (einschließlich der Fortschrittspartei) beschloß wie früher, das Mandat der Eidverweigerer für ungültig zu erklären. Man machte für diesen Beschluß namentlich fortschrittlicherseits folgenden Grund geltend: Entweder sind die Eidverweigerer und ihre Wähler, wie sie behaupten Dänen, dann gehören sie nicht vor den preußischen Landtag, oder aber sie sind Preußen, dann müssen sie den Eid leisten. Das ist aber Sophistik, und man hat durch die Ausstoßung nur bewiesen, daß man die Nordschleswiger nicht zu Deutschen machen kann, aber auch nicht Dänen bleiben lassen will, daß man also den Prager Frieden auch nach dieser Seite hin verletzt und dadurch die Keime eines neuen Krieges in den Boden des deutschen Kaiserthums gesteckt.
An meine Wähler
Parteigenossen! Ihr habt mir aufs Neue einen glänzenden Beweis Eures Vertrauens gegeben, indem ihr mich nunmehr zum dritten, zum Vertreter des 17. Wahlbezirks im Reichstag erwähltet.
Ihr habt mir Euer Vertrauen erhalten, obgleich ich nicht in Eurer Mitte erscheinen konnte, um meinen Standpunkt gegenüber der neuen Sachlage der Dinge darzuthun. Ebensowenig aber habt ihr Euch beirren lassen durch die heftige und niedrige Kampfweise, womit die Gegner den Wahlkampf führten.
Dies verbunden mit der Thatsache, daß der unterlegene Gegner als die gefeierte Größe des Liberalismus und Kapitalismus gilt, macht die diesmalige Wahl für mich doppelt ehrenvoll. –
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Nehmt dafür meinen wärmsten und innigsten Dank und das Versprechen, daß ich thun werde, was in meinen Kräften steht, Euer Vertrauen zu rechtfertigen.
Es lebe die Sozialdemokratie!
Das sei der Ruf, mit dem wir den neuen Kämpfen entgegenziehen.
Leipzig Bezirksgerichtsgefängnis, den 3. März 1871
Mit sozialdemokratischen Gruß zeichnet Euer August Bebel.
Dorfschulen in Frankreich
(...) Dennoch überraschend kommt und in einem Feldpostbriefe die nachfolgende Mitteilung eines scharfen und zuverlässigen Beobachters ( eines Kreisrichters, der als Offizier den Krieg mitgemacht) über das Verhältnis der französischen zu den deutschen Dorfschulen.
Der Brief lautet: (...)
Preußen hat auf der Ausstellung in Paris ein Dorfschulenlocal ausgestellt. Indeß wir können mit den größten Theil unserer Dorfschulen, die mir bekannt geworden sind, durchaus nicht konkurriren mit dem größten Theile der Dorfschulgebäude, welche ich bisher in Frankreich gesehen habe. (...)
„Das Kapital“ von Marx.*
Solange es Kapitalisten und Arbeiter giebt, ist kein Buch erschienen, welches für die Arbeiter von solcher Wichtigkeit wäre wie das vorliegende. Das Verhältnis von Kapital und Arbeit, die Angel, um die sich unser ganzes heutiges Gesellschaftssystem dreht, ist hier zum ersten Mal wissenschaftlich entwickelt, und das mit einer Gründlichkeit und Schärfe, wie sie nur dem Verfasser möglich war. Werthvoller wie die Schriften eines Owen, Saint – Simon, Fourier sind und bleiben werden, - erst Karl Marx war es vorbehalten, die Höhe zu bestimmen, von der aus das ganze Gebiet der modernen sozialen Verhältnisse klar und übersichtlich darliegt, wie die niedrigen Berglandschaften vor dem Zuschauer, der auf der höchsten Kuppe steht. (...)
Was ist der Werth der Arbeitskraft? Der Werth jeder Waare wird gemessen durch die zur Herstellung erforderliche Arbeit. Die Arbeitskraft existirt in der Gestalt des lebenden Arbeiters, sowie zur Erhaltung seiner Familie, welche die Fortdauer der Arbeitskraft auch nach dem Tode sichert, einer bestimmten Summe von Lebensmitteln bedarf. Die zur Hervorbringung dieser Lebensmittel nöthige Arbeitszeit stellt also den Werth der Arbeitskraft dar. Der Kapitalist zahlt ihn wöchentlich, und kauft dafür den Gebrauch der Wochenarbeit des Arbeiters. So weit werden die Herren Ökonomen so ziemlich mit uns über den Werth der Arbeitskraft einverstanden sein.
Der Kapitalist stellt seinen Arbeiter nun an die Arbeit. In einer bestimmten Zeit wird der Arbeiter soviel Arbeit geliefert haben, als in seinem Wochenlohn repräsentiert war. Gesetzt der Wochenlohn eines Arbeiters repräsentire drei Arbeitstage, so hat der Arbeiter, der Montags anfängt, am Mittwochabend dem Kapitalisten den vollen Werth des gezahlten Lohnes ersetzt. Hört er dann aber auf zu arbeiten? Keineswegs. Der Kapitalist hat seine Wochenarbeit gekauft, und der Arbeiter muß die letzten drei Wochentage auch noch arbeiten.
Diese Mehrarbeit des Arbeiters, über die zur Ersetzung seines Lohnes nöthige Zeit hinaus, ist die Quelle des Mehrwerths, des Profits, der stets anwachsenden Anschwellung des Kapitals.
Ma sage nicht, es sei eine willkürliche Annahme, daß der Arbeiter in drei Tagen den Lohn wieder herausarbeite, den er erhalten hat, und die übrigen drei Tage für den Kapitalisten arbeite. Ob er gerade drei Tage braucht, um den Lohn zu ersetzen, oder zwei oder vier ist allerdings ganz gleichgültig und wechselt auch nach den Umständen; aber die Hauptsache ist die, daß der Kapitalist neben der Arbeit, die er bezahlt, auch noch Arbeit herausschlägt, die er
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nicht bezahlt, und das ist keine willkürliche Annahme, denn an dem Tage, wo der Kapitalist auf die Dauer nur noch soviel Arbeit aus dem Arbeiter herausbekäme, wie er im Lohn bezahlt, an dem Tage würde er die Werkstatt zuschließen, da ihm sein ganzer Profit in die Brüche ginge.
Hier haben wir die Lösung aller jener Widersprüche. Die Entstehung des Mehrwerths (wovon der Profit des Kapitalisten einen bedeutenden Theil bildet) ist nun ganz klar und natürlich. Der Werth der Arbeitskraft wird gezahlt, aber dieser Werth ist weit geringer als derjenige, welchen der Kapitalist aus der Arbeitskraft herauszuschlagen versteht, und die Differenz, die unbezahlte Arbeit macht gerade den Antheil des Kapitalisten, oder genauer gesprochen, der Kapitalistenklasse aus. (...)
Andererseits wäre es abgeschmackt, anzunehmen, daß die unbezahlte Arbeit erst entstanden sei unter den gegenwärtigen Verhältnissen, wo die Produktion von Kapitalisten einerseits und Lohnarbeitern andererseits betrieben wird. Im Gegentheil. Die unterdrückte Klasse hat zu allen Zeiten unbezahlte Arbeit leisten müssen. Während der ganzen langen Zeit, wo die Sklaverei die herrschende Form der Arbeitsorganisation war, haben die Sklaven weit mehr arbeiten müssen, als ihnen in Form von Lebensmitteln ersetzt wurde. Unter der Herrschaft der Leibeigenschaft und bis zur Abschaffung der bäuerlichen Fronarbeit war dasselbe der Fall: Hier tritt der Unterschied handgreiflich zu Tage zwischen der Zeit, die der Bauer arbeitet für seinen Lebensunterhalt und der Mehrarbeit für den Gutsherrn, weil eben die letztere von der ersteren getrennt vollzogen wird. Die Form ist jetzt verändert, aber die Sache ist geblieben, und solange „ein Theil der Gesellschaft das Monopol der Produktionsmittel besitzt, muß der Arbeiter, frei oder unfrei, der zu seiner Selbsterhaltung nöthigen Arbeistszeit überschüssige Arbeitszeit zusetzen und die Lebensmittel für die Eigner der Produktionsmittel zu produziren“.
N° 29. Sonnabend, den 1. April 1871
Politische Uebersicht
Um Paris ist es also zum Kampf zwischen den Nationalgarden der Kommune und den Truppen der Versailler Regierung gekommen. Bei der bekannten Unzuverlässigkeit der offiziellen Telegramme läßt sich augenblicklich noch kein bestimmtes Urtheil über die dortige
Sachlage fällen. Die mobile Pariser Nationalgarde – deren Stärke auf 110.000 Mann geschätzt wird – erlitt bei Courbovie eine kleine Niederlage, die jedoch bei Weitem nicht die Dimensionen hat, welche ihr die Versailler Depeschen anlügen. Das eine aber ist wahr, daß die gefangenen Nationalgarden von den Versailler Militärs als Rebellen erschossen worden sind. Es ist leicht erklärlich, daß derartige Schandmaßregeln die Erbitterung der Pariser Kommune gegen Versailles nur erhöht haben und daß man in Paris nun erst recht nicht an Nachgiebigkeit denkt. Weitere Niederlagen der Nationalgarde sind aber nicht bekannt geworden; erscheint demnach, daß man in Versailles beim besten Willen keinen Stoff zu Siegesnachrichten mehr finden kann.
Welche Rolle den deutschen Truppen in dieser Krise zugedacht ist, läßt sich noch nicht klar erkennen. Nachdem die Versailler Regierung die ersten 500 Millionen der Kriegsentschädigung gezahlt hat, kann von einem Einschreiten gegen die Pariser Sozialisten nur im Einklang mit Thiers und Consorten die Rede sein. Und es ist keineswegs unmöglich, daß die nächste Zeit uns eine zweite Belagerung und Aushungerung von Paris bringt, aber nicht durch die deutschen Truppen, sondern durch die verbündeten Streiter des christlich – germanischen Kaisers und der französischen Ordnungsfanatiker. Die nationalliberale Presse meint diese Eventualität, sei eine prächtige Ironie der Weltgeschichte. Wir finden darin eine klassische Anerkennung des internationalen Prinzips, welches unsere deutschen Bourgeois und Reaktionäre mit derselben Nothwendigkeit auf die Seite der französischen Bourgeois und Reaktionäre drängt, wie die deutschen Arbeiter auf die Seite ihrer französischen Brüder. (...)
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Zu den Märztagen *
Das war ein Völkerfrühling! Wie der Schall der Posaune am Auferstehungstag, den die Gläubigen erwarten, schlug 1848 die Kunde von der Pariser Revolutionsschlacht an das Ohr des aufhorchenden Europa! In Banden geschlagen und gefesselt lag der ganze Welttheil nach furchtbaren Anstrengungen der sogenannten „Befreiungskriege“ und die im grauenhaft blutigem Ringen zusammengekitteten Throne lasteten so schwer auf den Völkern, daß diese kaum zu athmen vermochten.
* Der „Neuen Zeit“ in New York entnommen, einer trefflichen Wochenschrift, die bei dieser Gelegenheit unsern Lesern aufs Wärmste empfohlen sei.
„Das Kapital“ von Marx. II.
Im vorigen Artikel sahen wir, daß jeder Arbeiter, der vom Kapitalisten beschäftigt wird, zweifache Arbeit verrichtet: Während eines Theils seiner Arbeitszeit ersetzt er den ihm vom Kapitalisten vorgeschossene Lohn, und diesen Theil der Arbeit nennt Marx die nothwendige Arbeit. Nachher aber hat er noch weiter fortzuarbeiten und produzirt während dieser Zeit den Mehrwerth für den Kapitalisten, wovon der Profit einen bedeutenden Theil ausmacht. Dieser Theil der Arbeit heißt Mehrarbeit.
Wir nehmen an, der Arbeiter arbeite drei Tage der Woche zur Ersetzung seines Lohnes, und drei Tage zur Produktion von Mehrwerth für den Kapitalisten. Anders ausgedrückt heißt dieß, er arbeitet bei täglich zwölfstündiger Arbeit sechs Stunden zur Erzeugung von Mehrwerth. Aus der Woche kann man nur sechs, selbst mit Hinzuziehung des Sonntags nur sieben Tage schlagen, aber aus sieben einzelnen Tagen kann man sechs, acht, zehn, zwölf, fünfzehn und selbst mehr Arbeitsstunden schlagen. Der Arbeiter hat den Kapitalisten für seinen Tagelohn einen Arbeitstag verkauft. Aber was ist ein Arbeitstag? Acht stunden oder achtzehn?
Der Kapitalist hat ein Interesse daran, daß der Arbeitstag so lang wie möglich gemacht werde. Je länger er ist, desto mehr Mehrwerth erzielt er. Der Arbeiter hat das richtige Gefühl dafür, daß jede Stunde Arbeit, die er über die Ersetzung des Arbeitslohnes hinaus arbeitet, ihm unrechtmäßig entzogen wird; er hat an seinen eigenen Körper durchzumachen, was es heißt, überlange Zeit zu arbeiten. Der Kapitalist für seinen Profit, der Arbeiter für seine Gesundheit, für eine paar Stunden täglicher Ruhe, um außer arbeiten, schlafen und essen sich auch noch sonst als Mensch bethätigen zu können. Beiläufig bemerkt hängt es gar nicht vom guten Willen des Kapitalisten ab, ob sie sich in diesem Kampf einlassen wollen oder nicht, da die Conkurrenz selbst den philanthropischten unter ihnen zwingt, sich seinem Collegen anzuschließen, und solange Arbeitszeit zur Regel zu machen wie diese. (...)
Dieß sind, streng wissenschaftlich nachgewiesen – und die offiziellen Ökonomen hüten sich wohl, auch nur den Versuch einer Widerlegung zu machen – einige der Hauptgesetze des modernen kapitalistischen gesellschaftlichen Systems. Aber ist damit alles gesagt? Keineswegs. Ebenso scharf wie Mars die schlimmen Seiten der kapitalistischen Produktion, ebenso klar weist er nach, daß diese gesellschaftliche Form nothwendig war, um die Produktionskräfte der Gesellschaft auf einen Höhengrad zu entwickeln, der eine gleiche menschenwürdige Entwicklung der Glieder der Gesellschaft möglich machen wird. Dazu waren alle früheren Gesellschaftsformen zu arm. Erst die kapitalistische Produktion schafft die Reichthümer und die Produktionskräfte, welche dazu nöthig sind, aber sie schafft auch gleichzeitig in den massenhaften und unterdrückten Arbeitern die Gesellschaftsklasse, die mehr und mehr gezwungen wird, die Benutzung dieser Reichthümer und Produktionskräfte für die ganze Gesellschaft – statt wie heute für eine monopolistische Klasse – in Anspruch zu nehemen.
N° 30. Mittwoch, den 12. April 1871
Die Belagerung von Paris. Erste Periode. *
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Die Rolle, welche die Männer, die sich am 4. September als Regierung der Nationalen – Verteidigung proklamirten, zu spielen hatten, war eine dreifache. Sie beschränkte sich nicht auf die Mauern von Paris, sie endete nicht an den Grenzen Frankreichs, es war das Loos Europas, das der ganzen Welt, das auf dem Spiel stand.
Was hatten sie Europa gegenüber, der ganzen Welt gegenüber zu thun? Sie hatten zu erklären, daß sie nicht bloß die eindringenden Preußen bekämpften, sondern das Regime, welches an der Spitze der feindlichen Heere die Dreieinigkeit Wilhelm – Bismarck – Moltke repräsentirte. Wenn auch das monarchisch – capitailistische Europa sich gegen sie verbündet hatte, die junge Republik mußte ihm den Fehdehandschuh hinwerfen, wie einst ihre ältere Schwester im Jahre 1792.
N° 35. Sonnabend, den 29. April 1871
Politische Uebersicht
Die Lage von Paris hat sich noch nicht geändert. In die Waagschale des politischen Gleichgewichts, welches sich bis jetzt Versailles und Paris halten, fangen aber nun die größeren Städte an, ihr moralisches Gewicht zu Gunsten der Kommune zu werfen, welchem wohl bald die materielle Unterstützung folgen dürfte. Lyon und noch andere Städte bemühen sich nämlich, einen Vergleich zwischen Paris und Versailles anzubahnen, und zwar auf Grund der kommunalen Selbständigkeit von Paris sowie aller Städte, denen die Versailler Versammlung in ihrer reaktionären Wuth bekanntlich das Recht auf Selbstbestimmung abgesprochen hat. Auch die schon erwähnte republikanische Liga will den Vergleich nur unter Durchführung seines ursprünglichen kommunalen Programms, wonach Paris die am 18. März errungene Freiheit und Selbständigkeit behalte. (...)
N° 45. Sonnabend, den 3. Juni 1871
Juni 1848, März – Mai 1871..... ?
Am Sonntag nach achttägiger Straßenschlacht, erlag die Kommune. Die zweite Woge der sozialistischen Springfluth ist an den Mauern der Bourgeoisiegesellschaft zerschellt. Aber neue Sturmwellen, mächtiger als die zerschellten, wälzen sich heran – vielleicht noch eine wird zurückgeworfen, allein kein Gott, kein Mensch kann das Verderben abwenden von dem morschen Bau. (...)
Nr. 46. Mittwoch, den 7. Juni 1871
Politische Uebersicht
(...) In englischen Blättern lesen wir: „900 Nationalgarden von Belleville suchten durch die preußischen Linien zu entfliehen. Die Preußen erschossen einhundert und lieferten die übrigen aus. –
Weiteres über die Pariser Bluthochzeit: „Zahl der auf Seiten der Kommune Gefallenen und Hingerichteten (schreibt man dem „Daily Telegraph“ unter 29. Mai aus Paris) wird wahrscheinlich nie bekannt werden. In der Kaserne nahe dem Stadthause fanden gestern den ganzen Nachmittag hindurch Hinrichtungen statt. Jedesmal, nachdem eine Gewehrsalve gefeuert worden war, sah man geschlossene Hospitalkarren herauskommen, die mit Toten angefüllt waren. Seit gestern sind über 20,000 Personen verhaftet worden! Schon verschafft sich eine starke Stimmung Ausdruck, daß die Leiden der Hauptstadt während der letzten beiden Monate in der Schwäche der Regierung begründet seien, welche die Stadt am 18. März im Stiche ließ....Stündlich kommen neue Einzelheiten über verübte Gewalttaten zu Tage. Bei der Barrikade in der Nähe des Café wurden einige Verwundete lebendigen Leibes in einem Graben verscharrt. Ihr Stöhnen während der Nacht war fürchterlich. (...)
Bebel’s Rede über die Annexion von Elsaß – Lothringen.
Gehalten in der Reichstagsitzung vom 25. Mai 1871.
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Präsident: Der Abgeordnete Bebel hat das Wort.
Abgeordneter Bebel: Meine Herren, der Abgeordnete Windhorst begann bei der zweiten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfs seine Rede damit, daß er sagte, die Annexion sei eine Thatsache geworden, es sei deshalb über die Annexionsfrage nicht mehr zu sprechen.
Meine Herren, ich bin anderer Ansicht; obgleich die Annexion eine Thatsache ist, halte ich es doch für durchaus nöthig, gegen die Annexion zu sprechen und die Schäden und Nachtheile nachzuweisen, die sie meiner festen Überzeugung nach für die deutsche Zukunft in sich schließt. Ich gehöre nicht zu Denjenigen, die blindlings Thatsachen insofern anerkennen, daß meinen sie, müßten nicht mit diesen Thatsachen rechten, sondern sich damit zufrieden erklären. Nein, meine Herren, es war alles Vergangene in der Welt einmal eine Thatsache und ist dennoch über den Haufen geworfen worden, und ich glaube, daß die jetzt vollendete Thatsache der Annexion auf länger als zehn Jahre hinaus keine feste Thatsache bleiben wird, und insofern ist es Nothwendig, daß wir uns vergegenwärtigen, welche Zukunft uns bevorsteht. (...)
Meine Herren, es ist in der Vorlage den Elsaß – Lothringern sogar das Recht genommen worden, daß sie über ihre eigenen Angelegenheiten bestimmen
dürfen. Sie haben in den Beschlüssen, die sie in der zweiten Berathung gefaßt haben, ausdrücklich ausgesprochen, daß es bis zum ersten Januar 1873, also nunmehr noch auf zwei volle 17 Monate
hinaus, die Diktatur in Elsaß – Lothringen aufrecht erhalten werden müsse. Meine Herren, es ist sehr interessant, gerade von liberaler Seite die Ansichten zu hören, die dafür sprechen, eine solche
Diktatur aufrecht zu erhalten. Ich bin dem Herren Abgeordneten Treischke sehr dankbar dafür, daß er mit rückhaltloser Offenherzigkeit die Gründe angegeben hat, die seiner Meinung nach dafür sprechen,
eine solche Diktatur nothwendig zu machen, und welche dieselbe rechtfertigen sollen. Meine Herren, es ist von dem Herren Abgeordneten Treischke unter Anderem gesagt worden, es sei wichtig, unsere
Verwaltung, die preußischen Verwaltungsmaxime in Elsaß – Lothringen sobald als möglich zur Geltung zu bringen.
Aber welcher Art sind denn diese Verwaltungsmaxime? Derjenige Beamte, der gegenwärtig in Elsaß und Lothringen vorzugsweise kommandirt, ist der bekannte, oder ich möchte vielmehr sagen der berüchtigte
Herr von Kühlwetter, (Stimmen rechts oho!) der sich durch seine reaktionären Maßnahmen gegen die liberale Presse, gegen den fortschrittlichen Bürgermeister Tryss einen europäischen Ruf, aber keinen
guten europäischen Ruf erworben hat. (Sehr wahr! Links) (...)
Meine Herren, mögen die Bestrebungen der Kommune in Ihren Augen auch noch so verwerflich oder – wie gestern privatim geäußert wurde – verrückte sein – seien Sie überzeugt, das ganze europäischen Proletariat und Alles, was noch ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit in der Brust trägt, sieht auf Paris. (große Heiterkeit) Meine Herren, und wenn auch im Augenblick Paris unterdrückt ist, dann erinnere ich sie daran, daß der Kampf in Paris nur ein kleines Vorpostengefecht ist, daß die Hauptsache in Europa und noch bevorsteht, und daß ehe wenige Jahrzehnte vergehen, der Schlachtruf des Pariser Proletariats: Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Noth und dem Müßiggang!“ der Schlachtruf des gesamten europäischen Proletariats sein wird. (Heiterkeit) (...)
Der Herr Abgeordnete Treischke hat ferner am Sonnabend ausgesprochen, es gelte vor allen Dingen, das Gefühl für die monarchischen Institutionen wieder wachzurufen. Der Herr Abgeordnete Treischke ist allerdings Geschichtsprofessor; aber ich bezweifle doch, daß er das innere geistige Leben der Völker genau kennt; (Heiterkeit) denn sonst, meine Herren, könnte er unmöglich glauben, daß bei einer Bevölkerung mit solch revolutionären und republikanischen Traditionen, wie sie die elsässische Bevölkerung seit 80 – 90 Jahren in Verbindung mit Frankreich durchgemacht hat, es unmöglich sei, das monarchische Gefühl in Elsaß – Lothringen wieder herzustellen. (...)
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Ich von meinem Standpunkte aus protestire ich entschieden gegen die Annexion, weil ich sie für ein Verbrechen gegen das Völkerrecht halte, weil ich sie für einen Schandfleck in der deutschen Geschichte halte. Ich hoffe, daß die elsässische Bevölkerung ihrer freiheitlichen Mission bewußt, den freiheitlichen Kampf gemeinsam mit uns in Deutschland aufnehmen werde, damit endlich die Zeit komme, wo die europäischen Bevölkerungen ihr volles Selbstbestimmungsrecht erlangen, was sie aber nur bekommen können, wenn die Völker Europas in der republikanischen Staatsform das Ziel ihrer Bestrebungen erblicken. (Unruhe)
Französische und deutsche Annectirungen.
(Aus Wiener „Tagespresse“.) Vom Main, im Mai 1871
Handelt es sich darum, das preußische Verfahren gegen Frankreich zu rechtfertigen, so ist stets die Phrase bereit: „Die Franzosen hätten es ebenso gemacht, wenn sie gesiegt hätten!“ Ich werde mich nicht mit dem Nachweis aufhalten, daß das nichts heißt, als: Wir thun selbst, was wir Anderen zum Verbrechen anrechnen.
Ist nun diese an sich hinkende Ausrede auch nur wahr in ihrer anderen Bedeutung? Nicht einmal dies.
Die Franzosen haben allerdings, nachdem der König von Preußen ihnen im Baseler Frieden das deutsche linke Rheinufer überlassen hatte, und der deutsche Kaiser dann gezwungen war, zuzustimmen, dieses Gebiet ihrem Staate einverleibt. Aber wie verfuhren sie dabei? Haben sie die Einwohner ebenso, wie es jetzt in Elsaß – Lothringen geschieht, politisch und in gewisser Beziehung selbst bürgerlich rechtlos gestellt? Haben sie dieselben auf Jahre hinaus von der Volksvertretung ausgeschlossen, einer Diktatur unterworfen und unter absolutes Willkürregiment gebeugt? Das gerade Gegentheil haben sie gethan.
Sobald die förmliche Abtretung und die Organisation der neuen Departments erfolgt war, galten die Bewohner des neu erworbenen Landes als Franzosen und wurden als solche behandelt; sie genossen sofort alle Rechte, wie sie auch die gleichen Pflichten zu übernehmen hatten. Die Verfassung des Staates bestand für sie wie für alle anderen Franzosen, und an der Spitze dieser Verfassung (es wurde die Konstitution des Jahres III der Republik) erschien die Erklärung der „Menschenrechte“ in Folge deren sofort die Aufhebung der Feudallasten, die Befreiung des Grundes und des Bodens, die Einführung der Gewerbefreiheit und der übrigen sozialen Errungenschaften jener großen Revolution statt fand. (...)
N° 52. Mittwoch, den 28. Juni 1871
Mit dieser Ausgabe beginnt unter dem Titel „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ die Vorgeschichte und die Geschichte des Pariser Kommuneaufstandes, der am 18. März 1871 seinen Ausgang genommen hatte. Die letzte Folge erscheint in der Ausgabe N° 61 vom 29. Juli 1871.
Der Bürgerkrieg in Frankreich.
Adresse des Generalrathes der internationalen Arbeiterassoziation an alle Mitglieder in Europa und den Vereinigten Staaten.
Am 4. September 1870, als die Pariser Arbeiter die Republik proklamirten, der man fast in demselben Augenblick ohne eine einzige Stimme des Widerspruchs zujubelte – da nahm eine Cabale stellenjagender Advokaten mit Thiers als Staatsmann und Trochu als General Besitz vom Hotel de Ville (Stadthaus). Diese Leute waren damals durchdrungen von einem fanatischen Glauben an den Beruf von Paris, in allen Epochen geschichtlicher Krisis, Frankreich zu vertreten, daß, um ihren usurpirten Titel als Regenten Frankreichs zu rechtfertigen, es ihnen genügend schien, ihre verfallenen Mandate für Paris vorzuzeigen. In unserer zweiten Adresse über den letzten Krieg, fünf Tage nach dem Emporkommen dieser Leute, sagten wir Euch, wer sie waren. Und dennoch, im Sturm der Ueberrumpelung, mit den Führern der Arbeiter noch in Bonaparte’s Gefängnissen, und mit den Preußen schon im vollen
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Marsch auf Paris, duldete Paris ihre Ergreifung der Staatsmacht; aber nur auf ausdrückliche Bedingung hin, daß diese Staatsmacht dienen sollte einzig uns allein dem Zweck der nationalen Vertheidigung. Paris aber war nicht zu vertheidigen, ohne seine Arbeiterklasse zu bewaffnen, sie in eine brauchbare Kriegsmacht zu verwandeln und ihre Reihen durch den Krieg selbst einzuschulen. Aber Paris in Waffen, das war die Revolution in Waffen. Ein Sieg von Paris über die preußischen Angreifer wäre ein Sieg gewesen des französischen Arbeiters über den französischen Kapitalisten. In diesem Zwiespalt nationaler Pflicht und Klasseninteresse zauderte die Regierung der nationalen Vertheidigung keinen Augenblick – sie verwandelte sich in eine Regierung des nationalen Verraths.
N° 55. Sonnabend, den 8. Juli 1871
Arbeitermetzelei in Königshütte. Breslau, den 4. Juli 1871
Mittwoch, den 29. traf plötzlich und überraschend die Nachricht ein, daß in Königshütte Arbeitertumulte stattfänden. Man war um so mehr verwundert, weil man sonst von den polnischen Arbeitern volle Unterwerfung, ja knechtischen Gehorsam gewöhnt war; doch reißt endlich der allzu straff gespannte Bogen. Nur die außerordentlich starke Bedrückung, die nicht menschenwürdige soziale Lage konnten diese Vorfälle herbeiführen, da die Arbeiter dortiger Gegend politisch völlig indifferent und religiös fanatisch katholisch gesinnt sind, sich daher völlig von Pfaffen leiten lassen. Der eigentliche Grund war nicht die Einführung von Kontrollmarken, obwohl dieselben dem Arbeiter bedeutende Erschwerungen bereiteten, sondern die Verlängerung der Arbeitszeit von 8 auf 12 Stunden mit Beibehaltung des alten Lohnsatzes. Wenn nun die Arbeiter Könighütte’s leider bedauerliche Excesse begangen haben, so ist lediglich diese unmenschliche Forderung daran Schuld. (...)
Mit der Ausgabe Nr. 55 beginnt auch eine Serie unter dem Titel: „Zur Erinnerung an die deutschen Mordspatrioten 1806 – 1807“, die nur mit Unterbrechung der Folgen in den Ausgaben Nr. 60, 63, 64 und 65 bis zur Ausgabe Nr. 76 vom 10. September 1871 fortgesetzt wird.
Der ironisch gewählte Titel lässt schon die vernichtende Kritik erahnen über die Zustände in der preußischen Armee zu dem Zeitpunkt, die sich auszeichnete durch völlige Desorganisation, Hunger durch Mangel an Verpflegung, unzureichende Ausrüstung und Nachschub an Munition, was, alles zusammen genommen, zur Demoralisierung der Truppe führte, ganze Einheiten warfen ihre Waffen weg und ergriffen die Flucht.
Die Folgen geben einen aufschlussreichen Überblick über das Kriegsgeschehen in Preußen in den Jahren 1806 und 1807 und über das gänzliche Versagen seiner politischen und militärischen Führung. Auffällig ist, dass der Name Napoleon I. in den zahlreichen Kämpfen und Niederlagen Preußens kaum erwähnt wird.
In den Ausgaben Nr. 56 vom 12. Juli 1871 und 57 vom 16. Juli 1871 werden die Schlachten bei Jena und Auerstedt abgehandelt, mit der Ausgabe Nr. 58 vom 20. Juli 1971 beginnt mit der Bezeichnung: Kapitulation Nr. 1 die kontinuierliche Aufzählung bis zur letzten Folge Nr. 76 vom 20. September 1871. Mit Kapitulation Nr. 23 endet die Schilderung des endgültigen Zusammenbruchs allen preußischen Widerstandes auch im Festungsbereich. Es wird
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dargestellt, dass die Übergabe der Festungen oft geschah, ohne dass die Kapazitäten an Munition und Verpflegung erschöpft waren, dennoch der Kampfeswille vorschnell erlahmte.
Hier einige Auszüge:
Zur Erinnerung an die deutschen Mordspatrioten. 1806 – 1807.
Es ist männiglich bekannt, daß Preußen 1806 in jämmerlicher Weise zu Fall gekommen ist. Die schmutzige Kette der schmachvollen Einzelheiten des Zusammensturzes ist den Blicken des ganzen Volkes aufs Sorgsamste entrückt worden. Die Geschichtsbücher gehen hurtig in kindisch – dummer Vaterlandsliebe und Unwissenheit über diesen Zeitpunkt hinweg. (...)
Den Franzosen konnte nie daran gelegen sein, die innere Fäulnis ihrer damaligen Gegner zu enthüllen, weil sie sonst ihre eigene „Gloire“ mit in den Koth zogen.
Reichlichen, wenn auch nicht vollständigen Aufschluß bietet das Buch: „Der Krieg von 1806 und 1807. Ein Beitrag zur Geschichte der preußischen Armee, nach den Quellen des Kriegsarchivs, bearbeitet von Eduard Höpfner, Generalmajor und Direktor der Königlichen allgemeinen Kriegsschule. Zweite Auflage. Berlin 1855“.
Die erste war 1850 erschienen. In der 1849 geschriebenen Vorrede sagt er: zum Schluß muß der Verfasser noch die Quellen erwähnen, deren er sich zu seiner Arbeit bedient hat. Es sind außerdem allen zugänglichen gedruckten Werken besonders die Akten gewesen, welche aus den gerichtlichen Untersuchungen hervorgegangen sind, die nach dem Kriege gegen diejenigen eingeleitet wurden, welche durch Kapitulation oder sonst wie in feindliche Gefangenschaft gerathen waren, oder die sich wegen anderer Ereignisse ausweisen mußten, daß sie ihre Schuldigkeit gethan hatten. Was aber in dem vorliegenden Werke gegeben worden, beruht zum großen Theil auf gerichtlich festgestellte Aussagen. Außerdem hat der Verfasser aber auch die Akten des geheimen Staatsarchivs........ vielfältig benutzt.
N° 56 Mittwoch, den 12. Juli 1871
Zur Erinnerung an die deutschen Mordspatrioten 1806 – 1807
Jena
Die Infantrie des Generals Tauentzien wird zurückgeworfen. „Der General bemüht sich lange vergeblich, um dem Artilleriefeuer der Franzosen gewachsen zu sein, die Granatbatterie Tülmann ins Gefecht zu bringen, erst als er gegen den Führer zum Äußersten geschritten war, rückte die Batterie in die Linie.....diese Batterie wurde später auf dem Rückzuge von ihrer Deckung, einer halben Schwadron Gettkandt – Husaren verlassen, blieb in einem tiefen mit Weiden bepflanzten Graben liegen und fiel dem Feinde in die Hände. – (...)
Die preußische Kavallerie glänzte eben so wenig als die sächsische. 250 Holtzendorf – Kürassiere, welche die preußische reitende Batterie Steinwehr vertheidigen sollten, schlugen sich jämmerlich gegen das französische Chasseurregiment, gaben „Fersengeld, brachten Unordnung, und das ganze warf sich auf die weiter zurückstehende Infantrie und durchbrach diese“. Die Batterie Steinwehr wurde verloren; mit der Kavallerie war nicht Ernstes mehr zu unternehmen. (...)
N° 57 Sonnabend, den 16. Juli 1871
Zur Erinnerung an die deutschen Mordspatrioten 1806 – 1807
Auerstedt
(...) Man war in Deutschland, und doch hatten die Soldaten hungern müssen. Im Vorposten und Kundschafterdienst waren die Deutschen schlechter bedient als die Franzosen. Vom eigenen Vaterlande hatte man keine oder sehr schlechte Spezialkarten. Die Bekleidung der Armee war ganz jämmerlich. (...)
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„Man hatte die Armee in einer Organisation und in einer Ausrüstung belassen, die der Kriegsführung der Zeit nicht mehr angemessen war, indem man nichts von den neueren Kriegserfahrungen angenommen, das alte Linearsystem strikte beibehalten hatte desselben – nicht wie die Engländer – vorzugsweise auszubilden, so daß man der neuen Taktik der Franzosen mittellos gegenüber stand, und eigentlich von Tiralleur – und Artilleriefeuer allein geschlagen wurde, indem man in dem reichen Lande, in dem man sich befand, sich nicht nur Requisition entschließen konnte und Leute und Pferde hungern ließ.
Schlimmeres als den Rückzug von Jena und Auerstedt haben die Franzosen im letzten Krieg nicht geleistet. „Das Ganze glich völlig dem Zuge einer Kavallerie. Die Leute warfen sich auf alle Häuser, um Hunger und durst zu stillen, oder zerstreuten sich auf dem Felde, um Rüben zu suchen. Wagen, einzelne Geschütze, Jäger und Infanterie, einzelne Reiter alles bunt durcheinander. (...)
(...) Der Feldadjudant, Major Graf Dönhof, wurde von dem Hohenzollern am 15. morgens zu Napoleon nach Weimar gesandt mit einem in elendem Französisch geschriebenen Bettelbriefe, den Höpfner vorzieht nicht in deutscher Uebersetzung zu geben, darin steht zu lesen:
„Eure kaiserliche Majestät wollen doch ja sich mit mir verständigen, und die Beziehungen wieder aufnehmen, die so glücklicher Weise bisher zwischen uns bestanden haben. Mit der größten Aufrichtigkeit reiche ich die Hand dazu, gerade wie ich mit der größten Breitwilligkeit entgegengekommen wäre, wenn das Glück meine Waffen begünstigt hätte.
Sire, theilen Sie mir die Grundlagen mit, auf die hin Eure Majestät Alles der Vergessenheit anheim geben wollen, was uns entzweite, da doch unsere Freundschaft über alle Zweifel erhaben sein sollte. Eure Majestät werden mich bereit finden, Allem zuzustimmen, was auf immer unsere Einigkeit herstellen kann. Eure Majestät erhabene Seele und Aufrichtigkeit sind mir zum voraus sichere Bürgschaften dafür, daß Sie nichts verlangen werden, was gegen meine Ehre und die Sicherheit meiner Staaten ist.“.....
Dabei war dieser Friedrich Wilhelm insgeheim unter Kontrakt mit den Russen, die ja auch offen vorgaben, ihm zu Hülfe zu ziehen, während sie allerdings ungestört dort hinten in Europa gegen die Türken hin räubern wollten. (...)
N° 71. Sonnabend, den 2. September 1871
Zur Erinnerung an die deutschen Mordspatrioten 1896-1807
Zustände in Schlesien
Die Civilverwaltung Schlesiens war in den Händen eines traurigen Ritters des fridericianischen Patriotismus, des Grafen Hoym, die Militärangelegenheiten in denen das Generalmajor Lindener. Der Bildung von so genannten Land – Reserve – Bataillionen widersetzte sich Hoym, „weil er sich nie von dem Nutzen, wohl aber von dem nicht zu übersehenden Schaden solcher Aufgebote überzeugen konnte, und schauderte, wenn er nur daran dachte. Auch erklärte Hoym öffentlich, „daß Alles verloren und alle Anstrengungen umsonst seien,“ und als die Niederlage der preußischen Armee in Schlesien bekannt geworden war, befahl er einen Erlaß an die Einwohner: „im Falle einer feindlichen Invasion, den feindlichen Truppen mit Bereitwilligkeit und höflichen Betragen zuvorzukommen, und, soweit es die Kräfte erlauben würden, ihre Forderungen zu befriedigen, sich auch die Annäherung des Feindes, in Zeiten hierzu gefaßt zu machen – und eine solche Aufforderung wurde sogar in der Festung Schweidnitz, unter den Augen des Kommandanten, den Bürgern vom Magistrat durch öffentliche Anschläge mitgetheilt.“ Höpfner fügt hinzu, daß ein solcher Erlaß „im völligen Gegensatz zu dem Landsturm – Edikt von 1813“ war. In Frankreich wollten die Deutschen aber jüngsthin die Franzosen nach den Grundsätzen Hoyms handeln sehen, obgleich ihn niemand zu Hause zu vertheidigen wagt. (...)
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N° 72. Mittwoch, den 6. September 1871 Die heilige Allianz der Völker!
Ich sah den Frieden jüngst herniedersteigen,
Er streute Blumen rings und lichtes Gold;
In allen Thälern schlief ein holdes Schweigen,
Wo eben noch des Krieges Sturm gegrollt.
„Erwacht!“ so klangs von seinem Göttermunde,
„Erwacht!“ vom Ebro bis zu der Wolga Strande!
„Schließt Eure Reih’n zum großen Völkerbunde,
„Reicht Euch die Bruderhand!“ (...)
Gedicht in sechs Strophen von Béranger*
* Der berühmte Chansonnier und größte Lyriker Frankreichs, geboren 1780, gestorben 1857. Obiges Gedicht wurde genau vor 50 Jahren (1821) zum ersten Mal veröffentlicht.
N° 77. Sonnabend, den 23. September 1871
Politische Uebersicht
Das Versailler Ordnungsbanditenparlament hat sich vertagt, nachdem es noch durch Annahme eines von Bismarck angebotenen Vertrages zur raschen Räumung Frankreichs sein Verständniß des internationalen Charakters der Reaktion bethätigt hatte. Besagter Vertrag, der damit besteht, daß gegen gewisse mit Bezug auf Elsaß und Lothringen bewilligte Zollunionen, die deutsche Okkupationsarmee bis auf 50000 Mann sofort zurückgezogen wird, beweist schlagend, daß der „geniale Staatsmann“ aus dem furchtbar gespannten Verhältnis zu Frankreich herauszukommen wünscht – ein Wunsch, der natürlich unerfüllbar ist. –
N° 80. Mittwoch, den 4. Oktober 1871
Beilage Nr. 80 des „Volksstaat“.
Sozialismus uns Kommunismus.
In Berlin, am Montag, den 28. August, referirte ich in unsern Verein über Sozialismus und Kommunismus; meine Worte fanden in der stark besuchten Versammlung Beifall, und man beschloß sie als besondere Broschüre zum Behufe der Agitation zu veröffentlichen. Ich entschloß mich daher zu folgendem gedruckten Referate: Damit man gleich wisse, worauf ich lossteuere, - so begann ich – wolle ich von vorn herein sagen, dass für mich der Sozialismus die Frage sei, auf welche der Kommunismus die Antwort gebe; „jener Frage „wie?“, dieser Antworte ich“; jener sei die Theorie, dieser die Praxis; wer wahrhaftiger Sozialist sein wolle, müsse Kommunist sein; das Eine sei die zwingende Folge des Andern.
Mit der Gesellschaftswissenschaft habe man sich schon vor mehr denn zwei Jahrtausenden bei den Griechen eingehend beschäftigt, wie ich in kurzen Zügen an Platon’s Idealstaat und an den politischen Untersuchungen des Aristotoles nachwies, von denen der Erstere freilich nur für den Kriegerstand, schon stark kommunistische Forderungen gestellt habe, der Letztere aber besonders durch seine Lehre von der Sklaverei, die er durch die natürlichen Verschiedenheiten und durch die Niedrigkeit der Gesinnung der Sklaven zu rechtfertigen suchte, uns zum Beweise dafür diene, daß selbst die größte Gelehrsamkeit der damaligen Zeit einseitig bornirt gewesen sei, sobald es sich um die Berechtigung der Unterdrückten gehandelt habe, und doch gehe aus der Untersuchung hervor, daß der höchste Grundsatz, der in einem gut geordneten Staatswesen zur Geltung kommen müsse, der der Gerechtigkeit sei, ein Satz,
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der noch heute und auch für uns unerschütterlich fest stehe. Jene Griechen hatten aber nur ein theoretisches Interesse an ihren Untersuchungen gehabt; praktisch auf die Gestaltung der Staatsverhältnisse einzuwirken, hatten sie weder beabsichtigt noch vermocht, und der Versuch, der unter Dionysius dem Jüngeren auf Sicilien gemacht worden sei, die platonischen Lehren im Staatswesen zur Geltung zu bringen, sei zweimal kläglich gescheitert. Das Mittelalter sei so sehr mit dem „Gottesstaat“ – und über einen solchen habe auch der „heilige“ Augustinus geschrieben, - beschäftigt gewesen, daß der Untersuchung, wie die Erde in einen solchen umzuwandeln sei, einstweilen das Faustrecht unter den Menschen Platz gegriffen habe. Erst zur Zeit der Reformation sei einer der Humanisten Englands, ein Standesgenosse unseres Thronerschütternden Bismarck, von dem wir trotz Held’s* flammender Aufforderung dazu eine ähnliche Thätigkeit wohl kaum zu erwarten hätten, mit einer Schrift hervorzutreten, die die soziale Frage von neuem in Angriff genommen habe. Bei diesem wunderbaren Buche „De optimo republicae statu“ (Ueber die beste Staatsverfassung) verweilte ich etwas länger, indem ich aus dessen zweiten Theile über den Staat der Utopier, und die Verfassung der Amauroten Manches zu Belege dafür beibrachte, wie der Verfasser, der Staatskanzler Thomas Morus, zum Theil weiter gegangen sei, wie wir heutzutage. So sei in jenem Staate der Normalarbeitstag nur 6 Stunden lang gewesen. Und dauernder Unterschied zwischen Stadt – und Landbewohnern habe nicht existirt. Doch schon die Namen: Staat der Utopier, d. h. „Staat, der noch nicht vorhanden ist und Armauroten, d. h. „Unbekannte“ geben uns zu verstehen, daß Morus uns nur ein Phantasiegebilde vorzuführen beabsichtigte, und wenn ihm sein Herzensfreund Desiderius Erasmus das prächtige Büchlein „Lob der Narrheit“ widmete, so liege darum die Andeutung, ein wie wunderlicher Narr derjenige gewesen sein muß, der den Gedanken fassen wollte, daß ein solcher Staat ins Leben treten könne. (...)
Frage nun, wie die erstrebte Umwälzung der bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen solle vollzogen werden und ob nun in offener Empörung sich gegen den Besitz zu erheben beabsichtige, so sei die Antwort darauf, daß sich diese Umwälzung von selber vollziehen müsse und werde. Blutige Revolutionen, die erfolgreich sein sollen, können nicht künstlich erzeugt werden, da der Unterdrücker im Besitze ungeheurer Machtmittel sei und es thöricht wäre sich nutzlos hinzuopfern. Aber die geistige Revolution, d. h. die Agitation für den zukünftigen Staat, müsse fortdauernd auf dem Wege der Selbstentwicklung und der Belehrung der noch unbefangenen ins Werk gesetzt werden..
Berlin, 12. September Gustav Kwasniewski
* Besagter Berliner Zeitungsrenomist und 48er Straßendemokrat hat vor mehreren Monaten nämlich an Bismarck ein offenes Schreiben gerichtet, in dem er ihn zur Lösung der sozialen Frage aufforderte. D. Red. D. V.
N° 93. Sonnabend, den 18. November 1871
Ein Geschichtsschreiber 1)
Latter Day Pamphlets by Thomas Carlyle.
N° 1: The Present Time. – N° 2: Model Prisons. – London, 1850. (Pamphlete des jüngsten Tags. Herausgegeben von Thoma Carlyle. N° 1: die Gegenwart. N° 2: Mustergefängnisse. – London 1850.
Thomas Carlyle ist der einzige englische Schriftsteller, auf den die deutsche Literatur einen direkten und sehr bedeutenden Einfluß ausgeübt hat. Schon aus Höflichkeit darf der Deutsche seine Schriften nicht unbeachtet lassen.
Wir haben aus der neuesten Schrift von Guizot ( 1. Heft III. der N. Rh. Z.) gesehen, wie die Kapazitäten der Bourgeoisie im Untergehen begriffen sind. In den vorliegenden zwei Broschüren von Carlyle erleben wir den Untergang des literarischen Genies an den akut gewordenen geschichtlichen Kämpfen, gegen die er seine verkannten unmittelbaren, prophetischen Inspirationen geltend zu machen sucht.
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Thomas Carlyle hat das Verdienst gegen die Bourgeoisie aufgetreten zu sein, zu einer Zeit, wo ihre Anschauungen, Geschmacksrichtungen und Ideen die ganze offizielle englische Literatur unterjochten, und in seiner Weise, die mitunter sogar revolutionär ist. So in seiner französischen Revolutionsgeschichte, in seine Apologie Cromwells, in dem Pamphlet über den Chartismus, und in „Past and Presence2).“ Aber in allen diesen Schriften hängt die Kritik der Gegenwart eng zusammen mit einer seltsamen Apotheose3) des Mittelalters, auch sonst häufig bei englischen Revolutionären z. B. bei Cobett und einem Theil der Chartisten. Während er in der Vergangenheit wenigstens die klassischen Epochen einer bestimmten Gesellschaftsphase bewundert, bringt ihm die Gegenwart zur Verzweiflung, graut ihm vor der Zukunft. Wo er die Revolution anerkennt oder gar apotheosirt4) konzentrirt sie sich ihm in den einzelnen Individuen, einem Cromwell oder Danton. Ihnen widmet er denselben Heroenkultus, den er in seinen „Lectures on Heroes“ 5) als einzige Zuflucht aus den verzweiflungsschwangeren Gegenwart als eine Religion gepredigt hat.
Wie die Ideen so der Styl Carlyle’s. Er ist eine direkte, gewaltsame Reaktion modern = bürgerlichen englischen Recksniff = Styl 6) dessen gespreizte Schlaffheit, vorsichtige Weitschweifigkeit und moralisch sentimental zerfahrene Langweiligkeit von den ursprünglichen Erfindern, den gebildeten Cockneys 7) auf die ganze englische Literatur übergegangen ist. Ihr gegenüber behandelte Carlyle die englische Sprache wie ein vollständig rohes Material, das er von Grund aus umzuschmelzen hatte. Veraltete Wandlungen und worte wurden wieder hervorgesucht und neue erfunden nach deutschem Jean Paul’schen Muster. Der neue Styl war oft himmelstürmend und geschmacklos, aber häufig brillant und immer originell. Auch hier zeigen die Latter – Day Pamphlets einen merkwürdigen Rückschritt.
Uebrigens ist es bezeichnend, daß aus der ganzen deutschen Literatur derjenige Kopf, der am meisten Einfluß aus Carlyle geübt hat, nicht Hegel war, sondern der Literarische Apotheker Jean Paul.
Der Kultus des Genius, den Carlyle mit Strauß theilt, ist in den vorliegenden Broschüren der Genius abhanden gekommen. Der Kultus ist geblieben.
N° 94. Mittwoch, den 22. November 1871
Politische Uebersicht
Recht für den Arbeiter
Wegen der Teilnahme an den Königshütter „Unruhen“ wurden im Juli d. J. 117 Arbeiter verhaftet, und, obgleich es sich sofort herausstellte, daß Verabredungen und Vorbereitungen nicht stattgefunden hatten, und folglich kein planmäßiges Handeln oder gar Complott vorlag, so wurden doch sämtliche Verhaftete 5 Monate lang in Untersuchungshaft gehalten, bis zum
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Beginn der Schwurgerichtsverhandlungen in Beuthen. Die Verhandlungen bestätigten nur, daß dem Exzeß jeder Charakterzug eines Complotts abging, daß er völlig spontan ( nicht durch äußere Einflüsse veranlasst) gewesen war, und „Rädelsführer“ nicht existirten. Das Urtheil ist nun gefällt sechsunddreißig Arbeiter sind zu Zuchthaus von 1 Jahr bis 1 Jahr und 8 Monate verurtheilt, neunundfünfzig zu Gefängnis von 4 Wochen bis 1 Jahr, und nur zweiundzwanzig freigesprochen.
Ein Geschichtsschreiber. (Schluß)
Man sieht, wie der „Edle“ Carlyle von einer durchaus pantheistischen Anschauungsweise angeht. Der ganze geschichtliche Prozeß wird bedingt nicht durch die Entwicklung der lebendigen Massen selbst, die natürlich von bestimmten aber selbst wieder historisch erzeugten wechselnden Voraussetzungen abhängig ist; er wird bedingt durch ein ewiges für alle Zeiten unveränderliches Naturgesetz, von dem er sich heute entfernt und dem er sich morgen wieder nähert; und auf dessen richtige Erkenntniß Alles ankommt. Diese richtige Erkenntniß des ewigen Naturgesetzes ist die ewige Wahrheit, Alles andere ist falsch. Mit dieser Anschauungsweise lösen sich die wirklichen Klassengegensätze, so verschieden sie in verschiedenen Epochen sind, sämtlich auf in dem Einen großen und ewigen Gegensatz Derer, die das ewige Naturgesetz ergründet haben und danach handeln, der Weisen und Edlen, und Derer, die es falsch verstehen, es verdrehen und ihm entgegen wirken, der Thoren und Schurken. Der historisch erzeugte Klassenunterschied wird so zu einem natürlichen Unterschied, den man selbst als einen Theil des ewigen Naturgesetzes anerkennen muß, indem man sich vor dem Edlen und Weisen der Natur beugt: Kultus des Genius. Die ganze Anschauung des historischen Entwicklungsprozesses verflacht zur platten Trivialität der Illuminaten - und Freimaurerweisheit des vorigen Jahrhunderts zur flachen Moral der Zauberflöte und zu einem unendlichen verkommenen banalisirte Saint – Simonismus. (...)
N° 97. Sonnabend, den 2. Dezember 1871
Politische Uebersicht
Zum Kapitel vom Preußischen Schulmeister „der bei Sodawa etc. siegte.“ In der Debatte um das Pfaffenmaßregelungsgesetz sagte der Fortschrittliche Abgeordnete Richter: „Die Regierungen wollen dem Volk keine Waffen gegen den Ultramontanismus in die Hand geben; sie wollen ihn nur abhalten, in ihre eigene Machtsphäre einzugreifen. Von Staats wegen lässt man die Jugend systematisch verdummen, und die Alten will dann durch Zwangsmittel vor den Folgen ihrer Dummheit schützen.“ Diese „Verdummung der Jugend von Staats wegen“ geschieht bekanntlich in den Schulen durch die schulregulativirten Schulmeister haben allerdings „bei Sadowa etc. gesiegt. –
N° 101. Sonnabend, den 16. Dezember 1871
Der Sozialismus des „Neuen Sozialdemokrat“. ( Aus der „Demokratischen Zeitung“)
Es ist recht erfreulich, daß der „Neue Sozial = Demokrat“ nunmehr seine Maske, die er bisher vorgehalten, fallen gelassen hat: er veröffentlicht in jeder Nummer Verleumdungen und Verdächtigungen gegen die internationale Arbeiterassoziation, in edlem Wetteifer mit der „Norddeutschen Allgemeinen“ und der „Kreuzzeitung“ , welche mit vielem Behagen seine Ergüsse abdrucken; dieselben rühren zumeist von einem gewissen Herrn Schneider berüchtigten Stuttgarter Angedenkens, her und sind fast wörtlich identisch mit den bereits von Polizeispionen in deutschen offiziösen Blättern wiedergegebenen „Enthüllungen“.