Wenn das Weizenkorn nicht in die Erdc fällt und erstirbt, bleibt es allein, wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.
(Evangelium nach Johannes Kapitel 12, Vers 24)
Der Herr Jesus in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach's und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis. (Brief des Apostels Paulus die Gemeinde in Korinth, 1. Korinther Kapitel 11, Vers 23 und 24)
Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Denn ein Brot ist's, so sind wir viele ein Leib, weil wir alle eines Brotes teilhaftig geworden sind. (Brief des Apostels Paulus an die Gemeine in Korinth, 1. Korinther, Kapitel 10, Vers 16 und 17)
Dies ist das Brot, das vom Himmel herabkommt, auf dass, wer davon isset, nicht sterbe. (Nach Evangelium Johannes, Kapitel 6, Vers 50)
Christliches Manifest
Grundsätzliches
Die nachfolgenden Texte haben zwei grundverschiedene Themenbereiche zum Inhalt, aus historischer Sicht und inhaltlich. Es geht um christliche Kirchen-und Dogmengeschichte mit dem Titel „Christliches Manifest“ und um die Geschichte der Sozialdemokratie, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann. Die Geschichte der christlichen Kirchen erstreckt sich über einen Zeitraum von mehr als zweitausend Jahren, die der Sozialdemokratie über wenig mehr als einhundertfünfzig Jahre. Die Zielsetzungen beider sind unterschiedlich, oft auch gegensätzlich verlaufen. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergeben haben, genauer, währende der NS-Herrschaft mit Beginn 1933. Teile der Kirchen der beiden großen Konfessionen waren Verfolgungen ausgesetzt. Die SPD schon vor den Wahlen zum Deutschen Reichstag am 5. März 1933, nach dem Machtantritt Hitlers am 30. Januar 1933, besonders aber nach der Verweigerung der SPD am 23. März 1933, Hitler die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz zu geben. Die Verfolgungsmaßnahmen gegen die protestantischen Kirchen, den Lutheranern und der Reformierten, begannen vermehrt seit der „Barmer Erklärung“, die Ende Mai 1934 erfolgte, und weitgehend von dem reformierten Theologen Karl Barth verfasst worden war, der aufgrund seines umfangreichen theologischen Werkes „Kirchliche Dogmatik“ einen weltweiten Ruf unter den christlichen Theologen erlangt hatte. Karl Barth ist 1931 in die SPD eingetereten. Die katholische Kirche setzte sich gegen den nationalsozialistischen Machtanspruch mit der Enzyklika des Papstes Pius XI. „Mit brennender Sorge“ zur Wehr. Sie hatte mit der NS-Regierung im Juli 1933 ein Konkordat abgeschlossen und musste erkennen, dass die darin gemachten Zusagen von den Machthabern der NSDAP nicht eingehalten wurden. Um die „Barmer Erklärung“ gruppiert sie die „Bekennende Kirche“. SPD und protestantischer Widerstand hatten eines gemeinsam: Beide wurden in ihrem Ringen gegen den Machtanspruch der NS-Regierung von internationaler Ebene aus im Stich gelassen. Dietrich Bonhoeffer hatte beim „Rat der ökumenischen Kirchen“ in Genf vergeblich versucht, die „Bekennender Kirche“ aufgrund ihres klaren Bekenntnisses als wahre protestantische Kirche in Deutschland anzuerkennen. Ebenso hat auch die SPD von außerhalb Deutschlands keinen Rückhalt und Solidarität erfahren.
Inhaltsverzeichnis (BK) Band I
Inhaltsverzeichnis I
Vorwort II-VII
Einführung und Zielsetzung 1
Artikel 1 Eckpfeiler des christlichen Glaubens 2
Artikel 2 Voraussetzungen für das Leben in christlicher Gemeinschaft 4
Artikel 3 Historische Wurzeln des Christentums 5
Artikel 4 Verschiedene christliche Konfessionen und Denominationen 6
Artikel 5 Der europäische Raum als christlicher Raum 8
Artikel 6 Kreationismus 11
Artikel 7 Christentum und deutsche Geschichte in ihrem Kontext 14
a) Sozialpolitische und sozialethische Sicht 14
b) Der christliche Glaube in der deutschen Geschichte in ihrem 47
Kontext
c) Die Erneuerung des Römischen Reiches. (Renovatio imperii
Romanorum) 70
d) Das Heilige Römische Reich von 814 bis 1254 unter Einschluss
der theologischen Geistesströmung der Scholastik 116
e) Die Kirche des Ostens
f) Das 14. Jahrhundert: Schisma und Babylonische Gefangenschaft
Band II
g) Das 15. Jahrhundert: Hinwendung zum Humanismus. Savonarola
als Gegenbewegung
h) Das 16. Jahrhundert: Das Jahrhundert der Bekenntnisse
und Reformationen
i) Das 17. Jahrhundert: Das Jahrhundert des Krieges und des Schreckens
j) Das 18. Jahrhundert: Aufklärung mit Pietismus als Gegenbewegung
k) Das 19. Jahrhundert: Vom Idealismus zum Materialismus
l) Das 20. Jahrhundert und der große Abfall
m) Das 21. Jahrhundert: Das Jahrhundert der Entscheidung
Artikel 8 Jesus Christus als menschliche Person in menschlicher Beziehung
Vorwort II
Ecclesia semper reformanda est
Die (christliche) Kirche befindet sich in einen immerwährenden Prozess der Reformation.
Der Theologe Karl Barth (1886-1968) hat in einer Abhandlung im Jahre 1947 sich dieses Grundsatzes bedient, der vom Kirchenvater Augustin (354-430) tausendfünfhundert Jahre zuvor aufgestellt worden war. Es hat in der Menschheitsgeschichte noch keine Organisation gegeben die über einen so langen Zeitraum von mehr als zweitausend Jahren ohne Unterbrechung bestand gehabt hat wie die katholische Kirche, aus der schließlich andere christliche Kirchen hervorgegangen sind, die aber ohne die Geschichte Israels, genauer Judas, zur Zeit des Altertums einen Vorläufer hatte, der als Ausgang für das Werden der christlichen Kirche angesehen werden muss, außerdem wurde das Fundament zur Ausbreitung des christlichen Glaubens in alle Welt von jüdischen Menschen gelegt.
Zeiten eines christlich kirchlichen Bekenntnisses waren immer auch Krisenzeiten. Das gilt schon von Anbeginn der christlich katholischen Kirche im 4. Und 5. Jahrhundert, die Zeit der Konzile von Nicäa, Konstantinopel und Chalcedon. Auf dem Konzil von Nicäa (325) wurde als erstes umfassendes Glaubensbekenntnis, das Apostolikum, formuliert, das anerkannt ist von der römisch-katholischen Kirche, den orthodoxen Kirchen, der anglikanischen Kirche, den lutherischen Kirchen, und der evangelisch-methodistischen Kirche. Auf dem Konzil in Nicäa (325) wurde der theologische Streit um die von Arius (260-336) vertretene Lehre entschieden zugunsten der von Athanasius (298-373) vertretenen theologischen Richtung, was aber nicht bedeutete, dass die Kontroversen damit ein Ende gefunden hätten. Auf dem ersten Konzil in Konstantinopel (381) wurde das auf dem Konzil von Nicäa verfasste Bekenntnis bestätigt und durch ein weitergehend formuliertes Bekenntnis bekräftigt. Auf dem Konzil von Chalcedon (451) fand die Auseinandersetzung ihre Fortsetzung im Streit um das Verhältnis zwischen göttlicher und menschlicher Natur von Jesus Christus. Es wurde festgelegt, Jesus Christus sei wahrer Gott und wahrer Mensch. Die Lehre von der Dreieinigkeit wurde zum Dogma erhoben. Im zweiten Konzil von Konstantinopel (553) wurde weiter um die Fragen gerungen, die auch bestimmend gewesen waren auf dem Konzil von Chalcedon, bestimmend für die nachfolgende Kirchengeschichte als Grundlage blieb das Bekenntnis von Nicäa.
Eine nächste große Reformbewegung ging aus vom Kloster Cluny (882-962), im Gebiet des heutigen Frankreich gelegen, die ausgelöst wurde durch den Niedergang der Kirche im „Dunklen Jahrhundert“. Die Cluniazensische Reform betonte die Vergänglichkeit alles Irdischen, verbunden mit der Mahnung: „Bedenke, dass du sterben muss“.
Ein weiteres einschneidendes Datum findet sich im Jahre 1054, wo die endgültige Trennung zwischen Rom und Byzanz (Konstantinopel) das ganz große Schisma (Spaltung) vollzogen wurde, eine Spaltung zugleich zwischen Ost und West, zwischen griechisch und lateinisch.
Einen schwereren Schlag erhielt die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses in den Kreuzzügen, die Ende des 11. Jahrhunderts ihren Anfang nahmen. Als die Kreuzritter 1099 Jerusalem erreichten und die Stadt eroberten, richteten sie ein Blutbad an, in dem schonungslos gemordet wurde. 1204 plünderte ein Kreuzfahrerheer Byzanz, damals noch christlicher Mittelpunkt der Ostkirche.
III
Um weiteren Verfall der Kirche entgegenzuwirken wurde das Konzil von Konstanz (1414-1418) einberufen. Die Beseitigung des großen „Abendländischen Schismas“ war das Ziel, um die Einheit der Kirche wiederherzustellen. Drei Päpste hatten um die Vorherrschaft in der Kirche gestritten. Sie wurden abgesetzt, und das Schisma 1429 durch die Wahl eines einzigen Papstes, Martin V., beendet. Es war die einzige Papstwahl in der Kirchengeschichte auf deutschem Boden. In Konstanz kam es nicht zu durchgreifenden Reformen der Kirche „an Haupt und Gliedern“, was erwartet worden war. In dieses Versäumnis stieß einhundert Jahre später die Reformation Martin Luthers (1483-1546).
Ein Vorläufer dieser Reformation war Johann Hus (1369-1415), so wurde er auch von Luther eingeschätzt, genauso wie Savonarola (1452-1498) in Florenz, der dem ungewöhnlichen sittlichen Verfall der Renaissance den Kampf angesagt hatte. Hus und Savonarola wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Reformatorische Impulse waren zuvor schon von John Wyclif (1320-1384) in England ausgegangen. Im 16. Jahrhundert, nach dem Thesenanschlag Martin Luthers 1517, bildeten sich reformatorische Bekenntnisse wie die Augsburger Konfession 1530, Luthers Schmalkaldische Artikel 1537 und die Konkordienformel 1577. Zuvor wurde auf dem Trienter Konzil (1545-1563) eine Bekenntnisgrundlage für die katholische Kirche geschaffen, aus dem die Gegenreformation entstand, als Antwort auf die reformatorischen Bekenntnisse. Johannes Calvin (1509-1564) verfasste die „Konstitutionen der Christlichen Religion“ mit der Prädestinationslehre als herausragendes Dogma.
Im 17. und 18. Jahrhundert gewannen im protestantischen Bereich vor allem in Preußen durch Nikolaus Graf Zinzendorf (1700-1760) und in England und Amerika durch die Evangelisationen von Jan Wesley an Boden, die sich auch als Reformbewegung verstanden gegen die als Erstarrung empfundene Orthodoxie der lutherischen und anglikanischen Kirche. Auf Zinzendorf und Jan Wesley (1703-1791) können spätere evangelikale Erweckungsbewegungen in Deutschland, England und Amerika zurückgeführt werden. Die verschiedenen Bekenntnisbewegungen im Verlauf der Kirchengeschichte hatten in der Hauptsache theologische formulierte Dogmen zum Inhalt, die nicht auf politische und gesellschaftliche Veränderungen abzielten, sie sollten Rechtgläubigkeit erhalten, und einem sittlichen Verfall entgegenwirken. Dieser Mangel hat sich nachteilig für die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses ausgewirkt, dennoch gab es auf allen Seiten sozialethische Bestrebungen. Der Pietismus in Preußen beeinflusste die Entstehung der „Halleschen Waisenhäuser“ durch August H. Francke (1663-1727), eine Bildungseinrichtung, die sich ausweitete, und über die Grenzen Preußens hinaus Aufmerksamkeit auf sich zog. Jan Wesley führte neben seiner Verkündigung des Evangeliums auch einen Kampf gegen die Sklaverei, und seine Verkündigung erstreckte sich auch auf die Ureinwohner Nordamerikas, die ein Leben in ständiger Bedrohung führten. In Südamerika entstanden die Jesuitenreduktionen, später auch als „Jesuitenstaat“ bezeichnet. Es waren Siedlungen für die einheimische Bevölkerung, gegründet mit dem Ziel, sie vor Willkür und Ausbeutung durch die Kolonialmächte Spanien und Portugal zu schützen, um ihnen ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen und Bildung zu vermitteln. Das im 17. und 18. Jahrhundert zunächst mit großem Erfolg betriebene Projekt stieß bei den genannten Kolonialmächten auf Ablehnung und wurde schließlich zu Fall gebracht.
IV
Besondere historische Aufmerksamkeit verdient die Evangelisationsarbeit des amerikanischen Evangelisten Billy Graham in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer kraftvollen Verkündigung, die ganze Sportstadien füllte. Es war das größte Ereignis im evangelisch-protestantischen Raum seit der Reformation Marin Luthers.
Grundlage für die folgende aus acht Artikeln bestehende christliche Bekenntnisschrift sind die „Barmer Erklärung“ vom Mai 1934, Bekenntnisgrundlage der „Bekennenden Kirche“ auf evangelischer Seite und die Enzyklika von 1937 „Mit brennender Sorge“ von Papst Pius XI. auf katholischer Seite. In der „Barmer Erklärung“ , die wesentlich von Karl Barth verfasst worden war, ging es vordergründig um das ausschließliche Bekenntnis zu Jesus Christus, weitergehende politische und soziale Forderungen waren darin nicht enthalten, während in der genannten Enzyklika auch die Menschenrechte angesprochen wurden.
Wenn es den beiden großen christlichen Konfessionen nicht gelungen ist, den Nationalsozialismus und seine Ideologie zu überwinden, so können sie doch für sich in Anspruch nehmen, dass es Hitler und seinen Anhängern verwehrt blieb, die Kirchen gleichzuschalten, wie es ihm gegenüber politischen Einrichtungen und Institutionen gelungen war. Der Widerstand in Deutschland gegen Hitler und seinem ideologischen Anhang, ganz gleich auf welcher Ebene und von welcher Seite er stattgefunden hat, ist von außerhalb Deutschlands bis zum Ende des zweiten Weltkrieges schweigend übergangen worden. Einen Rückhalt auf internationaler Ebene gab es nicht. Das gilt auch für die vom Nationalsozialismus durchgeführte Judenverfolgung.
Heute geht es darum, dem allgemeinen immer weitergehenden Abfall vom christlichen Glauben, der einem Höhepunkt entgegen geht, wirksam zu begegnen.
Für Deutschland ergeben sich zwei Wege, die notwendig beschritten werden müssen, um den gänzlichen Verlust seiner Identität zu verhindern. Eine Neuorientierung muss vom Evangelium, wie es Jesus Christus verkündigt hat, ausgehen, weil der christliche Glaube die deutsche Geschichte entscheidend mitgeprägt hat. Mit dem Verlust der Identität drohen Gefahren, denn mit dem Erlöschen der geistigen Substanz wird auch die materielle Substanz, das geographische Feld, das der deutschen Geschichte zugerechnet werden kann, jegliche Bedeutung verlieren. Es muss daher als abwegig angesehen werden, die deutsche Geschichte auf die nationalsozialistische Ideologie zu reduzieren, und seine gesamte Geschichte darauf zurückzuführen. Für diese einseitige Sicht gibt es keine Rechtfertigung. Die deutsche Geschichte bietet eine Fülle von Anhaltspunkten zur Identitätsfindung, die im Gegensatz stehen zu reiner Machtpolitik und zum Nationalsozialismus. Eine Politik, die es verhindert, einen solchen Weg zu beschreiten, muss sich Fragen gefallen lassen über ihre geistige Herkunft, die in einem ausschließlichen Denken in machtpolitischen Kategorien zu suchen ist. Kategorien des Rechts und der Gerechtigkeit haben darin keinen Platz, darum ist es notwendig, einem Geschichtsbild Geltung zu verschaffen, damit die Völker sich in versöhnlichem Geist begegnen können, gemäß einem Wort des Philosophen Hegel (1770-1831): „Wer die Geschichte vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an“.
V
In der gegenwärtigen Politik haben die Völker Europas den Versuch unternommen, die aus seiner Geschichte herrührenden Gegensätze zu überwinden, die im vorigen Jahrhundert zu zwei Weltkriegen geführt haben mit dem Ergebnis, dass 1945 europäische Staaten, die wenige Jahrzehnte zuvor noch Weltgeltung besessen hatten, nur noch eine Zuschauerrolle einnehmen konnten. Heute trachten die Völker Europas nach Einheit, aber das Projekt droht zu scheitern, und ein dritter Waffengang kann nicht mehr ausgeschlossen werden, diesmal mit Waffen von noch größerer Grausamkeit und noch größerem Vernichtungspotential, daher wäre es besser gewesen, den eingeleiteten Versöhnungsprozess fortzusetzen. Hier muss ein Unterschied gemacht werden zwischen einer politischen Versöhnung und einer Versöhnung aus der Sicht christlicher Theologie. Der Versöhnungsbegriff in seiner theologischen Bedeutung, der darauf gründet, dass Jesus Christus durch seinem Opfertod am Kreuz die gefallene Schöpfung und die Menschheit erlöst hat, gehört nicht in die Politik. Diese Versöhnung hat einen dogmatischen und einen ethischen Grund, die politische Versöhnung hat nur einen ethischen Grund. Lessings Ringparabel ist das beste Beispiel dazu. Die Versöhnung zwischen Gott und Mensch und der Menschen untereinander, die Jesus Christus erworben hat, beginnt beim Individuum, nicht beim Kollektiv.
Die deutsche Geschichte hat in ihrer Gesamtbetrachtung zu einer Einteilung in drei Reichsgründungen geführt, die den Eindruck einer Kontinuität erwecken könnten, was sich aber nicht auf den wirklichen historischen Verlauf begründen ließe. Es ist gemeinhin von einem Ersten Reich, von einem Zweiten Reich und schließlich von einem „Dritten Reich“ die Rede gewesen. Alle drei Reiche sind in ihrer Gesamtkonzeption so unterschiedlich, dass von einem jeweiligen Bruch gesprochen werden muss. Das Erste Reich, mit einer Dauer von weit gefasst tausend Jahren, begann mit der Kaiserkrönung Karls des Großen am Weihnachtstag des Jahres 800 und dauerte formell bis 1806, bis es durch Kaiser Napoleon seine endgültige Erledigung fand, der an einer Fortsetzung dieser staatlichen Grundkonzeption kein Interesse hatte. Das Zweite Reich war von wesentlich kürzerer Dauer, es hat nicht einmal ein halbes Jahrhundert, von 1871 bis 1918, überlebt. Bismarck hatte gegenüber einem französischen Schriftsteller, der ihn in Friedrichsruh besucht hatte, sinngemäß erklärt, ein Rückgriff auf den Staatsgedanken des Heiligen Römischen Reiches hätte den Frieden in Europa gefährdet. Das Dritte Reich hat nur zwölf Jahre gedauert, obwohl sein Gründungsmythos es auf tausend Jahre angelegt hatte. Alle drei Reiche waren zum Zeitpunkt ihrer Gründung ein Bruch mit dem vorhergehenden.
Die theologischen Gegensätze zur Zeit Karls des Großen, dem Begründer des Ersten Reiches, und die damit verbundenen Lösungsansätze, nehmen im vorliegenden Manifest breiten Raum ein, da in der Christenheit als Ganzes zu den unterschiedlichen dogmatischen Positionen, die sich in der Zeit aufgetan hatten, bis heute keine einheitliche Auffassung erlangt werden konnte. Das gilt auch für den Staatsentwurf der Zeit, der zugleich als Anfang der europäischen Geschichte angesehen werden kann. Nun kann der Einwurf erhoben werden, dass dieser Staatsaufbau nicht für moderne Konzeptionen passend gemacht werden kann. Was Karl dem Großen mit der Schaffung eines westeuropäischen Großreiches gelang, war auf kriegerischem Wege durch das Schwert erreicht worden. Dieses Reich gründete auf zwei Stützpfeiler: die weltliche Macht in den Händen des Kaisers, die kirchliche Macht in den Händen des Papstes, symbolisiert durch zwei Schwerter, das weltliche und das geistliche. Der christliche Glaube sollte als Klammer dienen, um dieses Reich mit seinen verschiedenen Ethnien und auseinanderstrebenden Kräften zusammenzuhalten. Karl hatte seinen Nachfolgern ein, einheitliches Reich hinterlassen, die aber nicht in der Lage waren, das Erbe zu bewahren, und
VI
weiterzuentwickeln im Sinne, wie es von Karl angestrebt worden war. Sein Sohn und unmittelbarer Nachfolger, Ludwig der Fromme, wollte es auf dem Wege von christlich ausgerichteten Reformvorhaben weiter festigen und erhalten. Er scheiterte, und das Reich fiel 843 in drei Teile auseinander. Es drohte ein völliger Verfall, der einhundert Jahre später durch Kaiser Otto dem Großen aus sächsischem Hause und Dynastie aufgehalten wurde, ihm gelang die Erneuerung und Festigung des Heiligen Römischen Reiches, und sein Bestand war für die nächsten dreihundert Jahre gesichert. Das Volk der Sachsen war hier federführend gewesen, das Volk, dem Karl der Große noch die Vernichtung angedroht hatte. Die Einheit, wie sie von Karl begründet worden war, konnte nicht wiederhergestellt werden. Am Hofe Karls gab es keine ethnisch und national begründeten Vorlieben und Privilegien. Persönlichkeiten mit Einfluss an seinem Hofe kamen aus allen Winkeln seines Reiches, tonangebend war der Gelehrte Alkuin, ein Engländer. Nationalstaatliches Denken war hier völlig fremd und ausgeschlossen, es entwickelte sich erst in Verlauf von Jahrhunderten. Einzig die römisch-katholische Kirche überlebte den Niedergang des Heiligen Römischen Reiches durch die Jahrhunderte europäischer Geschichte. Kaiser und Könige überdauerten nicht, Ideologien und Geistesströmungen unterschiedlichster Art überdauerten nicht, der Papst und die von ihm geführte Kirche überdauerten seit über zweitausend Jahren bis in die Gegenwart. Bei aller Unzulänglichkeit dieser Kirche im Verlauf ihrer Geschichte, ihr kommt das Verdienst zu, dass christlicher Glaube und christliche Kirche erhalten blieben, einschließlich der Kirchen, die aus ihr hervorgegangen sind, und oft im Gegensatz zu ihr standen. Die christlichen Kirchen wiederum verdanken ihre Existenz der Geschichte Israels und Judas mit all ihren Unzulänglichkeiten, dennoch bleibt die historische Tatsache bestehen, ohne die Geschichte Israels und Judas in den Zeiten des Altertums, keine christlichen Kirchen und kein christlicher Glaube.
Was soll in der Gegenwart mit Europa geschehen? Soll es zurück zum Anfang, wo eine Einheit bestand? Es war ein Reich, das auf den universalen Staatsgedanken begründet war, aus dem im Verlauf der Jahrhunderte sich Nationalstaaten entwickelten. Der Nationalstaatsgedanke, der seinen Höhepunkt am Ende des 18. Jahrhunderts, besonders aber im 19. Jahrhundert erreichte, bis die auseinanderstrebenden Kräfte Europa an den Rand des Untergangs und der Bedeutungslosigkeit brachten, und diese Entwicklung strebt ihrem Höhepunkt entgegen.
Universalstaat und Nationalstaat stehen im Gegensatz zu einander, und es bleibt die Aufgabe aus These und Antithese eine Synthese zu entwickeln, nicht als Kompromisslösung, sondern als uneingeschränkter Neuanfang. Es wächst Europa die Aufgabe zu, sich eine Verfassung zu geben, die bestehende Gegensätze überwindet. Ethnisches und nationales Hegemoniestreben stehen einer solchen Entwicklung entgegen. Europas Einheit muss wiederhergestellt werden durch ein glaubwürdiges christliches Zeugnis, auf diesem Wege können auch die nationalen Eigenheiten und Identitäten bestehen bleiben. Der größte Teil europäischer Geschichte in seinem historischen Zeitraum und seiner geographischen Ausdehnung war vom Christentum geprägt
Was durch Karl dem Großen mit Krieg und militärischer Gewalt erreicht worden war, sollte durch Reformen auf friedlichem Wege konsolidiert werden. Die europäische Geschichte ist eine Geschichte von Kriegen, die nach außen wie nach innen auf Unterdrückung und Unterwerfung angelegt waren. Kriege mit diesem Ziel gingen politisch verloren, bevor sie militärisch gewonnen wurden. Deutschland hat beide Weltkriege politisch verloren, weil das Ziel dieser Kriege auf Unrecht und Unterdrückung angelegt war. Das Gleiche gilt auch von
VII
Deutschlands Kriegsgegnern. Die Sowjet-Union ging aus dem Zweiten Weltkrieg als Sieger hervor, verlor aber dennoch, weil das Versprechen und die Verheißung, eine sozialistisch gerechte Welt zu schaffen, nicht eingelöst worden war. Amerika hat den Krieg in Vietnam nicht militärisch, sondern politisch verloren, weil seine Vorgehensweise weltweiten Protest ausgelöst hatte. Eine internationale Welt als Gegner kann sich auch die Supermacht Amerika nicht erlauben. Napoleon hat seine Kriege nicht militärisch, sondern politisch verloren, weil seine Politik auf nationalstaatliche Hegemonie und Unterdrückung ausgerichtet war. Für den europäischen Gedanken gibt es nur einen Ausweg aus der Misere: Ein glaubwürdiges christliches Zeugnis, es hat in seiner Geschichte eine Politik betrieben und sich dabei zu Unrecht auf Jesus Christus berufen, darum hat Europa verloren. Europa kann in einem weitesten Sinne gefasst werden. Russland ist mit allen Wurzeln und Fasern seiner Geschichte eine europäische Nation, und Amerika ist aus der europäischen Geschichte hervorgegangen.
Zurück zum Anfang wäre zu einfach. Entscheidendes ist nach nahezu tausendzweihundert Jahren geschehen. Der Humanismus und die Renaissance mit ihren Hinwendungen zur antiken Geisteswelt waren gleichzeitig eine Abkehr vom christlichen Glauben und Kirche, was auch auf das Versagen der Kirche zurückgeführt werden muss, indem sie sich wissenschaftlichen Entdeckungen und Erkenntnissen verschloss, einhergehend mit einem Verzicht auf die ethischen Grundsätze des Evangeliums, wie es durch Jesus Christus verkündet worden ist. Eine weitere radikalere Abkehr von Glauben und Kirche bildeten Aufklärung und Französische Revolution. Hier ebenfalls muss ein Versagen von Glauben und Kirche festgestellt werden. Die drei fundamentalen Begriffe der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hätten in ihrem Gehalt auch der Bergpredigt entnommen werden können, das ethische Fundament der christlichen Welt. Nun versuchte die Welt diese Ideale außerhalb der christlichen Welt zu verwirklichen. Die Französische Revolution hat bei aller Unzulänglichkeit einen wichtigen Anstoß gegeben zur Hinwendung zum demokratischen Verfassungsstaat, eine große Errungenschaft für den modernen Staatsaufbau. Hier ist der Schlüssel zu suchen zur Errichtung einer Verfassung, eines Geschichts-und Staatsverständnisses, um dieses Ziel zu erreichen müssen Hegemonie und damit verbundene Herrschaftsansprüche ausgeschlossen werden.
Ein dritter großer Anlauf, die Menschheit von allem Ungemach zu befreien, unternahm der Sozialismus mit seinen unterschiedlichen Ausprägungen. Den größten durchschlagendsten Erfolg erzielte das „Kommunistische Manifest“, das von Marx und Engels im Februar 1848 in London veröffentlicht wurde. Es habe nach der Bibel weltweit die größte Auflage erzielt, ist dazu festgestellt worden. Seine Verheißung gilt allerdings nur für ein menschliches Erdenleben, von dem der Psalmist sagt: „Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, dann sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, dann ist es Arbeit und Mühe gewesen, denn es eilt schnell dahin, als flögen wir davon. (Psalm 90, Vers 10)
Das Evangelium, das der Menschheit die Erlösung durch Jesus Christus verkündet und verheißt, bietet mehr. In einem Brief an seinen geistlichen Sohn Timotheus schreibt der Apostel Paulus: „…denn die Gottesfurcht ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens“. (1. Timotheus, Kapitel 4, Vers 8)
1
Einführung und Zielsetzung
Die Schaffung einer Bekenntnisgrundlage zur Organisation einer Bekennenden Kirche kann ermöglicht werden durch das Zusammenwirken der beiden großen Konfessionen, der katholischen und der zwei evangelischen Konfessionen, der lutherischen und reformierten und der evangelischen Freikirchen, die auch in der Deutschen Evangelischen Allianz einen Zusammenschluss bilden, unter Einschluss der in der Ökumene zusammengefassten Kirchen, wozu auch die griechisch-orthodoxe Kirche gehört, aus der die russische-orthodoxe Kirche hervorgegangen ist, die dritte große christliche Konfession unter den christlichen Kirchen, die in Russland eine dominierende Stellung einnimmt und die größte der orthodoxen Kirchen bildet. Zu den weiteren großen Volkskirchen wird die anglikanische Kirche gerechnet mit der britischen Monarchie als Oberhaupt. Der amerikanische Protestantismus hat in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen durch die Verkündigung des Evangeliums durch Billy Graham, die ganze Sportstadien füllte, bis diese Erfolgsgeschichte zum Erliegen kam, weil die amerikanische Politik die Erfolge dieser Evangelisationen, politisch zu nutzen versuchte, aber die Botschaft des Evangeliums ist keine politische Botschaft, sie ist nicht auf die materiellen Reiche dieser Welt gerichtet. Die Verkündigung Billy Grahams war das größte Ereignis im evangelisch-protestantischen Raum seit der Reformation Martin Luthers.
1950 waren in Deutschland 95% der Bevölkerung Mitglied einer der beiden großen christlichen Kirchen und Konfessionen, heute ist dieser Anteil auf unter 60% gesunken, Tendenz weiter fallend. Angesichts dieser Entwicklung erweist es sich als unerlässlich, die Begründung und Aufrichtung einer in einem christlichen Bekenntnis zusammengefassten Organisation, in der sich Christen, jeder an seinem Platz in Kirchen, Orden oder Freien Gemeinden, einbringen können. Es ist jedem Menschen freigestellt, sich seine geistliche Heimat zu suchen und seine entsprechende Aufgabe zu finden.
Vorbilder sind die „Barmer Erklärung“ vom Mai 1934 auf evangelischer Seite und die Enzyklika von Papst Pius XI. „Mit brennender Sorge“, veröffentlicht 1937, auf katholischer Seite. In beiden wird dem politischen und geistigen Machtanspruch der NS-Ideologie entgegengetreten, was nicht ohne Risiko geschehen konnte.
Zunächst einige Auszüge aus der „Barmer Erklärung“:
Aus der Erklärung der Reichsbekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche in Barmen im Mai 1934.
Der folgende Text ist der Beschluss der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche, (DEK) die vom 29. Bis 31. Mai 1934 in der reformierten Kirche von Barmen – Gemarke tagte. Die Erklärung wurde veranlasst durch die zunehmenden Versuche des nationalsozialistischen Staates, auf das kirchliche Leben einzuwirken; sie wurde Grundlage der Bekennenden Kirche (BK) im evangelischen Raum:
Wir bekennen uns angesichts der die Kirche verwüstenden und damit auch die Einheit der Deutschen Evangelischen Kirche sprengenden Irrtümer der „Deutschen Christen“ und der gegenwärtigen Reichskirchenregierung zu folgenden evangelischen Wahrheiten:
1. „Ich (Jesus Christus) bin der Weg die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Joh. 14, 6).
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„Amen, amen, das sage ich (Jesus Christus) euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und Räuber. Ich bin die Tür, wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden“ (Joh. 10, 1 und 9)
1. Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu gehorchen und zu vertrauen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.
2. „Jesus Christus, den Gott für uns zur Weisheit gemacht hat, zur Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung“ (1. Kor. 1, 30).
Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu Eigen wären, in denen wir nicht der Rechtfertigung und der Heiligung durch ihn bedürfen.
4. „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht
missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll
euer Diener sein“ (Mt. 20, 25 – 26). Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen
keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der Gemeinde
anvertrauten und befohlenen Dienstes.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben oder geben lassen.
Die Formulierung dieser Bekenntnisschrift geht weitgehend auf den reformierten Theologen Karl Barth zurück.
Aus der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ Papst Pius‘ XI. , 1937
Pius XI. (1922-1939) bezog in einem Rundschreiben, das in fast allen katholischen Kirchen Deutschlands verlesen wurde, erstmals öffentliche Stellung gegen den Nationalsozialismus:
Ein besonders inniger Gruß ergeht an die katholischen Eltern. Ihre gottgegebenen Erzieherrechte und Erzieherpflichten stehen gerade im gegenwärtigen Augenblick im Mittelpunkt eines Kampfes, wie er schicksalsvoller kaum gedacht werden kann. Die Kirche Christi kann nicht erst anfangen, zu trauern und zu klagen, wenn die Altäre verwüstet werden, wenn sakrilegische Hände die Gotteshäuser in Rauch und Flammen aufgehen lassen. Wenn man versucht, den Tabernakel der durch die Taufe geweihten Kinderseele durch eine christusfeindliche Erziehung zu entweihen, wenn aus diesem lebendigen Tempel Gottes die ewige Lampe des Christusglaubens herausgerissen und an ihrer statt das Irrlicht eines Ersatzglaubens gesetzt werden soll, der mit dem Glauben des Kreuzes nichts mehr zu tun hat – dann ist die geistige Tempelschändung nahe, dann wird es für jeden bekennenden Christen Pflicht, seine Verantwortung von der der Gegenseite klar zu scheiden, sein Gewissen von jeder schuldhaften Mitwirkung an solchem Verhältnis und Verderbnis frei zu halten.
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Und je mehr die Gegner sich bemühen, ihre dunklen Ansichten abzustreiten und zu beschönigen, umso mehr ist wachsames Misstrauen am Platze und misstrauische, durch bittere Erfahrung aufgerüttelte Wachsamkeit.
Die Enzyklika enthält eine prophetische Vorausschau. Im darauffolgenden Jahr, im November 1938 gingen tatsächlich Gotteshäuser in Rauch und Flammen auf.
Die gesamte internationale Staatengemeinschaft hat geschwiegen, trotzdem sind gegen die katholische Kirche sehr einseitig Anklagen und Vorwürfe erhoben worden.
Das gilt besonders für Seine Heiligkeit Papst Pius XII. Er habe geschwiegen, wird oft bis in die unmittelbare Gegenwart, hervorgehoben. Verschwiegen wird ein ganz anderer Gesichtspunkt: Er hat in einem Zeitraum von vier Monaten in geheimen Verhandlungen zwischen Deutschlands Kriegsgegnern und der deutschen Widerstandsbewegung versucht zu vermitteln mit dem Ziel, dem deutschen Widerstand gegen Hitler Rückhalt von außen zu verschaffen.
Die Bemühungen sind gescheitert, weil die späteren Siegermächte gegen Deutschland von Anbeginn nie ein Interesse daran hatten, dem Widerstand in Deutschland gegen die NS-Herrschaft eine Basis zu verschaffen, so dass Sir Winston Churchill nach dem Zweiten Weltkrieg sagen konnte, der deutsche Widerstand habe von internationaler Ebene aus keinerlei Unterstützung erfahren, er sei immer auf sich allein gestellt gewesen.
Aus dem Hirtenwort der deutschen Bischöfe zur Lage der katholischen Kirche in Deutschland, 1942:
Der katholischen Kirche gab die Reichsregierung im Konkordat 1933 die Zusicherung staatlichen Schutzes zur freien Entfaltung ihres Lebens. Tatsächlich aber wurden diese Zusicherungen nicht gehalten…Die öffentliche Ausübung der katholischen Religion ist durch zahlreiche Verbote eingeschränkt. Es ist, als wenn das Zeichen Christi, das im Jahre 312 aus den Katakomben glorreich an die Öffentlichkeit treten durfte, in die Katakomben wieder zurückgedrängt werden solle…Ein Bischof hat aber nicht nur für die religiösen kirchlichen Rechte in der Volksgemeinschaft einzutreten, sondern auch für die von Gott verliehenen Menschenrechte. Ohne Achtung für diese Menschenrechte muss die ganze Kultur zusammenbrechen.
Christliche Bekenntnisgrundlagen für die Gegenwart
Die politische Situation zur Zeit der NS-Herrschaft kann für Christen nicht einfach auf die Gegenwart übertragen werden, es herrschen hier grundlegend andere Voraussetzungen, wir leben in einem demokratischen Verfassungsstaat, der für das christliche Bekenntnis eine Gefahr in sich birgt: Die Begriffe „Demokratie“ und „Toleranz“ werden dazu genutzt, um das Bekenntnis zu Jesus Christus zu verwässern und zu verstümmeln. Die Zehn Gebote gelten als ethische Grundlage des jüdischen und christlichen Glaubens, diese Gebote stehen in keinem Widerspruch zum deutschen Grundgesetz oder anderer demokratischer Verfassungen. Dennoch wird aus der Politik heraus oft der Versuch unternommen, christliche Kirchen und Gemeinden zu bewegen, Abstriche zu machen von einem eindeutigen Bekenntnis zu ethischen und dogmatischen Grundlagen des christlichen Glaubens. Eine christliche Bekennende Kirche darf und soll auch kein Feindbild gegen den Islam oder andere Religionen aufbauen. Die moslemische Seite - gewaltbereite moslemische Organisationen sind hier ausgeschlossen - vertritt ethische christliche Werte oft besser, als sie vielfach von den Christen selbst ausgeübt
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werden. Andererseits muss in einem christlichen Bekenntnis jeder Synkretismus ausgeschlossen sein. Keine Religion sollte die andere zwingen vom Bekenntnis abzuweichen; dazu dient auch der demokratische Verfassungsstaat, damit Religionen, Weltanschauungen und politische Überzeugungen sich ohne Gewaltanwendung begegnen und austauschen können. Es geht nicht darum mit einem Bekenntnis Grenzen zu setzen, es müssen aber ebenso Standards gesetzt werden, da sonst alles in Beliebigkeit endet. Verletzung dieser Standards kann nur durch die im Evangelium von Jesus Christus verheißene Gnade und Barmherzigkeit ausgeräumt werden, zu der jedes menschliche Individuum Gewissheit anstreben sollte, da sonst ein auf Jesus Christus ausgerichtetes Leben nicht verwirklicht werden kann.
Folgende Artikel müssen als unabdingbar zur Erneuerung für das christliche Bekenntnis angesehen werden:
Artikel 1: Eckpfeiler des christlichen Glaubens.
Am Anfang jeder christlichen Botschaft steht die erlösende Tat, die Jesus Christus durch seinen Tod am Kreuz vollbracht hat, um die Menschheit und die gefallene Schöpfung zu erlösen und wieder aufzurichten, wie es im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom zum Ausdruck kommt im Hinblick auf Abraham, der als Gründungsvater der drei monotheistischen Religionen, der jüdischen, der christlichen und der moslemischen angesehen wird, dem darin das weitreichende Zeugnis zuteil ward: Abraham glaubte Gott, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit. Das Zeugnis wurde ihm im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift in Genesis Kapitel 15, in den Versen 5 und 6 bestätigt, wo ihm Gott begegnet: (5) Und er ließ ihn hinausgehen und sagte: „Siehe zum Himmel und zähle die Sterne, kannst du sie zählen?“; und sagte zu ihm: „So soll deine Nachkommenschaft sein.“ (6) Und er glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit. Mit Abraham beginnt die Heilsgeschichte, zu der ein Unterschied zur allgemeinen Weltgeschichte besteht.
Eine weitere solche Bestätigung findet sich im christlichen Kanon der Heiligen Schrift im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom, Kapitel 4, in den Versen 23-25: (23) Das ist aber nicht allein geschrieben um seinetwillen, dass es ihm angerechnet wurde, (24) sondern auch um unsertwillen, denen es angerechnet werden soll, wenn wir an den glauben, der Jesus unseren Herrn von den Toten auferweckt hat, (25) der wegen unserer Übertretungen dahingegeben wurde und zu unserer Rechtfertigung auferweckt worden ist.[1]
Im 1. Brief des Apostels Johannes Kapitel 2 Vers 2 heißt es dazu: (2) Er ist die Versöhnung für unsere Sünden; doch nicht nur für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt.
Weiter heißt es im 1. Brief des Apostels Johannes Kapitel 4 Vers 2 und 3 dazu: (2) Daran sollt ihr den Geist Gottes erkennen: Jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus im Fleische gekommen ist, der ist aus Gott; (3) und jeder Geist aber, der Jesus nicht bekennt, ist nicht aus Gott. Und das ist der Geist des Antichrist, von dem ihr gehört habt, dass er kommt; nun aber ist er schon in der Welt.[2]
[1] Nach der revidierten Übersetzung Martin Luthers, Wollerau 2009
[2] Nach der Übersetzung von Josef Kürzinger. (kath.) Aschaffenburg 1957
Artikel 2: Voraussetzung für ein Leben in christlicher Gemeinschaft.
Das Kernanliegen der Botschaft des Evangeliums ist formuliert. Darin besteht Konsens über die Konfessionsgrenzen und Denominationsgrenzen hinweg, und er muss auch bestehen, eine
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Abweichung davon beraubt dieser Botschaft jeglichen Sinn und hebt alles auf, was daraus folgen muss. Alle theologischen dogmatischen Festlegungen haben hier ihren Ursprung und müssen darauf zurückgeführt werden können. Alles, was hier nicht seinen Ursprung hat, gehört nicht in die Verkündigung dieser Botschaft. In dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom Kapitel 10 in den Versen 9 – 13 heißt es: (9) Wenn du also mit deinem Mund bekennst: Jesus ist der Herr, und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet werden. (10) Denn mit dem Herzen glaubt man, um gerecht zu werden; doch mit dem Munde bekennt man, um Rettung zu erlangen. (11) So sagt ja auch die Schrift: „Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden“. (12) Da gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden; der gleiche Herr ist der Herr aller, der reichlich allen gibt, die zu ihm rufen. (13) „Wird doch jeder, der den Namen des Herren anruft, gerettet werden“.[3]
Artikel 3: Historische Wurzeln und Grundlagen christlichen Glaubens.
Die Gesamtheit der Heiligen Schrift wird aus christlicher Sicht unterschieden in Altes Testament und Neues Testament, in einen hebräischen Kanon und einen christlichen Kanon.
Die Heilige Schrift bildet als Ganzes dennoch eine Einheit. In der christlichen Theologie wird unterschieden zwischen Weltgeschichte und Heilsgeschichte.
In der christlichen Kirchengeschichte hat es eine Theologie gegeben, die Juden und den jüdischen Glauben von der Heilsgeschichte ausschließt. Im Hinblick auf Martin Luthers Credo „solas scripturas“ (allein die Schrift) ist es eine verkehrte Interpretation, denn der Apostel Paulus schreibt in einem Brief an die Gemeinde in Rom in Kapitel 11, in den Versen 16 – 18, wo gleichnishaft von einem Ölbaum, der Israel als Wurzel und Stamm repräsentiert, gesprochen wird: (16) …ist der Anbruch heilig, so ist auch der Teig heilig; und so die Wurzel heilig ist, so sind auch die Zweige heilig. (17) Ob nun etliche von den Zweigen ausgebrochen sind, und du, der du ein wilder Ölbaum warst, bist unter sie gepfropfet und teilhaftig worden der Wurzel und des Saftes im Ölbaum, (18) so rühme dich nicht wider die Zweige. Rühmest du dich aber wider sie, so sollst du wissen, dass du die Wurzel nicht trägest, sondern die Wurzel trägt dich.[4]
Ohne die Geschichte Israels im Zeitraum der Antike, ist christlicher Glaube nicht vorstellbar und auch nicht darstellbar, und das Fundament zur Ausbreitung des christlichen Glaubens in alle Welt wurde im ersten Jahrhundert nach Christus von jüdischen Menschen gelegt. Diese historische Tatsache ist unumstößlich, diese Tatsache wird vom Apostel Paulus, der den größten Anteil zur Ausbreitung des Evangeliums für sich in Anspruch nehmen kann, gestützt und Eingangs des Briefes an die Gemeinde in Rom bekräftigt in Kapitel 1, Verse 1 – 4: (1) Ich, Paulus, Knecht (= Diener) Christi Jesu, bin durch Berufung zum Apostel ausgesondert (eigens dazu bestellt), die Heilsbotschaft Gottes zu verkündigen, (2) die Er (d. h. Gott) durch seine Propheten in (den) Heiligen Schriften im Voraus verheißen hat, (3) nämlich (die Heilsbotschaft) von seinem Sohne. Dieser ist nach dem Fleische[5] aus dem Samen Davids (= Nachkommenschaft) hervorgegangen, (4) aber als Sohn Gottes in Macht erwiesen nach dem Geist der Heiligkeit auf Grund seiner Auferstehung aus den Toten….[6]
Wenn hier vom Sohne Gottes die Rede ist, dann ist die Dreieinigkeit Vater, Sohn und Heiliger Geist angesprochen, dogmatischer Grundpfeiler christlicher Lehre. Es hat zu diesem Dogma
[3] Nach der Übersetzung von Paul Riessler und Rupert Storr (kath.) Limburg an der Lahn. 1956
[4] In der Übersetzung nach Martin Luther, Stuttgart 1954.
[5] d. h. nach seiner leiblichen Natur und menschlichen Herkunft.
[6] Übersetzung nach Hermann Menge (ev.).
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viele Missverständnisse gegeben. Es wurde darin die Wiedereinführung des Polytheismus gesehen, selbst in der christlichen Kirchengeschichte hat es dazu leidvolle Kontroversen gegeben.
Ein Bild dazu kann den Weg zu einem besseren Verständnis ebnen mit einer Erläuterung am Bild der Sonne, sie erfüllt drei wichtige Funktionen: Durch einen Kernverschmelzungsprozess, in dem Wasserstoffatome zu einem Heliumkern verschmelzen. Durch diesen Prozess der Kernfusion wird Energie erzeugt, die in Licht und Wärme ihren Ausdruck findet. Ein Prozess, der die Atomforschung zur Nachahmung antreibt, um dann einfach aus Wasser Energie zu gewinnen. In der Sonne vollzieht sich ein physikalischer Vorgang, der zugleich Licht und Wärme erzeugt. Alle drei Bereiche können einen gesonderten Zweig physikalischer Forschung bilden: Die Lehre vom Licht, der Optik, die zu großer und besonderer Bedeutung in der Weltraumforschung geworden ist und die Wärmelehre, die in der metallverarbeitenden Industrie durch die Ermittlung des Wärmekoeffizienten für die verschiedenen Metalle und Legierungen von Bedeutung ist.
Obwohl diese drei Wissenschaftszweige der Physik jeweils einer gesonderten Forschung unterzogen werden können, sind sie in der Sonne dennoch untrennbar miteinander verknüpft, das eine ist ohne das andere nicht denkbar, eben eine Dreieinigkeit.
Es ist nicht abwegig, von den jüdisch-christlichen Grundlagen der europäischen Kultur-und Geistesgeschichte zu sprechen. Abwegig ist es aber, wenn Menschen, die sich auf jüdisch-christliche Grundlagen berufen, sich zusammenfinden und gemeinsam demonstrieren mit Menschen, die mit der NS-Ideologie sympathisieren. Roland Freisler, der mit viel Geschrei am „Volksgerichtshof“ diejenigen abgeurteilt hat, die sich dem Widerstand vom 20. Juli 1944 gegen die NS-Herrschaft angeschlossen hatten, hat es auf den Punkt gebracht. Von ihm ist die Aussage überliefert, Nationalsozialismus und Christentum schlössen einander aus, aber beide verlangten den ganzen Menschen.
Artikel 4. Verschiedene christliche Konfessionen und Denominationen.
Die bisher formulierten Bekenntnisgrundlagen schließen ein breites Spektrum christlicher Konfessionen und Freier Gemeinden ein. Immer hat es Absetzbewegungen gegeben, sich von der Masse der Volkskirchen und großen Konfessionen zu lösen. Im Bereich der katholischen Kirche geschah dies durch Ordensgründungen, im evangelischen Bereich durch die Gründungen von Freikirchen und charismatischen Gemeinden, die in Deutschland in der Deutschen Evangelischen Allianz einen losen Zusammenschluss bilden. Besonders augenfällig ist das im angelsächsischen Raum. Dazu gehört die Gründung der Methodistenkirche durch Jan Wesley (1703 – 1791), Vorbild für viele evangelikale Ausrichtungen im Bereich innerhalb und außerhalb der anglikanischen Kirche. In Preußen hatte der Pietismus Ausbreitung gefunden, wofür der Name Nikolaus Graf Zinzendorf steht.
Die Puritaner, die sich in Gegensatz zur anglikanischen Staatskirche gesetzt hatten und in die Neue Welt entflohen, um in Freiheit ihre Glaubensrichtung zu verwirklichen. Die „Mayflower“, die 1620 mit den „Pilgervätern“ so nach Amerika gelangte, bildet ein Identität stiftendes Merkmal in der amerikanischen Geschichte, insbesondere des amerikanischen Protestantismus. Die Bezeichnung WAPS (White Anglosaxon Protestant Sociaty) ist dafür kennzeichnend. Die Puritaner erfochten am Ende der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts unter Führung von Oliver Cromwell (1649 – 1658) den Sieg des Parlamentarismus über den absolutistischen
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Machtanspruch der Monarchie, die sich zuvor auf ein Gottesgnadentum berufen hatte. 1649 wurde König Karl I. (1625 – 1649) enthauptet.
Die Entwicklung endete 1688 mit der „Glorious Revolution“, eine Entwicklung der Zweigleisigkeit einer geistlichen, glaubensmäßigen und einer politischen Linie. Anders die Reformation Martin Luthers. Die Bauern hatten, bevor die Auseinandersetzungen 1525 in kriegerische Gewaltexzesse mündeten, in „Zwölf Artikeln“ politische Forderungen erhoben, deren Berechtigung Martin Luther nicht in Abrede stellte, er verwahrte sich aber dagegen, diese Forderungen mit der Verkündung des Evangeliums gleichzusetzen. Erst als die Bauern ihre Forderungen mit exzessiver kriegerischer Gewalt durchsetzen wollten, was auch auf eine unmenschliche Unterdrückung zurückzuführen war, stellte sich Martin Luther gegen sie in einer Weise, die bis heute umstritten ist.
Herausgehoben werden müssen die Baptistengemeinden und die charismatischen Christengemeinden, die der Kindertaufe, wie sie in den großen christlichen Konfessionen ausgeübt wird, mit Ablehnung gegenüberstehen. Die Taufe durch völliges Untertauchen, steht für das Begraben sein des vorherigen alten Lebens und durch Auftauchen den Wiederaufstieg in ein neues Leben, wie es im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom in Kapitel 6, Verse 1 – 4 anschaulich gemacht wird: (1) Was folgt daraus? Sollen wir in der Sünde etwa verharren, damit die Gnade umso reichlicher werde? (2) Keineswegs! Wie sollten wir, nachdem wir der Sünde abgestorben sind, noch in ihr leben? (3) Solltet ihr das wirklich nicht wissen, dass wir alle, die wir auf Jesus Christus getauft sind, auf Seinen Tod getauft sind? (4) Wir sind also durch die Taufe auf den Tod mit ihm begraben, damit auch wir in einem durchaus neuen Leben wandeln, wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt ward.[7] Die Kindertaufe darf damit aber nicht herabgemindert werden, ihr kann ebenso heilswirksame Bedeutung beigemessen werden, wenn sie von Eltern und Paten mit Ernst und Verantwortung vollzogen wird.
Was besondere Beachtung verdient, ist das Sakrament der Beichte in der katholischen Kirche, weil hier durch das Beichtgeheimnis ein Vertrauen geschaffen wird, das sonst nur schwer zu erreichen ist.
Die katholische Kirche macht die Heilswirksamkeit der gespendeten Sakramente von den dafür bestellten Amtsträgern abhängig. Diese Grundbedingung wurde durch die Reformation Martin Luthers aufgehoben, der das allgemeine Priestertum aller Gläubigen verkündete.
Die Umkehr von einem fehlgeleiteten Weg in der Abkehr von den Geboten Gottes, der durch Gnade und Barmherzigkeit in der Hinwendung zu diesen Geboten eine Erneuerung bewirken kann in einer ernst gemeinten Umkehr, die im inneren des Menschen und auch in einer nach außen bekannten Umkehr bestehen muss. Diese Botschaft und Möglichkeit der Umkehr durchzieht den hebräischen und christlichen Kanon der Heiligen Schrift.
In dem 1. Brief des Apostels Johannes im 1. Kapitel, in den Versen 5 – 10 heißt es dazu: (5) Und dies ist die Botschaft die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: „Gott ist Licht und keinerlei Finsternis ist in ihm (oder an ihm).“ (6) Wenn wir behaupten, Gemeinschaft mit ihm zu haben, und dabei doch in der Finsternis wandeln, so lügen wir und halten uns nicht an die Wahrheit. (7) Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft miteinander, und das Blut seines Sohnes Jesus macht uns von aller Sünde rein. (8) Wenn wir behaupten, keine Sünde zu haben, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns; (9) wenn wir (aber) unsere Sünden bekennen (= eingestehen), so ist er getreu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns von aller Ungerechtigkeit reinigt. (10)
[7] Übersetzung Riessler/Storr (kath.)
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Wenn wir aber behaupten, nicht gesündigt zu haben, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.[8]
In diesen Worten zieht noch einmal das zentrale Anliegen der Botschaft, wie sie im hebräischen christlichen Kanon der Heiligen Schrift ihren Ausdruck findet, an den Menschen vorüber. Alle anderen dogmatischen und organisatorischen Unterschiede sollten dahinter zurücktreten und nicht zum Streitgegenstand mit ausschließender Wirkung gemacht werden.
In Südamerika, besonders in Brasilien, haben charismatische Gemeinden großen Zulauf. Unter Papst Johannes Paul II. öffnete sich die katholische Kirche, die sich in der Geschichte durch zentralistische, straff geführte Hierarchie eine Einheit bewahrt hat, dieser Glaubensbewegung, eine Haltung, die auch unter Papst Benedikt XVI. fortgesetzt wurde. Die charismatischen Gemeinden, auch als Pfingstbewegung bezeichnet, verkünden, Gott sei unwandelbar und offenbare sich in der Gegenwart, wie es im hebräischen und christlichen Kanon zur Darstellung gelangt, das bezieht sich auch auf das Pfingsterlebnis, wie es in der Apostelgeschichte im 2. Kapitel geschildert wird, wo Menschen plötzlich in einer ihnen unbekannten Sprache reden.
Artikel 5: Der europäische Raum als christlicher Raum.
Europa gründet sich auf zwei Eckpfeiler, die bestimmend waren für seinen historischen Verlauf: Die jüdisch-christliche Welt und die griechisch-römische Antike. Das erste wird gebildet durch ein ethisches Fundament und eine dogmatische Glaubenswelt, das zweite durch ein wissenschaftliches Fundament. Der christliche Glaube ist aus der Geschichte Israels zur Zeit der Antike hervorgegangen, während alle Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis und Forschung, soweit sie bestimmend waren für die europäische Geschichte, ihren Ursprung in der griechischen Antike haben, wie Philosophie, Physik, Geographie, Historiographie, Mathematik und Medizin. Im Griechenland der Antike hat auch die Botschaft des Evangeliums im 1. Jahrhundert nach Christus zuerst Fuß gefasst.
Das weströmische Reich mit Rom als Mittelpunkt erlag 476 dem Ansturm der Germanenstämme, die sich in den nachfolgenden Jahrhunderten dem Christentum zuwandten, bis eine Erneuerung des römischen Staatsgedankens am Weihnachten 800 durch die Kaiserkrönung Karls des Großen vollzogen wurde, gegründet auf Christentum und Kirche, wie es von Kaiser Konstantin (306-337) in die Wege geleitet, und von Kaiser Theodosius am Ende des 4. Jahrhunderts vollendet wurde. Diese Krönung war der Gründungsakt des Heiligen Römischen Reiches, das sich auf den universalen Staatsgedanken gründete und bestimmend war für die Geschichte des Mittelalters, das in seiner zweiten Hälfte geprägt war vom dem Gegensatz zwischen Kaiser und Papst. Rassische und nationalstaatliche Konzeptionen standen in diesem Reich nicht im Vordergrund.
Das oströmische Reich mit Byzanz als Mittelpunkt überdauerte das weströmische Reich um fast tausend Jahre, bis es 1453 dem Ansturm der Türken erlag. Zuvor war es 1054 zur großen Kirchenspaltung gekommen, und die Christenheit in einen katholisch-lateinischen und einen griechisch-orthodoxen Teil spaltete mit dem Ergebnis, dass daraus die russisch-orthodoxe
[8] Übersetzung nach Menge. (ev.)
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Kirche hervorging, und das zaristische Russland sich als Fortsetzung des byzantinischen Kaiserreiches sah.
Im Mittelalter, bis zur Zeit der Reformation durch Martin Luther und Johannes Calvin, waren Mönche und Nonnen ein prägendes Merkmal der Kirche, sie waren Träger kultureller und wirtschaftlicher Entwicklung und der Bildung. Zu den Mönchsorden hat es im Laufe der Kirchengeschichte kritische Distanz gegeben, es sollte aber ihre historische Bedeutung nicht ausschließlich aus einem negativen Gesichtspunkt gesehen werden. Namen von Bedeutung und Auswirkung können hier genannt werden. Der gegenwärtige Papst hat seinen Namen Franziskus auf Franz von Assisi (1181-1226) zurückgeführt. Die Reformbewegung der Abtei von Cluny, zu Beginn des 10. Jahrhunderts im heutigen Frankreich gelegen, war der Ausgangspunkt bedeutender Klosterreformen. Hildegart von Bingen (1098-1179) war eine Universalgelehrte ihrer Zeit, sie wurde am 7. Oktober 2012 von Papst Benedikt XVI. zur Kirchenlehrerin erhoben. Martin Luther war Mönch des Augustinerordens, der seinen Namen auf Augustinus (354-430) einem der Kirchenväter zurückgeführt hatte.
Luther hat entscheidende Impulse für sein Glaubensleben von Johannes Tauler (1300-1361) empfangen, durch den er mit den Schriften des Meister Eckhart (1260-1328) in Berührung kam, die in dem Satz gipfelten: „Man soll Gott nicht außerhalb von sich selbst erfassen wollen“. Tauler und Eckart waren Dominikanermönche.
Schon vor der Reformation Martin Luthers hatte das Zeugnis des christlichen Glaubens in den Gesellschaften der Zeit starke Einbußen erlitten, zunächst durch die Machtkämpfe zwischen den Institutionen Kaiser und Papst, gegründet auf die Frage, ob die weltliche Macht sich der geistlichen Macht unterzuordnen habe. Nachhaltig geschädigt wurde das christliche Glaubenszeugnis durch die Kreuzzüge, die Ende des 11. Jahrhunderts ihren Ausgang nahmen.
Die Gegensätze wurden noch verschärft durch das Schisma im 14. Jahrhundert, das drei Päpste hervorbrachte, die sich gegenseitig mit dem Bann belegten, der Ruf nach Reformen wurde oft erhoben, führte aber zu keinem durchschlagenden Erfolg. Es begann eine Abkehr und im 15. Jahrhundert eine vermehrte Hinwendung und Rückbesinnung auf die Zeit der Antike und zum Humanismus. Naturwissenschaften entfalteten sich und stießen auf den Widerstand der Kirche.
Nikolaus Kopernikus (1473-1543) wagte es nicht seine wissenschaftlichen Erkenntnisse bei Lebzeiten zu veröffentlichen. Galileo Galilei (1564-1642) musste in einem 1616 beginnenden Prozess der katholischen Kirche gegen ihn die Ergebnisse seiner Forschungen widerrufen und wurde für die letzten Jahre seines Lebens von 1633 bis 1642 unter Hausarrest gestellt. 1979 beauftragte Papst Johannes Paul II. die Katholische Akademie der Wissenschaften, den Fall Galileo Galilei aufzuarbeiten. 1992 wurde er rehabilitiert.
In das Verlangen nach einer Kirchenreform, die ausgeblieben war, stieß Martin Luther mit dem Thesenanschlag am 31. Oktober 1517, der sich demnächst zum fünfhundertsten Mal jährt. Dem folgte das Konzil von Trient, das sich in drei Sitzungsperioden von 1545 bis 1563 erstreckte. Es war eine Reformbewegung als Reaktion auf die Lehren der Reformation.
Im 16. Und 17. Jahrhundert wurde der Westen Europas von Glaubenskriegen und Verfolgungen heimgesucht, eine Entwicklung, wie sie den Kirchen des Ostens erspart blieb. Seit Ende des 17. Jahrhunderts gewann die protestantische Bewegung des Pietismus besonders in Preußen Einfluss, nachdem sie aus dem Westen Deutschlands vertrieben worden war. Aufmerksamkeit über die Grenzen Preußens hinaus erregten die von August Hermann Francke gegründeten
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„Halleschen Waisenhäuser“, eine Bildungseinrichtung, die unabhängig vom gesellschaftlichen Stand, Schülern offen war. Zar Peter der Große (1672-1725) hatte eigens eine Abordnung nach Halle entsandt, um Informationen über diese Bildungseinrichtungen zu erlangen.
Mit der Entdeckung Amerikas 1492 begann die von Europa ausgehende Kolonialherrschaft, die unter christlichen Vorzeichen betrieben wurde in einer Weise, die mit den ethischen und dogmatischen Grundsätzen des Evangeliums von Jesus Christus keine Gemeinsamkeiten aufwies, was den Dichter Theodor Fontane (1819-1898) zu der Aussage veranlasste: „Sie sagen Christus und meinen Kattun.“ Der Satz könnte für die politische Gegenwart umgewandelt werden und heißen: Sie sagen Demokratie und Freiheit und meinen Öl und Rohstoffe.
Eine andere Entwicklung in Europa ist gekennzeichnet durch die absolutistische Monarchie, die sich auf ein Gottesgnadentum berief, und damit die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft ein weiteres Mal in Zweifel zog. Die Folge war eine Abkehr und Hinwendung zur Aufklärung, die in der Französischen Revolution ihren Ausdruck fand, und in der Forderung nach einem demokratischen Verfassungsstaat gipfelte.
Im 19. Jahrhundert kam die „Soziale Frage“ hinzu, die 1848 zu einem Höhepunkt gelangte in der Veröffentlichung des „Kommunistischen Manifestes“ im Februar 1848 durch Marx und Engels.
Hinrich Wichern (1808-1881) hatte hierzu die „Innere Mission“ gegründet aus der Erkenntnis heraus, dass die christliche Mission im Innern beginnen müsse, bevor sie nach außen getragen werde. Demokratischer Verfassungsstaat und das Aufwerfen der sozialen Frage, so hatte Hinrich Wichern gemeint, hätte aus den Reihen der christlichen Kirchen kommen müssen und nicht von den Gegnern des Christentums.
Auf katholischer Seite muss hier besonders Adolph Kolping (1813-1865) hervorgehoben werden, der sich der sozialen Frage zuwandte, nachdem er als Schuhmachergeselle auf der Wanderschaft die menschenunwürdigen Lebensbedingungen der meisten Handwerksgesellen kennengelernt hatte. Im Alter von 24 Jahren begann er einen neuen Lebensweg, besuchte ein Gymnasium, studierte Theologie und wurde im April 1845 zum Priester geweiht. Als Domvikar in Köln gründete er den ersten Gesellenverein, der schnell anwuchs auch über die rheinischen Grenzen hinaus, um durch Gründung von Gesellenhospizen, das Leben der Handwerksgesellen zu erleichtern und ihre sozialen Lebensumstände zu verbessern.
Die Abkehr verstärkte sich im 20. Jahrhundert. Im Ersten Weltkrieg wurde auf beiden Seiten mit theologischen Argumenten gekämpft, um herauszufinden, wer den allmächtigen Gott auf seiner Seite hätte. Das zentrale Anliegen der christlichen Botschaft, die Versöhnung zwischen Gott und Mensch und die Versöhnung der Menschen untereinander, hatte darin keinen Platz. Das Ergebnis war ein rasanter Säkularisierungsprozess nach dem Krieg, bei Siegern und Verlierern gleichermaßen.
Die Abkehr erreichte ihren nie dagewesenen Höhepunkt in der nationalsozialistischen Ideologie, die sich durch und durch mit heidnischen Symbolen umgab, wie es in der Geschichte, besonders im europäischen Raum, als ein Novum angesehen werden musste. Der christliche Widerstand dagegen erwies sich als zu schwach, um das daraus folgende Unheil zu verhindern.
Der europäische Raum im weitesten Sinne hat sich in seinem unterschiedlichen Verlauf als christlich verstanden, aber mit seinem Herrschaftsanspruch dem christlichen Glaubenszeugnis
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schweren Schaden zugefügt. Es handelt sich um ein weitgespanntes Europa: Russland ist mit allen Wurzeln und Fasern seiner Geschichte eine europäische Nation, und auch Amerika ist aus der europäischen Geschichte hervorgegangen.
Dieses Europa auf der Grundlage der christlichen Botschaft zu erneuern muss mit einem Bekenntnis des Versagens in der europäischen Geschichte einhergehen, wenn der Maßstab, den das ethische Fundament des Evangeliums voraussetzt, Erfüllung finden soll.
Am Beispiel der gegenwärtigen Situation in Afrika lässt sich das erläutern. Afrika war immer einem Ausbeutungsprozess unterworfen, es sei nur an den Sklavenhandel erinnert, ein besonders grausames Unterfangen in der Menschheitsgeschichte. Dieser Ausbeutungsprozess findet seine Fortsetzung in einem Raubzug, den die großen Industrienationen gegenwärtig auf dem afrikanischen Kontinent betreiben, da wird den ärmsten der Armen das letzte Hemd ausgezogen. Bundespräsident Horst Köhler hat als Präsident des IWF diesbezüglich einige Erfahrungen sammeln können, was ihn zu der Aussage veranlasste: „Die Menschlichkeit dieser Welt entscheidet sich am Schicksal Afrikas.“
Europa ist Afrika verpflichtet, vergleichbar der deutschen Verpflichtung gegenüber Israel und der jüdischen Gemeinde vor einem historischen Hintergrund.
Die gesamte europäische Geschichte ist von einem Selbstzerfleischungsprozess durchzogen, der schließlich im 20. Jahrhundert zu zwei weltumspannenden Kriegen geführt hat, die das „alte“ Europa in die Bedeutungslosigkeit geführt hat. Eine Entwicklung, die sich fortsetzt in Bedrohungsszenarien. Wer sich nach 1990 der Überzeugung hingab, die Blockbildung des Kalten Krieges sei überwunden, sieht sich getäuscht. Atomare Bewaffnung wird bereitgestellt und offen damit gedroht. Ein dritter Waffengang der europäischen Völker untereinander bedeutete den endgültigen Absturz in einen Abgrund ohne Wiederkehr.
6. Artikel: Kreationismus
Die Auseinandersetzung zwischen christlichem Glauben und naturwissenschaftlichen Denken und Forschen hat die christlichen Kirchen, weil sich im Laufe der Zeit wissenschaftliche Erkenntnisse als unumstößlich erwiesen hatten, in die Defensive gedrängt, auch Luther hatte sich verächtlich über Nikolaus Kopernikus geäußert. Der Streit ist noch nicht beigelegt, der besonders von Amerika ausgehende Kreationismus, der Eingang gefunden hat in kirchliche und freikirchliche evangelikale Kreise im evangelischen Raum in Deutschland, lehnt die Evolutionslehre ab, zu deren führender Vertreter Charles Darwin (1809-1882) zählt. Schöpfungsgeschichte und Evolution stehen nicht im Gegensatz zueinander, was die Reihenfolge betrifft, was aber beide trennt, ist der Glaube an Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, wie es der erste Satz der Heiligen Schrift bezeugt. Der Schöpfungsbericht der Heiligen Schrift steht in der Reihenfolge: Zuerst die Pflanzen, dann die Fische des Meeres, dann die Tierwelt und schließlich der Mensch als eine gesonderte Schöpfung nach dem Bilde Gottes, der gesondert eine evolutionäre Entwicklung vollzogen hat, vom Faustkeil der Steinzeit bis zur internationalen Raumstation der Gegenwart.
Dagegen behauptet der Kreationismus, es habe in dem Zeitraum vor sechstausend Jahren keine Menschen auf diesem Planeten gegeben, oder gar die gewaltige Schöpfung des unendlichen Universums sei im Vierundzwanzigstundentakt geschehen. Alle wissenschaftliche Erkenntnis und Forschung und einschlägige Fossilienfunde mit der Möglichkeit einer Datierung sprechen dagegen. Eine Feststellung kann aber mit Sicherheit getroffen werden: Es gibt keine
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Hochkultur, die älter ist als sechstausend Jahre. Die Cheopspyramide datiert viertausendsechshundert Jahre vor Christus. Hochkulturen nahmen ihren Anfang, als dem Menschen der Odem Gottes eingegeben wurde. Wer eine jüdische Zeitung zur Hand nimmt, wird dort das Jahresdatum 5776 finden. Die jüdische Zeitrechnung wird auf Adam zurückgeführt, der aus Erde geformt und geschaffen wurde, wie geschrieben steht. Der Mensch hatte bis dahin eine Entwicklung vom Homo erectus zum Homo sapiens durchlaufen, was Höhlenfunde mit Wandmahlereinen und Werkzeugfunde beweisen.
Zwischen Adam, dem ersten Menschen, und Jesus Christus gibt es einen Unterschied, wie er im christlichen Kanon der Heiligen Schrift im 1. Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth Kapitel 15 in den Versen 44-50 beschrieben wird. (44) Es wird ein natürlicher Leib gesät, und ein geistlicher Leib wird auferstehen. Gibt es einen natürlichen Leib, dann gibt es auch einen geistlichen Leib; (45) wie auch geschrieben steht: Der erste Mensch, Adam, wurde zu einer lebendigen Seele, und der letzte Adam zum Geist der lebendig macht. (46) Aber das geistliche ist nicht das erste, sondern das Natürliche, danach das Geistliche. (47) Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch; der zweite Mensch ist der Herr vom Himmel. (48) Wie der irdische ist, so sind auch die irdischen; und wie der himmlische ist, so sind auch die himmlischen. (49) Und wie wir das Bild des irdischen getragen haben, so werden wir auch das Bild des himmlischen tragen. (50) Das sage ich aber, Brüder, dass Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererben können; auch ererbt das Verwesliche nicht das Unverwesliche.[9]
Mit großem Aufwand wird die Erforschung nach dem Ursprung des Universums und der Schöpfung betrieben. Die Suche nach dem Anfang des Universums und allen Lebens, die Suche nach dem „Urknall“. Ein Beispiel, was die Forschung auf diesem Gebiete erreicht hat und noch zu erreichen gedenkt, ist das Cern (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire) in Genf. Es ist das weltgrößte Forschungszentrum auf dem Gebiet der Teilchenphysik.
Am Cern werden der Aufbau der Materie und die fundamentalen Wechselwirkungen zwischen den Elementarteilchen erforscht, also die grundlegende Frage, woraus das Universum besteht, und wie es funktioniert. In großen Teilchenbeschleunigern werden die atomaren Teilchen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und zur Kollision gebracht, um, wie es in Goethes Faust heißt: „Zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält.“
Stephen Hawking ist britischer theoretischer Physiker und Astrophysiker. Er ist bekannt geworden durch populärwissenschaftliche Werke, die Millionenauflagen erzielten. Aufsehen hat sein Buch erregt: „Gibt es Gott?“
Er ist der Überzeugung, die Wissenschaft habe bessere und überzeugendere Erklärungen anzubieten, als den Glauben an einen Schöpfergott, und damit ist auch und gerade der Schöpfergott gemeint, wie er uns in dem hebräischen und christlichen Kanon der Heiligen Schrift vorgestellt wird oder sich vorstellt. Stephen Hawking erläutert am Aberglauben der Wikinger die Überlegenheit und Deutungshoheit der Naturwissenschaft über Religion und Glauben. Bevor Mond-und Sonnenfinsternis durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse einer rationalen Erklärung zugänglich waren, wurde dieses Ereignis bei den Wikingern als ein Streit unter den Göttern gesehen.
Es wäre aber verfehlt, die Wunder, über die in beiden Büchern der Heiligen Schrift berichtet wird, als Aberglauben abzutun. Sie sind eine Frage des Glaubens und können durch Gesetze der Naturwissenschaft nur insoweit widerlegt werden, als sie mit diesen Gesetzen nicht im Einklang stehen, sie lassen sich aber auch nicht auf naturwissenschaftlicher Basis erklären. Diese Tatsache verleitet Menschen dazu, einen Glauben auf Wunder zu begründen. Ein Glaube,
[9] Nach Luthers revidierter Übersetzung, Wollerau 2009
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der auf Wunder gründet, kann keinen Bestand haben, denn ein solcher Glaube könnte erlöschen, wenn die Wunder ausbleiben.
Anders als die Gesetze, wie die zehn Gebote, gegen die der Mensch verstoßen kann, ist ein Verstoß gegen die Gesetze der Natur dem Menschen nicht möglich, es sei denn der Schöpfer dieser Gesetze befähigte ihn dazu. Die Naturgesetze der Physik oder der Mathematik kann der Mensch nur entdecken, nicht schaffen, sie waren schon vorhanden, bevor er sie entdeckte. Diese Gesetze nahmen ihren Anfang mit dem Augenblick der Schöpfung. Der erste Satz der Heiligen Schrift lautet: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde…Dieser Augenblick ist auch zugleich der Beginn von Raum und Zeit, während Gott als der Schöpfer keinem Denken in Raum und Zeit unterworfen ist. Er ist ohne Raum und Zeit und hat auch keine Ursache, anders das Geschehen in der Welt von Raum und Zeit, hier hat jedes Geschehen eine vorhergehende Ursache.
Das Alter des Universums, des Weltalls, wird von der Wissenschaft auf 13,8 Milliarden Jahre veranschlagt, darum können nur Objekte wahrgenommen werden, von denen das Licht vor 13,8 Milliarden Jahren ausgesandt wurde. Um sich die Größenordnungen der Schöpfung bewusst zu machen, werden Maße für Ausdehnungen im Universum in Lichtjahren angegeben, wobei die Lichtgeschwindigkeit 300.000 Km/h in der Sekunde beträgt. Bausteine des Universums sind die Galaxien, spiralförmig angeordnete Sternhaufen. In der Zahl und Anordnung der Galaxien wird von 100 Milliarden ausgegangen, bei einem jeweiligen Durchmesser von 3000 bis über 100.000 Lichtjahre. Die Anzahl der Sterne in einer Galaxie bewegt sich zwischen 100-300 Milliarden Sterne. Die Milchstraße ist die Galaxie, in der sich auch das Planetensystem mit der Erde und der Sonne befindet. Die Milchstraße, in besonderen Nächten mit dem menschlichen Auge sichtbar, durchzieht als weißes Band den Nachthimmel. Als Spiralnebel hat sie einen Durchmesser von 100-120 Lichtjahren. Die Dicke bewegt sich als flache Scheibe seitlich betrachtet an den Enden bei 3000 und in der Mitte bei 16000 Lichtjahren. Der nächste Nachbar zur Milchstraßengalaxie ist die Andromedagalaxie mit einem Durchmesser von 140.000 Lichtjahren und einer Entfernung von 2,6 Millionen Lichtjahren von der Milchstraßengalaxie. Die Andromedagalaxie ist bei entsprechenden Lichtverhältnissen mit dem menschlichen Auge sichtbar. Es ist zugleich die weiteste Entfernung, die für das menschliche Auge ohne optische Hilfsmittel wahrgenommen werden kann. Das Licht, das so sichtbar wird, ist vor 2,6 Millionen Jahren abgesandt worden zu einem Zeitpunkt, als der Mensch in seiner evolutionären Entwicklung sich anschickte, den aufrechten Gang zu erlernen. Die größte Entfernung im Universum beträgt 13,8 Milliarden Lichtjahre. Es gibt für dieses Universum keinen „Rand“ und auch keinen Mittelpunkt. Dem Menschen ist es inzwischen gelungen, einen Blick zu werfen in die makrokosmische Welt der Planetensysteme und Galaxien und die mikrokosmische Welt der Moleküle, atomaren und subatomaren Teilchen. Seit Albert Einstein liegt die Erkenntnis vor, dass Zeit relativ ist. In Genesis Kapitel 29 Vers 20 wird berichtet wie Jakob dem Laban um dessen jüngste Tochter Rahel sieben Jahre diente. (20) Und so diente Jakob sieben Jahre um Rahel, und es kam ihm vor, als wären es einzelne Tage, so lieb hatte er sie. Es gibt auch die andere Seite: Ein Erdbeben, mit oft verheerenden Folgen, dauert nur wenige Minuten und manchmal nicht einmal eine Minute. Menschen, die im Zentrum eines solchen Bebens überlebt haben, berichten übereinstimmend, die Zeit sei ihnen wie mehrere Stunden vorgekommen.
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Gibt es einen Gott? So fragt Stephen Hawking. Er hält den Gedanken an einen Schöpfer des Universums und allen Lebens für überflüssig und sieht in der Wissenschaft eine ausreichende Erklärung über Sinn und Ziel des Lebens, das dann auch nach diesem kläglichen Erdendasein endet. Was ist eingängiger? Der Glaube an einen Schöpfer, der das von ihm geschaffene lenkt oder eine Weltsicht, die letztlich in allem ein Zufallsprodukt sieht, denn es gibt nur diese andere Möglichkeit, wenn der Gedanke an einen lenkenden Schöpfergott ausgeklammert werden soll.
Der griechische Philosoph Epikur (341-271 v. Chr.) führte alles auf Atome zurück, die im Weltall herumschwirren, sich fanden und passend ineinander hakten, wobei die Herkunft dieser Atome weiter ungeklärt blieb. Um diesen Fragenkomplex aufzulösen, sind Glaube und Offenbarung nicht erforderlich, es kann alles auf die Ebene menschlicher Vernunft zurückgeführt werden, was sich auch wesentlich einleuchtender darstellt.
Papst Benedikt XVI. hat sich mit der Äußerung zu diesem Fragenkomplex vernehmen lassen und festgestellt, ohne Gott funktioniert das System nicht. Hier wäre ein Weg aufgezeigt, die Deutungshoheit von der Wissenschaft auf die Theologie zu übertragen, wobei Voraussetzung sein muss, dass ein jeweiliger Eingriff in den Bereich des anderen von der nötigen Kompetenz begleitet wird.
In der Heiligen Schrift selbst nimmt der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Rom Stellung im 1. Kapitel von den Versen 18-23. (18) Wird doch enthüllt, wie Gott vom Himmel her zürnte über alle frevelhaften und ungerechten Menschen, die die Wahrheit niederhalten mit ihrer Ungerechtigkeit. (19) Denn was an Gott erkennbar ist, ist ihnen wohlbekannt, Gott selber hat es ihnen offenbart. (20) Denn was an Ihm unsichtbar ist, wird von den Geschöpfen durch Nachdenken seit Erschaffung der Welt erkannt: Seine ewige Allmacht und Göttlichkeit. Darum sind sie unentschuldbar. (21) Denn sie erkannten zwar Gott, verherrlichten ihn aber nicht als Gott und dankten Ihm auch nicht. Vielmehr gerieten sie in ihrem Denken auf Torheiten, und ihr unverständiges Herz ward verfinstert. (22) Sie gaben sich als Weise aus und waren doch Toren geworden: (23) sie vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit dem Abbild der Gestalt eines vergänglichen Menschen, von Vögeln, vierfüßigen und kriechenden Tieren.[10]
Alles was der Mensch als Ebenbild Gottes schafft ist geistigen Ursprungs wie das Formen eines Stoffes. Um einen Stoff zu formen, ist der Mensch befähigt auf geistigem Wege die entsprechenden Werkzeuge herzustellen. Den Stoff selber kann er nicht schaffen, er ist gegeben und vorhanden. Darüber hinaus ist der Mensch befähigt rein geistige Produkte zu erzeugen.
[10] Nach der Übersetzung von Riessler/Storr (kath)
Artikel 7 Christentum und deutsche Geschichte in ihrem Kontext
a) Sozialpolitische und sozialehtische Sicht
Der christliche Glaube in seinen vielfältigen Ausprägungen hat tiefe Wurzeln in der deutschen Geschichte in Gnade und Gericht. Der letzte Einschnitt hierzu in weltgeschichtlichem Ausmaß war die Reformation Marin Luthers (1483 -1546), die besonders darin bestand, die Ausbreitung des Wortes Gottes durch seine Bibelübersetzungen in bis dahin nie gekanntem Ausmaß zu vollbringen. Aber es gab in der deutschen Geschichte auch Gegenbewegungen.
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Dem Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900) wird in seinen Schriften ein brillanter Stil, vergleichbar dem Stil Martin Luthers, nachgesagt. Von ihm stammt auch der ziemlich verwegene Satz: „Gott ist tot.“
Die Reformation Martin Luthers wäre beinahe an der sozialen Frage gescheitert, viel hatte nicht gefehlt und die Bauernkriege um 1525, wenige Jahre nach dem Thesenanschlag am 31. Oktober 1517, hätten alles zum Einsturz gebracht. Der Thesenanschlag, der eigentliche Auslöser der Reformation, enthielt keine auf gesellschaftliche und soziale Veränderungen abzielende Forderungen. Die Bauern hatten entsprechende Forderungen in „Zwölf Artikeln“ formuliert, von denen sich Luther insoweit distanzierte, als er es ablehnte, soziale und politische Bestrebungen mit der Verkündung des Evangeliums gleich zu setzen.
In seiner „Zwei-Reiche-Lehre“ unterscheidet Luther das Reich des Glaubens von den politischen Reichen dieser Welt. Luther ging es ausschließlich um eine Reform des Glaubens, was nicht mit völliger politischer Abstinenz gleichzusetzen ist. Luther hat auch nicht einseitig das Vorgehen der Bauern, das sich oft in besonders bestialischen Racheakten vollzog, verurteilt. Er hat auch die Obrigkeiten der Zeit auf das Schärfste ermahnt, was gerne, je nach politischem Standpunkt, übersehen wird.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trat im Zuge der industriellen Entwicklung die Soziale Frage drängend und unübersehbar in das gesellschaftliche Leben der Zeit. Zuvor hatte ein weiteres historisches Ereignis von weltgeschichtlichen Dimensionen, ausgelöst durch die Französische Revolution 1789, seinen Verlauf genommen, die in der Forderung nach einem Staatsaufbau auf verfassungsrechtlichen Grundlagen bestand. Aus der Christenheit kam kein nennenswerter Beitrag zur notwendigen Reform des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Die Revolution selbst war zeitweise sogar bemüht, das Christentum überhaupt zu beseitigen. Die christlichen Kirchen hatten zuvor dem Missbrauch absolutistischer Herrscher, die sich auf ein von Gott begnadetes Herrscherrecht beriefen, wenig entgegengesetzt. Die drei markanten Begriffe „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ hätten auch der Botschaft des christlichen Evangeliums entnommen werden können. Die Französische Revolution erwies sich als politisches Experimentierfeld verschiedener gesellschaftlicher und verfassungsrechtlicher Entwürfe, begleitet von exzessiver Gewalt, die schließlich in die napoleonische Herrschaft mündete. Es vergingen mehr als hundert Jahre, bis sich demokratische Verfassungsstrukturen festigten.
Ein erster ernst zu nehmender Versuch wurde in Deutschland 1848/49 mit der Gründung der Frankfurter Nationalversammlung unternommen. Es war der Versuch ein einiges Deutschland auf demokratischer und verfassungsrechtlicher Grundlage zu schaffen, nachdem solche Hoffnungen auf dem Wiener Kongress 1815 zunichte gemacht worden waren, wo nach Revolution und Krieg Frankreich niedergerungen worden war und eine europäische Neuordnung ausgehandelt wurde. Deutschland erreichte seine Einheit erst nach drei Kriegen durch die Politik des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck (1815-1898): 1864 gegen Dänemark, 1866 zwischen Preußen und Österreich und schließlich 1870/71 gegen Frankreich. Um diese drei Kriege hat es Darstellungen und Interpretationen gegeben, die in ihrem Ergebnis besonders nach dem Zweiten Weltkrieg einen Ausgang nahmen, die einem auf Versöhnung ausgerichteten Geschichtsverständnis nicht dienlich waren. Eine Geschichtsbetrachtung, die das Prinzip von Schuld und Vergeltung in den Vordergrund stellt, daran hat sich in Jahrzehnten wenig geändert, obgleich historische Fakten eine andere Betrachtungsweise erlauben und ermöglichen, andere Wege zu beschreiten.
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Es beginnt mit der irreführenden Darstellung, Bismarck habe zielstrebig die Einheit Deutschlands durch die genannten drei Kriege herbeigeführt. Nicht einer dieser drei Kriege ist von Bismarck begonnen worden, eben so wenig stimmt die Behauptung, dem 1871 gegründetem Reich habe die demokratische Legitimation gefehlt. Das Wahlrecht zum Reichstag der Kaiserzeit war ausgesprochen fortschrittlich im Kontext der Zeit, es war frei, gleich, geheim und direkt, und der föderalistische Staatsaufbau hat sich fortgesetzt in der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg und in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, so wie er mit der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 begonnen hatte. Der Reichstag hatte das Budgetrecht und das Gesetzgebungsrecht, und kein anderes Verfassungsorgan konnte am Reichstag vorbeiregieren.
Die deutsche Geschichte ist in ihrer Gesamtbetrachtung eingeteilt worden in Erstes, Zweites und „Drittes Reich“. Alle die genannten Zeitabschnitte und Reichsgründungen hatten keine Gemeinsamkeit, auch wenn die Bezeichnungen eine auf Kontinuität ausgerichtete Entwicklung schließen lassen.
Das Erste Reich gründete auf den universalen Staatsgedanken, wenngleich die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches zumeist deutschen Herrscherhäusern entstammten, so war das nicht zwingend, jedes andere Herrscherhaus im Bereich des weströmischen Staatsverständnisses hätte diesen Platz einnehmen können. Die Bezeichnung „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“ ist erst mit dem Beginn der Neuzeit mit diesem Zusatz „deutscher Nation“ bedacht worden, als es in seinem Ursprung nicht mehr bestand. Kein Herrscher seit Karl dem Großen hatte in Europa eine solche Machtfülle in sich vereinigt wie Kaiser Napoleon I., der sich am 2. Dezember 1804 in Notre Dame im Beisein des Papstes zum Kaiser krönte.
Er hatte es aber abgelehnt, den universalen Staatsgedanken, wie er von Karl dem Großen begründet worden war, wo nationale oder gar rassische Gegebenheiten nicht im Vordergrund standen, zu erneuern. Ihm hatte sich die Möglichkeit geboten, die ungenutzt blieb, Tradition und Moderne miteinander zu verknüpfen.
Das Zweite Reich war ein Nationalstaat im Sinne der Zeit und wollte sich auch so verstanden wissen. Ein Nationalstaat in der Mitte Europas war mit einer besonderen Herausforderung behaftet. Wie sollte dieser Staat mit seinen nationalen Minderheiten umgehen, mit Franzosen im Westen, Dänen im Norden und besonders Polen im Osten. Ein Rückgriff auf den universalen Staatsgedanken mittelalterlicher Prägung war undenkbar.
Es wäre aber auch ungerecht, den Deutschen das Recht abzusprechen, einen Nationalstaat zu begründen. Preußen, dessen Machtstellung schließlich die deutsche Einheit herbeiführte, hatte sich zuvor nicht als Nationalstaat verstanden, es hat gegenüber seinen polnischen Bevölkerungsteilen keine rücksichtslosen Eindeutschungsversuche unternommen.
Das Zweite Reich hatte zwei innenpolitische Erschütterungen zu überwinden: Die soziale Frage, die mit der aufkommenden Sozialdemokratie drängend in den Vordergrund rückte und dem Kulturkampf, der in einem Ringen mit der katholischen Kirche bestand, und das Reich noch einmal in ferne Zeiten entrückte, was in dem markigem Satz Bismarcks im Reichstag seinen Niederschlag fand: „Nach Canossa gehen wir nicht.“ Der Kulturkampf fand ein Ende und der Streit wurde beigelegt. In Glaubensfragen stand Bismarck sehr unter dem Einfluss seiner Frau Johanna von Puttkamer, die pommerschen Pietistenkreisen entstammte. Bismarcks dezidiert protestantische Haltung hat hier ihren Ursprung.
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In der sozialen Frage verliefen die Gegensätze nicht so glimpflich. Der Kampf mit der Sozialdemokratie erreichte 1878 mit dem Sozialistengesetz seinen Höhepunkt. Die Sozialdemokratie, die sich 1875 auf dem Kongress in Gotha zu einer Einheit fand, wurde in ihrer Tätigkeit empfindlichen Einschränkungen unterworfen, durfte aber weiter an Reichstagswahlen teilnehmen, und steigerte ihren Stimmenanteil von 7,6% im Jahre 1878 auf 19,8% im Jahre 1890 dem Ende des Sozialistengesetzes, weil es vom Reichstag entgegen der Absicht Bismarcks nicht erneuert wurde.
Die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts markieren die Einführung der Sozialgesetzgebung in der Krankenversicherung, Unfallversicherung und Rentenversicherung. Es ist oft behauptet worden, Bismarck habe diese Gesetzgebung auf Druck der wachsenden Sozialdemokratie eingeführt. Sollte er tatsächlich diese Absicht verfolgt haben, so erwies sich dieser Versuch als ein Fehlschlag. Bismarck hatte sich aber schon viel früher der sozialen Frage zugewandt. Er hatte sich mehrfach mit Ferdinand Lassalle getroffen, bevor dieser im Mai 1863 den ADAV (Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein) gründete. In der Reichstagsdebatte am 17. September 1878 zur Vorlage des Sozialistengesetzes fand Bismarck lobende Worte für Ferdinand Lassalle.
Im Juni 1863 folgte dann die Gründung des VDAV (Vereinigung Deutscher Arbeitervereine), der marxistisch ausgerichtet war, mit Wilhelm Liebknecht und August Bebel an der Spitze. Beide Parteien standen zunächst im Gegensatz zueinander, bis 1875 der Zusammenschluss erfolgte. 1890, mit dem Ende des Sozialistengesetzes, endete auch die Ära Otto von Bismarcks.
1891 formierte sich die Sozialdemokratie auf dem Kongress in Erfurt neu und gab sich den Namen SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands). Programmatisch überwog die marxistische Richtung. Ein Ereignis ließ in gravierendem Ausmaß soziale Spannungen steigen und aufrechterhalten: Der „Gründerkrach“ 1873. Erschütterungen an der Börse hinterließen einen wirtschaftlichen Niedergang, der mehr als zwanzig Jahre andauerte. Erst mit dem Ende des 19. Jahrhunderts erholte sich die Wirtschaft im Deutschen Reich spürbar, was sich auch in verbesserter Lebensqualität für die Arbeiter niederschlug, und innerhalb der SPD nicht ohne Auswirkungen blieb. Die Revolution, die den völligen Zusammenbruch des Systems nach historischen Gesetzmäßigkeiten herbeiführen sollte, war ausgeblieben, was zu einem Umdenken führte. Die „Revisionisten“ in der SPD gewannen an Einfluss, hinzu kam das Werben um die SPD, die ihren Stimmenanteil bei Wahlen kontinuierlich gesteigert hatte, bis sie 1912 zur stärksten Fraktion im Reichstag anwuchs. Von außerhalb der Partei wurde unentwegt versucht, sie für den Staat zu gewinnen, dem sie immer ablehnend gegenüber gestanden hatte.
Die katholische Kirche begegnete der sozialen Herausforderung im Mai 1891 mit der Enzyklika „Rerum Novarum“ (wörtlich: Neue Sachen) durch Papst Leo XIII., dem Arbeiterpapst, die 45 Thesen dieser Enzyklika werden durch Zitate aus dem hebräischen und christlichen Kanon der Heiligen Schrift untermauert. These 1 beginnt mit dem Satz: „Der Geist der Neuerung, welcher seit Langem durch die Völker geht, mußte, nachdem er auf politischem Gebiete seine verderbliche Wirkung entfaltet hatte, folgerichtig auch das volkswirtschaftliche Gebiet ergreifen. Viele Umstände begünstigten diese Entwicklung; die Industrie hat durch Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel und seine Produktionsweisen mächtigen Ausschwung genommen; das gegenseitige Verhältnis der besitzenden Klasse und der Arbeiter hat sich wesentlich umgestaltet; das Kapital ist in den Händen einer geringen Zahl angehäuft, während die große Menge verarmt; es wächst in den Arbeitern das Selbstbewußtsein, ihre Organisation erstarkt, dazu gesellt sich der Niedergang der Sitten“.
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Wer denkt bei diesen Sätzen nicht an die Theorie von Karl Marx von der Akkumulation des Kapitals, indem sich das Kapital ständig vermehrt und sich in immer weniger werdende Hände konzentriert, einer Entwicklung, der Marx die Verelendungstheorie gegenüberstellt mit der Folge einer steigenden Verelendung breiter Bevölkerungsschichten.
In der These 17 heißt es weiter: „Vor allem ist es die Pflicht der Arbeitsherrn, dem Grundsatz: Jedem das Seine, stets vor Augen zu behalten. Dieser Grundsatz sollte auch unparteiisch auf die Höhe des Lohnes Anwendung finden, ohne daß die verschiedenen für die Billigkeit mit zu berücksichtigenden Momente übersehen werden. Im Allgemeinen ist in Bezug auf den Lohn wohl zu beachten, daß es wider göttliches und menschliches Gesetz geht, Notleidende zu drücken und auszubeuten um des eigenen Vorteils willen. Dem Arbeiter den gebührenden Lohn vorzuenthalten, ist eine Sünde, die zum Himmel schreit. „Siehe“ sagt der Heilige Geist, „der Lohn der Arbeiter, den ihr unterschlagen habt, schreit zu Gott, und ihre Stimmen dringen zum Herrn Sabaoth“. (Aus dem Brief des Apostels Jakobus Kapitel 5, Vers 4) Die Reichen dürfen endlich unter keinen Umständen die Besitzlosen in ihrem Erworbenen schädigen, sei es durch Gewalt oder Trug oder Wucherkünste: und das um so weniger, als ihr Stand minder gegen Unrecht und Übervorteilung geschützt ist. Ihr Eigentum, weil gering, beansprucht eben deshalb um so mehr Unverletzlichkeit. Wer will in Abrede stellen, daß die Befolgung dieser Vorschriften allein imstande sein würde, den bestehenden Zwiespalt samt seinen Ursachen zu beseitigen?“
Der Gegensatz zwischen national und sozial und der damit verbundenen Begriffswelt war damit nicht beseitigt. In zwei gegenläufigen Richtungen hatten sich national und sozial aufeinander zu und aneinander vorbeibewegt, was in der Folgezeit im 20. Jahrhundert nicht ohne Auswirkungen blieb. Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 warf alles aus der Bahn, was in geordnete Bahnen hätte gelenkt werden können. Friedrich Naumann (1860-1919) hatte einen Weg gewiesen und von einem nationalen Sozialismus und einem „Volkskaiser“ als obersten Monarchen gesprochen. Er war evangelischer Theologe und christlich sozialer Politiker; gründete 1896 den „Nationalsozialen Verein“ mit einem Programm, um die Arbeiterschaft für den Staat zu gewinnen, zudem die Sozialdemokratie sich seit ihrer Gründungsphase auf Distanz gehalten hatte.
Mit der Veröffentlichung des „Kommunistischen Manifestes“ im Februar 1848 durch Marx und Engels wurde im Rahmen eines historischen unabänderlich sich vollziehenden Prozesses das Erreichen einer klassenlosen Gesellschaft beschrieben und damit die Beseitigung aller Klassenherrschaft in einer Gesellschaft, wo die Freiheit der Entwicklung des einzelnen, die Gewähr ist die freie Entwicklung aller. Als Hindernis zu diesem Ziel wurde der Privatbesitz an Produktionsmitteln gesehen, die es in die Hände des Proletariats zu überführen galt, dem gesellschaftlichen Gegenstück zur bürgerlichen Gesellschaft. Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit hatten demzufolge also ihren Ursprung in der Produktionssphäre und der Zirkulation der Arbeitserzeugnisse, während Wirtschaftskrisen und soziale Verwerfungen auch im Bereich der Zirkulationssphäre des Geldes zu suchen und zu finden sind.
Friedrich Engels schrieb dazu in seinem „Anti-Dühring“, veröffentlicht 1877 im „Vorwärts“ in mehreren Folgen:
In der That, seit 1825, wo die erste allgemeine Krise ausbrach, geht die ganze industrielle und kommerzielle Welt, die Produktion und der Austausch sämtlicher zivilisirten Güter und ihrer mehr oder weniger barbarischen Anhängsel so ziemlich alle zehn Jahre einmal aus den Fugen.
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Der Verkehr stockt, die Märkte sind überfüllt, die Produkte liegen da, ebenso massenhaft wie unabsetzbar, das baare Geld wird unsichtbar, der Kredit verschwindet, die Fabriken stehen still, die arbeitenden Massen ermangeln der Lebensmittel, weil sie zu viel Lebensmittel produzirt haben, Bankrott folgt auf Bankrott, Zwangsverkauf auf Zwangsverkauf. Jahrelang dauert die Stockung, Produktivkräfte werden massenhaft vergeudet und zerstört, bis die aufgehäuften Waarenmassen unter größerer oder geringerer Entwerthung endlich abfließen, bis Produktion und Austausch allmählich wieder in Gang kommen. Nach und nach beschleunigt sich die Gangart, fällt in Trab, der industrielle Trab geht über in Galopp, und dieser steigert sich wieder bis zur zügellosen Karriere einer vollständigen industriellen, kreditlichen und spekulativen Steeple-chase, um endlich nach den halsbrecherischen Sprüngen wieder anzulangen – im Graben des Krachs. Und so immer von neuem. Das haben wir nun seit 1825 volle fünfmal erlebt und erleben es in diesem Augenblick (1877) zum sechsten Mal. Und der Charakter dieser Krisen ist so scharf ausgeprägt, daß Fourier sie alle traf, als er die erste bezeichnete als: crise plétorique, Krise aus Überfluß.
Was Engels hier niederschrieb, hat sich fortgesetzt, und die Welt steht solchen Erscheinungen offensichtlich hilflos gegenüber, obgleich die Widersprüche, die hier aufgezeigt werden, unübersehbar sind.
Ein Ausweg könnte in der Gegenüberstellung eines reibungslosen Austausches zwischen Sachkapital und Geldkapital bestehen, dargestellt am Zahnradmodell der Wirtschaftskreisläufe:
Die Zahnradmodelle der Wirtschaftskreisläufe
Besitzansprüche werden unterschiedlich formuliert und sind oft abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung. Besitzansprüche werden in Sachwerten oder Geldwerten ausgedrückt.
Sach- und Geldwerte sind abhängig von der Arbeitsleistung, die dafür erbracht werden muss, und sie sind abhängig von der reibungslosen Zirkulation des Geldkreislaufes und des Kreislaufes der Arbeitserzeugnisse.
Durch ein Bild mit den zwei Zahnrädern kann das anschaulich gemacht werden.
1. Zahnrad- Warenzirkulation 2. Zahnrad- Geldzirkulation
Geistige und materielle Güter, die durch Das Zahnrad der Geldzirkulation ist mit der
Arbeitsleistung erzeugt werden. Antriebswelle verbunden, und bewegt so die
gesamten Wirtschaftskreisläufe.
Dort, wo beide Zahnräder drehend ineinander greifen, entsteht der Austausch von Geld- und Sachwerten.
Geld- und Warenzirkulation müssen aufeinander abgestimmt sein, wenn ein reibungsloser Güteraustausch und eine gerechte Verteilung der Arbeitserzeugnisse gewährleistet sein soll.
Vier Möglichkeiten gibt es, dargestellt an Zahnrädern, die sich bewegen und ineinander greifen.
1. Möglichkeit: Beide Zahnräder sind gleich groß. Das Zahnrad der Geldzirkulation befindet
sich auf der Antriebswelle. Beide Zahnräder sind so in Größe und Geschwindigkeit aufeinander abgestimmt. Ein reibungsloser Güteraustausch ist die Folge.
2. Möglichkeit: Das Antriebszahnrad der Geldzirkulation ist größer als das Zahnrad der Warenzirkulation. Es entsteht durch Geldüberhang eine Entwertung des Geldes und eine Flucht in die
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Sachwerte. Die Verteilung der vorhandenen Güter erfolgt mit steigender Geschwindigkeit bis alles aus den Fugen gerät, was im Extremfall die Rückkehr zur Naturalwirtschaft bedeuten kann.
(Inflation in Deutschland 1923 und 1948)
3. Möglichkeit: Das Antriebszahnrad der Geldzirkulation ist kleiner als das Zahnrad der Warenzirkulation. Es entsteht ein Überhang der erzeugten Güter und eine Flucht in den ständig steigenden Geldwert. Die Verteilung der erzeugten Güter verlangsamt sich, die Produktion gerät ins Stocken, bis Heere von Arbeitslosen die Straßen bevölkern. (Deflation zwischen 1929 und 1933)
4. Möglichkeit: Das Antriebszahnrad der Geldzirkulation wird von dem Zahnrad der Warenzirkulation losgelöst. In dem Maße, wie sich die Geldzirkulation von der Warenzirkulation entfernt, wird der Geldwert nicht mehr auf Sachwerte bezogen. Die bunt bedruckten Geldscheine werden schließlich zu einem wertlosen Fetzen Papier. Es entstehen Geldwerte nur innerhalb einer Geldzirkulation, was schließlich dazu führt, dass selbst Milliardäre sich vor den fahrenden Zug werfen. Das Zahnrad der Geldzirkulation ist so seiner eigentlichen Funktion beraubt, dann müssen, um den gänzlichen Zusammenbruch der Wirtschaftskreisläufe zu umgehen, Ersatzzahnräder mit Ersatzantriebswellen bereit gestellt werden, als da sind: Konjunkturprogramme, Staatshilfen und Staatskredite, Ausfallbürgschaften, Schuldenschnitt und schließlich Geldschöpfung durch die Notenpresse. Geholfen haben solche Antriebsmechanismen noch nie richtig. (Heinz Drews)
Eine wesentliche Ursache wirtschaftlichen Ungleichgewichts und sozialer Verwerfung ist zumeist in einer steigenden Staatsverschuldung zu suchen. Sie stand ursächlich vor dem Ausbruch der Französischen Revolution, als die Staatsverschuldung vor 1789 in ihrem Höhepunkt den Stand der Staatseinnahmen erreichte. Adel und Geistlichkeit, die herrschenden Stände, verweigerten sich nötigen Reformen. Es war nicht das erste Mal in der Geschichte, dass Reformverweigerung sich in revolutionären Gewaltausbrüchen Bahn brach.
Ein weiteres Beispiel zu einer solchen Entwicklung bildet das russische Zarenreich. Die Verweigerung nötiger Reformen zur notwendigen Veränderung von Gesellschaft und Staatsaufbau führte 1917 zur marxistisch – leninistischen Oktoberrevolution.
Kennzeichnend für die Entwicklung der Weltwirtschaft zwischen den beiden Weltkriegen im vorigen Jahrhundert war die Staatsverschuldung, denn alle maßgeblich am Ersten Weltkrieg beteiligten Mächte waren mit einer hohen Staatsverschuldung aus dem Krieg hervorgegangen, einschließlich der Vereinigten Staaten von Amerika, die schließlich den Ausgang des Krieges entschieden hatten. Die Vereinigten Staaten waren Hauptgläubiger der interalliierten Kriegsschulden durch die Aufnahme von Schulden durch Frankreich und Großbritannien in Amerika. Dazu einige Zahlen, um sich mit den Größenordnungen vertraut zu machen. Das deutsche Kaiserreich hatte durch Anleihezeichnungen eine Kriegsschuld von 154 Milliarden Goldmark aufgehäuft. Dem stand eine Reparationsforderung der Siegermächte des Ersten Weltkrieges, vor allem Frankreichs und Großbritanniens durch das Londoner Schuldenultimatum vom Mai 1921 gegenüber mit einer Forderung von 132 Milliarden Goldmark. Die innere Schuld wurde beseitigt durch eine Inflation, Gläubiger, Sparer und Anleihezeichner wurden durch unentwegtes Drucken von Banknoten enteignet. Am Tage der Währungsumstellung von Mark auf Rentenmark, dem 20. November 1923, kostete 1$ 4,2 Billionen Mark und die gesamte deutsche Kriegsschuld von 154 Milliarden Goldmark hatte einen Wert von 15,4 Pfennig in der Kaufkraft des Jahres 1913. Zuvor hatten belgische und französische Armeeeinheiten das Ruhrgebiet besetzt, das industrielle Herz Deutschlands mit der Begründung, Deutschland habe die auferlegten Reparationsverpflichtungen nicht pünktlich erfüllt, wodurch die deutsche Wirtschaftsleistung erheblich geschwächt wurde. Es ergab sich die Notwendigkeit einer Neuregelung, sie wurde 1924 vorgenommen durch den Dawes-Plan, benannt nach dem amerikanischen Finanzexperten Charles Dawes. Dieser Plan sah eine
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Ratenzahlung vor von einer Milliarde Goldmark jährlich ab 1924 und ab 1928 2,5 Milliarden Goldmark, was einen Anteil an den Staatsausgaben von 12,4% ausmachte. Eine endgültige Höhe der Summe und ein Zeitplan wurden nicht festgelegt. Dazu wurde eine internationale Anleihe von 800 Millionen Goldmark aufgelegt mit entsprechenden Rückzahlungsverpflichtungen. Die Wirtschaft entwickelte sich zunächst zufriedenstellend, so dass zum Ende hin von den „Goldenen Zwanzigern“ gesprochen wurde, die mit dem „Schwarzen Freitag“ an der Wallstreet in New York im Oktober 1929 ein plötzliches Ende fanden. Die Weltwirtschaft geriet in Turbulenzen, ausgelöst durch Börsenspekulation an der Wallstreet, dem internationalen Finanzzentrum. Die deutsche Wirtschaft wurde davon besonders hart getroffen, woraus sich die Notwendigkeit einer weiteren Regelung der Reparationsforderungen ergab. Sie wurde gefunden durch den Young-Plan, der im Januar 1930 den Dawes-Plan abgelöste. Eine Volksabstimmung dagegen, besonders durch die aufkommende NSDAP gefördert, scheiterte. Die Verhandlungen führte der amerikanische Wirtschaftspolitiker Owen Young. Der Young-Plan sah Reparationen in Höhe von 121 Milliarde Reichsmark vor, zahlbar in 59 Jahresraten bis 1988. Die Annuitäten sollten von 1,7 Milliarden auf 2,1 Milliarden steigen und ab 1965 auf 1,65 Milliarden zurückgeführt werden. Die Wirtschaftskrise, die 1929 eingesetzt hatte, führte zum Zusammenbruch der nach dem Young-Plan ausgehandelten Zahlungen, die 1931 im Rahmen des nach dem amerikanischen Präsidenten Hoover bezeichneten „Hoover-Moratoriums“ aufgeschoben, und 1932 auf der Konferenz von Lausanne gänzlich ausgesetzt wurden, nachdem eine Einmalzahlung von 3 Milliarden Reichsmark vorgesehen war. Im Gegensatz dazu weigerten sich die Vereinigten Staaten auf die Rückzahlung der interalliierten Kriegsschulden zu verzichten. Frankreich und Großbritannien weigern sich bis heute diese Schulden zu begleichen. Der Kapitaldienst für aufgenommene Kredite, besonders in Zusammenhang mit dem Dawes-Plan, musste von Deutschen Reich weiter geleistet werden, bis die nationalsozialistische Regierung im Juni 1934 die Zahlungen ersatzlos einstellte, was auf außenpolitischer Ebene ohne Folgen blieb. Die Zahlungen wurden 1990 wieder aufgenommen, die Zahlung der letzten Rate erfolgte im Oktober 2010, womit auch eine Anerkennung des Kriegsschuldparagraphen 231 des Versailler Friedensvertrages verbunden ist.
Nachdem Zweiten Weltkrieg wurde die Politik der Reparationszahlungen, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg betrieben worden war, nicht fortgesetzt. Auf der Londoner Schuldenkonferenz 1952 wurde eine Einmalzahlung von 14 Milliarden festgesetzt, und eine weitere Regelung auf einen noch zu schließenden Friedensvertrag verschoben. Deutschland leistete dennoch beträchtliche Zahlungen, dazu gehören Währungsspekulationen gegen die Deutsche Mark, durch die jeweils Milliardenbeträge abflossen, die durch Stützungskäufe für andere Währungen durch die Deutsche Bundesbank geleistet wurden. Gegenwärtig entsteht der deutschen Wirtschaft durch Cyber-Angriffe eine jährlicher Schaden von mehr als 50 Milliarden Euro.
Was 1923 durch die Währungsreform nur in unzureichendem Maße gelang, weil die deutsche Wirtschaft durch Reparationsforderungen Belastungen ausgesetzt war, die kaum zu verkraften waren, das wurde durch die Währungsreform vom Juni 1948 erreicht, ihr folgte ein wirtschaftlicher Aufschwung, der in aller Welt Staunen aber auch Achtung auslöste. Bereits 1964, noch nicht einmal zwanzig Jahre nach dem Zeiten Weltkrieg, galt die Deutsche Mark neben dem US $ und dem Schweizer Franken als eine der härtesten Währungen der Welt. Der Wiederaufbau der Trümmerlandschaft vollzog sich ohne Staatsverschuldung, bis 1969 wiesen die deutschen Bundeshaushalte einen Überschuss aus. Eine Verschuldenspolitik begann erst in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, sie wurde massiv fortgesetzt nach der Wiedervereinigung 1990. Der „Aufbau Ost“ wurde über die Staatsverschuldung organisiert, ein Wirtschaftswunder, wie in den zwanzig Jahren nach der Währungsreform, auf das viele Menschen innerhalb und außerhalb Deutschlands gehofft hatten, ereignete sich nicht. Bis heute
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hat sich kein DAX-Unternehmen in den „neuen Bundesländern“ niedergelassen. Seit „Freizügigkeit“ herrscht, sind mehr als zwei Millionen in den Westen übergesiedelt.
Ein Beitrag vom November 2004:
Die Einführung des Euro, der europäischen Gemeinschaftswährung im Jahre 2002, sei der Preis gewesen für die Wiedervereinigung, ist manchmal geäußert worden. Das Argument ist ebenso oft dementiert worden. Der Euro werde so hart sein wie die DM wurde beschwichtigend versichert. Der Euro ist in jüngster Vergangenheit sehr hart geworden, er hat den Dollar überflügelt. Aber die so gezeigte Stärke täuscht über seine Schwächen hinweg, die tief verborgen liegen und auch im Verborgenen gehalten werden. Der Präsident des Federal Reserve Board (Fed) der amerikanischen Notenbank, Allen Greenspan, war skeptisch, der Euro werde kommen, prognostizierte er, aber keinen Bestand haben. Ob der Dollar besser dasteht, darüber ist keine solche Einschätzung überliefert. Die Entwicklung der Weltwirtschaft mit der Begriffsdefinition „Globalisierung“, die alles überlagert, suggeriert internationale Harmonie. Die wirtschaftspolitische Realität lässt das Gegenteil erkennen.
Nach dem Ersten Weltkrieg ließ ein Wirtschaftskrieg das Wirtschaftsgefüge auseinanderbrechen. Es gibt gegenwärtig bedrohliche Anzeichen für eine Entwicklung gleichen Ausmaßes. Die historische Erfahrung sollte gelehrt haben, solche Entwicklungen zu verhindern, und wenn der politische Wille dazu vorhanden wäre, dann ließe sich das auch verwirklichen. Davon wird die Zukunft abhängen. (Heinz Drews)
Zu den Zukunftsaussichten des Euro ist in einem Schreiben vom 8. März 1997 der Französischen Botschaft eine Einschätzung übermittelt worden. Der nachfolgende Inhalt dieses Schreibens steht in einem gewissen Zusammenhang mit dem Schreiben vom 20. August 1990 an die Ständige Vertretung der DDR. Ein begleitender Kommentar wird dazu angefügt.
Französische Botschaft Hamburg, 8. März 1997
Kapellenweg 1a
53179 Bonn
Sehr geehrte Damen und Herren!
Grundlage, um gegenüber der Französischen Botschaft eine Stellungnahme abzugeben, ist ein Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen“ in der Ausgabe vom 20. Februar 1997, den ich als Ablichtung beigefügt habe.
Zur geplanten Einführung des „Euro“ als gemeinsame europäische Währung, beabsichtige ich ein System zur Diskussion zu stellen, und ich wende mich damit an die Französische Botschaft, weil ich der Überzeugung bin, daß Frankreich das nötige politische Gewicht besitzt, um Reformvorschlägen zu den Maastricht-Verträgen Geltung zu verschaffen.
Dazu möchte ich vorschlagen, die gemeinsame Währung den „Euro“ bestehen zu lassen, und ihm die Funktion zu übertragen, die der Goldmechanismus vor dem Ersten Weltkrieg gehabt hat. Der Goldmechanismus trat bei Währungsschwankungen in Kraft. Gläubiger ließen sich bei erheblichen Währungsschwankungen ihre Forderungen in Gold auszahlen, um so Verluste zu vermeiden, weil der Goldstandart gegenüber den verschiedenen Währungen festgesetzt war, Floß aus einem Schuldnerland Gold ab, so mußte die umlaufende Menge der Banknoten nach einem festgesetzten Schlüssel verringert werden. Das führte dann bei drohender inflationärer Entwicklung zu einer Rückläufigkeit des Preisgefüges. Dieses System hatte zum Ziel, das Preisstandgefüge im Gleichgewicht zu halten. Es hat funktioniert nicht aufgrund des
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Stoffwertes, den das Gold hatte, oder der ihm beigemessen wurde, sondern ausschließlich wegen der Funktion des Goldes, die heute durch den „Euro“ ersetzt werden könnte. Dieses System, das in seinen Grundzügen nicht von mir entwickelt worden ist, möchte ich in Zukunft weiter präzisieren.
Auf der gleichen Grundlage wie der Goldmechanismus beruhte auch der „Lateinische Münzvertrag“, der zwischen den Ländern Frankreich, Italien, Belgien, der Schweiz und Griechenland geschlossen worden war, der bis 1921 bestanden hat, in dem ein Fünffrankenstück als gleichberechtigtes Zahlungsmittel neben den nationalen Zahlungsmitteln umlief.
Die Einführung des „Euro“ auf dieser Grundlage brächte viele Vorteile: Die Verfechter der europäischen Einheitswährung wären ebenso zufriedengestellt wie die Vertreter, die sich für den Erhalt der nationalen Währungen einsetzen. Die verschiedenen Volkswirtschaften mit ihren unterschiedlichen Strukturen hätten die Möglichkeit zu einer freiheitlicheren und unabhängigeren Entwicklung, die jetzt nicht gewährleistet ist.
Die Einführung des „Euro“ nach dem gegenwärtigen Stand birgt erhebliche Risiken mit sozialem Zündstoff, der zur Explosion führen kann, und Europa eher zu spalten als zu einen droht.
Im August 1990 hatte ich einen Briefwechsel mit einem Botschaftsrat der damals noch bestehenden Ständigen Vertretung der DDR. Darin habe ich darauf hingewiesen, daß die Einführung der Währungsunion, die zwischen den beiden deutschen Staaten damals gerade vollzogen worden war, Deutschland in eine Wirtschaftskrise stürzen werde. Meine damaligen Ausführungen haben sich ohne Einschränkung bewahrheitet.
Ich möchte hier keine prophetische Begabung vortäuschen. Alles kann auf der Grundlage volkswirtschaftlicher Kriterien vernunftgemäß begründet werden.
Mit freundlichen Grüßen gez. Heinz Drews
Nicht nur die Eurozone mit der europäischen Gemeinschaftswährung ist reformbedürftig, sondern auch das Dollarimperium steht auf unsicheren Füßen. Die amerikanische Staatsverschuldung hat die astronomische Summe von 19 Trillionen Dollar erklommen und erhöht sich seit Langem ständig im Jahrestakt. Die gegenwärtige Lage der internationalen Finanz-und Währungswelt weist allzu deutlich Symptome auf, vergleichbar denen zwischen den beiden Weltkriegen im vorigen Jahrhundert: Mit Inflation, Deflation und der Gelddruckmaschine wird versucht, alles im Gleichgewicht zu halten, was nicht ohne Unsicherheiten und soziale Verwerfungen gelingt. Die Gefahr eines weiteren „Schwarzen Freitags“ wie im Oktober 1929 ist täglich gegeben mit allen wirtschaftlichen und politischen Folgen, einschließlich eines weltweiten sozialen Massenelends. Ein politischer Wille zur notwendigen Reform des Systems mit Regelungen die für alle verbindlich sind, ist nirgendwo erkennbar. Helmut Schmidt hat mehrfach darauf hingewiesen und dazu ein Bild gebraucht: Als Charles Lindbergh 1927 allein mit der „Spirit of St. Louis“ die einsamen Weiten des atlantischen Ozeans überquerte gab es keine für alle verbindlichen Luftverkehrsregeln, heute gibt es sie, sonst könnte ein internationaler Luftverkehr nicht staatfinden.
Mit dem gegenwärtigen System, dem das wirtschaftliche Geschehen weltweit unterworfen ist, hätte Ludwig Erhard als Wirtschaftsminister unter Bundeskanzler Konrad Adenauer das Wirtschaftswunder nicht vollbringen können. Der Rheinische Kapitalismus gründete auf
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Arbeitsleistung und nicht auf Börsenspekulation. Auf eine Trümmerlandschaft, wie sie sich 1945 in Deutschland darbot, lässt sich keine Börsenspekulation begründen. Die Geldmenge, die so in Umlauf gebracht wird, kann nicht gänzlich ohne durch Arbeitsleistung erbrachte Sachwerte auskommen. Abraham Lincoln, Präsident der Vereinigten Staaten von 1861 bis 1865 hat diese Tatsache in die Sätze zusammengefasst: „Arbeit war zuerst und ist unabhängig vom Kapital. Kapital könnte nicht existieren, wenn es nicht vorher Arbeit gegeben hätte. Arbeit steht über dem Kapital und bedarf weit höherer Wertschätzung“. Ein weiterer Faktor der Ausbeutung und Ursprung sozialer Ungerechtigkeit sind die Währungsparitäten der Währungen unterschiedlicher Volkswirtschaften untereinander. Es hat geheißen, in der Volksrepublik China betrügen die Löhne ein zwanzigstel der in Deutschland gezahlten Löhne; das hieße, wenn ein deutscher Lohnempfänger 1500 Euro netto monatlich verdiente, dann bekäme sein Gegenüber in China 75 Euro. Für 75 Euro reicht es in Deutschland nicht einmal zu einem Leben unter der Brücke.
Extremfälle von Inflation und Deflation zeigen sich in ihren Auswirkungen in der Inflation von 1923 und in der Phase der Deflation von 1929 bis 1933, wo Reichsbankpräsident Luther den Umlauf der Banknoten an die in der Reichsbank befindlichen Goldreserven koppelte und entsprechend die umlaufende Geldmenge verringerte mit der Bedeutung, wie sie weiter oben beispielhaft an dem Zahnradmodel der Wirtschaftskreisläufe dargestellt ist. Die umlaufende Geldmenge ist nicht allein ausschlaggebend, hinzu kommt die Umlaufgeschwindigkeit der im Wirtschaftskreislauf befindlichen Geldmenge, was an einem einfachen Beispiel Erklärung findet: Der Besitzer einer Banknote von zehn Euro verlässt des Morgens seine Wohnung, um zum Arbeitsplatz zu gelangen. Er könnte den nächsten Kiosk ansteuern, um eine Zeitung zu erwerben. Der Kioskbesitzer nimmt das so erworbene Zahlungsmittel, um seine Vorratsbestände aufzufüllen. Theoretisch könnte die Banknote an einem Tage mehrfach den Kauf oder Tausch einer Ware vermitteln; sie könnte aber auch in der Geldbörse seines ursprünglichen Besitzers verbleiben, der sie abends nach vollbrachter Arbeit wieder mitbringt, ohne Einfluss auf den Wirtschaftskreislauf genommen zu haben.
Ein System zur Steuerung der Umlaufgeschwindigkeit der in Umlauf gebrachten Banknoten hat Silvio Gesell (1862-1930) als argentinischer Geschäftsmann entwickelt, der nach Argentinien ausgewandert war, und dort das Auf und Ab der Währungsturbulenzen im praktischen Geschäftsleben kennen gelernt hatte. 1916 veröffentlichte er seine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen in seinem Hauptwerk „Die natürliche Wirtschaftsordnung“.[11] Er hielt sich im Laufe seines Lebens an unterschiedlichen Orten in Argentinien, Deutschland und der Schweiz auf. Geboren wurde er in St. Vith, das zum Zeitpunkt seiner Geburt preußisches Staatsgebiet war. In der Volkswirtschaft wird sein Name nicht genannt, obwohl sein Werk Anerkennung gefunden hatte bei namhaften Persönlichkeiten der Wissenschaft wie John Maynard Keynes oder Albert Einstein, mit dem Silvio Gesell gut bekannt war.
Ein System zur Sicherung und Steuerung der Umlaufgeschwindigkeit hatte es bereits im Mittelalter gegeben. 1152 erhob der Erzbischof Wichmann von Magdeburg eine Prägesteuer. Einmal im Jahr wurde durch einen Münzverruf eine Prägesteuer erhoben. Jeder musste seine Münzen (Papiergeld gab es nicht) gegen eine Steuer umtauschen und bekam dafür neue Münzen mit anderer Prägung. Die zum Umtausch gebrachten Münzen waren zum Zeitpunkt des Umtausches ungültig. Um dieser Steuer zu entgehen, brachte jeder den größten Teil seines Münzbesitzes in Umlauf, was zu einem wirtschaftlichen Wohlstand führte. Das System kam zum Erliegen, weil damit Missbrauch getrieben wurde. Es hatte ja auch nicht die Absicht bestanden, soziale Ziele zu verfolgen, es sollte nur der Erhöhung der Steuereinnahmen dienen.
[11] Silvio Gesell: Die natürliche Wirtschaftsordnung. Nürberg 1984
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Haben Marx und Engels die Bedeutung des Geldes im Wirtschaftsleben unterschätzt und darum vernachlässigt? Marx hat die Bedeutung des Geldes im Wirtschaftskreislauf ganz klar erkannt, wie eine Aussage, untermauert mit einem Goethe-Text, erkennen lässt:
Das Geld, indem es die Eigenschaft besitzt, alles zu kaufen, indem es die Eigenschafft besitzt, alle Gegenstände sich anzueignen, ist also der Gegenstand im eminenten Besitz. Die Universalität seiner Eigenschaft ist die Allmacht seines Wesens; es gilt daher als allmächtiges Wesen…Das Geld ist der Kuppler zwischen dem Bedürfnis und dem Gegenstand, zwischen dem Leben und dem Lebensmittel des Menschen. Was mir aber mein Leben vermittelt, das vermittelt mir auch das Dasein des anderen Menschen für mich. Das ist für mich der andere Mensch.[12]
„Was Henker! Freilich Händ‘ und Füße
Und Kopf und Hintre, die sind dein!
Doch alles, was ich frisch genieße,
Ist das darum nicht weniger mein?
Wenn ich sechs Hengste zahlen kann,
sind ihre Kräfte nicht die meinen?
Ich renne zu und bin ein rechter Mann,
Als hätt‘ ich vierundzwanzig Beine.“[13]
Karl Marx schreitet zur Auslegung dieses Zitates aus Goethes Faust:
Was durch das Geld für mich ist, was ich zahlen, d. h., was das Geld kaufen kann, das bin ich der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschafften des Geldes sind meine-seines Besitzers-Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt. (…) Ich, der durch das Geld alles, wonach das menschliche Herz sich sehnt, vermag, besitze ich nicht alle menschlichen Vermögen? Verwandelt also mein Geld nicht alle meine Unvermögen in ihr Gegenteil?[14]
Obwohl Marx die Bedeutung des Geldes im Wirtschaftsleben absolut setzt und umfassend erkannt hat, setzen Marx und Engels hier nicht den Hebel an. Im Kommunistischen Manifest ist als Ziel die klassenlose Gesellschaft definiert. Auf diesem Wege sollte die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt werden. Die Ursache dieser Ausbeutung wird im Privatbesitz der Produktionsmittel gesehen, also in der Produktionssphäre und nicht in der Zirkulationssphäre des Geldes. Das dieser Grundgedanke nicht ganz abwegig ist, zeigt eine Entwicklung: Wenn fleißige Hände und Köpfe ein Unternehmen zum Erfolg geführt haben, folgen Phasen der „Rationalisierung“, Arbeiter, die zuvor unentbehrlich waren, werden nicht mehr benötigt und somit „freigesetzt“.
Marx und Engels wollten dieser Entwicklung durch die Expropriation der Expropriateure (Enteignung der Enteigner) begegnen, ohne die Geldpolitik zu berücksichtigen, die alles ermöglicht, denn mit der Erledigung des freien Unternehmertums übernimmt die Börse mit der damit verbundenen Spekulation. Die Spekulation führt auch zugleich zur Einschränkung des freien Wettbewerbs. Berichte über Elefantenhochzeiten, der Fusion großer Konzerne, machen oft die Runde, eine Bestätigung der von Marx entwickelten Theorie von der „Akkumulation des Kapitals“.[15] Ein wirksames Gegengewicht ist durch einen wirtschaftlich starken Mittelstand gegeben.
Um eine gut gehende Wirtschaft, die soziale Missstände beseitigt und allgemeinen steigenden Wohlstand bewirkt, ist der Aufbau des Staates und dem Umbau der Gesellschaft nicht ausschlaggebend. Eine Währungs-und Finazpolitik, die materiellen Wohlstand schafft, kann
[12] Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Geschrieben von April bis August 1844. Nach einer Handschrift. Leipzig 1970
[13] Goethe "Faust" (Mephisto) Erster Teil 4. Szene
[14] Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manskrpte. S. 223
[15] Theimer, Walter: Der Marxismus Lehre-Wirkung-Kritik. Bern München S. 17
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auch in einer Diktatur herbeigeführt werden. Der Nationalsozialismus hat in der ersten Jahren seiner Herrschaft einen wirtschaftlichen Aufschwung bewirkt, womit breite Bevölkerungsschichten getäuscht wurden. Es war ein durch Währungsspekulation erzeugtes Blendwerk, verunden mit der Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hat eine solche Entwicklung verschleiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es in zwei Jahrzehnten nach der Währungsreform im Juni 1948 die gewaltigen Kriegsschäden zu beseitigen auf der Grundlage einer entsprechenden Währungs-und Finanzpolitik.
Die gegenwärtige Wirtschaftspolitik ist täglich von Gefahren umgeben. Drei Billionenblöcke stehen sich gegenüber, der Billionenblock der Staatsverschuldung, der Billionenblock der Spekulationsgelder, die irgenwo unerkannt geparkt werden und die Billionenbeträge, die von den Notenbanken wie die Europäische Zentralbank (EZB) und dem amerikanischen Federal Reserve (FED) in Umlauf gebracht werden durch das Drucken von Banknoten. Die Notenbanken mit dem Monopol der Geldschöpfung sitzen am längeren wirtschaftlich-machtpolitischen Hebel.
Wenn von "Kapitalismus" die Rede ist, so verbinden sich damit oft verschwommene Vorstellungen, die einer genaueren Definition bedürfen. eine Dreiteilung ist notwendig und gegeben: Der Kapitalist ist kein Unternehmer seine Aufgabe besteht darin, die Wirtschaft mit Kapital zu versorgen, und zwar ausschließlich mit Geldkapital gegen eine entsprechende Gegenleistung, die aus Zins und Dividende besteht. Der Unternehmer ist kein Kapitalist, er versorgt die Wirtschaft mit durch Arbeitsleistung erzeugten Sachkapital, um dahinzu gelangen besteht die Abhängigkeit vom Kapitalisten, der als Individuum oder als Kollektiv einer Bank auftritt. Schließlich kommen breite Bevölkerungsschichten, die auf unterschiedliche Weise durch Lohn, Gehalt oder Honorare am Produktionsprozess teilnehmen.
Karl Marx unterscheidet an einer Stelle seines umfangreichen Werkes zwischen Unternehmergewinn und einkünften aus Kapitaldienstleistungen.[16] Dort heißt es: Für den produktiven Kapitalisten, der mit geliehenem Kaptital arbeitet, zerfällt der Bruttoprofit in zwei Teile: Den Zins, den er dem Verleiher zu zahlen hat und den Überschuss über den Zins, der seinen eigenen Anteil am Profit bildet. [17]
Eine Frage hat besonders Theologen und Wissenschaftler anderer Disziplinen beschäftigt: Wie geht Reichtum und Anhäufung von Reichtum mit ethischen Grundsätzen zusammen, wie sie uns in den Schriften des heräischen und christlichen Kanons der Heiligen Schrift entgegentreten. Die Propheten in Israel zur Zeit der Antike haben nicht nur ihre Angriffe gegen Glaubensungehorsam gerichtet, sondern auch soziale Missstände mit Schärfe verueteilt. Das Gleiche gilt auch für den christlichen Kanon.
[16] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie im Zusammhang ausgewählt und eingeleitet von Benedikt Kautsky. Stuttgart 1957 S. 668 f
[17] ebd. S. 669
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Max Weber (1864-1920) hat hier als Soziologe einen bedetusamen Beitrag geleistet mit der Aufsatzsammlung unter dem Titel: "Die protestantische Ethik. [18] Die Theologie des Genfer Reformators Johannes Calvin (1509-1564) nimmte darin einen breiten Raum ein, aber auch die entwicklung protestatischer Kirchen in ihrer ganzen Breite auch im Vergleich zur katholischen Kirche. Max Weber zeigt eine beachtliche Kenntnis der historischen Entwicklung protstantischer Theologie und Kirchen in ihren verschiedenen Ausprägungen. Sein Werk und die Interpretationen befassen sich mit den Auswirkungen der protestantischen Reformation auf das Wirtschaftsleben in den folgenden Jahrhunderten, die im Kapitalismus ihren Ausdruck fand, worauf die Frage aufbaute der Vereinbarkeit mit den ethischen Normen protestantischer Theologie. Im Mittelalter waren Mönche und Nonnen Träger kultureller und wirtschaftlicher Entwicklung in einer Welt, die agrarisch geprägt war. Das änderte sich mit dem Ausgang des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit. Der Frühkapitalismus hielt Einzug. Mit dem Beginn der Kolonialherrschaft entstanden die großen Handelskompanien, und im Zentrum Europas, in Augsburg, erlangte das Kaufhaus der Fugger eine dominierende Stellung auch als Bankhaus und Kreditgeber. Mit der Ausweitung des Handels auf die Ozeane verloren die Hanse im Nord-und Ostseeraum und Florenz und Venedig im Mittelmeerraum ihre zuvor beherrschende Stellung. Protestantismus und Katholizismus sahen sich einem Wettbewerb ausgesetzt, in dem die protestantische Welt die Oberhand gewann, insbesondere der vom Calvinismus beherrschte Raum. Hier setzt Max Webers Untersuchung nach den Gründen ein, verbunden mit der Frage: Wie können protestantische Ethik und Kapitalismus zusammengehen?[19]
Eine genaue Definition, was Kapitalismus ist und bedeutet, ist auch bei Max Weber nicht zu finden. Er sieht darin eine schicksalsvolle Macht des modernen Lebens.[20] Ob damit eine hinreichende Umschreibung gegeben ist im Hinblick auf die sozial-ethische Komponente, darf bezweifelt werden. Weiter wird ausgeführt: Kapitalismus sei nicht gleichzusetzen mit schrankenloser Erwerbsgier. Kapitalismus kann identisch sein mit Bändigung und rationaler Temperierung dieses irrationalen Triebes.[21] Gleich nach dieser Feststellung wird eingeräumt, Kapitalismus sei identisch mit Streben nach Gewinn und nach immer neuen Gewinn, in einem kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb stünde die Rentabilität des eingesetzten Kapitals im Vordergrund. Ein Betrieb, der sich nicht an diese unumgänglichen Gegebenheiten hält, ist zum Untergang verurteilt.[22] Diese Umschreibung unterscheidet nicht Geldkapital und Sachkapital, sprich Produktionsmittel und Arbeitserzeugnisse, ein Unterschied, der wesentlich ist und nicht vernachlässigt werden sollte. Geldkapital muss mit dem Sachkapital in Beziehung stehen, und auf dem Absatzmarkt denselben dynamischen Bedingungen unterworfen sein, damit alles reibungslos zirkulieren und seinen Zweck erfüllen kann.
Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts, vornehmlich Luther und Calvin, sahen den Mangel in einer zu geringen Möglichkeit, in den fortschrittlichsten Ländern Einfluss zu nehmen auf die ökonomischen Gegebenheiten.[23]
In einem Aufsatz mit der Überschrift: Der „Geist des Kapitalismus“ werden Schwierigkeiten eingeräumt, eine Definition zu geben.[24]
Karl Marx unterscheidet den „produktiven Kapitalismus“, womit ohne Zweifel die unternehmerische Tätigkeit gemeint ist, die darauf abzielt, den Markt mit Produkten
[18] Weber, Max: Protestantische Ethik. Band I Schleswig 1969
19] Eine Aufsatzreihe unter dem Titel: die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. S. 27 ff
20] Weber, Max Protestantische Ethik S. 12
[21] ebd. S. 12
[22] ebd. S.12 f
[23] ebd. S. 31
[24] ebd. 39
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unterschiedlichster Art zu beliefern, vom eigentlichen Kapitalismus, der ausschließlich darauf ausgerichtet ist, den Markt gegen Zins und Dividende mit Geldkapital zu versorgen.[25]
Max Weber bemüht mehrfach in dem oben genannten Aufsatz Benjamin Franklin (1706-1790), einem der Gründungsväter der Vereinigten Staaten, mit einem Zitat: Bedenke, daß Geld von einer zeugungskräftigen und fruchtbarer Natur ist, und die Sprößlinge können noch mehr erzeugen und so fort….[26] Es lässt sich leicht nachweisen, dass diese Art Kapitalbildung, losgelöst ist vom Sachkapital, das nur durch Arbeitsleistung gebildet werden kann, nicht fruchtbarer Natur ist, sondern eher eine zerstörerische Wirkung entfaltet, weil diese Art Kapitalbildung nicht der Arbeit dient, was Voraussetzung für eine ausgewogene sozial gerechte Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft ist.
Es soll insgesamt vom westeuropäisch-amerikanischen Kapitalismus gesprochen werden. Kapitalismus hat es in China, Indien, Babylon, der Antike und im Mittelalter gegeben, aber ihm fehlte ein eigentümliches Ethos,[27] ob dieses Ethos mit der Botschaft des Evangeliums von Jesus Christus in Einklang gebracht werden kann, ist die alles entscheidende Frage. Die heutige kapitalistische Wirtschaftsform ist ein ungeheurer Kosmos, in den der Einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als Einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse gegeben ist, in dem er zu leben hat.[28] Der Kapitalismus kann keine auf Unabhängigkeit drängende Arbeitnehmer als nützlich empfinden, eben so wenig, wie Benjamin Franklin es lehrt, den skrupellosen Geschäftsmann.[29]
Im Protestantismus gelangt der „Beruf“ im Sinne von „Berufung“ zu einer besonderen Bedeutung, anders als in der Welt des katholischen Glaubens. Sie führt zur Unterscheidung zwischen mönchischer Askese und der „innerweltlichen Askese“ im Protestantismus über alle Denominationen hinweg.[30]
Herausragend können auf katholischer Seite die tridentinischen Reformen genannt werden, die ab 1546 zur Gegenreformation führten, für die der Name Ignatius von Loyola steht, der in der Fortsetzung mönchischer Tradition und Askese die Erneuerung der Kirche erblickte. Es kann in dieser Erneuerung von einer „außerweltlichen Askese“ gesprochen werden, weil sie außerhalb des weltlichen Getriebes von statten ging. Anders die „innerweltliche Askese“, die ihre Bewährung und Bewahrung ethischer Grundsätze innerhalb des weltlichen Getriebes auch im Wirtschaftsleben sucht. Hierin ist auch die Ursache zu suchen, warum die katholische Welt vergleichsweise zurückblieb, weil die Mönchstradition weniger geeignet war in der Welt großer Handelsgesellschaften, dem Manufakturwesen, das schließlich im 18. Jahrhundert mit der Erfindung der Dampfmaschine in der industriellen Revolution ihre Fortsetzung fand, zu bestehen.
Eine Ausprägung besonderer Art zeigt die französische Geschichte, die unter König Ludwig XIV. (1652-1715) wirtschaftlich, politisch und kulturell auf dem europäischen Kontinent eine beherrschende Stellung einnahm, die aber in der Prunkentfaltung des „Sonnenkönigs“ und dem damit verbundenen sittlichen Verfall zu einem Niedergang führte. Die calvinistisch orientierten Hugenotten verloren durch das Edikt von Nantes, erlassen durch Ludwig XIV, ihre zuvor garantierte Glaubensfreiheit und flohen, um Verfolgungsmaßnahmen zu entgehen, in die europäischen Nachbarländer, wo sie einen wichtigen Beitrag zum wirtschaftlichen Fortschritt leisteten, während dieser Verlust für Frankreich sich nachteilig auswirkte. Kurfürst Friedrich Wilhelm I. (1640-1688)
[25] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. S. 669
[26] Weber, Max: Protestantische Ethik S. 40
[27] ebd. S. 43
[28] ebd. S. 45
[29] ebd. S. 47
[30] ebd. S. 67
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setzte 1685 das Edikt von Potsdam dagegen, das verfolgten Hugenotten Aufnahme in Brandenburg-Preußen gewährte.
Der Stil Ludwig XIV. fand Nachahmer besonders unter Fürsten in Deutschland, so auch bei Preußens König Friedrich I. (1688-1713). Dieser prunkhaften Verschwendung machte sein Nachfolger Friedrich Wilhelm I. (1713-1740), der als „Soldatenkönig“ in die Geschichte einging, abrupt und rigoros ein Ende. Er stand unter dem Einfluss der pietistischen Ausbreitung in Preußen, hatte besonderen Kontakt zu ihren führenden Vertretern wie August H. Francke und Nikolaus Graf von Zinzendorf und Jakob Spener. 1717 wurde in Preußen die Einführung der allgemeinen Schulpflicht verfügt. In seinem politischen Testament von 1722 schärfte er seinem designierten Nachfolger Friedrich II (1740-1786) ein, dem die Geschichte später Größe bescheinigte, nie einen ungerechten Krieg zu beginnen, das führe zu einem Strafgericht Gottes.
Diesem König widmete Jochen Klepper (1903-1942) den Roman „Der Vater“, der 1937 in zwei Bänden erschien, der als Gegenbild zum Führerkult angesehen, ein Verkaufsschlager wurde und besondere Verbreitung fand in preußisch gesinnten Offizierskreisen, aber auch sonst für Offiziere als Pflichtlektüre angesehen wurde. 1931 heiratete er die jüdische Rechtsanwaltswitwe Stein, die sich 1938 taufen ließ. 1941 wurde er wegen dieser „nichtarischen“ Ehe aus der Wehrmacht entlassen. Die ältere Stieftochter konnte kurz vor Ausbruch des Krieges 1939 über Schweden nach England ausreisen, 1942 scheiterte die Ausreise der zweiten Stieftochter. Frau und Kind drohte die Deportation. Am 11. Dezember 1942 schied die Familie gemeinsam aus dem Leben. (Aus Wikipedia)
Luther verurteilte die mönchische Tradition, weil sie sich den Weltpflichten entzog, ohne die gesellschaftlichen Veränderungen und Produktionsweisen im Verlauf der Geschichte zu berücksichtigen, in der mönchische Lebens-und Produktionsweise nicht mehr gefragt war.
Karl Marx hätte von einer Veränderung der Produktivkräfte gesprochen, die der technische Fortschritt und damit auch den gesellschaftlichen Umbau mit sich brachte. Der mittelalterliche Ritterstand verlor seine die Gesellschaft beherrschende Stellung, und mit der Erfindung der Buchdruckerkunst verloren Mönche und Klöster das Bildungsmonopol. Im Kontrast dazu erscheint die weltliche Berufsarbeit als äußerer Ausdruck der Nächstenliebe, die aber zu Zeiten von Adam Smith (1723-1790) einen weltfremden Charakter annimmt, der als Moralphilosoph und Volkswirt eine andere Sicht vermittelte, dass in der zunehmenden Arbeitsteilung der Einzelne gezwungen werde für andere zu arbeiten.[31] „Nicht vom Wohlwollen des Fleischers, Bäckers oder Bauern erwarten wir unser Mittagessen, sondern von ihrer Rücksicht auf ihren eigenen Vorteil; wir wenden uns nicht an ihre Nächstenliebe, sondern an ihre Selbstsucht, und sprechen ihnen nie von unseren Bedürfnissen, sondern stets nur von ihrem Vorteil.“[32]
Die sittliche Qualifizierung des weltlichen Berufslebens gehört zu den folgenschwersten Leistungen der Reformation, ist eine unabänderliche historische Gegebenheit, an der besonders Luther seinen Anteil hat.[33] Der Begriff Kapitalismus, und was später und heute damit in Verbindung gebracht wird, war Luther sicher fremd. Luthers Bibelauslegung als Gewissensunterweisung betrifft auch die Frage der Wirtschaftsethik in einer Zeit des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus. Luther bejahte die Funktion des Geldes als Zirkulationsmittel, er bekämpfte dagegen die Verselbständigung des Geldes als Kapital.[34] Luther konnte auch die Entwicklung zu Formen des Industriekapitalismus nicht vorhersehen, die erst mehr als zwei Jahrhunderte später einsetzte. 1540 erließ Luther eine Vermahnung an die Pfarrherren wider den Wucher zu predigen. Luther hätte die Formen des Kapitalismus, wie
[31] Weber, Max: Protestantische Ethik. S. 68
[32] ebd. S. 197 zitiert aus Adam Smith: The Wealth of Nations
[33] ebd. S. 68
[34] Luthers Werke (Hrsg. Karin Bornkamp, Gerhard Ebeling) Band IV Frankrfurt a. M. S. 9
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sie sich nach der Reformation im Verlauf der Geschichte darboten, verworfen, die sich aber schon zu seinen Lebzeiten und davor in ihren Anfängen zeigten. Die Lombarden, genannt nach der norditalienischen Region Lombardei, hatten dort bereits im 12. Jahrhundert das Bankwesen und das darauf gegründete Wechselgeschäft zum festen Bestandteil des Handels gestaltet, dass sich dann von Norditalien ausgehend, über die ganze Welt ausbreitete. Der auf Calvin gegründete Protestantismus sah in den Auswüchsen dieses Systems, die von Anbeginn nie überwunden wurden, bis in die unmittelbare Gegenwart, gestützt auf große Handelsgesellschaften und Großbanken eine Gefahr, gegen welche die Hugenotten und später die Puritaner in England einen erbitterten Kampf führten.[35]Cromwell (1649-1658), der in England den Sieg des Parlaments gegen den absolutistischen Machtanspruch der Monarchie erfocht, schrieb nach der Schlacht bei Dunbar im September 1650, als König Karl I. (1625-1649) bereits hingerichtet worden war, an das Lange Parlament: „Bitte stellt die Missbräuche aller Berufe ab, und gibt es einen, der viele arm macht, um wenige reich zu machen, das frommt einem Gemeinwesen nicht.“[36]
Die geistigen Nachfahren Luthers erkannten im Calvinismus einen anderen Geist, was sich dann auf die Beziehungen zwischen Lutheranern und Reformierten auswirkte. Max Weber vertrat den Standpunkt, Luthers Reformation sei verknüpft mit seinem religiösen erleben, sein Werk wäre aber ohne den Calvinismus nicht von äußerer Dauer gewesen. Katholiken und Lutheraner hätten den gleichen Grund zur Abneigung gegen den Calvinismus, der in seiner ethischen Eigenart begründet sei, die in einer andersartigen Beziehung zwischen religiösen Leben und irdischen Handeln begründet sei.[37] Er wendet sich aber besonders gegen die Auffassung, Kapitalismus sei ein Erzeugnis der Reformation gewesen.[38]
Vier Vorrausetzungen können als Träger des asketischen Protestantismus angesehen werden: Der Calvinismus in der Gestalt, wie er ihn in den westeuropäischen Hauptgebieten im 17. Jahrhundert annahm, der Pietismus, der Methodismus und den Gemeinschaften der Bewegung der Täufer, den Baptisten.[39]
Der Pietismus, hatte besonders in Preußen Ausbreitung gefunden und Einfluss auf die Geschicke des Landes erlangt, gefördert wurde diese Entwicklung von König Friedrich Wilhelm I., an dessen Hof August Hermann Francke Andachten hielt. Friedrich II., sein Nachfolger hatte keine Neigungen in diese Richtung. Dennoch, in einem Punkt hatte er sich seinen Vater zum Vorbild genommen, der in einer rastlosen Tätigkeit für den Staat bestand, dessen erster Diener er sein wollte. Auf ihn geht auch der Begriff vom aufgeklärten Absolutismus zurück. Einiges zu seinen finanz-und wirtschafspolitischen Vorstellungen findet sich in seinem Politischen Testament von 1752:
Wenn ein Land glücklich sein soll, und der Fürst geachtet sein will, ist es nötig, Ordnung in den Finanzen zu halten; niemals hat eine arme Regierung sich Ansehen verschafft. Europa hat gelacht über die Unternehmungen Kaiser Maximilian I. (1493-1519), weil dieser Kaiser gierig war, Einnahmen zu sammeln, um sie verschwenderisch auszugeben, und daher niemals Geld hatte, wenn er etwas unternehmen wollte; die Italiener, die ihn kannten, nannten ihn Massimiliano senza denari (Maximilian ohne Geld). Weiter heißt es darin: …wir besitzen weder ein Peru noch reiche Handelskompanien noch eine Bank noch so viel andere Hilfsquellen wie Frankreich, England und Spanien, aber durch Gewerbefleiß können wir dahin gelangen, neben ihnen eine Rolle zu spielen.
[35] Weber, Max: Proteatantische Ethik
[36] ebd. zitiert S. 69
[37] ebd. S. 73
[38] ebd. S. 77
[39] ebd. S. 115
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Mit der zunehmenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert gewann die „Soziale Frage“ an Bedeutung, bis sie in den Mittelpunkt des Geschehens rückte. Eine neue Gesellschaftsschicht hatte sich gebildet: Das Industrieproletariat, das in allen aufstrebenden Industrienationen den gleichen Lebensbedingungen unterworfen war. Die Entstehung des Proletariats war eine der herausragenden Auswirkungen der industriellen Revolution. Aus Bauern und Handwerkern war eine neue, andere Gesellschaftsschicht entstanden. Es gab soziale Not in Deutschland schon vor Beginn der industriellen Revolution in einem Ausmaß, die das Leben in der Industrieproduktion als erstrebenswert erscheinen ließ.[40] Die ersten zwei oder drei Generationen bescherten den Fabrikarbeitern mit Frauen und Kindern ein Leben mit außergewöhnlichen Härten. Die Arbeitszeit betrug um die Mitte des 19. Jahrhunderts in den günstigsten Fällen zwölf Stunden. Hinzu kam die Zeit der Hin-und Rückwege zum Arbeitsplatz, denn die Verkehrsanbindungen waren zu der Zeit unzureichend. Frauen und Kinder mussten im selben Umfang mitarbeiten, um das Existenzminimum für die Familie zu sichern. Kinder arbeiteten in der schlesischen Leinenindustrie ab dem vierten Lebensjahr. Kinder wurden auch zu arbeiten in Bergwerken herangezogen, um in besonders niedrigen Schächten zu arbeiten. Ab dem 13. Lebensjahr galt eine Arbeitskraft als Erwachsen. In der staatlichen Fabrikgesetzgebung in Preußen wurde zuerst die Nachtarbeit für Frauen und Kindern verboten, und 1839 ein Gesetz erlassen, das Kinderarbeit erst nach Vollendung des 9. Lebensjahres erlaubte. 1853 wurde das Mindestalter auf zwölf Jahre festgesetzt.[41] Fabrikordnungen aus der Zeit gewähren einen Einblick in die Arbeitsverhältnisse: „Der gewaschene und gekämmte Arbeiter macht sich in reinlicher Kleidung ehrerbietig grüßend auf den Weg zur Fabrik und geht pünktlich durch das Tor. Er verrichtet fleißig an seinem Arbeitsplatz seine Arbeit, raucht nicht, trinkt keinen Alkohol. In der Mittagspause kommen weder Frau noch Kinder noch Freunde. Und nach dreizehn Stunden putzt er seinen Arbeitsplatz und geht ehrerbietig grüßen nach Hause“.[42]
Der obrigkeitsstaatliche Charakter dieser Vorschrift lässt erkennen, dass es nicht nur um Vorschriften zur Arbeitsverrichtung ging, denn die gebrachten Opfer, die in dieser Vorschrift erkennbar sind, finden keine Anerkennung. Die Lebensverhältnisse des Industrieproletariats waren durch Wohnungsnot, Unterernährung und Krankheiten gekennzeichnet. In den meisten Fällen waren die Familien dicht zusammengedrängt in Mietskasernen, Keller-und Dachgeschosswohnungen untergebracht, was die Ausbreitung von Infektionskrankheiten aller Art förderte. Besonders verbreitet war die Tuberkulose.[43] Um der finanziellen Not zu steuern wurden, trotz beengter Wohnverhältnisse, Betten an „Schlafgänger“ vermietet. Betten wurden Schichtweise gemeinsam benutzt. Die Lebensverhältnisse wurden zusätzlich durch unzulängliche Wasserversorgung erschwert. Erst um 1875 besaßen fast alle deutschen Großstädte eine zentrale Wasserversorgung.[44] Die Antwort war das Anwachsen sozialistischer und sozialdemokratischer Bestrebungen. Den größten Einfluss übten Marx und Engels aus mit dem Erscheinen des Kommunistischen Manifestes 1848, aber schon in dem Zeitraum davor hatten sich die Frühsozialisten zu Wort gemeldet, die auf Marx nicht ohne Einfluss geblieben waren. Der Marxismus sah in ihnen die Utopisten, was durch Engels zu einer Veröffentlichung führte mit dem Titel „Der Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, zur ersten Auflage schrieb Engels 1882 das Vorwort. Zu den markantesten Frühsozialisten gehören Henri Saint-Simon (1760-1825), Charles Fourier (1772-1837) oder Robert Owen (1771-1858). Genau wie die Französische Revolution hatte auch der Sozialismus seine geistigen Wegbereiter, was sich in Literatur und Geistesströmungen niederschlug. Die Französische Revolution ergab sich aus dem Gegensatz zwischen Adel und Bürgertum, der Sozialismus aus dem Gegensatz zwischen Bürgertum und dem wachsendem Industrieproletariat, was der marxistischen These vom Klassenkampf besonderen Auftrieb verlieh. Für das wachsende Aufkommen sozialistischer und sozialdemokratischer Bestrebungen suchte Bismarck ein Gegengewicht zu schaffen. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts begann die Errichtung eines Sozialversicherungssystems, 1883 wurde die Krankenversicherung eingeführt, 1884 die Unfallversicherung und 1889 die Rentenversicherung. Bismarck wollte die Arbeiterschaft für den von ihm konzipierten Staat gewinnen.
Beachtung unter den Frühsozialisten verdient Saint-Simon. Mit seiner Schrift „Das neue Christentum“ wurde er einer der Väter der katholischen Soziallehre, die darauf abzielte eine
[40] Kuhn, Axel: Die deutsche Arbeiterbewegung. S. 62
[41] ebd. S. 62
[42] Kuhn, Axel: Die deutsche Arbeiterbewegung. S 64 zitiert nach Rainer Wirtz
[43] ebd. S. 67 ff
[44] ebd. S. 69
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Alternative zum atheistischen Sozialismus zu entwickeln. (Aus Wikipedia) Der materialistische Sozialismus gewann bei weitem die Oberhand, die christlichen Kirchen hatten nicht die Kraft zu einem wirksamen Gegengewicht, weshalb auch die Verkündigung des Evangeliums in den breiteren ärmeren Bevölkerungsschichten keine Wirkung erzielte, davon wurden vorwiegend die sozialen Mittelschichten erfasst. Die vielen theologischen Streitigkeiten hatten nur eine kleine Schicht von Akademikern berührt. Dogmatische Kontroversen zeigen in den meisten Fällen wenig Bezug zur konkreten Lebenssituation.
Der Glaube, der in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Kulturländern: Den Niederlanden, England und Frankreich, wo im 16. Und 17. Jahrhundert Glaubenskriege geführt wurden, war in der Lehre Calvins von der Gnadenwahl begründet, wobei strittig war und ist, ob sich diese Gnadenwahl auf das irdische Wohlergehen, dem Leben nach dem Tode in der zukünftigen ewigen Welt oder auf beides bezieht.[45] Die Differenzen erstrecken sich auf die Frage, inwieweit der Mensch zu einer freien Entscheidung fähig ist, und sich die von Gott gewährte Gnade verdienen kann, was Calvin strikt verneint in einer polemischen Entgegnung zu seinen theologischen Gegnern.[46] Es ist unmöglich, dass die Ratschlüsse Gottes, die vor Beginn aller Zeit beschlossen worden sind und feststehen, durch menschliche Einwirkung eine Änderung erfahren könnten. Gottes Ratschlüsse stehen unwandelbar fest für die Erwählten, wie für die Verworfenen, sie sind einer menschlichen Einflussnahme und Entscheidung nicht zugänglich.[47] Die Interpretation geht soweit, der Opfertod Christi gelte nur für die Erwählten.[48] Hier zeigt sich bereits ein Gegensatz zu Aussagen der Heiligen Schrift auf. Das Wort, das Gott an die Menschen richtet, findet sich in dem Brief des Apostels Paulus im 1. Timotheus Kapitel 2, Verse 1-4 (1) …so ermahne ich nun, daß man vor allen Dingen zuerst thue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und alle Obrigkeit, auf daß wir ein geruhig und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarbarkeit. (3) Denn solches ist gut und angenehm vor Gott, unserm Heiland, (4) welcher will, daß allen Menschen geholfen werde, und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.[49] Diese Zusage müsste als eine Täuschung angesehen werden, denn es heißt allen Menschen, dann wäre es eine Irreführung, wenn in Wahrheit die Nichterwählten nach Verständnis der Prädestinationslehre vom Heil ausgeschlossen wären. In einer seiner theologischen Aussagen geht Calvin soweit, zu behaupten, Gott hätte die Menschen auch als Hunde erschaffen können, als er sie nach seinem Bild erschuf. Ein Dogma, das nicht nur jeder Vernunft widerstrebt, sondern bei genauer Betrachtung als eine Unmöglichkeit erscheint.[50] Philipp Melanchthon (1497-1560), der die Reformation Martin Luthers in intellektuelle Formen gegossen hat, ganz im Gegensatz zu Luthers volkstümlichen Auftritten, nannte Calvins Lehre dunkel und gefährlich[51] und war nicht bereit diese Lehre in die „Augsburger Konfession“, seit 1530 Bekenntnisgrundlage der lutherischen Kirche und Konfession, einzubeziehen. Für das Luthertum stand es dogmatisch fest, dass die von Gott gewährte Gnade verloren gehen, und durch Umkehr und gläubiges Vertrauen auf Gottes Wort und die Sakramente neu gewonnen werden kann. Bei Luther wird die Gnade erlebt, bei Calvin erdacht. Max Weber spricht von der Überlegenheit des Calvinismus, dessen Wesen und Inhalt es ist, ein Leben zum Ruhme Gottes zu führen.[52] Diesen Charakter trägt auch die Berufsarbeit, welche im diesseitigen Leben im Dienste der Allgemeinheit steht. Schon bei Luther findet sich die Ableitung der arbeitsteiligen Berufsarbeit
[45] Weber, Max: Protestantische Ethik S. 118
[46] Calvin, John: Institutes of the Christian Religion. Londen 1962, Band II S. 212 f
[47] Weber, Max: Protestantische Ethik. S. 122 f
[48] ebd. S. 123
[49] Revidierte Überstzung nach Martin Luther. Stuttgart 1954
[50] Calvin, John: Institutes of the Christian Religion. S. 213
[51] Weber, Max: Protestantische Ethik. S. 120 f
[52] ebd. S. 125
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aus der Nächstenliebe. Was aber bei Luther nicht ausschlaggebend war, geriet im Calvinismus zu einem wesentlichen Bestandteil des ethischen Systems. Der Calvinist sieht seine berufliche Leistung im Rahmen dieses Systems als eine Verehrung Gottes. Dieser Dienst soll dem Nutzen der ihn umgebenden Gesellschaft gelten, und zugleich dem Ruhme Gottes dienlich sein.[53]
Zwischendurch wird die Frage entstehen, warum nicht nur Max Weber dem Calvinismus eine umfangreiche Studie gewidmet und in Zusammenhang gestellt hat mit dem Kapitalismusbegriff. Die Resonanz findet sich in einer Anzahl von Kritiken und Antikritiken.[54]
Wer von der Theologie spricht, die auf Johannes Calvin zurückgeführt werden kann, dem wird die Lehre von der Prädestination, die Erwählung, als zentrales Anliegen calvinistischer Theologie begegnen, in der die unabänderliche Erwählung zum Heil oder zur Verdammnis festgelegt ist. Gottes Gnade ist, da seine Ratschlüsse unwandelbar feststehen, ebenso unverlierbar für die, welchen er sie zuwendet, wie unerreichbar für die, welchen er sie versagt.[55] Richtig gefährlich wird es, wenn diese Gnade und Erwählung auch dann erhalten bleibt, wenn ein Verstoß gegen die Gebote Gottes vorliegt, und dieses theologische Dogma Einfluss auf politische Entscheidungen gewinnt, die auf machtpolitischer Willkür gründen. Mit einem solchen Einfluss auf die Politik gewinnt der Calvinismus eine besondere Bedeutung, die über Konfessionsgrenzen und politische Grenzen hinausreicht.
Wie kann ein Mensch dieser Erwählung sicher sein? Calvin verwirft grundsätzlich die Annahme, es sei möglich am äußeren Verhalten, die Erwählung zu erkennen. Er sieht darin einen unzulässigen vermessenen Versuch in die Geheimnisse Gottes und seines Handelns einzudringen. Eine ähnliche Ehrfurcht ist in Friedrich von Schillers Gedicht „Der Taucher“ zu finden: …Der Mensch versuche die Götter nicht
Und begehre nimmer und nimmer zu schauen,
Was gnädig sie bedecken mit Nacht und Grauen.
Die Erwählten unterscheiden sich in diesem Leben in nichts von den Verworfenen, denn alle subjektiven Erfahrungen seien auch bei den Verworfenen erkennbar, mit Ausnahme des gläubigen Festhaltens an die Erlösungstat Jesu Christi. Im christlichen Kanon der Heiligen Schrift ist dazu eine gegenteilige Aussage und Forderung zu finden, in dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom, Kapitel 12, Vers 2: Macht euch nicht die Art dieser Welt zu eigen, sondern wandelt euch um durch die Erneuerung eures Denkens, um zu erforschen, was der Wille Gottes ist, was gut, wohlgefällig und vollkommen.[56]
An Stelle der demütigen Sünder, denen Luther, wenn sie in Einsicht im Glauben sich Gott anvertrauen, die Gnade verheißt, werden in Calvins Reich selbstgewisse „Heilige“ herangebildet, die wir in stahlharten, puritanischen Kaufleuten jenes heroischen Zeitalters des Kapitalismus und in einzelnen Exemplaren bis in die Gegenwart wiederfinden. Andererseits wurde, um jene Selbstgewissheit zu erlangen, als hervorragendstes Mittel rastlose Berufsarbeit eingeschärft. Sie allein verscheuche den religiösen Zweifel und gebe Sicherheit des Gnadenstandes.
Nachdem solchermaßen das Arbeits-und Berufsethos zum zentralen Anliegen des christlichen, insbesondere des protestantischen christlichen Glaubens erhoben wurde, muss gefragt werden, wie diese Haltung der Arbeiterschaft des beginnenden Industriezeitalters beigebracht werden sollte?
[53] Weber, Max: Protestantische Ethik. S. 126
[54] Weber, Max: Protestantische Ethik. Kritiken und Antikritiken. Band II. Gütersloh 1978
[55] Weber, Max: Protestantische Ethik. Band I S. 122
{56] Überstzung nach Josef Kürzinger (kath)
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Wie dichtete doch Heinrich Heine:
1. Im düsteren Auge keine Träne, 2. Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: In Winterskälte und Hungersnöten;
Deutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch – Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt –
Wir weben, wir weben! Wir weben, wir weben!
3. Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, 4. Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Den unser Elend nicht konnte erweichen, Wo nur gedeihen Schmach und Schande,
Der den letzten Groschen von uns erpresst Wo jede Blume früh geknickt,
Und uns wie Hunde erschießen lässt – Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt
Wir weben, wir weben! Wir weben, wir weben!
5. Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht –
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch,
Wir weben, wir weben!
Zu den Bewunderern Heinrich Heines gehörte auch Otto von Bismarck.[57]
Die Unterhandlungen Ferdinand Lassalles mit Bismarck, bevor er im Mai 1863 den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gründete, trugen ihm den Zorn von Marx und Engels ein, weil er gegen die Gewährung des Stimmrechtes dem Kanzler die Unterstützung der Arbeiter angeboten hatte. „Ein ganz kommuner Schuft…ein Verrat der ganzen Arbeiterbewegung an die Preußen“, kommentierte Friedrich Engels.[58] Als Heinrich Heine Deutschland verlassen hatte und nach Paris übersiedelte, erhoben sich Stimmen, die ihn als „Landesverräter“ brandmarkten. Bismarck urteilte: „Ich hätte, wäre ich an seiner Stelle gewesen, kaum anders gehandelt. Hätte es mir, wenn ich wie Heine als Jude geboren wäre, gefallen können, dass man um 8 Uhr abends die Tore der Judenstadt zusperrt, überhaupt die Juden unter die schwersten Ausnahmegesetze gestellt hat? Ein Heine muss naturgemäß in dem Manne, der die französische Gesetzgebung in die Rheinlande brachte, die Ausnahmegesetze insgesamt aufhob, einen Erlöser vom martervollem Drucke preisen…und vergessen die Herren denn ganz, dass Heine ein Liederdichter ist, neben dem nur noch Goethe genannt werden darf, und dass das Lied gerade eine spezifisch deutsche Dichtungsform ist?“[59]
Am 3. September 1867 erhielten die Juden im Rahmen der Verfassung des Norddeutschen Bundes, die auch für das Deutsche Reich nach 1871 beibehalten wurde, mit der Gewährung der Religionsfreiheit die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung. Von da ab begann ein rasanter Aufstieg des deutschen Judentums, wie es das zuvor nie gegeben hatte, ohne die Deutschlands Weltgeltung vor und nach dem Ersten Weltkrieg nicht gedacht werden kann, und sie waren überwiegend patriotisch gesonnen, die nationalsozialistische Geschichtsfälschung wird an
[57] T. Gidal: Die Juden in Deutschland. Von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik. Gütersloh. 1988. S. 216
[58] ebd. S. 225
[59] zitiert ebd. S. 296
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dieser historischen Tatsache nichts ändern. Der Einfluss jüdischer Wissenschaftler an deutschen Universitäten wuchs, und selbst nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg war die Wissenschaftssprache weltweit Deutsch. Es wurde von einer deutsch-jüdischen Symbiose gesprochen, es sei an große Namen erinnert, wie Albert Einstein und Max Planck.
Sir Christopher Clark, Professor für Geschichte an der Universität Cambridge, bekannt geworden durch sein Buch „Die Schlafwandler“ in dem er sich zur Schuldfrage am Ausbruch des Ersten Weltkrieges äußerte, leitete kürzlich eine Fernsehserie unter dem Titel: „Deutschland Saga“ und erläuterte darin, Wissenschaftler außerhalb Deutschlands hätten zu dem Zeitpunkt eigens die deutsche Sprache erlernt, um teilhaben zu können an Forschungsergebnissen in Deutschland. Hitler habe die besten von Deutschlands Elite außer Landes gejagt. Heute, so erklärte er weiter, publizieren deutsche Wissenschaftler gleich in englischer Sprache. Historische Wahrheiten und Gegebenheiten, die nicht vernachlässigt werden sollten.
Ferdinand Lassalles Forderung nach Einführung des allgemeinen Stimmrechts fand Erfüllung im Wahlrecht des Norddeutschen Bundes und des Reichstages des Kaiserreiches. Lassalle starb in Folge eines Duells im August 1864, eine seiner vielen Taktlosigkeiten, die er in seinem Leben begangen hat, urteilte Karl Marx.[60] Lassalles Einfluss auf die Geschichte der Sozialdemokratie blieb unauslöschlich erhalten, trotzdem ihm nur eine kurze Zeit seines Wirkens beschieden war.
1895 verweigerte der Reichstag Bismarck die Gratulation zum 80. Geburtstag, der Reichstag, dem Bismarck im Kontext der Zeit ein ausgesprochen fortschrittliches Wahlrecht beschert hatte. Der französische Botschafter, der keinen Anlass hatte im historischen Rückblick, Bismarck irgendwelche Sympathien entgegen zu bringen, äußerte dazu: „Die Deutschen können sagen und tun, was sie wollen, sie werden nie ein großes Volk werden.“[61] Eine wahrhaft prophetische Aussage.
Friedrich Engels entstammte einer Familie, die dem Pietismus nahe stand. Im Frühjahr 1839 begann Engels in Zeitschriftenbeiträgen mit dem radikalen Pietismus seiner Geburtsstadt Elberfeld, heute Wuppertal, abzurechnen. Er schilderte, wie der religiöse Mystizismus alle Lebensbereiche durchdrang, und machte, aus seiner Sicht, auf den Zusammenhang zwischen der pietistischen Lebenshaltung und dem sozialem Elend aufmerksam. (Aus Wikipedia) Höhepunkt seiner lebenslangen publizistischen Tätigkeit bildete die Veröffentlichung des „Kommunistischen Manifestes“ im Februar 1848 zusammen mit Karl Marx. Frühsozialisten und der Einfluss von Marx und Engels auf die einsetzende sozialistische und sozialdemokratische Arbeiterbewegung haben eine Wirkung vollzogen, sie haben den breiten Gesellschaftsschichten der industriellen Arbeiterschaft ein Selbstbewusstsein vermittelt, das es zuvor nicht gab, gegründet auf ein diesseits gerichtetes materialistisches Weltbild und Geschichtsverständnis, sie haben Arbeitern eingeschärft, sie seien nichts weniger als die entscheidenden Stützen der Gesellschaft.
Grundlage des Marxismus ist der Dialektische Materialismus. Wenn bei Marx von Materialismus gesprochen wird, ist nicht Stofflichkeit gemeint, sondern es wird Bezug genommen auf die wirtschaftlichen Verhältnisse einer Gesellschaft. Das System, das Marx hierzu entwickelt hat, ist dem Denken des Philosophen Georg Wilhelm Hegel (1770-1831) entlehnt. Der Hegelsche Dreischritt beschreibt eine dialektische Entwicklung, die sich aus Widersprüchen ergibt nach Art eines Dialogs. Zuerst wird eine These aufgestellt, die Antwort dazu ist eine Gegenthese, denn die Diskussion verfolgt das Ziel, bestehende Widersprüche in
[60] T. Gidal, Nahum: Juden in Deutschland. S. 225
[61] Massie, Robert K. Die Schalen des Zorns. Großbritannien, Deutschland und das Heraufziehen des Ersten Weltkrieges. Aus dem Englischen von Walter Brumm. Frankfurt a. M. 1998 S. 132
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einer Synthese aufzulösen. Die Synthese ist zugleich die These für den nächsten dialektischen Prozess. Hegel war überzeugt, dass die Geschichte nach diesem Rhythmus fortschreitet, Geschichte war für ihn zugleich Ideengeschichte.[62] Hegel war ein klassischer Vertreter des deutschen Idealismus, für ihn gehören die Ideen in das Reich der herrschenden geistigen Welt, von dem die historischen Vorgänge nur den Reflex darstellen. Bei Marx ist es umgekehrt, beherrschendes Element sind die materiellen Lebensverhältnisse und die daraus hervorgehenden Ideen nur ihre Widerspiegelung, weshalb Marx überzeugt war, er habe Hegels Weltsicht vom Kopf auf die Füße gestellt.[63] Er äußert dazu: „Meine dialektische Methode ist nicht nur verschieden von der Hegelschen, sondern ihr gerades Gegenteil. Für Hegel ist der Lebensvorgang, der Denkprozess, den er unter dem Namen „die Idee“ sogar in ein unabhängiges Subjekt verwandelt, der Schöpfer der realen Welt. Bei mir ist im Gegenteil die Idee nicht anderes als die vom menschlichen Geist reflektierte und in gedankliche Formen übersetzte materielle Welt…“[64]
Ein weiterer Eckpfeiler marxistischer Denkweise findet die Bezeichnung Historische Materialismus. In der Geschichte unterscheidet sich der „materielle Unterbau“, die Produktionsverhältnisse und die Produktivkräfte, die bestimmt sind durch den technischen Fortschritt vom „ideologischen Überbau“, bei Hegel sind es die Ideen, die Denken und Handeln bestimmen. Nach Marx bestimmen die Eigentumsverhältnisse und die darauf gegründete Wirtschaftsordnung den Gang der Geschichte. Hinter allen Ideen, Religionen, Weltanschauungen, Rechtsbegriffen und Rechtsordnungen, Staatsformen, Verfassungen, Sitten, Traditionen steht ein wirtschaftliches Klasseninteresse, dessen „ideologischer Überbau“ sie sind. Hegel sagt: Rechtsbegriffe, staatliche Einrichtungen, Religionen, Philosophie haben dieselbe gemeinsame Wurzel, den Zeitgeist.[65] Wo Ideen in der Politik auftreten, soll der Marxist nach ihren klassenmäßigen Grundlagen forschen; in der Luft hängende Ideen gibt es nicht.[66] Marx blieb lebenslang auf Hegel fixiert. Der Dreischritt mit der These bürgerliche Gesellschaft, der Antithese Proletariat folgt als Synthese die klassenlose Gesellschaft. Das Geschichtsgesetz seines Vorbildes hatte Marx übernommen, die Geschichte strebt danach unabänderlich einem festgesetzten Ziel zu: die Verwirklichung von Vernunft und Freiheit. Der Hauptunterschied liegt im Denken beider, was Marx auf materialistischer Grundlage erstrebte, war bei Hegel geistig idealistisch angelegt.[67] Grundgedanke einer Synthese ist nicht ein Kompromiss, sondern die Aufhebung der Gegensätze zu etwas gänzlich Neuem, das sich zum Vorhergehenden entscheidend abhebt. Versöhnung und Aufhebung der Gegensätze sind das zentrale Anliegen.
Hegel erlangte maßgeblichen Einfluss auf das Denken der Zeit, während seiner Zeit als Professor an der Universität Berlin von 1818-1831, die mit seinem Tode von 61 Jahren ein Ende fand. Wie konnte es sein, dass ein maßgeblicher Vertreter des deutschen Idealismus ausgerechnet maßgeblich wurde für die materialistische Denkweise des Marxismus mit allem, was er im Gefolge hatte?
Der Theologe Karl Barth entwirft ein ganz anderes Bild, ein geradezu christliches Bild von Hegel. Er stellt die Frage, warum Hegel nicht einen ähnlichen Einfluss auf die Protestantische Welt ausgeübt hat, wie der Scholastiker Thomas von Aquino (1224-1274) in der katholischen Kirche,[68] einer der maßgeblichen und herausragenden Kirchenlehrer der katholischen Kirche durch sein Werk „Summe der Theologie“. Ein Unterschied besteht zwischen Hegel und Thomas von Aquino.
[62] Theimer, Walter: Der Marxismus. S. 10
[63] ebd. S. 11
[64] ebd. zitiert auf S. 13
[65] ebd. S. 13
[66] ebd. S. 15
[67] ebd. S. 11
[68] Barth, Karl: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und Geschichte. Zürich 1952. S. 343
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Hegel schreibt in einem Stil, der seine Gedankenwelt nur schwer zugänglich macht. Das ist bei Thomas anders, sein Stil zeichnet sich aus durch klare tiefgehende Gedankenführung, die dennoch allgemein verständlich ist. Karl Barth war reformierter Theologe und hat mit seiner „Kirchlichen Dogmatik“ ein theologisches Werk hinterlassen, das zu den umfangreichsten in der ganzen Kirchengeschichte gehört. Er trat 1931 der SPD bei und hat weitgehend die „Barmer Erklärung“ vom Mai 1934 verfasst, Bekenntnisgrundlage der „Bekennenden Kirche“, die eine völlige Gleichschaltung der evangelischen Kirche durch die NS-Ideologie verhinderte.
Auf den Lehrstuhl Hegels gelangten Professoren, die ihrem Vorgänger nicht ebenbürtig waren. Die Zeit Hegels und die Zeit der Überwindung Hegels verhalten sich zueinander wie die Schlacht von Sedan am 2. September 1870 und die Schlacht an der Marne zu Beginn des Ersten Weltkrieges, die als Ausgangspunkt für den Verlauf dieses Krieges angesehen werden kann.[69]
Die Philosophie Hegels, die ausgerichtet ist auf die Versöhnung der Gegensätze, ist mit der Botschaft des Evangeliums und seinem ethischen Inhalt vereinbar, in dem alle Gegensätze in Jesus Christus aufgehoben sind, heißt es doch in dem Brief des Apostels Paulus an die Galater in Kapitel 3, Vers 28: Jetzt gilt nicht mehr Juden oder Heiden, nicht mehr Sklaven oder Freie, nicht mehr Mann noch Weib, denn ihr alle seid Einer in Christus Jesus.[70]Karl Barth spricht im Hinblick auf Hegel vom Tag des Gerichts und dem Tag der Freiheit, den er zuvor in die Vergangenheit verlegt hatte, er könnte der Menschheit in Zukunft bevorstehen. Wir können nicht mit Sicherheit wissen, ob die Zeit Hegels schon abgelaufen oder erst recht im Kommen ist.[71] Wirkliche Freiheit kann nur in der Hinwendung zu Jesus Christus bestehen. Das Selbstvertrauen, das die Philosophie Hegels verkündet, und zu dem sie aufruft, ist zugleich als solches qualifiziertes, wahres, eigentliches Gottvertrauen, dass sie so ausdrücklich wie möglich Gott und nicht Menschen die Ehre gibt.[72]
Hegel hat Novalis (Friedrich Hardenberg 1772-1801) nahe gestanden, näher als andere Geistesgrößen der Zeit wie Kant, Fichte, oder Schelling der Philosoph der Romantik.[73] Ein Gedicht aus „Hymnen an die Nacht“, die als eine Synthese aus Licht und Nacht, was als Vorausdeutung auf die Aufhebung aller Grenzen und die neue Einheit angesehen werden kann, (Aus Wikipedia) gewährt einen Einblick:
Eins in allem,
Das All in einem,
Gottes Bild auf Kräutern und Steinen,
Gottes Geist in Menschen und Tieren,
Dies muss man sich zu Gemüte führen,
Keine Ordnung mehr nach Raum und Zeit,
Hier Zukunft in der Vergangenheit.
Was sich in diesen Worten offenbart, geht über die vierte Dimension noch hinaus. Novalis wandte sich zurück in die europäische Geschichte, und als Romantiker stand er für ein Europa, wie es sich im Mittelalter formiert hatte. Es ging aber nicht um die Rückkehr zu mittelalterlichen Herrschaftsformen. Das mittelalterliche Staatsverständnis gründete auf den universalen Staatsgedanken, was im Europa der Zeit, wo der Nationalstaatsgedanke seit der
[69] Barth, Karl: Geschichte des Protestantismus. S. 346
[70] übersetzt nach Riesler (kath)
[71] Barth, Karl: Geschichte des Protestantismus. S. 349
[72] ebd. S. 353
[73] ebd. S. 350
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Französischen Revolution das beherrschende Thema war, keinen Anklang fand. Einfluss auf Hegel und Novalis hatte auch der schlesische Theosoph und Schuhmacher Jakob Böhme (1575-1624) gewonnen. Hegel bezeichnete ihn als den „ersten deutschen Philosophen“. Der Mensch müsse neu geboren werden, wolle er das Reich Gottes schauen, so Jakob Böhme in seiner Schrift: Die Menschwerdung Christi. (Aus Wikipedia) Ein Satz Jakob Böhmes lässt die Tiefe seiner Gedankenwelt erkennen: „Wem Zeit ist wie die Ewigkeit, und Ewigkeit wie die Zeit, der ist befreit von allem Streit.“ Eine Aussage, die von Gefahren umwoben ist, und von leichtfertigen Gemütern leicht missverstanden werden kann.
Das reale Eingehen des Göttlichen in die Menschenseele war durch die absolute Transzendenz Gottes ausgeschlossen. Finitum non est capax infniti. (Das Endliche kann nicht das Unendliche umfassen). Immanenz bedeutet die endliche mit den Sinnen wahrnehmbare Erfahrungswelt, die vergänglich ist, Transzendenz die ewige-unendliche Wirklichkeit, die sich der sinnlichen Wahrnehmung verschließt. Die Gemeinschaft Gottes konnte mit denen, die Gnade erlangt hatten, nur stattfinden und zum Bewusstsein kommen, indem Gott in ihnen wirkte, und das der Mensch sich dessen bewusst wird. Der Mensch kann sich seines Gnadenstandes versichern in einem Leben der Gefühlskultur oder in einem asketischen Handeln, im ersten Fall ist die Nähe zu Luther, im letztgenannten der Calvinismus erkennbar.[74]
Calvin lässt auch den Glauben an eine Vorsehung nicht gelten, konsequent duldet er keinen Widerspruch und besteht auf die exakte Vorherbestimmung, die keinen gedanklichen Spielraum lässt.[75] In diesem dogmatischen Gegensatz darf die menschliche Vernunft zu Wort kommen. In der Christenheit besteht Konsens über Eigenschaften, die Gott und seinem Handeln zugeschrieben werden: Allmächtig, allwissend und allgegenwärtig. Alle drei Eigenschaften können einer Betrachtung unterzogen werden. Allwissenheit bedeutet, dass Gott vor allem Anfang den Lauf der Schöpfung in der mikrokosmischen und makrokosmischen Welt nach einem vorgefassten Plan gelenkt hat. Er konnte vorhersehen in welches geographische und gesellschaftliche Umfeld jedes nach seinem Ebenbild geschaffene menschliche Individuum hineingestellt sein würde, und die damit verbundene Kausalität vorhersehen, wie ein Mensch, allerdings in einem begrenzten Wahrnehmungsvermögen, von möglichen Vorgehensweisen seiner Mitmenschen oder technischen Vorgängen vorausschauend Entwicklungen einschätzt. Allmacht wird gedeutet, dass dem nach dem Ebenbilde Gottes geschaffene Mensch kein freier Wille zuerkannt werden kann. Wenn aber alles menschliche Handeln nach einem fest gefassten unabänderlichen Plan abläuft, dann entsteht hier ein Widerspruch, denn eine Allmacht, die Pläne nicht ändern kann, ist keine Allmacht. Die Allmacht muss aber den Anspruch stellen, dass außerhalb dieser Allmacht keine Entscheidungsbefugnis besteht, sonst könnte sich der Mensch über Gott erheben, und das Geschöpf sich an die Stelle des Schöpfers setzen, womit dann jede Ordnung aufgehoben wäre, und nur noch das Chaos bliebe. Allgegenwart bedeutet, dass es für die unendliche ohne Raum und Zeit definierte Allgegenwart nur Gegenwart gibt, während es für das Geschöpf nur Vergangenheit und Zukunft gibt. Ein gegenwärtiger Augenblick verschwindet in einer unendlichen nicht darstellbaren Zeit. Unendlichkeit kann nur gedacht, aber nicht dargestellt werden, ein solcher Versuch scheitert an seinem Widerspruch, darum sollte der Mensch auch nicht versuchen, das Handeln Gottes mit seiner begrenzten Vernunft zu erfassen. Immanuel Kant (1724-1804) hat verlauten lassen, der Mensch könne „das Ding an sich“ nicht erkennen, weil unser Erkenntnisvermögen dazu nicht ausreicht, trotz des ständigen immer schneller und häufiger werdenden Vordringen des Menschen in die makrokosmische und mikrokosmische Welt. Besäße der Mensch die göttlichen Eigenschaften
[74] Weber, Max: Protestantische Ethik S. 130
[75] Calvin, John: Institutes of the Christian Religion. S. 212 f
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der Allwissenheit, der Allmacht und der Allgegenwart, dann könnte er „das Ding an sich“ vollumfänglich erkennen.[76]
Jesus Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch, anders kann es nicht sein, denn sonst hätte er die Erlösung der Menschheit und der gefallenen Schöpfung nicht vollbringen können. Nur der Erwählte kann ein wirksames Glaubenszeugnis bekennen, nur er ist fähig, vermöge der Wiedergeburt und der darauf folgenden Heiligung, die ihm die Kraft verleiht, die nicht nur gottgewollt, sondern auch gottgewirkt ist. Auf diesem Wege erlangt er das höchste Gut, nachdem diese Religiosität strebte: Die Gnadengewissheit. In dem 2. Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth im 13. Kapitel, Vers 5 wird die Möglichkeit bestätigt, sie zu erlangen: (5) Überprüft euch, ob ihr im Glauben seid; prüft euch selbst! Oder erkennt ihr an euch selbst nicht, dass Jesus Christus in euch ist? Dann hättet ihr euch nicht bewährt.[77] So absolut ungeeignet gute Werke sich als Mittel zur Erlangung der Seligkeit sind, denn auch der Erwählte bleibt Kreatur, und alles, was er tut, bleibt in unendlichen Abstand hinter Gottes Anforderungen zurück, so unentbehrlich sind sie als Zeichen der Erwählung.[78]
Dem katholischen Christen steht die Sakramentsgnade seiner Kirche als Ausgleich eigener Unzulänglichkeit zur Verfügung, der Geistliche als geweihter Amtsträger verfügt über die Autorität, bei ernsthaften Verlangen die Absolution zu erteilen. Sie spendet Sühne Gnadenhoffnung, Gewissheit der Vergebung und gewährt damit Entlastung von einer ungeheuren Spannung. Der Gott des Calvinismus verlangt von den Seinigen nicht einzelne „gute Werke“, sondern eine zum System gesteigerte Werkheiligkeit.[79]
Die ethische Praxis des Alltagsmenschen wurde so ihrer Plan-und Systemlosigkeit und zu einer konsequenten Methode der ganzen Lebensführung ausgestaltet. Es ist ja kein Zufall, dass der Name „Methodisten“ ebenso an den Trägern der letzten großen Wiederbelebung puritanischer Gedanken im 18. Jahrhundert haften geblieben ist.[80] Die damit verbundene Selbstbeherrschung findet sich auch bei Ignatius von Loyola (1491-1556), der den ausschlaggebenden Stoß der Gegenreformation führte und nicht nur hier, sondern auch bei den Puritanern zu einem Lebensideal.[81] Zur Beichte in der katholischen Kirche ist oft angemerkt worden, sie führe zu Macht und Einfluss des Pfarrers und Amtsträgers über die Gemeindeglieder. Solche Bedenken könnten in jedem Fall zutreffen, darum fühlt der reformierte Christ selbst „den Puls“.[82]
Philipp Jakob Spener (1635-1705), August H. Francke (1663-1727) und Nikolaus Graf Zinzendorf (1700-1760) gelangten in Preußen zu einem besonderen Einfluss mit Breitenwirkung, der von König Friedrich Wilhelm I gefördert wurde. Sie standen auf dem Boden des Luthertums, was eine Abkehr von der Prädestinationslehre bedeutete. Die Berufsarbeit war auch für A. H. Francke das asketische Mittel wie auch bei den Puritanern.
Für ihn stand fest, dass Gott selbst es sei, der die Glaubenden mit seinem Segen bedenkt.[83] In alledem manifestiert sich die spezifisch lutherische Art, das Heil zu suchen, für welche nicht die Vergebung der Sünden, sondern die praktische Heiligung das Entscheidende ist.[84] Zunächst wurde im Gegensatz zum Calvinismus, der alles Gefühlsmäßige, aus der die Sicherheit des Glaubenden herrühre, als Täuschung ansah. Nach der Lehre John Wesleys sollte der Glaubende
[76] Kant, Immanuel: Die Drei Kritiken in einem Zusammenhang mit dem Gesamtwerk. Mit verbindendem Text zusammengefasst von Raymund Schmidt. Stuttgart 1956 S. 39
[77] Nach der revidierten Übersetzung nach Marin Luther. Wollerau 2009
[78] Weber, Max: Protestantische Ethik. S. 131
[79] ebd. S. 133
[80] ebd. S. 134
[81] ebd. S. 135
[82] ebd. S. 139
[83] ebd. S. 146 f
[84] ebd. S. 151
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Zeit und Stunde nennen können, in der er die Heilsgewissheit erlangt habe, entsprechend wurden auch die äußeren Gnadenmittel, insbesondere die Sakramente entwertet[85] Wesley war unter Einwirkung der Brüdergemeinde lutherischen Einflüssen ausgesetzt gewesen. Ein Erlebnis war dabei nicht ohne Bedeutung geblieben, 1735 kam es auf der Überfahrt nach Amerika zu einer Begegnung mit Anhängern der auf Zinzendorf zurückgehenden Herrenhuter Brüdergemeinde, die unbekümmert geistliche Lieder sangen, als das Schiff in einen bedrohlichen Sturm geraten war. Die Methodistenkirche spaltete sich, ein Teil wurde von John Wesley (1703-1789) geführt, der dem freien Willen des Menschen in seiner Theologie Raum gab, aus diesem Grunde trennte sich der Mitbegründer John Whitefield (1714-1770), der theologisch ein Anhänger Calvins und der Prädestinationslehre war, und gründete einen eigenen Zweig des Methodismus. Trotz dieser theologischen Differenzen haben beide in ihrer Verkündigung eine Breitenwirkung erzielt. Zinzendorf hat nicht nur auf John Wesley und andere Theologen eingewirkt, sein Einfluss erstreckte sich auch auf andere Geistesgrößen der Zeit, wie Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Daniel Friedrich Schleiermacher (1768-1834), (aus Wikipedia)was nicht bedeutet, das alle die genannten auf Zinzendorfs geistliche Linie eingeschwenkt wären. Karl Barth nannte Zinzendorf den ersten echten Vorläufer der Ökumene. Etwas von dieser Linie ist in Goethes Faust zu finden in dem vielfach erwähnten und bekannten Osterspaziergang:
Chor der Engel: Chor der Weiber: Chor der Engel:
Christ ist erstanden! Mit Spezereien Christ ist erstanden!
Freude dem Sterblichen, Hatten wir ihn gepflegt, Selig der Liebende,
Den die verderblichen, Wir, seine Getreuen, Der die betrübende,
Schleichenden, erblichen Hatten ihn hingelegt; Heilsam und übende
Mängel umwanden. Tücher und Binden Prüfung bestanden.
Reinlich umwanden wir, –
Ach und wir finden
Christ nicht mehr hier.
Die so verkündete Osterbotschaft zertrümmert Faust wie mit einem Hammerschlag:
Was sucht ihr mächtig und gelind,
Ihr Himmelstöne, mich am Staube?
Klingt dort umher wo weiche Menschen sind,
Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube;
Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind,
Zu jenen Sphären wag ich nicht zu streben,
Woher die holde Nachricht tönt;
Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt,
Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben. (Goethes Faust, der Tragödie erster Teil)
Immanuel Kant nimmt Stellung zum Verlangen der Menschen ein Wunder zu sehen, und sieht eine vernunftgemäße Begründung darin, das Wunder etwas Seltenes sein müssten, da sie sonst
[85] Weber, Max: Protestantische Ethik. S. 153 ff
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nicht mehr als Wunder angesehen werden könnten. In einer Abhandlung mit dem Titel erläutert Kant die Zusammenhänge:
Wunder und übernatürliche Begebenheiten
Es ist eine bekannte Regel der Weltweisen oder vielmehr der gesunden Vernunft überhaupt: dass man ohne die erheblichste Ursache nichts für ein Wunder oder eine übernatürliche Begebenheit halten solle. Diese Regel enthält erstlich, dass Wunder selten seien, zweitens, dass die gesamte Vollkommenheit des Universums auch ohne viele natürliche dem göttlichen Willen gemäß nach den Gesetzen der Natur erreicht werde; denn jedermann erkennt: dass, wenn ohne häufige Wunder die Welt des Zwecks ihres Dasein verfehlte, übernatürliche Begebenheiten etwas Gewöhnliches sein müssten.[86]
Der Glaube Immanuel Kants ist rein philosophisch auf die Vernunft gegründet, und verzichtet daher auf theologisch begründete Gottesbeziehungen: Nun war es Pflicht für uns, das höchste Gut zu befördern, mithin nicht allein Befugnis, sondern auch mit der Pflicht als Bedürfnis verbundene Notwendigkeit, die Möglichkeit dieses höchsten Guts vorauszusetzen, welches, da es nur unter der Bedingung des Daseins Gottes stattfindet, die Voraussetzung desselben mit der Pflicht unzertrennlich verbindet, was bedeutet, es ist moralisch Notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen.[87]
An der Spitze des Staates müssen Philosophen stehen, so die Vorstellung Platons, die dafür gebildet und in eigens dafür geschaffenen Einrichtungen auf ihre Aufgabe vorbereitet werden. Mann und Frau haben in der platonisch ausgerichteten Gesellschaft gleiche Rechte und Pflichten, eine für seine und spätere Zeit revolutionäre Ansicht. Oberstes Gebot für das Individuum ist die Pflichterfüllung, „jeder tut das Seine“. Für Philosophen als Wächter über das Gemeinwesen und Staatenlenker wird Besitzlosigkeit gefordert. Die Hauptgefahr für die Stabilität seines Staates sah Platon in der Spaltung der Wächterklasse durch Streit um Güter. Wächter des Staates trügen das Gold in ihrer Seele, so die Idealvorstellung. Nach Platons Vorstellungen kann der gerechte Staat nur bestehen, wenn in ihm das Göttliche beherrschendes Element ist, das gegen unwahre Darstellungen und Fälschungen geschützt werden muss. Er fordert die Reinigung der griechischen Mythologie von „Lügen“ über Gott. Geschichten von Göttern, die sich streiten, intrigieren, Inzest praktizieren und stehlen, seien mit der wahren Natur des Göttlichen, des Guten und Wahren, unvereinbar. Platons Sicht des einen Gottes war ein radikaler Bruch mit dem Polytheismus, der bestimmend war für das griechische Leben der Zeit in Politik und Gesellschaft. Hierin und in Platons Lehre vom Weiterleben der Seele nach dem Tode sahen Augustinus (354 – 430) und andere Kirchenväter Gemeinsamkeiten mit der christlichen Vorstellungswelt.[88]
[86] Kant, Immanuel: Die drei Kritiken. S. 66
[87] ebd. S. 276
[88] Klassische Staatsphilosophie. Texte und Einführungen von Platon bis Rousseau. Oberndorfer, Dieter/Rosenberg, Beate (Hrsg) München 2000 S. 17 f
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Platon hat nicht einen Staat nach modernen Vorstellungen angestrebt. Ebenso unübersehbar sind die Unterschiede in seinen Ausführungen vom gerechten Staat zum christlichen Verständnis, worin die Gerechtigkeit des Individuums Ausgangspunkt christlicher Lehre ist und nicht die Gerechtigkeit staatlicher und politischer Ordnung.[89]
Erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt platonischer Philosophie ist die Ideenlehre. Die durch die Sinne wahrnehmbare Natur (physis) ist für Platon die Welt der Vergänglichkeit. Die bleibende unzerstörbare Realität sind die „hinter der Natur liegenden“ (Metaphysik) Ideen. (griech. Eidos = Bild, Gestalt). Die sinnlich erkennbare Welt ist nur ein „Schatten“ der eigentlichen Wirklichkeit der Ideen, die als unzerstörbar, unveränderlich und ewig gelten. Im „Höhlengleichnis“ ist veranschaulicht, wie die irdische Welt in dem Maße Realität gewinnt, als es ihr gelingt sich der Wirklichkeit der Ideen anzunähern. Auf die Politik bezogen ist es Aufgabe des Staates die „Idee des guten Staates“ zu verwirklichen. Platon wird als der geistige Vater des Idealismus angesehen. Der deutsche Idealismus, mit Hegel als einem ihrer führenden Vertreter, hat seine Wurzeln in der platonischen Ideenwelt.[90]
Ein weiterer Einfluss auf Theologie und christliches Denken, besonders der Scholastik im Mittelalter, ist von dem griechischen Philosophen Aristoteles (324-322 v. Chr.) ausgegangen. Herausragender Vertreter dieser theologischen Richtung ist Thomas von Aquino (1224-1274). Er sieht in der Theologie eine Wissenschaft neben der Philosophie. Davon ausgehend, wäre es nicht notwendig, neben der Philosophie noch eine andere Wissenschaft zu betreiben. Dagegen spricht das Wort des Apostels Paulus in dem Brief an Timotheus (2. Tim. Kapitel 3, Vers 16): „Jede göttlich eingegebene Schrift dient zur Lehre, zur Überzeugung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“. Nun erstreckt sich aber die göttlich eingegebene Schrift nicht auf die Fächer der Philosophie, die sich die menschliche Vernunft nach ihrem Bedürfnis geschaffen hat. Also ist es zweckdienlich, dass außer der Philosophie noch andere, göttlich eingebebene Wissenschaft bestehe. Thomas antwortet: Es war notwendig zum menschlichem Heile, dass außer den philosophischen Fächern, in welchem die Vernunft des Menschen forscht, noch eine Wissenschaft besteht, die auf der göttlichen Offenbarung gründet.[91] Alles Geschaffene, alles historisch Gewordene hat eine Ursache, alles beruht auf Kausalität. Nur Gott, der Schöpfer aller Dinge hat keine Ursache, er ist der „Unbewegte Beweger“.[92] Diesen Ausdruck aus der Physik des Aristoteles identifiziert Thomas mit dem christlichen Gott. Er stellt in seiner Gotteslehre die Bedeutung der Offenbarung heraus, die für philosophische Überlegungen unerreichbar sei. (aus Wikipedia)
Im Jahre 529, nach dem das Christentum im Römischen Reich zur Staatsreligion erklärt worden war, wurde die auf den Philosophen Platon zurückgehende Akademie in Athen geschlossen. Damit ging nicht nur philosophisches Wissen verloren, sondern auch die übrigen Wissenszweige und die damit verbundenen Erkenntnisse. Die Heilige Schrift ist kein Buch der Wissenschaften, den pythagoreischen Lehrsatz für das rechtwinkelige Dreieck a²+b²=c² suchen wir dort vergeblich, aber der Lehrsatz gilt auch für Christen, auch wenn sein Entdecker kein Christ war. Erst im Hochmittelalter gelangten über die in Spanien herrschenden Mauren wissenschaftliche Erkenntnisse des antiken Griechenland nach Europa, und erst mit dem Beginn der Renaissance gelang es, an die wissenschaftlichen Errungenschaften der griechischen Antike anzuknüpfen.
Auf den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) geht die Lehre von der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes, zurück, in der es heißt, Gott habe die beste aller
[89] Klassische Staatsphilosophie. S. 18 f
[90] ebd. S. 19
[91] Aquino, Thomas vom: Summe der Theologie. Zusammengefasst und erläutert von Josef Bernhart. Band I Stuttgart 1954 S. 3
[92] ebd. S. 15
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möglichen Welten geschaffen.[93] Leibniz gehört neben dem christlichen Philosophen Blaise Pascal (1623-1662) und dem unermüdlichen Forscher Isaac Newton (1642-1727) zu dem Dreigestirn herausragender Wissenschaftler. Sie waren zugleich Angehörige einer europäischen Gelehrtenrepublik, zu der viele große Namen hinzugefügt werden müssten, in der nationale Eifersüchteleien nicht tonangebend waren. Es kann hier von einem Spitzentrio europäischer Wissenschaft gesprochen werden. Leibniz verfocht die Realität der sittlichen Welt, so in der Theodizee, wo diese Welt eben die „beste“ sei, weil sie eine ewige Aufgabe enthält, die sich von Stunde zu Stunde und von Tag zu Tag neu stellt.[94] Aus der Unvereinbarkeit eines freien Menschenwillens mit dem Kausalprinzip folgt aber nicht, dass Strafe und Belohnung nicht kausalfrei, also mit der Kausalität nicht verträglich sind. Lohn und Strafe sind nämlich keine auf Naturgesetze beruhende Naturerscheinungen, welche determiniert sein müssen, sondern Moralphänomene, welche indeterminiert sind. Die Handlungsdeterminiertheit steht nicht der Schuld im Wege, weil durch sie keine Bestimmung erfolgen kann. Schuld wird nur durch indeterminierte Moralgründe bedingt. Noch mehr vertragen sich Lohn und Strafe mit dem Gottesgedanken – lauter freie Ideen, welche als solche dem Naturgesetze nicht unterworfen sein können. Wer denn bestraft und belohnt, wenn nicht Gott? Besteht doch gerade seine Allmacht in dem Vermögen der zuteilenden Vergeltung.[95] Was hier nicht betont wird, ist die Möglichkeit zwischen mehreren Kausalitäten oder Beweggründen zu wählen. Freiheit vom kausal bedingten Geschehen ist zur Belohnung und Bestrafung unerlässlich. Es ist dies keine Freiheit des Menschen. Wessen Freiheit aber dann? Es ist die Freiheit der göttlichen Gebote. – Dieu agit très librement…Les décrets de Dieu sont toujour libres…Gottes Handeln wird durch Freiheit bestimmt, seine Dekrete sind freie Entscheidungen. Die Behauptung: „Dieu a fait l’homme libre Gott hat dem Menschen die freie Entscheidung ermöglicht, ist widerspruchsvoll, da das Gemachte nicht der Meister, und das dadurch Bewirkte nicht frei von Ursachen sein kann.[96] Es gibt aber Freiheit, wenn auch keine Handlungsfreiheit, so doch Urteilsfreiheit, nur wenn es keine Werturteile gäbe, ginge die Freiheit gänzlich verloren.[97]
Theologen unterschiedlicher Richtungen haben von Anbeginn der christlichen Kirche die Behauptung vertreten, Gott hätte ohne Leiden gelitten.[98] Eine irrige und abwegige Behauptung. Gott hat die Leiden erduldet wie ein Mensch ohne Abstriche. Gott ist in Jesus Christus geworden, was alle Menschen sind, er hat die Leiden des menschlichen Individuums und der Menschheit auf sich genommen und sich damit identifiziert, so wie auch die Schuld des gefallenen Menschen und der Schöpfung, ohne in Sünde zu fallen. In seinem Gebet im Garten von Gethsemane (Evangelium nach Matthäus Kapitel 25) bittet er, dass der Kelch an ihm vorübergehen möge, und auf dem Berg der Versuchung macht der Teufel ihm das Angebot, ihm alle Reiche der Welt zu übergeben, wenn er niederfalle und ihn anbete. (Evangelium nach Matthäus Kapitel 4) Es hätte also für Jesus Christus die Möglichkeit bestanden anders zu entscheiden. Er ist also von den Leiden der Schöpfung und der Menschheit betroffen, und sein Ziel ist es alles herzurichten und nicht hinzurichten.
Ebenso haben auch Schriftsteller unterschiedlicher Art den Standpunkt vertreten, die Heilige Dreieinigkeit stünde im Widerspruch mit der großen mathematischen Wahrheit: Sind zwei Größen einer dritten gleich, so sind sie untereinander gleich, oder wenn A und B einerseits, C und B andererseits gleich sind, dann müssten A und C untereinander gleich sein. Denn dieses Prinzip folgt unmittelbar aus dem Satz vom Widerspruch und bildet das Fundament der ganzen
[93] Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Theodizee.Übersetzung von Arthur Buchenau. Hamburg 1968. Einführender Essay von Morris Stockhammer, hier S. V
[94] ebd. einführender Essay S. VI
[95] ebd. S. X
[96] ebd. S. XIII
[97] ebd. S. XIV
[98] Leibniz: Die Theodizee. Einleitende Abhandlung über die Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft. S.50
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Logik; fällt sie, dann gibt es kein Mittel, vernünftig zu urteilen. Wenn daher gesagt wird der Vater ist Gott, der Sohn ist Gott und der Heilige Geist ist Gott, und es gibt dennoch nur einen Gott, obgleich diese Personen untereinander verschieden sind, so muss der Schluss folgen, dass dieses Wort Gott am Anfang und Ende nicht den nämlichen Sinn hat. Es bezeichnet in dem einen Falle die göttliche Substanz (ein Ding das zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf) in einem anderen Fall eine der drei göttlichen Personen. Die gewöhnliche Unterscheidung zwischen dem, was über die Vernunft hinausgeht und dem, was gegen die Vernunft gerichtet ist, deckt sich ungefähr mit der oben beigebrachten Unterscheidung der zwei Arten von Notwendigkeit. Eine Wahrheit geht über die Vernunft hinaus, wenn unser Geist (oder der geschaffene Geist überhaupt) sie nicht begreifen kann; und so verhält es sich meines Erachtens mit der Dreieinigkeit, mit dem Gott allein vorbehaltenen Wundern, wie z. B. die Schöpfung, mit der Wahl der Weltordnung, die von der allgemeinen Harmonie und der klaren Erkenntnis unendlich vieler Einzeldinge zugleich abhängt.[99] Denn was gegen die Vernunft gerichtet ist, ist auch gegen gewisse absolute Wahrheiten, die nicht aufgehoben werden können, gerichtet, was jedoch über die Vernunft hinausgeht, widerstreitet nur der gewöhnlichen Erfahrung und der üblichen Auffassung, eine Wahrheit, jedoch, kann nicht gegen die Vernunft gerichtet sein.[100] Nachdem wir die Rechte des Glaubens und der Vernunft so geregelt haben, fährt Leibniz fort, dass die Vernunft dem Glauben dient, und weit davon entfernt ist, ihm zu widersprechen, wollen wir sehen, wie man sich dieser Rechte bedient, um das, was uns das natürliche Licht und die Offenbarung über die Stellung Gottes und des Menschen zum Übel lehrt, zu stützen und in Einklang zu bringen. Die Stellungen zu den gegebenen Schwierigkeiten können in zwei Klassen aufgeteilt werden, die einmal auf die Unvereinbarkeit menschlicher Freiheit und göttlicher Natur hinauslaufen, und die Grundlage bilden von Schuld und Strafe des Menschen. Weiter geht es um das Verhalten Gottes, dem ein Anteil an der Existenz des Bösen zugeschrieben wird, selbst dann, wenn der Mensch frei wäre und seinen Anteil hätte. Wie lassen sich so Gottes Güte, Heiligkeit und Gerechtigkeit in Einklang bringen, da Gott am physischen und moralischen Übel mitwirkt? Im Reich der Natur werden die Übel genauso wahrgenommen wie im Reich der Gnade Gottes, und diese Übel treten im zukünftigen ewigen Leben mehr und härter hervor als im vergänglichen Leben.[101] Im zukünftigen Leben werden Lohn und Strafe noch ärger offenbar werden, da die Anzahl der Geretteten, zum Heil bestimmten, sich von der großen Masse, die nicht des Heiles teilhaftig wird, abhebt.[102] In einem gemäßigten theologischen System heißt es, Gott habe alle Menschen retten wollen. Gott gab seinem Sohne Menschennatur, um die Erlösung zu bewirken, die aus vollem Herzen ohne Zagen glauben. Dieser Herzensglaube ist eine Gottesgabe, der Mensch bedarf dazu der vorgreifenden Gnade, von der das Wollen und das Gelingen abhängig ist.[103]
Leibniz schürft tiefer und greift etwas auf, was ebenso tiefes Nachdenken auslöst, und die Frage entstehen lässt, wie eine Schöpfung zu bewerten ist, die zu einem immerwährenden Verderben verurteilt ist. Eine Theologie, die den Standpunkt vertritt, im zukünftigen Leben sei eine Rettung vom Weg des Verderbens ausgeschlossen, hat keine Gottesfurcht bewirkt, das zeigt insbesondere die Geschichte der christlichen Kirchen mit all den grausamen Exzessen, die sie sich gegenseitig angetan haben, aber auch in die übrige Welt hinein. Die Lehre von der immerwährenden Verdammnis ist deshalb aufrechterhalten worden, weil die Befürchtung bestand, der Mensch könne in diesem Leben dadurch zu Leichtfertigkeit und Leichtsinn gebracht werden. Es bleibt die Tatsache bestehen, der Mensch ist zum Ebenbilde Gottes geschaffen, durch Jesus Christus ist Gott geworden, was der Mensch auch ist, und der Mensch
[99] Leibniz: Die Theodizee. Einleitende Abhandlung. S. 50 f
[100] ebd. S. 51
[101] Leibniz: Die Theodizee. 1. Teil der Versuche über die göttliche Gerechtigkeit, die Freiheit des Menschen und der Ursprung des Übels. S. 95
[102] ebd. S. 97
[103] ebd. S. 98
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soll auf den Weg geführt werden, zu werden, was Gott auch ist. Ziel ist es, den Menschen in dieses Ebenbild zu verwandeln, aus dem er herausgefallen ist.
Hier kommen wir zurück auf Leibniz mit der unumwundenen Feststellung, Gott habe „die beste aller möglichen Welten“ geschaffen. Voltaire (1694-1778), einer der herausragenden geistigen Wegbereiter der Aufklärung, hat sich mit dieser Theologie, müssen wir schon sagen, auseinandergesetzt mit seiner märchenhaften Darstellung „Candide oder der Optimist“. Mit beizender Ironie lässt Voltaire „die beste aller Welten“ vorüberziehen. Candide, der „Held“ wird den Leiden der Zeit unterworfen, die im absolutistischen Herrschaftssystem einen Höhepunkt erreichten durch den mit ausgesuchten Grausamkeiten erhobenen Herrschaftsanspruch, begleitet von absoluter Willkür, dem Adel und Monarchie sich hingaben. Am Ende, nach dem vielen Auf und Ab von Glück und Unglück, von Armut und Reichtum, sieht Candide mit seiner endlich erlangten und Erfüllung gefundenen Liebe zu seiner Conégonde den Ausweg in einem bescheidenem Dasein, gegründet auf das Arbeitsethos.
Beachtenswert sind die Beziehungen zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen. Die Beziehung zwischen Voltaire und Friedrich II. (der Große) gehört zu den ungewöhnlichsten Männerfreundschaften der Geschichte.[104] „Europa hatte zu dieser Zeit zwei Könige, den König von Preußen und König Voltaire. Der eine verwandelte das Denken, der andere die Landkarte Europas“.[105] Der Briefwechsel zwischen beiden, beginnend 1736 hielt ein Leben lang, trotz eines zwischenzeitlich schweren Zerwürfnisses, das nicht zuletzt aus fragwürdigen Geldgeschäften Voltaires herrührte. Der Kapitalismus, im wahrsten Sinne des Wortes, hatte bereits große Fortschritte gemacht. Friedrich urteilte über Voltaire: „Sie sind eine Fackel, welche die Welt erleuchten muss“ oder Voltaire in einem seiner letzten Briefe: „Mehr denn je werfe ich mich ihnen zu Füßen, von Herzen hoffe ich, dass sie nicht mehr geschwollen sind“.[106] Friedrich sah sich als Philosoph auf dem Königsthron. Er verkörperte ein anderes Preußen, als das, was später aus Preußen und Friedrich II. gemacht wurde.
Idealistische Philosophie und materialistische Philosophie, und der daraus resultierende Gegensatz durchziehen die Menschheitsgeschichte. Zielsetzung platonischer Staatslehre ist ein gerechter Staat. Es besteht hier ein Unterschied zum christlichen Verständnis, wo die Gerechtigkeit des Individuums im Vordergrund steht und nicht die Gerechtigkeit staatlicher und politischer Ordnung. Im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth im 1. Korintherbrief Kapitel 7, Vers 22: Ein Sklave, der im Herrn berufen ist, ist ja ein Freigelassener des Herrn, so wie auch, wer als Freier berufen ward, ein Sklave Christi ist,[107] also auf die innere Überzeugung kommt es zuerst an. Hier beginnt der steinige und dornige Weg des Individuums im Ringen mit dem Kollektiv. Im christlichen Kanon der Heiligen Schrift findet sich nirgendwo ein Aufruf zum Umsturz der politischen Verhältnisse. Es wäre aber abwegig, sich hinter dem Glauben an eine zukünftige Welt nach dem Tode zurückzuziehen, und die irdischen Lebensverhältnisse in Staat und Gesellschaft unberücksichtigt zu lassen.
Der Marxismus gründet auf das materialistische Staats-und Gesellschaftsverständnis, wobei kein Verständnis dafür aufgebracht werden kann, warum in der angestrebten klassenlosen, Gesellschaft, der Atheismus zur Staatsreligion erhoben werden musste.
Platonisches und marxistisches Staatsverständnis treffen sich in einem Punkt, beide setzen darauf, dass ein gerechter Staat, gerechte Individuen schafft. Es geht also hier tatsächlich alles von oben nach unten. Ein marxistischer Kernsatz lautet: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Die Ideen, und mit ihnen die ethischen Werte, werden zwar relativiert, wenn sie nur als Reflexe der materiellen Verhältnisse erscheinen. Dennoch ist der marxistische Materialismus nicht
[104] Spiegel Online. Spiegel Geschichte 2/2011
[105] Spiegel Geschichte 2/2011 zitiert nach Jean Orieux (1907-1990) durch seine Biographien über Voltaire und Talleyrand, die in zahlreiche Sprachen überstzt wurden.
[106] Aus Spiegel Geschichte 2/2011
[107] Übersetzung nach Riesler (kath)
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unethisch, sonst hätte er nicht als Fundament eines sozialistischen Systems dienen können. Unabhängig davon, ob jemand für oder gegen den Sozialismus ist, kann nicht geleugnet werden, dass seine Ziele von einem ethischen Fundament getragen werden. Der Widerspruch löst sich dadurch, dass nach Marx die materielle Entwicklung, ganz wie Hegels Weltgeist, die Tendenz zu Vernunft und Freiheit in sich trägt. Wer sich also mit ihr identifiziert, wird gut und vernünftig wie sie selbst. Materialismus und Ethik werden eins. Eine autonome Idee des Guten wird überflüssig, weil die materielle Entwicklung ohnedies zum Guten hinführt. Es gibt materialistischen Anschauungen, die zu anderen Ergebnissen, zur Entwertung der Ethik führen. Der Marxismus gehört, entgegen vielen Behauptungen, nicht dazu. Marx war ganz von der Idee der Gerechtigkeit beseelt; sie war, obwohl seine Lehre es leugnet, der Ausgangspunkt seines Denkens.[108] Es ist in der Geschichte aber oft zu beobachten gewesen, dass steigender materieller Wohlstand aus christlicher Sicht zu frivolen unsittlichen Handlungen führt.
Im Reich des Glaubens und der Gnade steht im Zentrum der Satz: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Schon im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift in Levitikus (3. Buch Mose) Kapitel 19, Vers 18 steht dieser Satz, und im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom ist zu lesen, Kapitel 12, Verse 8-9: (8) Bleibt niemand etwas schuldig, außer dem, dass ihr euch einander liebt; denn wer seinen Nächsten liebt hat das Gesetz erfüllt. (9) Denn die Gebote: „Du sollst nicht ehebrechen, nicht töten, nicht stehlen, [nicht falsches Zeugnis geben,] nicht begehren, und jedes andere Gebot ist in diesem einen Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.[109] Diese Gebote sind auch dem Lohn und der Strafe ausgesetzt, wenn Verstöße dagegen vorliegen. Was hier für das Reich des Glaubens gilt, findet auch im Reich der Vernunft Anwendung. Im „Kategorischen Imperativ“ bei Immanuel Kant ist dazu ausgesagt: „Handle so, dass die Maxime deines Willens, jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“, was auch für das Zusammenleben der Menschen die gleiche Bedeutung hat wie der einfache Satz des Glaubens. Ein Verstoß dagegen wird auch im Reich der Vernunft geahndet, nur ist hier nicht die persönliche Beziehung zu einem strafenden Gott gemeint, hier wird die Entwicklung von Staat und Gesellschaft die angedrohte Konsequenz herbeiführen. So sieht es Voltaire im Hinblick auf die christliche Kirche, wenn er schreibt: „Ihr habt euch die Zeiten der Unwissenheit, des Aberglaubens, des Wahnsinns zunutze gemacht, um uns unser Hab und Gut zu rauben und uns mit Füßen zu treten, um euch auf Kosten der Unglücklichen zu mästen. Zittert vor dem anbrechenden Tag der Vernunft“.[110] Voltaire kann als Wegbereiter angesehen werden zu dem, was in der Französischen Revolution angestrebt wurde, ob er die Exzesse der Gewalt gebilligt hätte, ist unwahrscheinlich.
Was gegenwärtig bedrückend wirkt, ist das wirtschaftliche Geschehen im Weltmaßstab. Ratlosigkeit ist überall erkennbar. Für mehr als zwanzig Monate beabsichtigt die Europäische Zentralbank (EZB) jeden Monat 60 Milliarden Euro auf den Markt zu werfen, um Staatspapiere aufzukaufen, deren Wert mindestens zweifelhaft ist. Um Geldkapital in den Wirtschaftskreislauf zu locken, damit auch Sachkapital wieder den nötigen Absatz findet, ist in Erwägung gezogen worden, Bargeldkäufe auf 5000 € zu reduzieren oder den Bargeldverkehr gänzlich abzuschaffen, um dann durch negativen Zins, den Geldumlauf zu erzwingen, denn ohne Geldumlauf bleiben die durch Arbeitsleistung erzeugten Sachwerte in ihrem Depot. Es wäre ein Umlaufzwang, der unter den gegenwärtig herrschenden ökonomischen Bedingungen nicht zum Erfolg führen kann, weil eine Geldmengenregulierung über den Preisindex ausgeschlossen werden muss, denn die Billionenbeträge, die aufgehäuft worden sind durch Staatsverschuldung, Spekulationsgewinne und durch das Drucken von Banknoten, könnten auf den Markt drängen und alles überschwemmen. Das Wirtschaftssystem, dem die Weltwirtschaft unterworfen ist, lässt freies Unternehmertum, insbesondere mittelständische Unternehmen nur schwer gedeihen, und es wird zunehmend schwieriger. Freier Wettbewerb wird unmöglich gemacht. Großkonzerne, die immer größer werden und kaum noch von einem Staatsmonopol zu unterscheiden sind, entfalten sich zu einem Diktat, das Demokratie und freien Wettbewerb einschränkt oder ganz abschafft.
Gründerkrach (1873), Weltwirtschaftskrise, Oktober 1929, und Bankenkrise 2008 sind nur einige Stationen, die soziale Ungerechtigkeit mit unermesslichem Leid und Elend markieren. Dieser Kapitalismus kann mit dem ethischen Gehalt des Evangeliums von Jesus Christus keine Gemeinsamkeiten aufweisen, ja nicht einmal mit der protestantischen Ethik, die Max Weber
[108] Theimer, Walter: Der Marxismus. S 11 entnommen aus Dahrendorf "Die Idee des Gerechten bei Karl Marx" Hannover 1952
[109] Übersetzung nach Josef Kürzinger (kath)
[110] Zitiert in Kirchen-und Dogmengeschichte in Quellen: Ein Arbeitsbuch/hrsg. A. Obermann. Band IV. Vom Konfessionalismus zur Moderne/begründet von Martin Greschat. Neunkirchen-Vluyn. S. 102 unter dem Titel Voltaires Krichenkritik.
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ausführlich beschrieben hat. Es dürfen hier keine Missverständnisse entstehen. Der „Kapitalist“ oder Kapitalismus, den Marx vom produktiven Kapitalismus unterscheidet, ist in seiner Funktion unentbehrlich, es erweist sich die Notwendigkeit einer Einrichtung mit der Aufgabe, die Wirtschaft mit Geldkapital zu versorgen, damit auch Sachkapital fließen kann, entscheidend sind nur die Bedingungen, unter denen Geldkapital fließen soll und muss, denn auf den „Kapitalisten“ kann die Wirtschaft nicht verzichten, genau so wenig auf den Produzenten von Waren, Dienstleitungen und geistigen Erzeugnissen, wesentlich sind nur die Auswirkungen und Angebote, unter denen sich Kapital zur Verfügung stellt.
Die Botschaft des Evangeliums enthält mit aller Eindeutigkeit und Konsequenz eine sozialethische Verpflichtung. Soziale Hilfsprojekte, wie „Misereor“ oder „Brot für die Welt“, wie sie von den großen Kirchen betrieben werden oder die Menge sozialer Projekte von Orden und Freikirchen, sind gut und nützlich, sie lindern aber die Not nur in geringem Umfang, am System selbst ändert sich dadurch nichts.
Im Evangelium nach Matthäus im 25. Kapitel, den Versen 34-40, wird eine sozialethische Verpflichtung formuliert, die Individuum und Kollektiv gleichermaßen betreffen, denn es ist hier von den Völkern der Welt die Rede. (34) Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! (35) Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt. (36) Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. (37) Dann werden ihnen die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dich gespeist? Oder durstig und haben die getränkt? (38) Wann haben wir dich als einen Gast gesehen und beherbergt? Wann haben wir dich krank oder gefangen gesehen und sind zu dir gekommen? (40) Und der König wird antworten und sagen zu ihnen: Wahrlich ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.[111]
b) Der christliche Glaube in der deutschen Geschichte in ihrem Kontext.
Zwei Ereignisse, die im 4. Und 5. Jahrhundert die Geschicke der politischen Gegenwart nachhaltig betreffen und beeinflussen sind zuerst die „Konstantinische Wende“ zu Beginn des 4. Jahrhunderts und die Germaneneinfälle in das weströmische Reich bis zu seiner Auflösung 476. Kaiser Theodosius, dem es zum letzten Mal gelang, die Einheit des gesamten Römischen Reiches herzustellen, erhob 395 das Christentum zur Staatsreligion, mit nachfolgenden, unmittelbaren Auswirkungen für die gesamte europäische Geschichte, für den geistigen und historischen Werdegang. Im Vordergrund der Betrachtung steht und muss stehen der Kirchenvater Augustin mit seinem theologischem Hauptwerk „Der Gottesstaat“, das mit maßgebend wurde für den geistlichen Verlauf der Kirche und ihrer Geschichte. Die Auflösung des weströmischen Reiches durch die Einfälle der verschiedenen Germanenstämme war ebenfalls nicht ohne Auswirkung, die bis in die neueste Geschichte hineinreichen. Die nationalsozialistische Ideologie umgab sich mit einem Germanenmythos, der sich gerade auf den oben angesprochenen Zeitabschnitt bezog, und mit einer durch und durch heidnischen Symbolik getränkt war mit dem Ziel, darauf ein Geschichtsbewusstsein zu begründen. Daran knüpft sich die Frage an, inwieweit dieser Germanenmythos mit dem wirklichen historischen Verlauf der Zeit, die es zu betrachten gilt, standhält. Festgehalten werden muss zu Beginn der Betrachtung, dass von den Reichen, die von den Germanenstämmen auf dem Boden des in Auflösung begriffenen weströmischen Reiches errichtet wurden, keine Rassenpolitik ausging. Sie verschmolzen sehr schnell mit der einheimischen Bevölkerung, nahmen ihre
[111] Stuttgarter Jubikäumsbibel nach der Übersetzung Martin Luthers
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zivilisatorischen Lebensgewohnheiten an und nicht zuletzt den christlichen Glauben, der bestimmend geworden war für das gesamte römische Reich.
Julius Cäsar (100-44 v. Chr.) hatte von Gallien aus Angriffe auf die Germanen unternommen, die von Kaiser Augustus (14 v. Chr.-37 n. Chr.) und seinen Nachfolgern fortgeführt wurden. Der entscheidende Rückschlag für solche Unternehmungen geschah im Jahr 9 in der oft zitierten und kommentierten Varusschlacht, benannt nach dem römischen Statthalter Varus für Germanien, im Teutoburger Wald. Es gelang den Römern in der Folgezeit nicht, das Gebiet vom Rhein bis an die Elbe zu unterwerfen und zur römischen Provinz zu machen, was beabsichtigt worden war. Arminius der germanische Sieger im Teutoburger Wald war zuvor in römischen Diensten gewesen, erlangte den Ritterstand und führte germanische Truppen, die vermehrt ins römische Heer eingegliedert wurden. Germanenstämme, die im römischen Grenzgebiet siedelten, mussten dafür im römischen Heer Heeresfolge leisten. Die Römer verlegten sich vermehrt auf eine Defensivstrategie, errichteten als Schutzwall den „Limes“ mit Wachtürmen, der zusammen mit Rhein und Donau als natürliche Grenzabwehr galt. Vor dem Limes und den anderen Grenzgebieten drängten sich die Germanen, die an den dafür vorgesehenen Grenzübergängen römisches Gebiet ohne Waffen betreten durften, was zu einem regen Handel und Warenaustausch genutzt wurde.[112] Im ausgehenden 2. Jahrhundert formierten sich die Germanen zu größeren Stammesverbänden zu Alemannen, Franken und Sachsen. Um das Jahr 260 drangen die Alemannen bis in norditalienische PO-Ebene vor und wurden in einer Schlacht bei Mailand überwunden und zurückgedrängt.[113] Zur selben Zeit, als die Alemannen den Limes durchbrachen, durchzogen die Goten und Heruler den Balkan und Griechenland und eroberten Athen und Olympia. Es entstand für die römische Herrschaft der Zwang, den Germanen auf römischem Territorium Siedlungsgebiet zu überantworten gegen die Verpflichtung zur Grenzsicherung.[114] Im 4. Jahrhundert waren die römischen Legionen am Rhein und an der Donau vorwiegend aus Germanen rekrutiert, ihnen wurde die Offizierslaufbahn eröffnet und unter Kaiser Konstantin (306-337) gelangten sie in höchste Staatsämter, Teile des römischen Imperiums wurden geradezu germanisiert.[115] Zuvor begannen unter Kaiser Diokletian (284-305) die schlimmsten aller Christenverfolgungen.[116] Folter, Verbrennung von Kirchen, Zerstörung von Kirchen und Verbrennungen von Büchern, die den Christen heilig waren. Die Verfolgung der Christen vollzog sich in mehreren Etappen und begann im Jahre 299 zunächst mit der Entlassung christlicher Beamten, bis zum physischen Zwang heidnische Götter zu verehren. Die Verfolgung erstreckte sich bis zum Jahre 311. Christen wurde die Möglichkeit genommen ihre Gottesdienste abzuhalten.[117] Das Christentum hatte bereits eine solche Verbreitung gefunden, dass Martyrium und Polizeimethoden nichts Entscheidendes bewirken konnten. Verwaltungsstellen und Regierungszentren sympathisierten oft mit den Christen und hintertrieben die vorgesehenen Repressalien.[118]
Das Römische Reich, wie es aus den Händen der Kaiser Diokletians und Konstantins hervorging, verfügte über eine starke Staatsgewalt und fand seinen unbestrittenen Mittelpunkt in der Gestalt des Kaisers,[119] wobei die Gegensätze zwischen beiden Kaisern zu Beginn des 4. Jahrhunderts hervorstachen, die Christenverfolgung wurde nicht nur 312 beendet, das Datum markiert auch den Weg des Christentums zur Staatsreligion am Ende des 4. Jahrhunderts. Kaiser Diokletian hatte das Herrschaftssystem der Tetrarchie[120] begründet und das Reich unter
[112] Orthbandt, Eberhard: Deutsche Geschichte. Baden-Baden 1955 S. 79
[113] ebd. S. 82
[114] ebd. S. 81
[115] ebd. S. 84
[116] Heuss, Alfred: Römische Geschichte: Braunschweig 1960. S. 435
[117] ebd. S. 435
[118] ebd. S. 435
[119] ebd. S. 446
[120] ebd. S. 436
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vier Kaisern aufgeteilt mit einem jeweiligen Herrschaftsbereich. Mit dem Ende der Herrschaft Diokletians 306 begannen die Machtkämpfe im Westen zwischen den Kaisern Konstantin und Maxentius. Der Kampf wurde 312 in der Schacht an der Mulvischen Brücke in der Nähe Roms entschieden. Konstantin, so wird berichtet, habe vorher in einer Vision das Christuskreuz erblickt, in der ihm verheißen wurde; „In diesem Zeichen wirst du siegen“. Der Sieg brachte Konstantin die Alleinherrschaft über den Westteil des Reiches mit Rom als Zentrum. Im Osten schwang sich Kaiser Licinius (308-325) zum Alleinherrscher über den Ostteil des Reiches auf. Die letzte Entscheidung fiel 324/25 in dem Ringen zwischen Konstantin und Licinius, nachdem Sieg über Licinius war Konstantin Alleinherrscher über das Riesenreich.[121] Die Zeiten der Alleinherrschaft währten immer nur kurze Zeit. Konstantin von 324.337, Constantius von 353-360, Julian von 361-363 und Theodosisus der Große von 394/95.[122]
Im 5. Jahrhundert überrannten die verschiedenen Germanenstämme den Westen des Reiches, die Angelsachsen Britannien, die Franken Gallien, die Westgoten Spanien, die Vandalen Nordafrika und die Ostgoten Italien. Das oströmische Reich blieb noch fast tausend Jahre mit der Hauptstadt Konstantinopel erhalten. Römer, die dem Heidentum verhaftet blieben, sahen die Gründe für den Niedergang in dem Abfall von den Göttern, die nach ihrem Verständnis das Römische Reich zu seiner Größe geführt hatten. Ein Grund, warum Kaiser Julian noch einmal den Versuch unternahm, dem heidnischen Glauben wieder Geltung zu verschaffen, was aber misslang. Das rief die christlichen Apologeten (Verteidiger) auf den Plan, zu denen Augustinus (354-430) als der wirkmächtigste angesehen werden muss. Er trat in einem umfassenden Werk „Vom Gottesstaat“ heidnischen Anklagen entgegen. Dieses Werk kann auch als Ausgangspunkt angesehen werden für spätere theologische Gedankengebäude in der Kirchengeschichte.[123] Das Ende des Römischen Reiches war zugleich auch der Ausgangspunkt für Europas zukünftige Geschichte, was Christentum, Staats-und Geschichtsverständnis betrifft.
Das Römische Reich war christlich geworden, daraus ergibt sich die Frage in welchem Verhältnis standen die ebenfalls aus dem Heidentum hervorgegangenen Germanenstämme zum christlichen Glauben, die immer tiefer in den Westen des Reiches eingedrungen waren, und es schließlich überwanden. Die Germanenstämme waren zum selben Zeitraum wie die Römer für das Christentum gewonnen worden, hatten sich aber dem Arianismus zugewandt, was in den von Germanen errichteten Reichen auf dem Territorium des Weströmischen Reiches zu Konflikten der germanischen Oberschicht mit der herkömmlichen römischen Bevölkerung führte, die dem auf die Theologie des Athanasius begründeten katholischen Glauben angehörten.Der Streit dieser beiden theologischen Richtungen und sein Ausgang zeigen den Weg, den die nachfolgende Kirchengeschichte genommen hat. Um eine Klärung herbeizuführen berief
[121] Heuss, Alfred: Römische Geschichte. S. 449
[122] ebd. 438
[123] Augustinus, Aurelius: Vom Gottesstaat. Vollständige Ausgabe in zwei Bänden von Wilhelm Thimme. Zürich 1955
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Kaiser Konstantin 325 ein Konzil nach Nicäa ein, das gleichzeitig als das erste Kirchenkonzil überhaupt angesehen werden kann. Der Kaiser verfolgte das Ziel neben einem einheitlichen Reich auch einen einheitlichen Glauben und Glaubensdogma herbeizuführen. Er verstand sich als geistliches Oberhaupt, als Schiedsrichter in den vielfältigen widerstreitenden Lehrmeinungen. Er wollte der gemeinsame Bischof und Vermittler sein. Von der urchristlichen Gemeinde hatte sich die Kirche entfernt. Es begann ein Machtkampf in der Kirche selbst, eine Vermischung von Gottesdienst und Staatsdienst, von selbstloser Hingabe an den Erlöser und Machtansprüchen der Geistlichkeit, von Glaubenseinfalt und Dogma.[124]
Ein Streit rückte in Nicäa in den Vordergrund, er war der eigentliche Anlass zur Einberufung des Konzils, ausgelöst wurde der Streit durch Arius, Presbyter in Alexandria, der sich fast über das ganze 4. Jahrhundert erstreckte, und der für die gesamte Christenheit zu einer Existenzfrage hätte werden können und daher einer Entscheidung bedurfte. Arius behauptete, dass Christus nicht Gott gleich sei, sondern ein ethisch besonders hochstehender Mensch sei, der aus eigenem freiem Willen gut geblieben sei. Wäre diese Lehre unwidersprochen hingenommen worden, hätte es den Kern der christlichen Botschaft in Frage gestellt und im Gegensatz zu eindeutigen Aussagen des christlichen Kanons der Heiligen Schrift gestanden. Arius wurde von seinem Bischof exkommuniziert. Wortführer gegen ihn war Athanasius, ebenfalls ein Presbyter in Alexandria.lehrte, Christus und Gott seien eins, und somit eine Einheit.[125] Über das ganze Johannesevangelium hinweg ist die Beziehung von Gott dem Sohn und Gott dem Vater eindeutig ausführlich definiert. Im Evangelium des Johannes Kapitel 10, Vers 30 steht übereinstimmend in allen Übersetzungen der Satz: Ich und der Vater sind eins. Im Brief des Apostel Paulus an die Kolosser Kapitel 1, Verse 14 – 17 steht geschrieben: (14) In diesem haben wir die Erlösung, nämlich die Vergebung der Sünden; (15) er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller (= der ganzen***) Schöpfung; (16) denn in ihm (d. h. durch seine Vermittlung) ist alles geschaffen worden, was im Himmel und auf der Erde ist, das Sichtbare wie das Unsichtbare, mögen es Throne oder Herrschaften, Mächte oder Gewalten sein; alles ist durch ihn und für ihn geschaffen worden, (17) und er ist vor allem (=steht über allem) und alles (oder: das ganze Weltall) hat in ihm seinen Bestand. *** a. Ü. der Erstgeborene vor allem Geschaffenen. [126]Das Konzil zu Nicäa brachte ein Ergebnis, es entschied sich für die von Athanasius vertretene Theologie, die auch von Kaiser Konstantin gestützt wurde. Athanasius war eine geistesmächtige, entschlossene Persönlichkeit ohne Rücksichtnahme auf den hierarchischen Aufbau von Staat, Kirche und Gesellschaft.[127] Herausgekommen war das Nicäische Apostolikum als Glaubensbekenntnis, über das noch nicht endgültig entschieden worden war, denn Konstantin war nach dem Konzil schwankend geworden, und schenkte einige Jahre später wieder den Arianern Gehör, was für Athanasius Verbannung und Exil bedeutete.[128] Die Entscheidung für das Nicänische Apostolikum fiel endgültig auf dem Konzil in Konstantinopel 381. Das Nicänische Glaubensbekenntnis bildete im Verlaufe der Kirchengeschichte einen Konsens über die Konfessions-und Denominationsgrenzen hinweg. Bei rationaler Betrachtung, gestützt besonders auf das Johannesevangelium, ist ein anderer Ausweg gar nicht möglich. Wäre Jesus Christus Mensch gewesen, wenn auch ethisch hochstehend und über alles herausragend, dann wäre die Erlösung der Schöpfung und der Menschheit in die Hände eines Menschen gelegt, bei wohlwollender Betrachtung eines mit Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart ausgestatteten Gottes, was schon zur Vernunft, mit der jeder Mensch ausgestattet ist, im Widerspruch steht.
[124] Orthbandt, Erberhard: Lebenslauf des deutschen Volkes. Werdegang des deutschen Reiches. Baden Baden 1955 S. 85 f
[125] ebd. S. 85
[126] Übersetzung nach Herrmann Menge (ev.)
[127] Orthbandt, Eberhard: Werdegang des Deutschen Reiches. S. 86
[128] ebd. S. 86
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Ebenso gilt als zweite Voraussetzung, dass Jesus Christus Mensch war ohne Einschränkung, ausgestattet mit allem, was den Menschen ausmacht im Denken und Empfindungen mit dem Unterschied, dass keine Vergehen oder Fehlleistungen bei ihm gefunden werden konnten. Als am Kreuz die Nägel in Hände und Füße getrieben wurden, hat er es empfunden, wie jeder andere Mensch und Erdenbürger es auch empfinden würde. Darüber hinaus leidet er in und mit jedem Menschen und aller Kreatur und der gesamten Schöpfung. Darum heißt es in dem 2. Brief des Apostels Paulus an die Korinther Kapitel 5, Verse 19 und 21: (19) Denn Gott war in Christo, und versöhnte die Welt mit ihm selber, und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu, und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. (21) Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.[129]
Das Bekenntnis von Nicäa wurde vom ersten Konzil von Nicäa 325, dem ersten ökumenischen Konzil herausgegeben. Es ist nicht zu verwechseln mit dem bekannteren und nahe verwandten Nicäno – Konstantinopolitanum, dem Bekenntnis des ersten Konzils von Konstantinopel, das ebenfalls oft als Nicänisches Glaubensbekenntnis oder Nizänisches Glaubensbekenntnis bezeichnet wird.
Das Erste Konzil von Konstantinopel (das 2. ökumenische Konzil) wurde von Kaiser Theodosius im Jahre 381 einberufen, um den seit 325 andauernden Streit und die drohende Glaubensspaltung zwischen Trinitariern und Arianern zu lösen.
in Latein:
Credimus in unum Deum,
Patrem omnipoténtem,
omnium visibílium et invisibílium factorem.
Et in unum Dóminum nostrum Iesum Christum,
Fílium Dei,
natum ex Patre unigenitum.
hoc est de substantia Patris,
Deum ex Deo, lumen ex lúmine, Deum verum de Deo vero,
natum, non factum, unius substantiae cum Patre (quod graece dicunt homousion):
per quem ómnia facta sunt, quae in caelo et in terra,
qui propter nostram salútem descéndit,
incarnátus est et homo factus est,
et passus est,
et resurréxit tértia die,
et ascéndit in cælos,
ventúrus iudicáre vivos et mórtuos,
Et in Spíritum Sanctum.
Eos autem qui dicunt "Erat quando non erat" :
et "Antequam nasceretur, non erat" :
et "Quod de non exstantibus factus est" :
vel alia substania aut essentia dicentes
aut convertibilem aut demutabilem Deum <Filium Dei>,
hos anathematizat cahtolica Ecclesia
in deutscher Übersetzung:
Wir glauben an den einen Gott,
den Vater, den Allmächtigen,
den Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren.
[129] Revidierte Übersetzung nach Martin Luther. Stuttgart 1954
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Und an den einen Herrn Jesus Christus,
den Sohn Gottes,
der als Einziggeborener aus dem Vater gezeugt ist, das heißt: aus dem Wesen des Vaters,
Gott aus Gott, Licht aus Licht,
wahrer Gott aus wahrem Gott,
gezeugt, nicht geschaffen,
eines Wesens mit dem Vater (homoousion to patri);
durch den alles geworden ist, was im Himmel und was auf Erden ist;
der für uns Menschen und wegen unseres Heils herabgestiegen und Fleisch geworden ist,
Mensch geworden ist,
gelitten hat und am dritten Tage auferstanden ist,
aufgestiegen ist zum Himmel,
kommen wird um die Lebenden und die Toten zu richten;
Und an den Heiligen Geist.
Diejenigen aber, die da sagen „es gab eine Zeit, da er nicht war“
und „er war nicht, bevor er gezeugt wurde“,
und er sei aus dem Nichtseienden geworden,
oder die sagen, der Sohn Gottes stamme aus einer anderen Hypostase oder Wesenheit,
oder er sei geschaffen oder wandelbar oder veränderbar,
die verdammt die katholische Kirche. [richtig: die belegt die katholische Kirche mit dem Anathema]
Nicäno-Konstantinopolitanum:
Credo in unum Deum, passus et sepultus est, |
Wir[2] glauben an den
einen Gott,
|
Textvergleich
Trotz ungesicherter Textgeschichte steht das Nicäno-Konstantinopolitanum in engem Zusammenhang mit dem Bekenntnis von Nicäa. Zum genauen Vergleich werden die beiden Texte gegenübergestellt (mit den Streichungen und Ergänzungen). (Aus Wikipedia)
Mit diesen Beiden Bekenntnissen wurde der Weg aufgezeigt für die christliche Gemeinde über Konfessions-und Denominationsgrenzen hinweg, der unverändert Bestand haben sollte für alle Zeiten der nachfolgenden Kirchengeschichte.
Damit war eine Säule errichtet, auf den sich der christliche Glaube gründete, unabhängig von den vielen Gegensätzen und Kämpfen, von den die Kirchengeschichte in oft unerfreulicher schrecklicher Weise Zeugnis gibt. Die zweite Säule wird gebildet durch die Theologie Aurelius Augustins, der mit seinem Werk „Vom Gottesstaat“, den Ausgangspunkt und das Vorbild schuf, auf das spätere umfangreichere theologische Werke sich gründeten, ebenfalls konfessions-und denominationsübergreifend.
Einige Kernaussagen dieses Werkes und zu diesem Werk, die einen Einblick gewähren:
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Im August 410 erstürmten unter Führung ihres Königs Alarichs die Westgoten Rom und plünderten es drei Tage lang. Ein solches Ereignis hatte zuletzt vor annähernd 800 Jahren stattgefunden. 387 v. Chr. hatten die Kelten Rom erobert. Entsprechend war das Entsetzen auch außerhalb der Stadt im Römischen Reich. Augustin erfuhr davon, als er das Amt des Bischofs in der afrikanischen Stadt Hippo innehatte. „Furchtbares ist uns gemeldet worden“, äußerste er in einer Predigt, „eine Katastrophe ist hereingebrochen, Brand und Raub, Mord und Totschlag. Es ist wahr. Was mussten wir nicht hören? Wie oft haben wir geseufzt, wie oft bitterlich geweint. Kaum konnten wir Trost finden.“[130] Es gab nicht nur Klagen, Vorwürfe wurden geäußert, nicht gegen den schwachen Kaiser Honorius, der den Germanen Stilicho durch eine Intrige umbringen ließ, eine starke Herrscherpersönlichkeit, der das bedrohte Reich zusammengehalten, und vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. Alarich und Stilicho waren Christen, und die von ihnen befehligten Germanenverbände gehörten dem Bekenntnis des Arius an. Die Christen im Römischen Reich waren ratlos und gerieten in Zweifel. Zugleich begehrten die Heiden auf, die verblieben waren, nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war. Ihnen war der Kult durch die Gesetzgebung der letzten Kaiser Gratian, Valentinian II. und Honorius verwehrt worden. Jetzt sahen die Heiden ihre Stunde gekommen, sie erhoben Anklage und Vorwürfe mit dem Hinweis auf den Zorn der Götter, weil ihre Tempel geschlossen, ihre Statuen zerstört und ihre Opferfest verboten worden waren. Viktoria, die Siegesgöttin, die Kaiser Augustus im Senatssaal aufgestellt hatte, war weggeschafft worden.[131] Die Plünderung Roms war der Anlass für Heiden, den Gott der Christen zu lästern.[132] Dieses heidnische Aufbegehren bewog Augustin, die Bücher vom Gottesstaat zu schreiben, was ihn mit Unterbrechungen in der Zeit von 412 bis 426 beschäftigte.
Er selbst schreibt dazu: „Dieses Werk beschäftigte mich eine Reihe von Jahren, denn es kam vieles andere dazwischen, was sich nicht aufschieben ließ und erst erledigt sein wollte. Aber endlich ward dieses umfangreiche Werk in 22 Bänden angeschlossen. Die ersten fünf Bände weisen diejenigen zurecht, die der Ansicht sind, der Dienst der vielen von den Heiden verehrten Göttern sei zum Gedeihen der menschlichen Verhältnisse nötig, und die behaupten, die Verhinderung dieses Dienstes sei am gegenwärtigen schrecklichen Unglück Schuld. Die fünf folgenden Bücher wenden sich gegen die, welche wohl zugeben, dass dergleichen Missgeschick, bald schwerer bald leichter und nach Ort, Zeit und Personen wechselnd, von jeher die sterblichen traf und künftig treffen wird, die aber versichern, der Opferdienst der vielen Götter sei wegen des künftigen Lebens nach dem Tode empfehlenswert. In diesen zehn Büchern also werden die beiden erwähnten, der christlichen Religion widerstrebenden Meinungen widerlegt. Doch damit niemand uns vorwerfe, wir hätten nur fremde Ansichten zurückgewiesen, nicht die eigenen bekräftigt, greift der zweite, zwölf Bücher umfassende Teil des Werkes, auch diese Aufgabe an. Die ersten vier Bücher der zweiten Hälfte handeln vom Ursprung der beiden Staaten, nämlich vom Staate Gottes und dem dieser Welt, die zweiten vier von ihrem Ablauf oder Verlauf, die letzten vier von ihrem gebührenden Ausgang. Sämtliche 22 Bücher aber wurden, obwohl sie beide Staaten beschreiben, nach dem besseren von ihnen benannt, erhielten also den Titel vom Gottesstaat.[133]
Civitas Dei (Gottesstaat) steht im Gegensatz zum civitas terrena (irdischer Staat). Der Begriff civitas terrena wird von Augustin durchweg in geringschätzig abwertenden Sinne gebracht. Es ist nicht der bürgerliche Staat als solcher gemeint, sondern der im Sündenstand befindliche, also nicht von Natur, sondern infolge der Verderbnis der Natur sündige und böse Staat. Die deutsche Übersetzung „irdischer Staat“, „Weltstaat“ lässt diesen dunklen Ton nicht anklingen. Wäre er nicht sprachlich schwerfällig, sollte man civitas terrena immer mit „irdisch gesinnter Staat“ wiedergeben.[134] Augustinus lässt einen Unterschied erkennen und beschreibt wie
[130] Zitiert in Augustinus, Aurelius: Vom Gottesstaat. Band I vollstaändige Ausgabe, eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimme. Zürich 1955 S. 7
[131] ebd. S. 7
[132] ebd. S. 8
[133] zitiert in Augustinus: Vom Gottesstaat. Band I S. 8
[134] ebd. Band II S. 843
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heilsam der christlich gedachte Staat sich darstellt und schreibt: „Dass nun die Menschen von dem höllischen Joch dieser unreinen Mächte und dem Schicksal mit ihnen verdammt zu werden, durch den Namen Christi gerettet und aus der Nacht verderblichster Gottlosigkeit in das Licht heilsamer Gottesfurcht versetzt werden, darüber beklagen sich und murren die schlechten, undankbaren und von jenem sündigen Geiste zutiefst besessenen und geknebelten Leute. Denn sie müssen sehen, wie die Massen zu keuscher Feier, in ehrbarer Trennung der Geschlechter, sich in der Kirche versammeln, wo sie hören, dass man hier zeitlich fromm leben muss, um nach diesem Leben das selige, immerwährende Leben zu erlangen, wo die Heilige Schrift und die Lehre von der Gerechtigkeit von erhöhtem Platze vor der ganzen Gemeinde schallen verkündigt wird, den Hörern, die danach tun, zum Heil, denen, die nicht danach tun, zum Gericht.[135] Mit Leidenschaft verficht Augustinus die Idee von einem christlich geprägten Gottesstaat und fordert auf zur Abkehr vom polytheistischen Götterglauben: Frag du nichts nach den falschen und trügerischen Göttern! Wirf sie weg, verachte sie, schwing dich auf zur wahren Freiheit![136] Im historischen Rückblick zeigt sich, dass die von Augustinus entwickelten Idealvorstellungen vom Gottesstaat sich in Geschichte und Kirchengeschichte nicht verwirklicht haben.
Der Philosoph Karl Jaspers (1883-1969) sieht in Platon, Augustin und Kant drei herausragende Denker der Philosophiegeschichte.[137] Der Weg, den Augustin geht, ist ein Weg von der Philosophie zur Glaubenserkenntnis,[138] was ihn gemeinhin von der übrigen Philosophiegeschichte abhebt. Augustins Denken ist begründet in seiner Bekehrung. Dem Kinde waren christliche Motive durch seine Mutter Monica nahegebracht, während zugleich Erziehung und Zielsetzung vom Vater bestimmt wurden und zur heidnischen Überlieferung hinführten. Dieses Leben brachte ihn die Lust des Daseins, erfüllt mit Angeboten der Sinnlichkeit. Der philosophische Weg, auf den er geriet, erschloss ihm den Neuplatonismus Plotins. Die Bekehrung brachte die entscheidende Wende durch ein Wort Heiliger Schrift, das ihn wie ein übersinnlicher Befehl erreichte. Es war eine Stelle, wo es durch den Apostel Paulus heißt: „…ziehet den Herrn Jesus Christus an, und pfleget nicht des Fleisches in seinen Lüsten“. Am Schluss dieses Satzes, so schildert es Augustin, „strömte das Licht der Sicherheit in mein Herz ein“. Die Bekehrung ist die Voraussetzung Augustinischen Denkens,[139] In der Bekehrung erst wird der Glaube gewiss, der durch nichts absichtlich erzwungen, durch keine Lehre mitgeteilt werden kann, sondern in ihr von Gott geschenkt wird. Damit war der Boden bereitet, mit dem die Denkungsart eine Wandlung erfuhr, die ihn zur Kirche und Bibel führte, nicht durch Einsicht und guten Willen, sondern durch die unerschütterliche Fraglosigkeit, die erfahren wurde durch Gott selbst gewirkt. Es war nicht ein philosophischer
[135] Augustinus: Vom Gottestaat S. 148 f
[136] ebd. S. 150
[137] Jaspers, Karl: Plato Augustin Kant. Drei Gründer des Philosophierens. München 1957
[138] ebd. S. 102
[139] ebd. S. 103 f
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Denkprozess, sondern ein biographisch datierbarer Augenblick, der in das Leben einbricht, und es neu begründet. Die philosophische Dogmatik wird kirchliche Dogmatik. Augustin vollzieht alle Möglichkeiten, im Denken Gott zu berühren. Aber diese Gedanken wurden zusammengehalten durch die Autorität, nicht durch ein philosophisches Prinzip.[140] Der biblische Gott Augustins ist wirksamer Wille, der sich seinerseits dem Menschen zuwendet. Der Neuplatoniker Plotin, dessen Philosophie eine Anziehung auf Augustin ausgeübt hatte, betet nicht. Beten dagegen ist das Lebenszentrum Augustins, und das Wesen dieses Glaubens wird klarer in der Rechtfertigung gegen die Angriffe der Heiden, die nach der Eroberung Roms 410 durch Alarich den Vorwurf erhoben, das Unheil sei durch das Verlassen der alten Götter bewirkt worden. In Augustins Schriften ist ein Prozess des Hineinwachsens zu jener gewaltigen Totalität christlicher, katholischer, kirchlicher Existenz, die mit und durch ihn im Abendland die geistige Macht eines Jahrtausends wurde. Seine Lehre vom freien Willen geht fast ganz in der Gnadenlehre verloren. Wohl ist die Seligkeit nur in der liebenden Erkenntnis Gottes zu finden, aber diese Seligkeit gehört doch erst einem zukünftigen Leben an, und der einzige Weg dahin ist Christus. Die Geltung der Philosophie hat aufgehört. Das biblisch theologische Denken bleibt das allein wesentliche.[141] Augustin denkt alles im Blick auf Gott, für ihn besteht das von Gott Unabhängige gar nicht. Diese Augustinische Geborgenheit ist anders als die philosophische Selbstgewissheit.[142] Die Bibel war für ihn die Sprache der Offenbarung, in der alle Wahrheit sich gründete, Der philosophische Gedanke der Transzendenz wurde erfüllt durch den biblischen Gottesgedanken, aus der Spekulation war lebendige Gegenwart geworden. Die schönsten philosophischen Sätze verblassen vor einem Psalmenwort.[143] Die Transzendenz als philosophischer Begriff deutet ein Denken, das nicht aus der Erfahrung hergeleitet werden kann, das aber aufgehoben wird durch die Erfahrung der Offenbarung Gottes.
Schon zu Lebzeiten Augustins ging der Westen des Römischen Reiches seinem Ende entgegen. Seine staatliche Existenz wurde durch das Eindringen der verschiedenen Germanenstämme in das gesamte Gebiet aufgelöst. Zwei Säulen hatten es an seinem Ende getragen: Die Kaiser, die es im Verlauf des 4. Jahrhundert, dem Christentum unterworfen hatten, als staatliche weltliche Macht und die Kirche mit dem Papst an der Spitzes als geistliche Macht. Die geistliche Macht überdauerte die staatliche Macht nach ihrem Zerfall.
Mit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion im 4. Jahrhundert begann eine neue Entwicklung, von der Kirchengeschichte und Christenheit in seiner Tiefe und Ausbreitung durchzogen sind. Als die Christen nicht mehr jene kleine Herde waren, als die sie im Evangelium bezeichnet wird, änderte sich die Lage grundlegend. Mit der ständigen Vergrößerung der Mitgliederzahl bis hin zur Volkskirche, ließ sich das hohe Niveau der Sittlichkeit nicht aufrechterhalten, es zeigte sich eine sichtliche Erweichung im ethischen Bereich, insbesondere als Kaiser Konstantin die Schleusen öffnete und die breiten Volksmassen aus bloßen Konjunkturgründen den Raum der Kirche füllten, war es um das überragende Ethos geschehen, die es in der Zeit der Verfolgung besessen hatte.[144] Zwei Geistesströmungen, die auf sittliche Strenge Acht gaben, belegen Versuche, die Kirche zu ihrem Ursprung zurückzuführen, um eine Verflachung abzuwehren. Bereits um 170 begann die Bewegung der Montanisten, die eine Rückkehr zum Enthusiasmus
[140] Jaspers, Karl: Plato Augustin Kant S. 104 f
[141] ebd. S. 108
[142] ebd. S. 113
[143] ebd. S. 117
[144] Nigg, Walter: Das Buch der Ketzer. Zürich 1949. S. 107
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der ersten Christen, dem Urchristentum, anstrebten.[145] Als die Verfolgung der Christen ab 312 ein Ende gefunden hatte, drängten die Christen, die in der Zeit der Verfolgung Kompromisse eingegangen waren, um den Weg in das Martyrium zu umgehen, zurück in die Kirche, in der eine Spaltung entstand um die Frage, ob jene, die in der Zeit der Verfolgung Schwäche gezeigt hatten, wiederaufgenommen werden sollten. Die Donatisten widersetzten sich einer Wiederaufnahme, womit die Gefahr einer Kirchenspaltung bedrohliche Ausmaße angenommen hatte. Das Aufbegehren war im Wesentlichen auf den Westen Nordafrikas begrenzt, fiel aber in den Wirkungsbereich von Augustin, dem Bischof von Hippo. Die Anhänger des Donatus erfuhren von seiner Seite harte Verfolgungsmaßnahmen. Ein erstaunlicher Vorgang, da Augustin selbst ein strenges Kirchenregiment befürwortete, aber es drohte eine Kirchenspaltung, die es zu verhindern galt. Der Erhalt der Einheitskirche hatte Priorität. Die Christenheit stand vor der Frage, ob sie sich zur früheren Status der ersten Christen, der als heilige Gemeinde eine Vorbildfunktion zugeschrieben wurde, oder eine Angleichung an ein weltliches Getriebe vollziehen sollte. Nach innerem Ringen fiel die Entscheidung für die zweite Möglichkeit, da die inneren Machtverhältnisse im Römischen Reich keine andere Wahl zuließen.[146]
Diese kirchengeschichtlichen Ereignisse markieren ebenfalls einen Blick in die Zukunft. Mit diesen Schilderungen ist ein weiterer Weg vorgezeichnet, den die Kirche in ihrer Geschichte im Verlaufe von zweitausend Jahren gegangen ist. Die große Herausforderung für Christentum, seinem Glauben in unterschiedlichen Variationen, besteht in der Identität von Dogma und Ethik. Richtiges Dogma kann an mangelnder Ethik scheitern, richtige und gute Ethik kann scheitern an dogmatischer Unzulänglichkeit.
Der Kampf gegen „Häresien“ begann schon im Frühstadium der Kirche, die aus den ersten Christengemeinden hervorgegangen war. Häresie bedeutet ein Abweichen der Glaubensauffassung von der offiziellen Kirchenlehre. Im Verlaufe der Kirchengeschichte entstand der Begriff „Ketzer“. Die Kirche teilte die Ketzer ein in drei Gruppen, Apostaten (Abgefallene), Schismatiker (von Schisma=Spaltung) und Irrlehrer. Ob diese Einteilung allen Nuancen der Häresie gerecht wird, bleibt fraglich.[147] In der katholischen Kirche gilt als offizielle Kirchenlehre, was vom Papst „ex cathedra“ (unfehlbar) verkündet wird. Nur dann gilt der Papst als unfehlbar, wenn er eine Lehre verkündet. Das Bekenntnis von Nicäa (325) und das darauf zurückzuführende Bekenntnis von Konstantinopel (381) sind die unabdingbaren Glaubensbekenntnisse, ein Abweichen davon raubt der Botschaft des Evangeliums jeglichen Sinn. Diese beiden Bekenntnisse haben denn auch über alle Konfessions-und Denominationsgrenzen hinweg verbindliche Anerkennung gefunden, das Bekenntnis von Konstantinopel allerdings schon mit einer Einschränkung. Wenn ein Mensch offen bekennt, er könne das nicht glauben, so besteht ein Unterschied zu einem Menschen, der bewusst die Willensentscheidung der Ablehnung vollzieht. In dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom in Kapitel 14, Vers 1, wo in verschiedenen Übersetzungen ein Bild vermittelt wird, heißt es dazu: (1) Den Schwachen im Glauben nehmt an und streitet nicht über Meinungen.[148] In einer katholischen Übersetzung nach Kürzinger: (1) Den Schwachen im Glauben nehmt an ohne Streit der Meinungsverschiedenheiten! Das gleiche Thema findet sich in Kapitel 15, Vers 1 (1) in der katholischen Übersetzung nach Storr: Wir nun, die Starken, müssen die Gebrechen der Schwachen tragen, doch ohne Selbstgefälligkeit. Und in Luthers revidierter Übersetzung von 1984: (1) Wir aber, die wir stark sind sollen das Unvermögen der Schwachen tragen und nicht Gefallen an uns selber haben.
Diese Feststellungen sind wichtig, damit nicht in leichtfertiger Weise Menschen vom Evangelium ferngehalten werden.
Mit dem Ende des weströmischen Reiches begann die Germanenherrschaft der verschiedenen Stämme, die sich über das gesamte Gebiet ausbreiteten, und ebenfalls zum Ende des Römischen Reiches in seinem Westteil sich dem Christentum zugewandt hatten,
[145] Nigg, Walter: Das Buch der Ketzer. S. 107
[146] ebd. S. 111
[147] ebd. S. 92
[148] revidierte Übersetzung nach Luther 1984
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allerdings mehrheitlich zur Glaubensrichtung der von Arius vertretenen theologischen Auffassung. Hervorgehoben werden muss hier die Leistung des Gotenbischofs Wulfila (311-383), ihm muss ein wesentliches Verdienst zugeschrieben werden, dass neben den Westgoten, die geschlossen zum Christentum übertraten, auch die Ostgoten, Vandalen, Langobarden, Markomannen, Burgunden, Heruler und Rugier vom arianisch-germanischen Christentum erfasst und durchdrungen wurden. Als Arianer unterstanden sie nicht dem Herrschaftsbereich Roms, sondern Konstantinopels. Wulfila selber vertrat eine andere Christologie als Arius, dennoch verblieben nicht nur die Goten bei der Lehre des Arius, was zu Konflikten zwischen der jeweiligen germanischen Oberschicht und der ansässigen Bevölkerung führte, die dem katholischen Glauben anhing. Wulfila konnte mit einer besonders herausragenden Leistung aufwarten: Er schuf, indem er die Bibel ins Gotische übersetzte, eine gotische Schriftsprache und ein gesondertes dazugehöriges Alphabet, die so auch von anderen Germanenvölkern gelesen wurde. Als erster Germane hatte er es unternommen, eine bisher nur gesprochene Sprache in Schriftzüge zu übertragen. Von Wulfilas Übersetzung der Heiligen Schrift sind viele Abschriften angefertigt worden, aber nur wenige dieser Abschriften sind erhalten. Eine davon in Silberbuchstaben auf purpurgefärbten Pergament geschrieben, die in der Universitätsbibliothek in Uppsala in Schweden aufbewahrt wird.[149]
Einige germanische Herrscherpersönlichkeiten sollen in Zusammenhang mit diesem geschilderten anfänglichen Verlauf einer Betrachtung unterzogen werden. Alarich wurde schon erwähnt. Ein weiterer Name kann hinzugezogen werden, der Name Stilicho und was Alarich und Stilicho verbindet, beide waren Teil der römischen Geschichte geworden. Alarich sicherte sich 395 die Herrschaft über das Gesamtvolk der Westgoten, das bis dahin in einzelne Fürstentümer aufgespalten war. Das römische Imperium war in eine verworrene Lage geraten, die Alarichs Absichten begünstigten. Theodosius der Große hatte am Ende des 4. Jahrhunderts noch einmal das ganze Imperium beherrscht. Nach seinem Tod zerfiel es endgültig in zwei Hälften. In beiden Reichshälften regierte ein Sohn von ihm, im Osten Arcadius, im Westen war der elfjährige Sohn Honorius auf den Thron gelangt. Der eigentliche Regent im Namen des Honorius war der Vandale Stilicho, Oberbefehlshaber über die weströmische Armee. Eine genaue Grenzziehung zwischen beiden Imperien war noch nicht erfolgt, so waren Alarichs Westgoten zwischen Ostrom und Westrom eingeklemmt. Alarich führte sein Heer zunächst gegen Ostrom, fiel in Griechenland ein und verheerte das Land. Stilicho bot der Regierung in Byzanz militärische Hilfe, die aber abgelehnt wurde. Ostrom einigte sich schließlich mit Alarich und verlieh ihm 399 Rang und Titel eines Oberbefehlshabers über fast die ganze Balkanhalbinsel. Damit waren die Beziehungen zwischen Byzanz und den Westgoten geordnet und geregelt, nicht aber das Verhältnis zum weströmischen Imperium. Ein Druck von weströmischer Seite blieb also bestehen, was in Alarich den Entschluss zur Reife brachte, sich gegen die Weströmer zu wenden, bei Aquileja kam es im Winter 401 zur ersten Schlacht. In wechselvollen Kämpfen konnte aber keine Entscheidung herbeigeführt werden. Alarich und Stilicho einigten sich daraufhin gütlich und schlossen ein Abkommen. Alarich führte sein Heer zurück auf den Balkan, und seine Herrschaft dort wurde auch von Westrom anerkannt, so schien allen Kontrahänden genüge getan. 407 verhandelte Stilicho erneut mit Alarich über ein gemeinsames Vorgehen. Da entspann sich am Hofe des Honorius eine Intrige gegen Stilicho, die 408 zu seiner Ermordung führte. Er hatte bis dahin den Westen des Imperiums zusammengehalten und sich redlich bemüht, seinen Zerfall zu verhindern. Er zeigte die Fähigkeit zum Ausgleich zwischen Römern und Germanen, und
[149] Orthbandt, Eberhard: Lebenslauf des deutschen Volkes. S. 86 f
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daher den einzigen Ausweg für den Zusammenhalt des Imperiums. Alarich fühlte sich hintergangen und eroberte 410 Rom, das bis dahin für unbesiegbar gegolten hatte. Er setzte den Senator Attalus als Imperator ein, und zwang ihn gleichzeitig, das arianische Glaubensbekenntnis anzunehmen, womit er sich in Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche brachte. Alarich starb in Unteritalien, von wo aus er nach Afrika übersetzen wollte. Sein Nachfolger Athaulf, der die Überlegung hegte, eine von Römern unabhängiges Gotenreich zu errichten, nahm aber Abstand von solchen Plänen und bemühte sich um Ausgleich zwischen Goten und Römern.[150] Die Goten gingen nach dem Ende Alarichs erneut auf Wanderschaft nach Südgallien und von dort nach Spanien, wo die Herrschaft der Westgoten 711 ein Ende fand, und Spanien unter Herrschaft der Mauren geriet. Um 430 waren die Vandalen von Spanien aus nach Nordafrika eingedrungen und errichteten dort ihre Herrschaft, bis sie von Belisar, dem oströmischen Feldherrn Kaiser Justinians I. (483-565) 533 in zwei Schlachten vernichtend geschlagen wurden. Kaiser Justinian war die letzte bedeutende Herrscherpersönlichkeit der Spätantike. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, das römische Imperium in seiner alten Größe wiederherzustellen. Von Nordafrika und dem Balkan aus drangen die oströmischen Heere nach Italien ein, was die Gotenkriege auslöste, die von 535 bis 554 mit wechselndem Erfolg geführt wurden.
Die Betrachtung des Zeitraumes von der Endphase des Römischen Reiches bis zur Herrschaft Karls des Großen von 768 bis 814 ist von besonderer Wichtigkeit, da in dieser Zeit die entscheidende Weichenstellung erfolgte für die europäische Geschichte bis in die jüngste Vergangenheit und unmittelbare Gegenwart.
Die nationalsozialistische Ideologie, die 1933 zur absoluten Herrschaft gelangte, meinte aus dem genannten Zeitraum Geschichtsbewusstsein herleiten zu können, und hielt ihn für geeignet zur Stiftung einer Identität, der sich auf eine germanische Rasse gründen sollte. Ein solches Verständnis, wie sie der Nationalsozialismus zu vermitteln suchte, weist keine Gemeinsamkeiten zur wirklichen Entwicklung der Zeit; allein die Huldigung durch Handaufheben, wie sie der „Führer“ Hitler von den Massen entgegennahm, erinnert eher an den Kaiserkult der römischen Cäsaren, der den Germanen sicher fremd war. Die Germanen öffneten den Weg für das Christentum zu einer beherrschenden Stellung. Der Begriff „Rasse“ ist in der Heiligen Schrift des hebräischen und christlichen Kanons von der ersten bis zur letzten Seite nicht ein einziges Mal zu finden. Die römisch-katholische Kirche überstand die Zeit eines ungewöhnlichen Umbruchs und festigte sogar noch ihre Herrschaft und Bedeutung, ein Umbruch, der zugleich den Übergang von der Antike zum Mittelalter darstellt, der aber auch Kontinuitäten aufweist. Der Beginn der Völkerwanderung um 375, ausgelöst durch das Reitervolk der Hunnen, die unter ihrem Führer Attila nach Europa eingefallen waren und die Germanenvölker von Osten her unter Druck gesetzt und nach Westen abgedrängt hatten. Auf den Katalaunischen Feldern, inmitten des heutigen Frankreich gelegen, wurden die Hunnen 451 gemeinsam mit ihren germanischen Verbündeten von den Römern gemeinsam mit ihren verbündeten Westgoten geschlagen. Ein Jahr nach dieser Schlacht 452 fiel Attila mit einem Heer in Italien ein, und Oberitalien geriet unter seine Herrschaft, und die Angst breitete sich aus, er könnte sich gegen die Stadt Rom selbst wenden. Um diese Gefahr abzuwehren, griff die geistliche Vormacht im Westen des verbliebenen Römischen Imperiums, die römisch-katholische Kirche ein in der Person ihres Oberhauptes Leo I. Der Titel Papst war noch nicht geläufig, aber Leo I. kann als der erste Papst bezeichnet werden. Er hat die geistliche und kirchliche Vorherrschaft der römischen Bischöfe begründet, gestützt auf die Verheißung, die dem Apostel
[150] Orthband, Eberhard: Lebenslauf des deutschen Volkes. S. 96 ff
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Petrus von Jesus Christus gegeben worden war, woraus der päpstliche Anspruch, Stellvertreter Christi auf Erden zu sein, herrührt, wie im Evangelium nach Matthäus in Kapitel 16, Vers 16-18 berichtet wird: (16) Da antwortete Simon Petrus: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ (17) Darauf sprach Jesus zu ihm: „Selig bist du, Simon, Sohn des Jonas. Nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern Mein Vater, der in den Himmeln ist. (18) Ich sage dir: Du bist Petrus; auf diesen Felsen will ich Meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.[151] Unerschrocken trat Papst Leo I. dem König Attila entgegen und forderte ihn auf Rom zu verschonen. Er kehrte um, ob auf Verlangen des Papstes Leo I. ist nicht gesichert überliefert, aber sein Auftreten stärkte das Ansehen der Kirche beträchtlich. Die Staatsform des alten Römischen Reiches war gesprengt und ging dem Verfall entgegen, aber mit dem Niedergang und Untergang erhob sich ein neues geistliches Römisches Reich: Das Reich der römisch-katholischen Kirche. Schon während der verworrenen Epoche der Völkerwanderung hatte die Kirche sich als einzige Einrichtung erwiesen, welche die auseinanderfallenden Reichsteile unabhängig von den wechselnden Herrschern zusammenhielt.[152] Hier muss noch einmal die Schrift des Augustinus vom „Gottesstaat“ Erwähnung finden, mit der die Theologie und Dogmengeschichte einen wesentlichen Anstoß erhielt und sich folgenreich auswirkte. Diese Welt und ihre Geschichte befindet sich unablässig in einem Gegensatz zwischen der Herrschaft Christi und der antichristlichen Gegenbewegung. Beide trachten danach ihr Reich aufzurichten. Zwischen beiden Reichen steht der Staat, der weder völlig gut noch gänzlich böse ist. Es besteht aber für ihn die Möglichkeit entweder gut oder böse zu werden. Denn er kann dem Willen Gottes unterworfen sein oder dem eigensüchtigen Machtwillen gottloser Gewaltmenschen dienen.[153]
Eine weitere Weichenstellung geschah im Zuge der römisch-germanischen Geschichte mit Folgen darüber hinaus für die europäische Geschichte und Kirchengeschichte, die sich wiederfindet in zwei Herrscherpersönlichkeiten des Königs der Ostgoten Theoderich der Große (456-526) und dem König der Franken Chlodwig I. (466-411). Theoderich lebte in seiner Jugend als Geisel am Hof des oströmischen Kaisers Leo I. in Konstantinopel. Um auf römischen Territorium den Föderatenstatus zu erhalten, mussten germanische Fürsten Söhne und Töchter als Geiseln stellen. Sie erhielten im Rahmen von Kultur und Gesellschaft eine römische Ausbildung, und konnten im römischen Heer in hohe Ämter und Offiziersstellen gelangen. Das geschah auch mit Theoderich, der 484 zum Konsul erhoben wurde, eine der höchsten Würden, die der römische Staat zu vergeben hatte. Als Föderaten galten Völkerschaften, die auf römischen Territorium Siedlungsrecht erhalten hatten und dafür Heeresfolge leisten mussten, ohne formal in das römische Heer eingegliedert zu sein. Ihnen waren Privilegien zugesichert worden, sie besaßen aber nicht das römische Bürgerrecht. 488 erhielt Theoderich von Kaiser Zenon den Auftrag als Oberbefehlshaber einen Feldzug gegen König Odoaker, der sich zum Herrscher über Italien aufgeschwungen hatte und gegenüber Ostrom unbotmäßig geworden war. Odoaker unterlag in zwei Schlachten, eine völlige Unterwerfung gelang Theoderich aber nicht,[154] und so kam es zu vertraglichen Vereinbarungen, die von Seiten Theoderichs nicht eingehalten wurden, Odoaker wurde bei einem gemeinsamen Festmahl hinterrücks ermordet. Theoderich war vom Kaiser in Byzanz zum Herrscher über Italien ernannt worden, zugleich war er König der Ostgoten. Es gelang ihm, einen Ausgleich zwischen den arianischen
[151] Übersetzung nach Storr (kath)
[152] Orthbandt, Eberhard: Lebenslauf des deutschen Volkes. S. 106 f
[153] ebd. S. 108
[154] ebd. S. 118
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Germanen und dem katholischen Bevölkerungsteil herbeizuführen, die das nicäische Glaubensbekenntnis vertraten, und somit ein friedliches Nebeneinander zu gewährleisten. Das Herrschaftsgebiet Theoderichs umfasste ganz Italien mit Sizilien, große Teile südlich der Alpen und den Nordwesten der Balkanhalbinsel. Die römische Kultur und Staatsaufbau erlebten unter seiner Herrschaft eine Blütezeit. Historische Forscher zählen diese Zeit zu einem Teil der Weströmischen Geschichte.[155] In den kriegerischen Zusammenstößen hatten die Westgoten sich zeitweise an die Seite der Ostgoten gestellt.
In diesem Zeitraum gerieten Theoderich und der Frankenkönig Chlodwig I. (466-511) in einen Gegensatz zueinander, der nicht ohne Auswirkungen blieb und weitreichende Folgen nach sich zog. Chlodwig entstammte dem Herrschergeschlecht der Merowinger, das sich mit seinem ursprünglichen Herrschaftsgebiet auf das heutige Belgien und Teile Nordfrankreichs erstreckte. Noch als Jüngling griff er in die bestehenden Machtverhältnisse ein. Sein erster Angriff richtete sich gegen das südlich angrenzende Territorium, das römisch verblieben war, und das nach einem kurzen Krieg unter fränkische Herrschaft geriet. Die Bewohner, die sich als Römer verstanden, durften ihr Eigenleben beibehalten. Wie zuvor Theoderich in Italien, war auch Chlodwig in seinem neuen Herrschaftsgebiet um Ausgleich zwischen Römern und Germanen bemüht. Theoderich war die Ausbreitung fränkischer Macht nicht verborgen geblieben, so versuchte er Chlodwig, der Heide war, für das arianisch-christliche Glaubensbekenntnis zu gewinnen, das zu einem geistigen Band für die verschiedenen Germanenvölker geworden war. Mit zunehmender Einflussnahme wurde Chlodwig auch von der römisch-katholischen Kirche vom Bischof von Reims umworben, er zögerte aber und war schwankend in seinem Entschluss. Der Bischof von Tours, der dem Reich der Westgoten zugehörte, hatte ebenfalls ein Interesse bekundet und wollte Chlodwig auf seine Seite ziehen, was dem Gotenkönig Alarich II missfiel, er verbannte den Bischof, Anlass für die Franken einen kriegerischen Einfall ins südlich gelegene Westgotenreich zu unternehmen. Der Angriff brachte nicht den gewünschten Erfolg, und das fränkische Heer ging geschwächt aus den Kämpfen hervor. Ein anderes Germanenvolk, die Alemannen, nutzten die Gelegenheit und fielen ein in das fränkische Herrschaftsgebiet. In der Schlacht bei Zülpich stießen Franken und Alemannen aufeinander. Einer Überlieferung zu Folge drohte Chlodwig die Niederlage, was er zum Anlass nahm den Christengott anzurufen und zu geloben, sich römisch-katholisch taufen zu lassen, wenn ihm der Sieg zu teil werden sollte. Nach gewonnener Schlacht erneuerte er den Krieg gegen die Westgoten mit Erfolg und Territorialgewinn. Durch das Eingreifen Theoderichs wurde Chlodwig am weiteren Vorgehen gehindert, und 498 kam es zu einem Friedensschluss. Chlodwig ließ sich danach römisch-katholisch taufen. Es ist zweifelhaft, ob ihn ausschließlich Glaubensgründe zu diesem Schritt bewogen haben oder mit Rücksicht auf die gemischte Gesellschaft von Römern und Franken und ihre Beziehungen. Chlodwig war der erste Germanenkönig, der zum römisch-katholischen Glaubensbekenntnis übergetreten war, dem die Mehrheit der Franken
[155] Orthbandt, Eberhard: Lebenslauf des deutschen Volkes. S. 121 f
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bald folgte. Das Ereignis hat sich bestimmend auf das französische Geschichtsverständnis ausgewirkt, aber auch auf die Kirchengeschichte insgesamt. In Reims wurden später alle französischen Könige gekrönt bis hin zu Ludwig XVI. Frankreich wurde das Reich der Franken, von hier aus breitete dieses Reich nach Westen aus. In Reims wurde im 20. Jahrhundert noch einmal große Geschichte geschrieben, als der erste Präsident der Fünften Republik in Frankreich, Charles de Gaulle, und Bundeskanzler Konrad Adenauer nach Abschluss des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages im Januar 1963 in der Kathedrale in Reims gemeinsam die Messe feierten. Auch der burgundische Thronfolger trat einige Jahre später zur römisch-katholischen Kirche über. Franken und Burgunder verbündeten sich in der Folgezeit. Mit einem Angriff auf die Alemannen begannen 505 ihre Eroberungszüge, die ein Gebiet um Worms, Speyer und Würzburg an die Franken verloren. Die Burgunder eroberten weiter südlich von zuvor Alemannen beherrschtes Gebiet. Immer weiter nach Osten abgedrängt, wandten sich die Alemannen an Theoderich und baten um Schutz und Unterstützung, der ihnen gewährt wurde, allerdings außerhalb der Gebiete, die ihnen bereits abgenommen worden waren. Während sich die Franken in Gallien ausbreiteten, erweiterte Theoderich die Grenzen seines Reiches auf dem Balkan, was in Byzanz Unruhe auslöste. Chlodwig hatte seinen Herrschaftssitz in Paris aufgeschlagen, und von hieraus seine Fühler nach Byzanz ausgerichtet mit der Absicht, ein Bündnis herbeizuführen. Ein beachtenswerter Vorgang, der Theoderich veranlasste, die nichtfränkischen Germanen zu einer Einheit zusammenzufassen. Daraus ergaben sich 507 kriegerische Verwicklungen, die sich im Einvernehmen zwischen Byzanz und Paris zum Nachteil für die Westgoten auswirkten. Chlodwig agierte also als Verbündeter des verbliebenen oströmischen Kaiserreiches. Ein Jahr danach, 508, entsandte Theoderich ein militärisches Aufgebot gegen Franken und Burgunder nach Gallien. Die Burgunder verloren alle ihre Eroberungen, und die Franken wurden ebenfalls zurückgedrängt. Mit dem Tod König Alarichs II. übernahm Theoderich auch die Herrschaft über die Westgoten. Chlodwit erhielt aus Byzanz die Würde eines Konsuls. Theoderichs Reich wurde nicht nur vom Westen bedroht, sondern auch von den Langobarden auf dem Balkan.
Eine weitere Bedrohung des Reichsfriedens geschah durch die byzantinischen Kaiser Justin und Justinian. Die arianisch-christliche Kirche wurde von ihnen mit Härte bedrückt. Dadurch wurden in den anderen Germanenreichen die Anhänger der römisch-katholischen Kirche ermutigt, sich gegen das auf Arius zurückgehende Bekenntnis aufzulehnen, und es konnte von einem Kirchenkampf gesprochen werden.[156] Theoderich überlebte Chlodwig um fünfzehn Jahre. Sein Tod wirkte sich verhängnisvoll aus nicht nur für die Ostgoten, sondern auch für die mit ihnen verbündeten Germanenvölker, und es zeigte sich, dass Theoderich die treibende Kraft für den Zusammenhalt gewesen war. Ein Nachfolger, der in gleicher Weise das angefangene Werk hätte vollenden und so das kulturelle römisch-germanische Erbe bewahren können, war nicht in Sicht.[157] Die Ostgoten erlebten nicht nur einen Rückschlag, sie verschwanden aus der Geschichte, zuvor aber traf es die Vandalen in Nordafrika. Mit einer vernichtenden Niederlage gegen ein Heer aus Byzanz war nicht nur ihre Herrschaft beendet, sie wurden aus Nordafrika vertrieben. Nach Überwindung der Vandalen, wandte sich Ostrom-Byzanz nach Italien gegen die Ostgoten, um auch diese Herrschaft zu beseitigen. Nach mehreren vernichtenden Schlachten gelang es, nicht nur ihre Herrschaft zu beenden, sondern sie gänzlich aus Italien zu vertreiben, sie verschwanden, als hätte ihr Reich in Italien und darüber hinaus nie bestanden.
[156] Orthband, Eberhard: Lebenslauf des deutschen Volkes. S. 122 f
[157] ebd. S. 124
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Das Erbe ging über auf die Franken, die in den kommenden Jahrhunderten tonangebend wurden in der westeuropäischen Politik. Chlodwig I. hatte dazu die die kulturellen und staatsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen, indem es ihm gelang Römer, Germanen und christliche Kirche zu einer Einheit zusammenzufassen. Der Zerfall des Ostgotenreiches eröffnete den Aufstieg und Ausdehnung des Frankenreiches.[158] Das Ende der Ostgotenherrschaft in ihrem Machtbereich wurde von der römischen Bevölkerung nicht etwa freudig begrüßt. Die Übergriffe der byzantinischen Besatzung erwies ich als drückend. Gotische Widerstandsnester erhielten von der römischen Bevölkerung insgeheim Hilfe und Unterstützung.[159] Um 534 übergaben die Ostgoten ihre letzte Festung Campsa an Byzanz, der Krieg hatte damit sein endgültiges Ende gefunden. Die verbliebenen Goten zogen nordwärts, von da ab verliert sich ihre Spur in der Geschichte, damit ging die Vorherrschaft in Westeuropa über an die Franken. 569 setzte sich ein andere germanischer Stamm in Italien fest. Sie eroberten die Po-Ebene und drangen weiter vor nach Mittel-und Süditalien, nur Rom und die Küstenstädte blieben byzantinisch.[160] Zehn Jahre später traf Ostrom Vorbereitungen und schritt zu einem Krieg gegen die Langobarden, und wurde dabei von den Franken unterstützt. Trotz dieses gemeinsamen Vorgehens gelang es nicht die Langobarden zu überwinden.
Die fränkische Vorherrschaft und das Verschwinden der West-wie auch der Ostgoten als Machtfaktor hatte noch ein anderes Ergebnis: Das auf Arius gegründete christliche Bekenntnis fand mit dem Ausscheiden germanischer Stämme, die diesem Bekenntnis anhingen, ebenso ein Ende. Am Ende des 6. Jahrhunderts bestieg einer der bedeutendsten Päpste in der Kirchengeschichte der Stuhl Petri: Gregor I. (540-604) dem die Geschichte aufgrund seines Wirkens Größe bescheinigt hat. Er beendete als Erstes die Abhängigkeit von Byzanz. Mehr als irgendein anderer Papst versuchte er die Germanen ins römisch-katholische Reich hinüberzuziehen. Die Langobarden, die noch vielfach dem Heidentum anhingen, bewog er, soweit sie Christen waren, Abstand zu nehmen vom Bekenntnis des Arius, und sich hinzuwenden zu dem römisch-katholischen Bekenntnis, das auf dem Konzil in Nicäa 325 seinen Ursprung hatte. Ebenso förderte er auch den Abfall der Westgoten von Arius und den Übertritt zur Papstkirche. Es gelang ihm auch die Angelsachsen in Britannien für das katholische Christentum zu gewinnen. Im Frankenreich galt die Kirche als Staatskirche nach dem Vorbild, das Kaiser Konstantin in die Wege geleitet hatte. Die Westgoten hatten sich uneinig gezeigt, wenn es darum ging, Königsherrschaft und Papstherrschaft miteinander zu vereinen. Mit der Unterwerfung unter die Mauren in Spanien im 8. Jahrhundert war den Westgoten jegliche Einflussnahme entzogen. Die fränkischen Könige wahrten ihre Unabhängigkeit vom Papst, anerkannten zugleich die Oberhoheit des Papstes im Kirchenregiment.[161]
Bedeutend und wegweisend für die zukünftige westeuropäische Geschichte war das Wahl-oder Erbrecht bei den germanischen Völkern. Theoderich d. Gr. wurde von den Ostgoten zum König erkoren, die, wie auch bei anderen germanischen Völkern, durch Wahl bestätigt wurde. Anders war die Nachfolge bei den fränkischen Merowingern geregelt, hier war die Thronfolge erblich. Kriege und Eroberungen gingen vom König aus und auf ihn zurück, waren die Unternehmungen erfolgreich, festigte es das Ansehen des jeweiligen Königs und des Königtums. Erfolgloses Vorgehen hatte die umgekehrte Wirkung, wie die Geschichte der Merowinger erkennen lässt. Im Frankenland ging das Staatsvolk nicht von einem Volksstamm aus. Die Franken siedelten in kleinen Gruppen zwischen den unterworfenen Völkern, um den Zusammenhalt zu wahren. Alle im Reich vereinten Germanen und Römer galten als gleichberechtige Staatsbürger mit gleichen Rechten und Pflichten.[162]
Das Jahr 567 enthielt eine zukunftsweisende historische Entwicklung, die in der Dreiteilung des merowingischen Reiches bestand. Einer der vier Könige war verstorben, was einen schwerwiegenden Vorgang zur Folge hatte: Das Reich fiel in drei Teilreiche auseinander, in Austrasien, dem Ostteil, in Neustrien, dem Nordteil und mit Burgund, dem
[158]
[159] Orthbandt, Eberhard: Das werden des deutschen Reiches. S. 131
[160] ebd. S. 136 f
[161] ebd. S. 138
[162] ebd. S. 139
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Südwesten und Süden des Reiches.[163] In Frankreich erinnert noch heute eine Region mit Namen Bourgogne (Burgund) daran. Eine andere Bezeichnung hat sich ebenfalls bis heute erhalten: Les Allemands (die Deutschen), zurückgehend auf das Germanenvolk der Alemannen.
Die Herrschaft der Merowinger begann zu bröckeln, und der Einfluss der Hausmeier[164] führte zu einem Machtzuwachs, der sich nicht mehr eindämmen ließ. Um die Mitte des 7. Jahrhunderts übernahm der Hausmeier Pipin, der aus dem das Geschlecht der Pipiniden hervorging, die Regentschaft für den König der Merowinger, der noch im Kindesalter die Nachfolge angetreten hatte.
Im Bereich der Kirche kamen iroschottische Mönche zum Einsatz, der von Pipin gefördert wurde. Sie traten für ein gereinigtes entschiedenes Christentum ein, das zu verflachen drohte, da der alte germanische Götterglaube seine Wirkung noch nicht verloren hatte, ebenso ließ das Machtgebaren einiger christlicher Könige Zweifel aufkommen, ob sie getreu ihre Handlungen nach den ethischen Grundsätzen des Evangeliums ausgerichtet hatten.[165]
Die Pipiniden waren als Hausmeier aus dem Adelsgeschlecht der Karolinger hervorgegangen. Pipin der Ältere (580-640) war der Stammvater. Die tatsächliche Macht im Frankenreich ging über an Pipin den Mittleren (635-714). Pipin der Jüngere (714-768), ein Sohn Karl Martells (686-741) war der Vater Karls des Großen (768-814). Ein Name tritt in dem letztgenannten Zeitabschnitt besonders hervor. Es ist Pipins außerehelicher Sohn Karl, der später den Beinamen Karl Martell (686-741) (der Hammer, französisch marteau) erhielt. Seine Erbfolge war umstritten, dennoch lag die eigentliche Macht in seinen Händen, er war der Großvater Karls des Großen (768-814). Kriegerische Verwicklungen ergaben sich im Norden des Frankenreiches mit den Friesen und den Sachsen. Die Alemannen wurden in das Frankenreich einverleibt, das darüber hinaus nach Osten ausgedehnt wurde, somit schuf Karl Martell eine günstige Ausgangslage für seinen Enkel, der in der Zeit seiner Herrschaft den Westen Europas zu einem Großreich vereinte.
Karl Martells herausragende Bedeutung liegt noch auf einem anderen Feld, ihm wurde das Verdienst zugeschrieben, indem er dem weiteren Vordringen der Araber und damit der moslemischen Welt ein Ende setzte. In der Schlacht bei Tours und Poitier 732 gelang unter seiner Führung ein Sieg über die bis dahin unaufhaltsam vordringenden Araber mit ihren überlegenen militärischen Möglichkeiten, die sich schließlich über die Pyrenäen gänzlich nach Spanien zurückzogen. Ihre Herrschaft in Europa blieb auf die Iberische Halbinsel beschränkt. Sie erwiesen später eine Überlegenheit auf geistigem Gebiet, unter einer toleranten moslemischen Herrschaft erfuhren die auf die griechische Antike zurückgehenden Wissenschaften eine Förderung und Ausbreitung, die ihnen im christlichen Europa verwehrt blieb, weil antikes griechisches Wissen als heidnisch angesehen wurde und verpönt war, dennoch sickerten die Erkenntnisse im Laufe der folgenden Jahrhunderte ein nach Europa. Bevor es arabischen Heeren gelang, in Spanien ihre Herrschaft aufzurichten, die über einen weiten Zeitraum von Toleranz geprägt war, hatte der Islam seine Herrschaft über ganz Nordafrika, wo zuvor Augustin gewirkt hatte, und den vorderen Orient ausgedehnt. Karthago, Alexandrien und Antiochien über Jahrhunderte hinweg Zentren christlichen Glaubens verloren ihre Bedeutung, als
[163] Orthbandt, Eberhard: Das Werden des deutschen Reiches S. 143
[164] Hausmeier vom Lateinischen Majordomus (Hausherr)
[165] Orthbandt, Eberhard: S. 148
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hätte es an diesen Orten nie ein Christentum gegeben. Mit dem Ausgang des 8. Jahrhunderts begann mit Karl dem Großen ein neuer Zeitabschnitt in der westeuropäischen Geschichte, der sich als prägend erweisen sollte für das gesamte Mittelalter. Bevor diese vorausschauende Entwicklung zum Abschluss kam, schufen weitere historische Ereignisse die Voraussetzungen dafür. In den Ereignissen, die den Weg der westeuropäischen Geschichte vorzeichneten, kommt Karl Martell eine herausragende Bedeutung zu, nicht allein, weil unter seiner Führung das weitere Vordringen arabisch-moslemischer Heere verhindert wurde, sondern weil er der Ausbreitung der christlichen Kirche nach Osten Vorschub leistete. Obwohl er seine politisch-weltliche Macht gegenüber der Kirche zu wahren wusste, gewann er als überzeugter Christ, die Hessen und Thüringer als Heiden für die christlich katholische Kirche. Unter seiner Obhut konnte Bonifatius (672-754) seine Missionstätigkeit nach Osten voranbringen.[166] Bonifatius verdiente sich in der Geschichte den Beinamen „Apostel der Deutschen“. Die verschiedenen Germanenvölker waren von der Mitte Europas aus nach Süden und Westen in das Römische Reich vorgedrungen und waren mit diesem Vordringen zugleich Christen geworden. Das germanische Kernland, das spätere Deutschland, war in weiten Teilen heidnisch geblieben. Hier eröffnete sich für Bonifatius ein Betätigungsfeld, nicht nur, vom Frankenreich aus gesehen, nach Osten, sondern auch nach Norden. Er gründete Bistümer und setzte Bischöfe ein. Einher damit ging eine Kirchenreform, die besonders die Lebensführung des Klerus betraf. Amtshandlungen wurden überprüft, und wenn für nötig erachtet geahndet, verboten wurde für Amtsträger das Waffentragen und die Teilnahme an Jagten. Nach dem Tode Karl Martells 741 gelangte Bonifatius auf den Höhepunkt seines Wirkens,[167] und schuf damit die geistlichen Voraussetzungen, auf die sich das christlich-katholische Westeuropa gründete und bestimmend wurde für die mittelalterliche Glaubenswelt.
In dem Zeitraum vom Ende des weströmischen Reiches 476 bis zur Erneuerung des römischen Staatsgedankens durch Karl den Großen (768-814) gab es die bereits beschriebene Zwischenphase, die eine unterschiedliche Interpretation erfahren hat, um daraus ein entsprechendes Geschichtsbewusstsein herzuleiten. Das Mittelalter selbst gilt vielen als Zwischenphase von der Antike zur Neuzeit, es ist vielfach mit der Bezeichnung „finster“ und „barbarisch“ bedacht worden. Zwei Gegenbewegungen haben die Neuzeit von Anbeginn geprägt: Der Humanismus und die Renaissance, mit der Erneuerung und Wiedergeburt der antiken Geisteswelt als Ziel und die Aufklärung in der jüngeren Neuzeit mit der Hinwendung zum demokratischen Verfassungs-und Nationalstaat. Beide Geistesströmungen sahen im Mittelalter eine Zeit des Rückschritts und des Verfalls. Als Ursache galten das Eindringen der Germanen in die überlegene geistig-kulturelle Welt der griechisch-römischen Antike und der Machtanspruch der römisch-katholischen Kirche mit ihrem Anspruch auf das Bildungsmonopol und damit auch der geistig-kulturellen Entwicklung, wofür auch die Scholastik
[166] Orthbandt, Eberhard: Lebenslauf des deutschen Volkes. S. 155
[167] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900. Stuttgart 1990. S 272
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angesehen wurde[168] In Deutschland setzten die Humanisten andere Akzente als in Italien, dem Ursprungsland der Renaissance, die zweifach begründet waren. Sie sahen in der gelungenen Abwehr der römischen Herrschaft durch die Germanen eher ein Element der Befreiung, zugleich vollzogen sie keine radikale Abkehr vom christlichen Glauben, was nicht zuletzt der Reformation Martin Luthers geschuldet war. Als einer der führenden Humanisten muss Erasmus von Rotterdam (1466-1536) angesehen werden. Er hatte nicht in gleicher Weise wie der Reformator Luther die Abkehr von der antiken Geisteswelt vollzogen. Er hat eine christliche Streitschrift verfasst mit dem Titel: „Handbüchlein eines christlichen Streiters“. Den christlichen Streiter, den dieses Buch zum Gegenstand hat, haftet nichts von einem Soldaten oder Kreuzfahrer an, es richtet sich vielmehr an einen befreundeten Laien aus höfischen Kreisen. Dieses Brevier des Evangeliums enthält mehr als fünfhundert Bibelzitate und nimmt etliche Male Bezug auf Origenes, Augustinus, Platon und Pico della Mirandola (1468-1494). Der letztgenannte war kein typischer Vertreter des Humanismus in Italien, wo die Predigttätigkeit des Dominikanermönches Savonarolas (1452-1498) nicht ohne Einfluss geblieben war. Erasmus verfolgte mit seiner Streitschrift die Absicht, den Leser mit der christlichen Glaubenswelt vertraut zu machen.[169] Die Frage nach dem freien Willen des Menschen hat Erasmus von Rotterdam und Martin Luther gleichermaßen bewegt. Erasmus verfasste eine Abhandlung dazu: „De libero arbitrio (Vom freien Willen). Luther trat ihr entgegen mit „De servo arbitrio“ (Vom Unfreien Willen). Ein Gegensatz, der die ganze Kirchengeschichte durchzieht.
Eine besonders ablehnende Haltung zur Welt des Mittelalters lässt sich in der Französischen Revolution ausmachen, wo die Gegnerschaft zu Christentum und Kirche besonders radikale Ausmaße annahm. Die Zeit vor der Revolution sollte gänzlich ausgeblendet werden, was in der Schöpfung eines neuen „Republikanischen Kalenders“ gipfelte, der harmonisch besser im Einklang mit der Natur stand als der Gregorianische Kalender. (1582) Der Beginn der Revolution wurde als bedeutender angesehen als die Geburt Jesu Christi.[170] In Deutschland besonders in Preußen entstand im Pietismus eine Gegenbewegung dazu. Humanismus und Aufklärung haben in Deutschland durch Einbeziehung christlicher Elemente ein anderes Gewicht erfahren, was Anlass gegeben hat von einer „deutschen Sonderentwicklung“ zu sprechen.[171]
Zur Begrenzung der Zeit des Mittelalters gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Auf tausend Jahre kann der Zeitraum veranschlagt werden, vom Untergang des weströmischen Reiches 476 bis zur Blüte der Renaissance, die mit dem ausgehenden 15. Jahrhundert einsetzte.[172]
Gefördert wurde die Mittelalter-Forschung durch den im 19. Jahrhundert immer stärker werdenden Historismus. Er leitete eine Geschichtsbetrachtung ein, in der jeder Zeitabschnitt, jede historische Erscheinung eine eigene Individualität besaß, die deshalb in ihrer Bedeutung herausgestellt wurde, das „finstere papistische“ Mittelalter eingeschlossen. Der protestantische Historiker Leopold von Ranke war ein führender Vertreter dieser Richtung. Er schrieb eine Geschichte der Päpste ohne polemisches Beiwerk. Rankes Schüler schufen getreu der Maxime ihres Vorbildes eine historische Sicht, um darzustellen „wie es eigentlich gewesen ist“. In der Gesamtdeutung war die Geschichte, trotz ihrer in sich geschlossenen Einzelepochen, dennoch als Ganzes eine „Hieroglyphe Gottes“ mit der Zielvorgabe eine „Erziehung des Menschengeschlechts“ zu bewirken, womit dem Historiker die Aufgabe zufiel, diese Geschichte zu „entziffern“. Mit Ranke, so ist festgestellt worden, sei die Geschichte zur ersten Bildungsmacht erhoben worden. Von ihm ist der Satz überliefert: „Ein Volk, das seine Geschichte nicht kennt, wird erleben, dass ihm eine schlechte Geschichte gemacht wird.“ Die weitere Entwicklung führte zu einer Säkularisierung des historischen Denkens, zur Relativierung der metaphysischen und
[168]
[169] Halkin Leon E.: Erasmus von Rotterdam. Eine Biogrphie. Paris 1987 S. 73
[170] Scott Samuel F. / Rothaus, Barry: Historical Dictionary fo the French Revolution 1789-1799. Westpoint Connecticut 1985 S. 145
[171] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 23
[172] ebd. S. 23
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religiösen Doktrin. Friedrich Nietzsche (1844-1900), einer der entschiedensten Gegner christlicher Wert-und Lebensvorstellungen, sah in einer ausschließlich historischen Behandlung „das Christentum aufgelöst in reines Wissen und dadurch vernichtet“.[173] Tatsächlich hätte eine solche historische Sicht der christlichen Botschaft alle Überzeugungskraft genommen.
Die verschiedenen historischen Sichtweisen wurden ergänzt durch eine konfessionelle evangelische und katholische Geschichtsschreibung. Dem von den Humanisten geschaffenen Geschichtsbild vom „finsteren“ Mittelalter fügte die Reformation das Verdikt vom „katholisch-papistischen“ Mittelalter hinzu. Die Reformatoren sahen sich als Erneuerer des Ursprünglichen Christentums und beurteilten das Mittelalter aus dieser Sicht.[174] Die Entwicklung ging aber in eine andere Richtung, der katholischen Volkskirche wurde schließlich eine evangelische Volkskirche gegenübergestellt. Für die katholische Kirche hatte das Mittelalter eine Vorbildfunktion. Statt hier Namen und Werke anzuführen, sei auf die historische Gestalt des frühen Mittelalters verwiesen, an welcher der Streit exemplarisch ausgefochten werden konnte, auf Winfrid-Bonifatius. Als Angelsachse war er germanischer Abkunft, zugleich aber hielt er Rom die Treue und war dem Papst ergeben, für die katholische Kirche repräsentierte er das Urbild des germanisch-deutschen und zugleich des römisch-katholischen Christen, für Protestanten war er mehr der Apostel des Papsttums als des Christentums.
Der konfessionellen kam eine nationale Geschichtsschreibung hinzu, die mit dem aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhundert einsetzte, ausgelöst durch die Französische Revolution. In dem Zeitabschnitt, der im Vordergrund der Betrachtung steht, nämlich das frühe Mittelalter, wurde in der nationalen Geschichtsschreibung sorgsam der Anteil der Romanen und Germanen am historischen Verlauf herausgearbeitet, was als abwegig angesehen werden muss. Die Germanen waren von Anfang in den Gebieten, wo sie ihre Herrschaft aufrichteten, eine Minderheit, die sich sehr schnell assimilierte. Der Nationalsozialismus wollte diesen Zeitabschnitt nutzen zu einem Geschichtsbewusstsein reinen Germanentums. Die Massen, die Hitler begeistert zujubelten, fühlten sich nicht als Germanen reinen Geblüts, sie waren angetan von Hitlers innen-und außenpolitischen Erfolgen, die er zweifellos am Beginn seiner Herrschaft vorweisen konnte. Das kann ebenso auch von Napoleon I. gesagt werden, seine Heere hatten große Teile Europas unterworfen, die sich sicher nicht als Romanen empfanden, sie waren begeistert der Führungspersönlichkeit Kaiser Napoleons gefolgt. Es darf in diesem Zusammenhang keine Analogie zwischen Napoleon und Hitler hergestellt werden, dazu waren beide in ihrer Persönlichkeit und politischen Zielsetzung zu unterschiedlich. Aus diesem Blickwinkel muss auch Preußen Erwähnung finden, das sich aus kleinsten Anfängen zu einer europäischen Großmacht emporgearbeitet, und schließlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Voraussetzung zur Einheit Deutschlands geschaffen hatte. Preußen hatte überhaupt nichts Germanisches an sich. Die Preußen waren aufgrund ihrer geographischen Lage vielfältig eine Mischung aus Slaven und Germanen, was in dem Satz seinen Ausdruck findet: Preuße ist man durch Bekenntnis, nicht durch Geblüt. Die mittelalterliche Geschichte war keine Geschichte der Rassen und Nationalitäten. Die Konflikte dieser Zeit beruhen auf ganz anderen Voraussetzungen und hatten ein ganz anderes Geschichts-und Staatsverständnis zum Inhalt, als es sich in der Neuzeit herausbildete
[173] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 25
[174] ebd. S. 27
68.
Neben der genannten verschiedenen Geschichtsschreibung mit ihren Interpretationen und einem damit einhergehenden Geschichts-und Staatsverständnis gab es eine weitere Begründung, dem Mittelalter mit Distanz zu begegnen: Seine Philosophiegeschichte die in der Scholastik ihren Ausdruck gefunden hatte. Einer ihrer führenden Vertreter war Thomas von Aquino (1224-1274). Er hinterließ ein umfangreiches Werk, das mit seiner Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart reicht. Als Dominikaner zählt er zu den bedeutendsten Kirchenlehrern der Katholischen Kirche, darüber hinaus kann er als einer der einflussreichsten Philosophen und Theologen angesehen werden. Sobria ebriatas – nüchterne Trunkenheit, so wird seine Persönlichkeit und die Gestaltung seiner Theologie, Philosophie und Lehre umschrieben, gepaart mit Intellekt und Leidenschaft.[175]
Noch eine andere Kontroverse kann wesentlich auf das Mittelalter zurückgeführt werden, die sich danach fortgesetzt hat bis in die Gegenwart: Der Universalienstreit. Als Universalien werden Allgemeinbegriffe wie beispielsweise „Mensch“ und „Menschheit“ oder mathematische Entitäten (Dasein im Unterschied zum Wesen eines Dinges) wie „Zahl“ „Relation“ (Beziehung) und Klasse bezeichnet. Bei Platon sind Universalien als Ideen rein geistigen Ursprungs im Denken begründet. Ideen haben eine eigene Existenz und waren zuerst und vorher. (universalia ante rem) Der Streit entzündete sich an der Beziehung zwischen dem Allgemeinbegriff und den Einzeldingen und was und wem darin der Vorrang eingeräumt werden muss. Zweifellos ist der einzelne Mensch Teil der Menschheit. Im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift ist im Buch des Propheten Jeremia Kapitel 1, Vers 5 zu lesen, wo Gott spricht: (5) „Noch ehe ich dich im Mutterleibe bildete, habe ich dich erwählt (oder ersehen), und ehe du das Licht der Welt erblicktest, habe ich dich geweiht: zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt“. Weiter heißt es dazu in Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde zu Ephesus, Kapitel 1, Versen 4-6: (4) Denn in ihm hat er uns schon vor Grundlegung der Welt dazu erwählt, daß wir heilig und unsträflich (untadelig, oder: ohne Fehl) vor seinem Angesicht dastehen sollten, (5) und hat uns in Liebe durch Jesus Christus zu Söhnen, die ihm angehören sollten, vorherbestimmt nach dem Wohlgefallen (oder: Ratschluss) seines Willens, (6) zum Lobpreis der Herrlichkeit seiner Gnade, die er uns in dem Geliebten erwiesen hat.[176]
Die Idee, der Gedanke, des Propheten oder Erwählten war geistig schon vorhanden ehe sie als materielle Existenz in Erscheinung trat, worin auch der Gegensatz von Zeit und zeitlos aufgehoben ist.
Eine andere Sicht zum Universalienstreit liefert Aristoteles, der im Gegensatz zu Platon, dessen Schüler er anfangs war, die radikale Trennung von Idee, von geistiger und materieller Wirklichkeit ablehnt, für ihn ist die Form Ausdruck geistigen Wesens, der geistige Ursprung verwirklicht sich in der Form. Dazu findet sich ein Wort im christlichen Kanon der Heiligen Schrift im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth, Kapitel 2, Verse 10-11: (10)
[175] Thomas von Aquino: Summe der Theologie. Zusammgestellt, eigeleitet und erläutert von Joseph Bernhart. Stuttgart 1954 S. XXXIII
[176] Übersetzung nach Herrmann Menge (ev.)
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Gott hat es durch den Geist uns geoffenbart; der Geist ergründet nämlich alles, selbst die Tiefen der Gottheit. (11) Wer von den Menschen kennt das Wesen des Menschen, außer dem Geist des Menschen, der in seinem Innern ist?[177]
Der geistige Ausdruck, das Wesen, verwirklicht sich in der Form, universalia in re,
Gegenüber beiden vertritt der Nominalismus eine gegensätzliche Auffassung. Für den Nominalisten haben nur die Einzeldinge wirkliche Existenz, für die der Mensch im Nachhinein die Namensgebung vornimmt, universalia post rem. Nominalismus rührt her vom lateinischen Wort Nomen. (Namen) Dazu findet sich ein Satz im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift in Genesis (1. Buch Mose) Kapitel 2, Vers 19. (19) Und Gott der Herr machte aus Erde alle Tiere auf dem Feld und alle Vögel unter dem Himmeln und brachte sie zu dem Menschen, um zu sehen, wie er sie benennen würde; denn wie der Mensch die Lebewesen nennen würde, so sollte ihr Name sein.[178] Der Nominalismus hat unterschiedliche Spielarten bis hin zum radikalen Subjektivismus, für den nur gilt, was sich im Bewusstsein des Subjekts wiederfindet und somit Wirklichkeit erlangt, außerhalb dieses Subjekts, des ICH, gibt es keine Wirklichkeit. Der Nominalismus öffnet auch den Weg zum ausschließlich materialistischen Denken. Immanuel Kant, als Vertreter des Idealismus, vollzog die „kopernikanische Wende“ des Denkens, in dem sich das Denken nicht nach dem Objekt, sondern das Objekt nach dem Denken richtet. Mit dem Tage der Schöpfung nahmen auch Raum und Zeit ihren Anfang und alle damit verbundenen Gesetzmäßigkeiten, wozu auch der pythagoreische Lehrsatz a²+b²=c² gehört. Diese Gesetzmäßigkeit war schon vorhanden, bevor Pythagoras sie entdeckte, er hat diesen Lehrsatz nicht erfunden, sondern gefunden.
Der größte französische Scholastiker, Abälard, hat eine Sicht zum Universalienstreit gegeben, die besondere Beachtung verdient. Er hat sich die Sicht zu Eigen gemacht, die sich auf Platon gründet, wonach die Universalien vor den (Einzel)Dingen sind. (universalia ante res). Die Gegenposition Nominalisten sieht die Universalien nach den Einzeldingen. (universalia post res). Abälard geht hier andere Wege und gründet auf die Feststellung, dass die Universalien in den Dingen sind (universalia in rebus). Es sei abwegig, zu behaupten, das Wirkliche sei die „Menschheit“ und nicht die Menschen. Es könne nicht sein, die Verkörperung des Allgemeinen in den Einzeldingen zu sehen, und die individuellen Unterschiede zu vernachlässigen. Ebenso abwegig sei die Behauptung, nur das Einzelne sei wirklich, und die allgemeinen Begriffe bloße Namen. Abälard erkennt in beiden Sichtweisen eine Einseitigkeit, die in einer Synthese auf einer höheren Ebene zusammengeschaut und überwunden wird. Er zeigt eine Art und Weise, die gegensätzliche Sichtweisen in seine Lehre einbezieht. In der uns umgebenden Wirklichkeit sind die Universalien in den Dingen. Für Gott aber sind sie vor den Dingen, nämlich Urbilder des Geschaffenen in einem göttlichen Geist. Für die Menschen sind sie nach den Dingen als Begriffsbilder, die wir aus der Übereinstimmung in den Dingen abziehen müssen.[179]
Die Wissenschaft im Mittealter war international. Der aus Italien stammende Anselmus lebte in der Normandie und starb als Erzbischof von Canterbury, dem höchsten geistlichen Amt, das in der britischen Geschichte vergeben wurde, in England. Der deutsche Albertus Magnus lehrte in Paris. Sein Schüler Thomas von Aquino, der aus allen Geistesgrößen der Zeit herausragte, stammte aus Süditalien und wirkte an den damals führenden Universitäten Paris, Köln, Bologna und anderen Bildungsstätten. Das sind nur wenige Beispiele. Die Philosophie dieser Zeit ist
[177] Übersetzung nach Storr. 1956 (kath)
[178] revidierte Übersetzung nach Luther. Wollerau 2009
[179] Störing, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Stuttart 1950. S. 166
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erwachsen aus der Unterweisung und Erziehung der Geistlichkeit in den Klosterschulen und war in dieser Zeit die „ancilla theologiae“, die Magd der Theologie.[180] Alle Geistesgrößen der Zeit waren Mönche der verschiedenen Orden, der Franziskaner, der Dominikaner oder der Benediktiner, die, auch wenn sie nicht immer im Gleichklang standen, das absolute Bildungsmonopol innenhatten, und denen die lateinische Sprache gemeinsam war. Der internationale Geist, der diese geistige Elite verband, lässt erkennen, dass dieses Mittelalter nicht so finster und barbarisch gewesen ist, wie es, je nach politischem oder ideologischem Standort, gerne gesehen wird; jedenfalls war das Mittelalter nicht finsterer und barbarischer als die Zeiten davor und danach. Es muss in Betracht gezogen werden, wie nationalstaatliche Eifersucht, verbunden mit einem Hegemoniestreben, Europa an den Rand der Vernichtung und Bedeutungslosigkeit geführt hat.
c) Renovatio imperii Romanorum (Die Erneuerung des Römischen Reiches)
Mit Karl dem Großen begann ein neuer Abschnitt westeuropäischer mittelalterlicher Geschichte. Geschichts-und Staatsverständnis fanden hier ihre bestimmende Ausprägung und Grundlegung für den Verlauf des gesamten Mittelalters und darüber hinaus. Die Errichtung dieses Reiches war zugleich ein Rückgriff in die Vergangenheit und machte da Fortsetzung, wo das Römische Reich aufgehört hatte zu bestehen. Der Staatsentwurf, den die letzten römischen Kaiser im 4. Jahrhundert geschaffen hatten war neu und hob sich ab von der zuvor anders gearteten römischen Geschichte. In einem Zeitraum von hundert Jahren hatte das Römische Reich eine Wandlung erfahren, bis im 5. Jahrhundert der völlige Verfall einsetzte und alles zerbrach. Bevor aber Karl sein Werk neu beginnen und vollenden konnte, hatte sein Großvater Karl Martell, die Voraussetzungen dafür geschaffen, nachdem er dem Vordringen arabisch-moslemischer Heere in der Schlacht bei Tours und Poitier 732 ein Ende gesetzt hatte. Er hatte die Herrschaftsverhältnisse im Frankenreich gefestigt. Im Norden hatte er Friesen und Sachsen zwar nicht seiner Herrschaft unterworfen, aber doch Gefahren, die drohen konnten, abgewehrt und den Grenzbereich zu diesen beiden Germanenstämmen gesichert; eine wichtige Voraussetzung für seinen Enkel zum weiteren Vordringen nach Norden.
Vier Ereignisse bilden die Grundlage für die territoriale Ausdehnung und die Einheit des von Karl dem Großen geschaffenen weströmischen, westeuropäischen Großreiches und seine spätere Bedeutung für die westeuropäische Geschichte.
Karl trat 768 seine Herrschaft an. Vier Jahre später 772 begannen die Sachsenkriege, die auf beiden Seiten mit besonderer Grausamkeit geführt wurden, und die erst genau dreißig Jahre später 802 ihr endgültiges Ende fanden. Einen Meilenstein zu dieser Entwicklung wurde im Jahr 785 gesetzt: Der Sachsenherzog Widukind, eine Herrscherpersönlichkeit, die für Karl nicht nur auf militärischen Gebiet eine besondere Herausforderung bedeutete. In dem genannten Jahr unterwarf sich Widukind und ließ sich christlich taufen, und der Taufpate selbst war kein geringerer als der Frankenkönig Karl. Noch bedeutender erscheint dieser Akt, wenn dazu die Wirkungsgeschichte verfolgt wird, denn von 919 bis 1024 gelangten Könige und Kaiser aus sächsischem Hause auf den Thron, und nie stand das Heilige Römische Reich so gefestigt da wie in diesem Zeitabschnitt. Der größte unter ihnen, Otto I. (der Große), (936-973) war ein Enkel Widukinds (730-807).[181]
Die gewaltsame Bekehrung der Sachsen ist schon zu Lebzeiten Karls auf Kritik gestoßen auch am Hofe Karls selbst. Diese Form der Bekehrung war zu der Zeit und in Zeiten davor nicht das übliche Verfahren. Die Bekehrung der noch heidnischen Germanenstämme war überwiegend das Werk angelsächsischer Missionare, ihr Leitbild war der Gottesmann, verkörpert vor allem durch Bonifatius (672-754), der auf dem Kontinent an vorhandene gleichartige Bestrebungen anknüpfte, die maßgebend die karolingischen Kirchenreform beeinflussten, die dann auch für die mittelalterliche Kirche Vorbildfunktion erlangte.[182] Die Kirchenreform mit Karl Martell durch angelsächsische Missionare begonnen, wurde von seinen Nachfolgern fortgesetzt.[183] Die Karolinger bevorzugten angelsächsische Missionare; sie begannen die Friesen im Norden zu missionieren, wo Bonifatius 754 den Märtyrertod fand, nachdem er zuvor das Hauptgewicht seiner Missionstätigkeit auf Hessen und Thüringen verlagert hatte. Bei den Friesen gab es Adelige, die für das Christentum optierten, auf diese Weise erhielt Bonifatius Predigterlaubnis.[184] Bonifatius entstammte einer adelig grundherrlichen Familie aus Wessex (Westsachsen) im Südwesten Englands. Im Alter von
[181] Kleinpaul, Rudolf: Das Mittelalter. Bilder aus dem Leben und Treiben der Stände in Europa. Unveränderter Nachdruck von 1885. Würzburg 1998 S. 94
[182] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 230
[183] ebd. S. 254
[184] ebd. S. 265
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sieben Jahren wurde er in ein Kloster gegeben und wuchs dort im mönchischen Geist auf. 718 kehrte er von einer Missionsreise bei den Friesen nach England zurück; von dort ging er nach Rom und erhielt den Auftrag von Papst Gregor II. (715-731) zur Missionierung Germaniens, was auch für die fränkische Kirche zu einer weiteren Bindung an Rom führte. Im Frankenreich nahm ihn Karl Martell unter seinen besonderen Schutz. 732 wurde er von Papst Gregor III. (731-741) zum Erzbischof erhoben. In dieser Funktion stieß er bei Karl Martell auf Widerstand. Ein Kompetenzstreit zeichnete sich ab über die Abgrenzung geistlicher und weltlicher Macht, der im ausgehenden Mittelalter dramatischen Formen annehmen sollte. Sachsen blieb für Bonifatius verschlossen, dagegen eröffnete sich in Bayern ein Betätigungsfeld, wo vier Bischofssitze errichtet wurden; die Errichtung eines Erzbistums unterblieb, und Bayern gelangte unter die eigene Hoheit des Bonifatius.[185] Unter den Nachfolgern Karl Martells, der 741 verstorben war, schritt Bonifatius zu einer einschneidenden Kirchenreform. Zentral betraf die Reform die Lebensführung des Klerus. Zur Beseitigung heidnischer Bräuche wurde nötigenfalls die weltliche Macht um Beistand angerufen. Es erfolgte die Forderung auf Restitution des der Kirche durch Karl Martell entfremdeten Besitzes. Ein Eherecht wurde erlassen; es Verbot die Neuverheiratung zu Lebzeiten des rechtmäßigen Ehepartners. Ferner wurde das Zölibat eingeschärft und im Konkubinat lebende Klerikern die Amtsenthebung angedroht. Zur Ehelosigkeit hat der Apostel Paulus einiges geäußert im 1. Brief an die Korinther Kapitel 7, in der Versen 4-7. (4) Das Weib hat kein Verfügungsrecht über ihren Leib, sondern der Mann; desgleichen hat der Mann kein Verfügungsrecht über seinen Leib, sondern das Weib. (5) Verweigert euch einander nicht, außer auf Grund gegenseitiger Übereinkunft eine Zeitlang, um für das Gebet Zeit zu haben und dann wieder zusammenzuleben, damit euch der Satan nicht versuche wegen eures Mangels an Selbstbeherrschung. (6) Ich sage dies nur als Zugeständnis, nicht als Gebot. (7) Ich wollte aber alle Menschen wären so wie ich; indes hat jeder von Gott seine eigene Gabe, der eine so, der andere anders.[186] Mit dieser Feststellung wird die Ehelosigkeit zu einer Gewissensfrage, denn über die eigene Berufung kann jeder Mensch nur individuell entscheiden. Der Apostel Paulus war ehelos, was aber nicht für alle Apostel und Verkündiger des Evangeliums galt, denn im 1. Korintherbrief, Kapitel 9, Vers 5 schreibt und fragt er: (5) Haben wir nicht das Recht, eine Schwester als Frau mitzunehmen wie die anderen Apostel, die Brüder des Herrn und selbst Kephas? (Petrus)[187] Mönche und Nonnen wurden angehalten, die Regeln des Benedikt strengstens zu befolgen. Die nach Benedikt genannten Klostergründungen waren die ersten in der Kirche des Westens.[188] Die Klöster hatten die Aufgabe, Bildung zu pflegen und zu vermitteln und Land urbar zu machen für die Nutzung landwirtschaftlicher Flächen, ein hartes Geschäft, ora et labora (bete und arbeite) hieß es darum. Ein geflügeltes Wort, das sich über die Zeiten erhalten hat.
Die Sachsen, ursprünglich an der unteren Elbe ansässig, breiteten sich immer weiter nach Süden aus und überlagerten schließlich die ganze nordwestdeutsche Tiefebene. Angelsächsische Missionare eröffneten den Sachsen die Möglichkeit den christlichen Glauben in freier Entscheidung anzunehmen. Der sächsische Selbstbehauptungswille stellte sich aggressiv gegen alles Christliche, und sah in dem Versuch der Missionierung mehr als nur einen Glaubenswechsel. Die Sachsen sahen darin vielmehr eine Bedrohung ihrer stammeseigenen Unabhängigkeit, zudem war der Einfluss einer Adelsherrschaft, die eher geneigt war, sich dem
[185] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 270 ff
[186] Übersetzung nach Storr (kath)
[187] ebd.
[188] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 272 f
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Christentum zu öffnen, nicht so ausgeprägt wie bei den Friesen. Als Karl zur fränkischen Gesamtherrschaft aufgestiegen war, zog er 772 erstmals mit militärischer Gewalt gegen die Sachsen, womit ein Bekehrungsversuch mit dem Schwert einherging. Auf diesem ersten Feldzug wurde auch das Zentralheiligtum der Sachsen, die Irminsul, demonstrativ zerstört, um die Überlegenheit des Christengottes eindrucksvoll zu untermauern. 773 befand sich Karl auf einem Italienzug, was die Sachsen ausgiebig zu einem Rachefeldzug nutzten. Nach der Rückkehr Karls aus Italien, erfolgte die Vergeltung. Karls Biograph Einhard berichtet, das Vorgehen der Franken löste Entsetzen aus. Die Antwort gründete in der Entschlossenheit, die Sachsen solange mit Krieg zu überziehen, bis sie besiegt, das Christentum angenommen hätten oder, im Falle eines unnachgiebigen Widerstandes, gänzlich ausgerottet seien. Angesichts dieser Drohung gelobten große Teile Bekehrung und Unterwerfung. Es wurde eine Reichsversammlung nach Paderborn einberufen, gleichzeitig fand eine Synode statt mit dem Ziel, die Missionierung des Sachsenlandes zu organisieren, große Teile der sächsischen Bevölkerung ließen sich taufen, was bei den Franken die Zuversicht aufkommen ließ, das Sachsenland sei befriedet. 778 zog Karl mit einem Heer über die Pyrenäen nach Spanien, was die Sachsen prompt zu einem Aufstand nutzten, diesmal unter der Führung Widukinds, der über ein militärisches Konzept verfügte, und die Sachsen erstmals von einer einheitlichen Führung geleitet wurden; sie drangen weit nach Süden vor, bedrohten Fulda, den von Bonifatius errichteten Bischofssitz, so dass die Mönche fliehen und den Leichnam des Bonifatius in Sicherheit bringen mussten. Die Sachsen gelangten an den Rhein bis nach Koblenz. Die Kämpfe zogen sich über Jahre hin und forderten auf beiden Seiten große Opfer.[189] In dem vielbeachteten Akt der Hinrichtung von Sachsen in Verden, in der NS-Zeit als „Blutbad von Verden“ bezeichnet, sollen nach unterschiedlichen Angaben 4500 Sachsen hingerichtet worden sein, die zuvor von frankentreuen Sachsen ausgeliefert worden waren. Mit Deportation und Umsiedlung wurden Gebiete der Sachsen durch Franken ersetzt. Als unzutreffend haben sich Darstellungen erwiesen, gefangene Sachsen seien in die Sklaverei verkauft worden. Ein vorläufiges Ende erreichten die Kämpfe durch die Taufe Widukinds Weihnachten 785. Karl hatte seinem größten, in vieler Hinsicht ebenbürtigen, Widersacher Straffreiheit und Sicherheit zugesagt, was er durch Stellung von Geiseln bekräftigte. Durch die Übernahme der Patenschaft war er verpflichtet Widukind als geehrte Person zu betrachten und zu behandeln; damit war die Eingliederung der Sachsen vollzogen, auch wenn bis zum Beginn des 9. Jahrhunderts zeitweise Kämpfe aufflammten. Das Geschlecht Widukinds hat schon bald zu Hof-und Kirchendienst gefunden. 802/03 erließ Karl ein sächsisches Stammesrecht, das eine zuvor strengere Gesetzgebung aufhob, und den Sachsen eine gleichberechtigte von aller Diskriminierung befreite Stellung einräumte.[190]
Die Sachsenkriege sind besonders von den NS-Ideologen herangezogen worden, um einen heidnischen Germanenmythos zu untermauern und auszubreiten. Auf welchen Auswüchsen und Irrwegen ein Geschichtsbewusstsein gegründet werden sollte, zeigt eine Schrift des SS-Hauptamtes mit dem Titel:
Wieder reiten die Goten…
…Was den Goten, den Warägern und allen einzelnen Wanderern aus germanischem Blut nicht gelang – das schaffen jetzt wir, ein neuer Germanenzug, das schafft unser Führer, der Führer aller Germanen. Jetzt wird der Ansturm aus der Steppe zurückgeschlagen, jetzt wird die
[189] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 296 f
[190] ebd. S. 298
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Ostgrenze Europas endgültig gesichert. Jetzt wird erfüllt, wovon germanische Kämpfer in den Wäldern und Weiten des Ostens einst träumten. Ein dreitausendjähriges Geschichtskapitel bekommt heute seinen glorreichen Schluss. Wieder reiten die Goten, seit dem 22. Juni 1941 – jeder von uns ein germanischer Kämpfer…[191] Ein Rassenkrieg war ausgerufen worden, wobei der Begriff Rasse in jedem Fall eine falsche Bedeutung erlangt, es ist ein Begriff aus der Zoologie, und da gehört er auch ausschließlich hin. Dem auf nationalstaatlichem Denken begründeten Prozess, der die Völker Europas in Gegensatz zueinander gebracht hat, ist vom sogenannten Nationalsozialismus ein rassisch begründetes Element hinzugefügt worden, und hat Zerstörung und Selbstzerstörung zur Vollkommenheit geraten lassen. Die Machart nationalsozialistischer Ideologie und Einflussnahme hat ihre Wirkung erzielt, nicht zum Zeitpunkt als sie geschah und auch nicht, weil die Soldaten der Deutschen Wehrmacht sich als germanische Krieger empfanden; sie waren geblendet von den Anfangserfolgen in den ersten Jahren des Krieges. Dem Bestreben, dem Germanenmythos in der Zeit der NS-Herrschaft eine Breitenwirkung zu verschaffen, war nur ein mäßiger Erfolg beschieden; er wurde von Anbeginn nicht sonderlich ernst genommen, was ein Flüsterwitz unterstreicht: Blond wie Adolf Hitler, groß und stark wie Joseph Goebbels, gertenschlank wie Hermann Göring und keusch wie Ernst Röhm. Zarah Leander konnte mit ihrem Gesang noch den Text interpretieren: „Er heißt Waldemar, und hat schwarzes Haar, er ist weder stolz noch kühn, aber ich liebe ihn.“ In Nordafrika schwiegen auf beiden Seiten die Waffen, wenn Lili Marleen erklang, von Lale Andersen gesungen. Es gibt eindrucksvolle Berichte darüber, die belegen, wie die Menschen der Zeit mehrheitlich wirklich empfanden. Die vom Nationalsozialismus inszenierte Weltanschauung wurde begleitet von einer Diktatur, die Widerspruch mit den bekannten Mitteln ahndete. Eine einzelne Stimme hat sich in dem Meer der Begeisterung für Hitler dennoch erhoben in einer Broschüre, einem Büchlein von 75 Seiten, 1935 veröffentlicht, unter dem Titel. „Karl und Widukind. Geschichtliche Wirklichkeit gegen widerchristliche Legendenbildung“.[192] Es gehörte einiger Mut dazu, dem ethnisch begründeten nationalsozialistischen Machtanspruch so entgegenzutreten. Ein Abschnitt daraus kann das belegen: Es ist die große Erfahrung, dass der Gottesglaube, der angeblich den Menschen zum hündischen Sklaven macht zu allen Zeiten Männer mutig und furchtlos gemacht hat auch da, wo andere schwiegen. Wer die Bibel und die Geschichte der Christenheit kennt, weiß von den Gottesmännern, die vor die Mächtigen der Erde traten und sie straften, wenn ihr Tun gegen Gottes Gebot verstieß. Er kennt die Geschichte von Elia, der den Tyrannen Ahab strafte. (1. Buch der Könige, Kapitel 18) Er kennt Nathan, den Propheten und sein Wort an den sündigen König David: „Du bist der Mann!“ (2. Samuel; Kapitel 12) Er kennt Johannes den Täufer, der, als alle schwiegen, vor Herodes hintrat und ihn die Anklage ins Gesicht schleuderte: „Es ist nicht recht, König….“ (Evangelium nach Matthäus; Kapitel 14)[193] Obwohl Hitler und sein ideologischer Anhang in der Broschüre nicht ausdrücklich erwähnt und angesprochen werden, sind die Äußerungen beachtenswert, besonders die Zitate aus dem hebräischen Kanon der Heiligen Schrift, denn solche Äußerungen konnten nicht ohne Risiko geschehen. Weiter heißt es: Er kennt vielleicht auch den Namen Alkuin, den Führer der Kirche im Reiche Karls des Großen. Was war das für ein Mann, der in dieser für die christliche Kirche in Deutschland so entscheidenden Jahren die in kirchlichen Dingen einflussreichste Persönlichkeit am fränkischen Hof war? (…) Er war wie so viele Kirchenleute seiner Zeit, ein Angelsachse, wohl aus
[191] Hofer, Walther: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945. Frankfurt a. M. S. 250
[192] Schaller, Theo: Karl und Widukind. Geschichtliche Wirlichkeit gegen widerchristliche Legendenbildung. Berlin 1935 S. 53
[193] ebd. S. 54
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vornehmen northumbrischen Geschlecht, kam nach manchen Wanderjahren, die ihn auch nach Rom führten – das er übrigens nicht sehr schätzte! – in Norditalien in Berührung mit König Karl und wurde bald von ihm an den Hof gezogen.[194] (…) War Sachsenland nun ein Land von Gräbern und Trümmern? War in dem Kampf der Schwerter gegen das Kreuz ein wilder, unbrechbarer Hass gewachsen, der die Herzen der Sachsen unzugänglich machte für die Botschaft? Antwort kann nicht eine Theorie, sondern nur die Geschichte geben. Und die gibt die Antwort: Nein! Über dem nordischen Land stand die Christusgestalt![195]
Ab einem bestimmten Zeitpunkt nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die NS-Ideologie verstärkt dazu genutzt, um die deutsche Geschichte insgesamt zu überlagern und zu diskreditieren. Alles drehte und dreht sich um Hitler. Er ist nach wie vor die Orientierungsmarke, zu seinen Lebzeiten als Vorbild, heute als Gegenbild, was dazu führt, dass ständig nach Wegen gesucht wird, diesem Gegenbild gerecht zu werden, um nicht in Verdacht zu geraten. Auf diesem Wege könnte die gesamte deutsche Geschichte ausgelöscht oder auf Hitler reduziert werden, was in beiden Fällen auf dasselbe hinausliefe, wobei nicht außer Acht gelassen werden darf, wie Hitler Wesen und Ereignisse der deutschen Geschichte auf das Schändlichste missbraucht hat.
Die geistige Verwirrung, Verirrung ist ein zu schwacher Ausdruck, zeigte sich bereits in dem Gesetz vom 1. Dezember 1936 über die Erziehung der Hitlerjugend. Hitler hatte dazu seine Vorstellungen entwickelt: …Meine Pädagogik ist hart. Das schwache muss weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muss das alles sein. Schmerzen muss sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muss erst aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend.[196] Dieser Geist erhebt bereits wieder seine Schwingen vor einer versagenden Demokratie, einer Demokratie, die diesen Namen nicht verdient, genau wie ehedem.
Die Einheit des Reiches zu schaffen war für Karl ein mühevoller Weg, aber er gelang, wenn auch nicht ohne Opfer und kriegerische Verwicklungen, die nur kurze Zeiten des Friedens ermöglichten, bis es sich zu einem Großreich gestaltete. Wichtige Voraussetzungen bildeten die Neuordnung der Verhältnisse in Italien, die Beziehungen zu Rom und Papst Hadrian I. Nach Herrschaftsantritt 768 teilte Karl das Reich mit seinem Bruder Karlmann, der jedoch überraschend 771 starb, wodurch Karl sich zum Alleinherrscher aufschwingen konnte. Karlmanns Frau floh mit ihren beiden Söhnen zu Desiderius dem König der Langobarden nach Pavia, von wo aus die Thronansprüche für die Söhne Karlmanns erhoben wurden, zugleich bedrohte Desiderius Papst Hadrian I. mit der Einnahme Roms; Grund genug für Karl nach Italien zu ziehen, nach der Belagerung und Einnahme Pavias krönte sich Karl mit der „Eisernen Krone“ der Langobarden und war damit König der Langobarden, was gleich bedeutend war mit der Einverleibung ins Frankenreich. Anschließend zog Karl nach Rom, das er vor der Einnahme durch die Langobarden bewahrt hatte. In einem Zusammentreffen mit Papst Hadrian I. wurden Schenkungsversprechen, die Karls Vater Pipin III. dem Heiligen Stuhl gemacht hatte, erneuert, Grundlage für den späteren Kirchenstaat. Italien gelangte so, bis auf kleine Teile
[194] Schaller, Theo: Karl und Widukind. S. 54 f
[195] ebd. 57
[196] zitiert in Hofer: Der Nationalsozialismus. S.88 Diese Dokumentensammlung hat in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Massenauflage erlebt, was der These von der Verdrängung entgegensteht.
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Süditaliens, unter Karls Herrschaftsbereich. Vollendet wurde dieses westeuropäische Großreich durch die Einnahme Sachsens, der Oberhoheit über Bayern und das Reich der Awaren, das Teile des heutigen Österreichs und Ungarns einschloss. Begleitet wurde alles durch intensive christliche Missionstätigkeit. Der angrenzende Osten dieses Reiches zählte in Teilen zum fränkischen Einflussbereich, ebenso ein Streifen Landes im Süden der Pyrenäen, der neben dem Königreich Asturien im Nordwesten Spaniens, das seine Unabhängigkeit von der Frankenherrschaft und dem moslemisch beherrschten Teil der iberischen Halbinsel bewahren konnte. Diese Gebiete bildeten später die Grundlage der Reconquista (Wiedereroberung) Spaniens für den christlichen Machtbereich. Damit blieb das Reich zu Lebzeiten Karls in seinen Bestand gefestigt.
Die nächste große Aufgabe sah Karl in Bereich der Bildung; seine Herrschaft verband damit eine Zielsetzung, die mit dem Namen „Karolingische Renaissance“ wiedergegeben worden ist. Sie war vielfach gefächert, und erstreckte sich auf die Bereiche Bildung, Schrift, Kunst, Liturgie, Theologie und Architektur. Eine kulturelle Linie, die dem Herrschaftskonzept in seiner Gesamtheit dienen, und dem gerade geschaffenen Reich mit seinen unterschiedlichen Ethnien einer einheitlichen Linie unterwerfen sollte, die auch für den Bildungsbereich als unabdingbar angesehen wurde.[197] Es dürfen keine Verwechselungen Platz greifen, wenn von einer Renaissance die Rede ist, denn diese Renovatio (Erneuerung) darf nicht gleich gesetzt werden mit der Renaissance, die sechs Jahrhunderte später einsetzte und die christliche Welt überlagerte durch die verstärkte Hinwendung besonders zu antiker Philosophie Kunst und Literatur. Die antike Geisteswelt hatte auch am Hofe Karls ihre Bedeutung, sie wurde nicht gänzlich verworfen wie in Zeiten davor. Die Karolingische Renaissance hat sich für das Bildungswesen bis zu jener späteren Renaissance als wegweisend erwiesen bis hin zu einem einheitlichen Schriftbild, der Karolingischen Minuskel, denn das Reich umfasste Länder und Gebiete, die ohne Schriftkultur auskamen, oder in Sprache wie im Schriftwesen eigene Entwicklungen genommen hatten.[198] Karls gewichtigster Berater, Alkuin, der größte Gelehrte seiner Zeit, entwickelte die Gesamtkonzeption.[199] Karls Reformidee verlegte sich auf Berichtigung, von Schrift, Sprache und Gottesdienst. Beabsichtigt war der Rückgriff auf die reinen Quellen der alten Christenheit, wenn von Wiedergeburt gesprochen werden sollte, so war vornehmlich an die christliche Spätantike gedacht. Dies alles entfaltete sich unter Karls Herrschaft neu, und schuf für das Abendland eine gemeinsame christliche Bildungsgrundlage. Es eröffnete sich ein Kapitel der Geistesgeschichte und Baukunst. Karls Neuanfang war nicht im Original etwas völlig Neues, es war eher eine Fortsetzung von dem, was schon in der antiken Welt seinen Anfang genommen hatte durch die geistige Welt der Kirchenväter, als das Römische Reich, wenn auch als christliches Reich gedacht, noch eine staatliche und geistige Einheit am Ende seines Bestehens bildete. Karl entwickelte daraus ein tragendes Fundament für die ganze weitere christlich abendländische Geschichte.[200] Zur Durchführung seiner Bildungsziele begann Karl Männer von besonderer Gelehrsamkeit um sich zu versammeln. Dieser Kreis fand die Bezeichnung Hofschule. Die Mitglieder waren von Karl in seine Umgebung berufene Gelehrte und Dichter, die sich zeitweise am Hof aufhielten, als Lehrer wirkten, und die Geistige Elite dieser Hofgesellschaft bildeten, von wo aus sie mit Geistesverwandten in Verbindung traten, Leiter von Abteien wurden oder andere entsprechende Aufgaben wahrnahmen,[201] und somit eine Breitenwirkung erzielten. Das geistige Leben im
[197] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 304
[198] ebd. S. 311
[199] ebd. S. 304
[200] ebd. S. 305
[201] ebd. S. 305 f
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Frankenreich bedurfte der Neuauflage. Führende Männer der Bildungserneuerung kamen aus allen Winkeln des Reiches, die ersten davon aus Italien, das trotz seiner Schädigungen durch Goten-und Langobardenkriege eine kulturelle Überlegenheit bewahrt hatte.[202] Ethnische oder nationale Vorlieben waren bei Hofe Karls unbekannt. Einige der Namen sprechen für sich, so aus dem italienischen Raum stammende, wie Petrus von Pisa, Paulinus von Aquileja oder Paulus Diaconus aus Friaul. Alkuin, der seine Wurzeln in England hatte, ist schon mehrfach erwähnt worden. Theodulf von Orléans war vor den eindringenden Arabern aus Spanien entflohen. Adelhart war ein Sohn von Pipins Halbbruder, also weitläufig mit Karl verwandt. Angilbert konnte seine Herkunft auf fränkischen Hochadel zurückführen. Er hatte seine Ausbildung bei Alkuin und Paulinus erhalten. Als Vertreter der jüngeren Generation fungierte Einhart als Geschichtsschreiber und Baumeister. Seine „Vita Caroli Magni“ sicherte ihm für alle Zeiten einen Bekanntheitsgrad.[203]
Die Eroberungszüge hatten über Jahrzehnte hinweg alle Kräfte in Anspruch genommen, jetzt galt es das Erreichte durch Festigung staatlicher Einheit zu sichern, wozu auch die Bildungsreform ausersehen war. Eine Missionstätigkeit durch Klostergründungen, Errichtung von Bistümern und Erzbistümern sollte die Glaubenseinheit festigen, denn das Reich sollte auf zwei Säulen ruhen: Die Glaubenseinheit vertreten durch den Papst und die katholische Kirche, und die staatliche Einheit vertreten durch den König, später durch den Kaiser. Für die eine tragende Säule, die katholische Glaubenseinheit, hatten sich drei Gefahrenquellen aufgetan durch das Eindringen von Lehren, die eine dogmatische Einheit gefährdeten:
Die Araber als Moslems landeten 710 in Spanien. In einem Zeitraum von sieben Jahren, die dem Sieg über die Westgoten 711 folgten, eroberten die arabisch-moslemischen Heere nahezu die ganze iberische Halbinsel mit Ausnahme eines schmalen Streifens südlich der Pyrenäen und Asturien, einem Gebiet im Nordwesten Spaniens. Damit endete auch die westgotische Kirchengeschichte, und es begann die Geschichte der Mozaraber, die bis zu einem gewissen Grade für die Christen zu einen Anpassungsprozess an die moslemische Welt führte. In diesem Zeitraum nahm auch die spanische Kirchengeschichte einen anders gearteten Verlauf, die theologische Gegensätze auslöste, die ihren Höhepunkt zum Ende des 8. Jahrhunderts erreichten. Im letzten Jahrzehnt des 8. Jahrhunderts wurde ein Gruppe spanischer Theologen für eine Lehre verdammt, herausragende Vertreter waren der Erzbischof von Toledo, Elipandus, im arabischen Herrschaftsbereich und Bischof Felix von Urgel, außerhalb des arabischen Machtbereiches in Asturien gelegen. Der Kern dieser Lehre beinhaltete eine Christologie, in der Jesus Christus im Augenblick der Taufe durch Johannes den Täufer als Sohn Gottes adoptiert worden sei. Als dieses so vertretene Dogma über die spanische Halbinsel hinausgelangte, und zunächst im Süden des Frankenreiches um sich griff, entstand eine Art Alarmstimmung, die weite Kreise im gesamten Frankenreich erfasste, und den Anlass bildete zur Einberufung dreier Konzile, 792 in Regensburg, 794 in Frankfurt und 799 in Aachen. Bereits 785 hatte Papst Hadrian I. (772-795) die Lehre des Elipandus verurteilt, der sich Leo III. (795-816) in Rom anschloss.[204] 475, ein Jahr vor dem endgültigen Ende des weströmischen
[202] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 306
[203] ebd. S. 306 ff
[204] Cavadini, John C. The last Christology of the West. Philadelphia 1993 S. 1
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Reiches erklärten die Westgoten mit ihrem König die Unabhängigkeit von Rom. 507 wurden die Westgoten vom Frankenkönig Chlodwig I. aus dem Süden Galliens vertrieben. Den Westgoten verblieb nur Spanien, das gänzlich unter ihre Herrschaft geriet. Nach der erfolgreichen Besitzergreifung des Landes, konnte die römisch-spanische Mehrheit ihre kulturelle Eigenständigkeit und den Verwaltungsaufbau beibehalten. Eroberer und Eroberte lebten in einer Koexistenz. Auch das katholische Glaubensbekenntnis blieb von den Westgoten, die sich als Arianer verstanden, unangetastet, bis 589 ein Westgotenkönig sich zum Katholizismus bekehrte, dem sich die Mehrheit der Westgoten anschloss, was den Zusammenhalt weiter bestärkte, und was dazu führte, dass die letzte Bastion der Byzantiner 634 in westgotische Hände fiel.[205] Spanien deshalb als isoliert vom übrigen Europa zu betrachten, hieße seine Einzigartigkeit zu unterschätzen, und die Bedeutung seiner kirchlichen Einheit. Der Sitz des Metropoliten von Toledo sicherte sich einen überragenden Einfluss in der Kirche Spaniens. Das geistig-kulturelle Leben der spanischen Christenheit erlitt keine Einbußen nach Eroberung des westgotischen Königreiches durch die Mauren, weil die moslemische Herrschaft in Spanien der Fortsetzung kultureller Traditionen keine Hindernisse bereitete, wie es die Westgoten zuvor gegenüber der römisch-katholischen Mehrheit auch gehandhabt hatten. Am Ende des 8. Jahrhunderts dehnte sich der karolingische Machbereich bis an die Grenzen Spaniens aus, die südlich der pyrenäischen Gebirgsbarriere verlief.[206] Gleichzeitig begegneten sich in der Theologie zwei christologische Welten. Die Gegensätze entzündeten sich zunächst im innerspanischen Bereich. Elipandus vertrat eine Christologie, in der Jesus Christus in seiner menschlichen Natur als ein adoptierter Sohn Gottes angesehen wurde. Sein Gegner war Beatus, Abt eines Klosters in Asturien. Er errang besondere Aufmerksamkeit als leitender Gegner der Adoptionisten, der seinen stärksten Ausdruck außerhalb des moslemischen Herrschaftsbereiches fand. Elipandus fand Rückhalt bei Bischof Felix von Urgel, der sich als starker Unterstützer der von Elipandus vertretenen Doktrin erwies. Er erregte zusätzliches Aufsehen, weil sein Bischofssitz außerhalb des moslemischen Machtbereiches angesiedelt war, und dem karolingischen Einflussbereich zugerechnet wurde. Die Auseinandersetzungen gewannen an Fahrt und die Herausforderung, ausgelöst durch Felix von Urgel, erzeugte eine Gegenposition, die sich durch Verbreitung umfangreicher Literatur auszeichnete, herbeigeführt durch Papst Hadrian I., Alkuin, und Paulinus von Aquileja.[207]
Es muss als abwegig angesehen werden, den Adoptionismus mit den christologischen Gegensätzen, die auf dem Konzil in Chalcedon (451) im Vordergrund standen, in Beziehung zu setzen, obwohl auch hier die Natur Jesu Christi, die mit dem Streit um das arianische Bekenntnis ihren Ausgang genommen und ihre Fortsetzung gefunden hatte, in Frage stand. Zwei Pole im innerspanischen theologischen Schlagabtausch sollten ausgeklammert werden: Die Christologie, die auf Nestorius zurückgeführt wurde oder auf Eutyches, dem Begründer des Monophysitismus. Nestorius war von 428-431 Patriarch von Konstantinopel. Mit seiner Behauptung Maria sei Christusgebärerin und nicht Gottesgebärerin löste er einen Streit aus und wurde zum Begründer des Nestorianismus. Dieser Lehre zufolge hat Jesus Christus nicht nur eine göttliche, sondern auch eine menschliche Natur. Zwei Ökumenische Konzile beschäftigten sich mit dieser Thematik: Das Konzil von Ephesus 431 und das Konzil von Chalcedon 451. Die Beschlüsse beider Konzile wurden von den orientalischen Kirchen und den Nestorianern nicht
[205] Cavadini, John C. The last Christology of the West. Adoptionism in Spain and Gaul 785-820. S. 2
[206] ebd. S. 2 f
[207] ebd. S. 4
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anerkannt. Nestorius wurde nach dem Konzil von Ephesus seines Amtes enthoben. Ein Zitat aus dem Beschluss legte fest: „Wenn jemand nicht bekennt, dass Emanuel (Christus) in Wahrheit Gott ist und das deshalb die heilige Jungfrau Gottesgebärerin ist – denn sie hat dem Fleisch nach den aus Gott stammenden Fleisch gewordenen Logos geboren, so ist er ausgeschlossen.“ (zitiert in Wikipedia) Eine entgegengesetzte Bewandtnis hat es mit Eutyches. Seine Lehre besagt, in Jesus Christus gebe es keine zwei Naturen, nämlich eine göttliche und eine menschliche, die miteinander verbunden seien, sondern nur eine Natur, wobei die menschliche Natur von der göttlichen aufgesogen worden sei, wie ein Tropfen Honig im Ozean. (Wikipedia) Nach einigen Differenzen wurde diese Lehre auf dem Konzil in Chalcedon ebenfalls verworfen. Im spanischen Konflikt werden von den Kontrahänden keine Vorwürfe in die eine oder andere Richtung erhoben. Elipandus vermied es, Beatus als Anhänger des Eutyches zu bezeichnen, umgekehrt brachte Beatus Elipandus nicht mit Nestorius in Verbindung.[208] Das Ergebnis dieses theologischen Streites wiederlegt die Hypothese, Elipandus habe bewusst oder unbewusst Anknüpfungspunkte bei Nestorius gesucht und gefunden. Bei Betrachtung der Soteriologie (Lehre von der Erlösung) und Christologie (Lehre über Jesus Christus), wie sie von Elipandus oder Beatus vertreten wurden, führen zu einem besseren Verständnis der Positionen beider.[209] Die gegensätzlichen theologischen Sichtweisen bekommen ein anderes Gesicht durch den Eingriff von Papst Hadrian I. und in der Folge Alkuins in dem Verlauf vieler Disputationsbeiträge, sie interpretierten zuerst den Adoptionismus als eine Form des Nestorianismus. Es ist Alkuin, der von christologischen Voraussetzungen ausging, die grundlegend anders gestaltet waren, als sie von der spanischen Schule vertreten wurden. Ausgangspunkt für Alkuin war ein intensives Studium der Beschlüsse des Konzils von Ephesus.[210] Es muss noch einmal ein Blick auf Alkuin geworfen werden und seine herausragende Bedeutung am Hofe Karls. Karl war Alkuin in Italien begegnet, und es spricht für König Karl, dass er die Bedeutung dieser Persönlichkeit sofort erkannt hatte, und ihn an seinen Hof zog. Alkuin war als Diakon in den unteren Rängen der kirchlichen Hierarchie angesiedelt, dass er sich dennoch am Hof Karls so entfalten konnte, spricht für den Frankenkönig, der nicht allein auf Rang und Titel achtete, sondern auch die Leistung in den Vordergrund seiner Beurteilung stellte. Später wurde Alkuin von Karl zum Abt von Tours ernannt, und es ist der Verdacht geäußert worden, Karl habe ihn weiter vom Hof entfernen wollen wegen mancher kritischen Haltung Alkuins, was besonders Karls Sachsenpolitik betraf und die Bekehrung mit Feuer und Schwert.
Alle Geschichte, die um den Adoptionismusstreit entstanden ist, beginnt mit Darstellungen und Stellungnahmen, die Elipandus an Migetius gerichtet hatte, in Zusammenhang mit den von ihm geäußerten Ansichten und theologischen Vorstellungen. Migetius ist im Dunkel der Geschichte verblieben, und sein Name ist nur dadurch bekannt geworden, weil im Nachlass von Elipandus, die an Migetius gerichteten Briefe den Namen dieses Mannes in Erscheinung treten lassen. Elipandus wandte sich an Migetius in seiner Eigenschaft als Erzbischof von Toledo und Primas der spanischen Kirche, wobei nicht mit letzter Klarheit ersichtlich ist, ob persönliche Begegnungen stattgefunden haben, oder ob sie sich nur vom Hörensagen kannten, darum ist es schwierig Migetius einzuordnen. Er könnte Positionen der Donatisten übernommen oder sogar eine Erneuerung donatistischer Theologie betrieben haben, über die aber wegen dürftiger Quellenlage wenig überliefert ist. Jedenfalls wurde rigoros ein puritanischer Lebenswandel
[208] Cavadini, John C. The Last christology of the West. S. 5
[209] ebd. S. 7
[210] ebd. S. 8
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angestrebt und erwartet. Migetius wollte vorschreiben und verbieten, sich mit Heiden oder Moslems an einem Tisch zu setzen und mit ihnen zusammen zu essen oder Nahrung einzunehmen, die mit heidnischen oder moslemischen Brauchtum in Verbindung gebracht werden konnten. Elipandus stellte ihm die Frage, ob er sich damit über Jesus Christus selbst stellen wolle, der sich mit Zöllnern und Sündern an einen Tisch gesetzt habe. Im Brief an die Gemeinde in Korinth äußert sich der Apostel Paulus zu diesem Fragenkomplex in Kapitel 10, in den Versen 25-30:
(25) Alles, was auf dem Fleischmarkt verkauft wird, das esst und forschet nicht nach, damit ihr das Gewissen nicht beschwert. (26) Denn „die Erde ist des Herrn und was darinnen ist“. (Psalm 24,1) (27) Wenn euch einer von den Ungläubigen einlädt und ihr wollt hingehen, so esst alles, was euch vorgesetzt wird, und forscht nicht nach, damit ihr das Gewissen nicht beschwert. (28) Wenn aber jemand zu euch sagen würde, das ist Opferfleich, so esst nicht davon, um dessentwillen, der es euch angezeigt hat, und damit ihr das Gewissen nicht beschwert. (29) Ich rede aber nicht von deinem eigenen Gewissen, sondern von dem des anderen. Denn warum sollte ich das Gewissen eines anderen über meine Freiheit urteilen lassen? (30) Wenn ich’s mit Danksagung genieße, was soll ich mich dann wegen etwas verlästern lassen, wofür ich danke?[211]
An diesem Beispiel lässt sich ermessen, wie die Heilige Schrift eine Fülle von Ratschlägen für das alltägliche Leben enthält.
Es ergeht weiter der Vorwurf an Migetius, er habe den Bischofsitz in Rom in ungebührlicher Weise eine Stellung zugewiesen mit der Behauptung, die Kraft Gottes sei allein in Rom zu finden, wo Christus wohnt, und der Satz: „Du bist Petrus, auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen…“ bezöge sich ausschließlich auf Rom, es sei das Neue Jerusalem, beschrieben in dem prophetischen Wort der Offenbarung des Johannes, das einzige prophetische Buch im christlichen Kanon der Heiligen Schrift. Rom, so Migetius, sei ohne Fehl und Flecken.[212]
Für Elipandus waren die Irrtümer des Migetius besonders aber auf doktrinärem Felde zu suchen, die vorwiegend die Dreieinigkeit betrafen. Elipandus weist hin auf die besondere Absurdität einer Lehre über die Dreieinigkeit, wie von Migetius vertreten, in der Vater, Sohn und Heiliger Geist gleichgesetzt werden mit den Personen König Davids als Vater, Jesus Christus als Sohn und der Apostel Paulus als Heiliger Geist.[213]
Es ist in der Tat zutreffend, die erste Erwiderung an Migetius kann als eine Christologie der einen Person gelten, und wenn jemand in diesem Zusammenwirken als Anhänger nestorianischer Christologie angesehen werden müsste, dann ist es Migetius.[214] Elipandus ist vielleicht eine der interessantesten Figuren in der Dogmengeschichte, Fakten sind aber nur dunkel und unzulänglich überliefert. Wenn seine Person nicht so umfangreiche über die Grenzen Spaniens hinaus breit angelegte Kontroversen ausgelöst hätte, wäre wohl nicht mehr übrig geblieben als ein Eintrag in die Archive von Toledo und seine Briefe an Migetius.[215] Gegenüber Migetius wollte er Klarheit herbeiführen über den Glauben an die Dreieinigkeit aus seiner Sicht. Mehr als 75% der Texte setzen sich mit dem Dogma der Dreieinigkeit
[211] revidierte Übersetzung nach Luther. Stuttgart 1984
[212] Cavadini, John C. The Last Christology of the West. S. 10 f
[213] ebd. S. 15
[214] ebd. S. 22
[215] ebd. S. 24
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auseinander, angefüllt mit Analogien und Erklärungen, ähnlich der Christologie Augustins, die ohne Abstriche als antiarianisch angesehen werden muss. Wer sind die Personen der Dreieinigkeit? Sie sind eine Dreieinigkeit in einer Natur und das Wesen der Gottheit. Der Vater geht dem Sohn nicht voraus in einer zeitlichen Abfolge, wie es den Vorstellungen des Migetius entsprach.[216] Weiter ist des ewigen Sohnes Selbstentäußerung, wie sie in dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde der Philipper in Kapitel 2 in den Versen 6-10 zum Ausdruck kommt und interpretiert wird mit dem Ziel, die adoptionistische Lehre zu untermauern: (6) Obwohl Er sich in der Gestalt Gottes befand, wollte er dennoch nicht gewaltsam an seiner Gottesgleichheit festhalten, (7) vielmehr entäußerte er sich, nahm Knechtsgestalt an und ward dem äußeren Menschen ähnlich. Im Äußeren als ein Mensch erfunden, (8) er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze. (9) Darum hat ihn Gott auch so hoch erhoben und Ihm den Namen gnädiglich verliehen, der über alle Namen ist; (10) im Namen Jesu sollen sich alle Knie beugen im Himmel auf der Erde und in der Unterwelt.[217] Die Antworten auf die Fragen nach den drei Personen der Dreieinigkeit, haben vielfältige Deutungsmuster aufzuweisen, die bis zum heutigen Tage in der Christenheit kein eindeutiges Bild und keine einhelligen Antworten erkennen lassen. Für Elipandus bedeutet die Aussage im Philipperbrief eine „Entleerung“, nicht nur in Beziehung auf die Gottheit selbst, sondern auch, was immer auch an rationalen Eigenschaften definiert wird, eine Teilhabe an der Gottheit selbst, denn die Beziehung des Sohnes zum Vater kann charakterisiert werden als Licht vom Licht, als wahrer Gott vom wahren Gott, wie im Glaubensbekenntnis (Apostolikum) auf dem Konzil von Nicäa 325 festgelegt. Es ist die Beschreibung einer einzigartigen Beziehung. Die Selbstentäußerung des Sohnes impliziert für Elipandus eine „Selbstentleerung“, die sich in einer einzigartigen Beziehung in einer anderen Natur entfaltet, aber es ist dieselbe Beziehung und nicht als neue Person definiert, wenn sie sich in einer anderen Natur manifestiert. Es bedeutet, sie ist ihrer einzigartigen Beziehung entkleidet, wenn es im Apostolikum heißt: Gott aus Gott, Licht aus Licht, wahrer Gott aus wahrem Gott, gezeugt nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater, dann gilt er als Einziggeborener aus dem Vater gezeugt. Elipandus unterscheidet aber zwischen Einziggeborener und Erstgeborener, als Erstgeborener ist er als Sohn adoptiert.[218]In dem Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Rom heißt es dazu im 8. Kapitel, in Vers 29. (29) Denn die, die Er vorher erkannte, hat Er auch vorherbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleich zu werden, der dadurch der Erstgeborene unter vielen Brüdern wird.[219] Denn der Sohn, der vor den Zeitaltern der Einziggeborene, gezeugte, nicht geschaffene, wurde Substanz der Gottheit genannt, als Erstgeborener aber zur Natur des angenommenen Fleisches gerechnet.[220] Elipandus sieht zwei wechselseitig sich gegenseitig ausschließende Naturen in Christus, eine als Adoption und eine der göttlichen Natur nach und trotz seiner Behauptung in Christus die Einheit einer Person zu sehen, vertritt er in Wahrheit die Lehre der zwei Söhne und Personen, die auf Nestorius zurückgeführt werden kann. Ein Vorwurf, den Papst Hadrian I. bereits 785 in einem Brief an die spanischen Bischöfe erhoben hatte. Das Argument wird näher betrachtet in der Auseinandersetzung zwischen Alkuin und Felix von Urgel.[221] Der Nachweis, Elipandus habe unter dem Einfluss nestorianischer Lehre gestanden, kann nur virtuell erbracht, historische Quellen können in dem nötigen Umfang dazu nicht
[216] Cavadini, John C. The Last Christology of the West. S. 28
[217] Übersetung nach Rupert Storr. Mainz 1956 (kath)
[218] Cavadini, John C. The Last Christology of the West. S. 35
[219] Übersetzung nach Rupert Storr. (kath.)
[220] Aus einem Zitat bei Cavadini. S. 37
[221] ebd. S. 38
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herangezogen werden. Es besteht die Möglichkeit der Einflussnahme von Nestorianern in einigen Gegenden des mozarabischen Spaniens, ob sie aber integrierter Bestandteil der christlichen Bevölkerung waren ist schwer feststellbar. Die geistigen Herausforderungen um das Verständnis zur Dreieinigkeit waren Gegenstand christlicher-moslemischer Streitkultur in Spanien, wo persönliche Begegnungen dazu einluden, einen Dialog zu führen. Dazu ist eine fiktive dialektisch geführte Konversation überliefert durch die Apologie (Verteidigungsrede) von Timotheus I. als nestorianischer Patriarch von 780-823 und Kalif Mahdi: Und unser König sagte zu mir: „Glaubst du an Vater, Sohn und Heiligen Geist?“ Und ich antwortete: „Ich bete sie an und Glaube an sie.“ Darauf sagte unser König: „Dann glaubst du also an drei Götter?“ Eine Frage, die zu einer weiteren ausführlicheren schriftlichen Erklärung Anlass bot, worin noch einmal dargelegt wurde, dass Dreieinigkeit nicht zugleich drei Götter bedeute. Der König war dennoch nicht überzeugt, es können, so die Antwort, weder drei noch zwei verschiedene Aussagen über Gott getroffen werden, es könne in Gott keine Mehrzahl geben. Der Dialog wurde fortgesetzt, zunächst wiederum in schriftlichen Abhandlungen, die in keiner Richtung eine Überzeugung bewirkten. Der moslemische Part bestand darauf, die Wesensgleichheit von Vater, Sohn und Heiliger Geist müsste als eine Beleidigung Gottes aufgefasst werden, weil es Mehrzahl in einem Gott bedeutet. Der eine ist ewig Gott von Gott, der andere ist zeitlich. Der König fährt fort zu widersprechen, weil er nicht überzeugt werden kann, beide stimmen jedoch in dem Punkt überein, worin das Argument der Monophysiten, Gott habe gelitten und sei im Fleisch gestorben, als falsch erkannt wird. Nachdem Timotheus erläutert hatte, der Sohn und Jesus Christus seien im Fleisch gestorben, kam es zu einer Annäherung der Standpunkte, die darin bestand, den Nestorianern zu bescheinigen, sie stünden näher an der Wahrheit. Die Monophysiten hatten in den Gegensätzen, die weitgehend, wenn nicht ausschließlich, in den Kirchen des Ostens und den Konzilen, die dort stattgefunden hatten, abgewickelt wurden war, die provokante Frage gestellt: Wer wagt es zu behaupten, dass Gott stirbt?[222] Der moslemische Gesprächspartner weigerte sich, in irgend eine theologische Richtung irgendwelche Konzessionen zu machen, was immer auch zu einem Wort und Gottes Sohn gesagt werde, ihr alle liegt falsch. Es war das letzte Wort. Die beiden gingen freundlich auseinander. Timotheus hatte noch den Hinweis gegeben, wie Christus im Koran als Wort und Geist Gottes aufgefasst werden, aber es genügte nicht, die Standpunkte anzunähern. Es muss abschließend festgestellt werden, zumindest aus zeitgenössischer moslemischer Perspektive, gab es keinen unbedingten Vorteil, für die Christologie der Nestorianer einzutreten. Elipandus vertrat zwar die „eine Person“ Christologie gleichwie die Nestorianer, aber ein Unterschied bleibt zu ihren Systemen. Zum besseren Verständnis müssen noch einmal kurz und knapp die Positionen der Nestorianer und der Monophysiten erläutert werden. Der Hauptpunkt des Nestorianismus besteht in der Lehre, es habe in Christus eine göttliche und eine menschliche Natur gegeben. Jedes zugeordnete Attribut und jede Handlung des im Fleisch inkarnierten Christus könne einer dieser Personen zugeordnet werden. Maria, die Mutter Jesu, wird als Christusgebärerin oder Menschengebärerin gesehen und als solche auch verehrt und nicht als Gottesgebärerin. Der Monophysitismus ist die christologische Lehre, in der Jesus Christus nach der Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen in der Inkarnation im Fleisch nur eine einzige göttliche Natur habe. Elipandus wird, flüchtig betrachtet, in seiner historischen Bedeutung eher als eine Randerscheinung wahrgenommen. Das gilt noch mehr für seinen Hauptkritiker, Beatus von Liebena, der ein noch schwächeres Bild hinterlassen hat. Der von Spanien ausgehende theologische Streit hat dennoch weite Kreise gezogen, so dass sich Karl und Papst Hadrian zu einer groß
[222] Cavadini, John C. The Last Christology of the West. S. 39 ff
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angelegten Abwehrreaktion veranlasst sahen. Beatus könnte ein Mönch und Abt eines Klosters in Asturien gewesen sein, eine Region im Nordwesten Spaniens, die von moslemischer Herrschaft ausgespart blieb.[223] In der ersten Betrachtung lassen sich zwischen beiden Gemeinsamkeiten finden, sie bewunderten die Patristiker, besonders der spanischen Kirche, beide haben zu Rom und die von da ausgehende und geforderte Vorherrschaft eine distanzierte Haltung, und schließlich vermeiden beide, Beschlüsse des Konzils von Chalcedon 451 zu zitieren. Elipandus vermied es, Beatus in die Nähe von Eutyches und die Monophysiten zu rücken, in gleicherweise wurden von Beatus über Elipandus keine Verdächtigungen verbreitet, die ihn den Nestorianern zugeordnet hätten.[224] Beatus, jedoch, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Elipandus zu widerlegen. Fußend auf die Kirchenväter Tertullian (150-220), Cyprian (200-258) und Augustinus, herausragende Vertreter der Kirche des Westens, geht Beatus ans Werk. Eine Christologie der zwei Naturen oder Substanzen in einer Person, nicht weil eine Substanz (das Beharrende im Gegensatz zu wechselnden Zuständen und Eigenschaften), geformt aus beiden von diesen, sondern eine Person ist in beiden enthalten. Es ging um eine Lehre, dass Jesus Christus der Sohn Gottes, der Gott-Mensch wurde, von einer Jungfrau geboren, gleichwie die Seele mit dem Leib geboren wurde. Der Sohn allein wurde als Mensch geschaffen, nicht in Einheit der Natur[225] aber in Einheit der Person[226], gezeugt vom Vater ohne zeitlichen Anfang. Eine Natur ist vom Fleisch, eine Substanz gehört beiden: Christus und dem Vater. Mit dem Vater ist er vollkommener Gott, mit uns Menschen vollkommener Mensch. Jesus Christus eine Person mit zwei Naturen: Gott und Mensch. Eine Erklärung dazu findet sich in dem Evangelium nach dem Apostel Johannes, Kapitel 1, Vers 14: (14) Und das Wort wurde Mensch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, die Herrlichkeit des einziggeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.[227] In Vers 1 desselben Kapitels wird der Begriff Wort definiert: (1) Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.[228] Im griechischen Urtext steht für Wort „Logos“, was weit über das hinausgeht, was gemeinhin unter „Wort“ verstanden wird. Logos ist die im Geiste fertige Schöpfung, genau wie das vom Menschen geschaffene geistigen Ursprungs ist, bevor es als Substanz (Stoff, Materie) geformt wird. Mit „Fleisch“ hat es aber noch eine andere Bewandtnis, sie wird uns in dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom in Kapitel 8, in den Versen 1-9 beschrieben: (1) Nunmehr aber gereicht nichts mehr denen zur Verdammnis, die in Christus Jesus sind [und nicht nach dem Fleische wandeln]. (2) Denn es hat das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus dich vom Gesetz der Sünde und des Todes befreit. (3) Was nämlich dem Gesetz unmöglich war, weil es ohnmächtig war durch das Fleisch: Gott sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und hat das Gericht gehalten über die Sünde am Fleische, (4) damit die Forderung des Gesetzes in uns erfüllt werde, die wir nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geist. (5) Denn die nach dem Fleische leben, trachten nach dem, was des Fleisches ist, die aber nach dem
[223] Cavadini, John C. The Last Christology of the West. S. 45
[224] ebd. S. 47 f
[225] ...inhaltlich der Inbegriff, die Gesamtheit aller unmittelbaren Wirklichkeit, aller dinge und Geschehnisse in ihrem ganzheitlichen Zusammenhang, formal das Sein überhaupt. In der Scholastik wurde zwischen dem ewigen Schöpfergott, der schaffenden Natur [natura naturans], und endlichen"erschaffenen Natur [natura naturata] unterschieden.
[226] Person in diesem Sinne wurde in der mittelalterlichen Philosophie öfter mit dem Begriff "unsterbliche Seele" identifiziert. In der christlichen Religion beispielsweise steht der Begriff der Person für eines der zentralen Wesensmerkmale Gottes.
[227] revidierte Übersetzung nach Martin Luther. Wollerau (Schweiz) 2009
[228] ebd.
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Geist leben, nach dem, was des Geistes ist. (6) Das Trachten des Fleisches ist Tod, das Trachten des Geistes Leben und Friede. (7) Das Trachten des Fleisches ist feindlich gegen Gott, es unterwirft sich ja dem Gesetz Gottes nicht und kann es auch nicht. (8) Die im Fleische sind können Gott nicht gefallen. (9) Ihr aber seid nicht im Fleische, sondern im Geiste, vorausgesetzt, dass der Geist Gottes in euch wohnt. Wer aber den Geist Christi nicht hat, gehört nicht zu ihm.[229] Das Fleisch, das im Evangelium nach Johannes in Kapitel 1, Vers 14 zur Darstellung gelangt, wo es in vielen Übersetzungen auch heißt: Das Wort ward Fleisch…, unterscheidet sich wesentlich von dem Fleisch, das uns in dem Brief an die Gemeinde in Rom entgegentritt.
Die Natur der Göttlichkeit ist das eine, die der Unterwerfung das andere, dennoch war es der eine und derselbe Christus in der Person der Gottheit und der Person der angenommenen Menschheit. Der ganze Christus ist Wort (Logos) Seele (Geist) und Fleisch. Wenn eine Substanz davon abgezogen wird, von diesen drei Substanzen mit der Aussage, sie gehöre nicht zu Christus dann wird der ganze Christus geleugnet. Weiter erklärt Beatus, dass nur der Mensch in Christus leidet, nicht aber Gott. Diese Einstellung gleitet gefährlich nahe zu der Ansicht, es gebe in Christus eine Person aber zwei Naturen, die auf eine Trennung der Person hinauslaufen.[230] Er ist einmal der der gezeugte Sohn Gottes und einmal der erstgeborene, die jeweils zwei Naturen angehören.[231]Das Wort wurde Fleisch, aber es wurde nicht in Fleisch verwandelt, gleichwie die Seele des Menschen nicht in Fleisch verwandelt wird, und seit das Wort in dem Fleisch Jesu Christi wohnt, so wohnt es auch in der Natur des Menschen. Mit diesem Fleisch ist die Kirche verbunden, in der Jesus Christus das Haupt und der Leib ist.[232] Im 1. Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth im Kapitel 12, Vers 12 wird es anschaulich gemacht: (12) Denn wie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obwohl ihrer viele sind, doch ein Leib sind, so auch Christus.[233]
Wer ist der Sohn Gottes, wenn nicht der von der Jungfrau Maria geborene? Wäre er es nicht, der Engel hätte nicht Maria verkündigen können, wie im Evangelium nach Lukas Kapitel 1, Vers 31-33 berichtet: (31) Wisse wohl: du wirst guter Hoffnung werden und Mutter eines Sohnes, dem du den Namen Jesus geben sollst. (32) Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden, und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, (33) und er wird als König über das Haus Jakobs in alle Ewigkeit herrschen, und sein Königtum wird kein Ende haben.[234] Es hätte vielmehr heißen müssen: Er soll Jesus heißen, adoptierter Sohn des Höchsten im Hinblick auf seine Menschheit, und absolut nicht adoptiert im Hinblick auf seine Gottessohnschaft. Beatus hat, damit er in der Rhetorik der Beleidigung nicht übertroffen werden kann, spöttisch die eigenen Worte des Elipandus auf die Lippen des Engels gesetzt.[235] Die von Elipandus vertretene Christologie ist im Grunde eine Ideologie des Stolzes, ein Versuch sich über Gott zu erheben. Beatus verfasst eine Analyse über den grundlegenden Irrtum von Elipandus, der darauf abzielt Jesus als adoptiert unter Adoptierten und als Diener unter Dienern zu betrachten. Elipandus, jedoch, ist selbst als Erzbischof
[229] Übersetzung nach Kürzinger (kath.)
[230] Cavadini, John C. The Last Christology of the West. S. 48 f
[231] ebd. S. 50
[232] ebd. S. 55
[233] revidierte Übersetzung von 1984 nach Martin Luther. Stuttgart 2007
[234] Übersetzung nach Herrmann Menge (ev.)
[235] Cavadini, Johm C. S. 61
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von Toledo der Erlösung bedürftig, wie jeder andere Mensch auch.[236] Der Primas von Spanien unternimmt zu viel, überschwänglich von Stolz erfüllt, um sich selbst zusammen mit Christus als ein Christ zu beweisen….In seiner Verrücktheit macht er keinen Unterschied zwischen sich selbst und dem Sohn Gottes.[237]
Es ist unwahrscheinlich, dass die Gegensätze in Spanien, mit dem Austausch der theologischen Positionen zwischen Elipandus und Beatus, ein Ende gefunden hätten.[238] Es war nicht das erste Mal in der Kirchengeschichte, dass eine Entwicklung ihren Verlauf nahm mit bedrohlichen Ausmaßen für die Glaubenseinheit und den staatlichen Zusammenhalt. Die aufgezeigten Kontroversen sind in der christlichen Welt nie ganz ausgeräumt worden und haben sich in einem Zeitraum von nahezu zweitausend Jahren erhalten, dennoch ist der christliche Glaube erhalten geblieben, weil der Glaube den Menschen etwas vermittelt, was keine Philosophenschule oder politische Richtung zu bieten vermag. Eines tritt dabei deutlich hervor: die hinzugekommenen theologischen Lehrsätze sind entweder eine Abweichung vom Nicänischen Bekenntnis und vom Nicäno-Konstantinopolitanum oder es sind Bekenntnisgrundsätze hinzugefügt worden, wie sie in den beiden Bekenntnissen, die den absoluten Kern der der Botschaft des Evangeliums enthalten, nicht zu finden sind. Die von Spanien ausgehenden verschiedenen theologischen Denkrichtungen hatten eine Ausgangslage, die besonderes Augenmerk auf sich zog. Asturien, der Wirkungskreis von Bischof Felix von Urgel, und die Spanische Mark wurden dem fränkischen Einflussbereich zugerechnet, wobei Asturien sich eine größere Unabhängigkeit bewahren konnte. Zuvor, während der Herrschaft der Westgoten, gehörten diese Gebiete in die kirchliche Zuständigkeit des Erzbistums von Toledo. Diese Zusammenhänge ergaben einen unterschiedlichen historischen Verlauf zum übrigen Westeuropa. In dieser Konstellation betrat ein weiterer Amtsträger, Bischof Felix von Urgel das Feld der geistigen Auseinandersetzungen, der schnell Aufmerksamkeit fand und nicht übergangen werden konnte. Elipandus hatte in einem Schreiben Fragen abgehandelt zur Einstellung, die Felix über die Natur von Jesus Christus verbreitet hatte. Die aus dem Spanischen Bereich kommenden Lehrmeinungen hatten Verbreitung gefunden und Befürchtungen ausgelöst, die eine Abwehr erforderlich machten. 792 hatte Felix sich nach Rom begeben, nachdem er im gleichen Jahr auf dem Konzil von Regensburg verurteilt worden war, das Karl eigens zur Gefahrenabwehr einberufen hatte. Der Zweck dieser Romreise war begründet in einem Widerruf vor Papst Hadrian durch Felix von Urgel. Regensburg war erst der Anfang, zwei weiterer Konzile, 794 in Frankfurt und 799 in Aachen, wurden als erforderlich angesehen, außerdem hatten die aus dem spanischen Bereich herrührenden Einflüsse eine Gegenwehr ausgelöst, die in einer Missions-und Überzeugungsarbeit bestand, um eine Ausbreitung der als falsch angesehenen Lehren zu verhindern.[239] Felix hatte sich Ansehen verschafft und Alkuin, gestützt auf Papst Hadrian, war ausersehen, Felix entgegenzutreten und zu widerlegen, was in einer umfangreichen Auslegung in sieben Büchern geschah. 785 hatte sich Papst Hadrian in Briefen an die spanischen Bischöfe gewandt mit kritischen Kommentaren zu von Elipandus verbreiteten Lehrmeinungen. Hadrian berief sich auf das Konzil von Ephesus und sah in den aus Spanien eindringenden Einflüsse eine Neuauflage der von den Nestorianern vertretenen Positionen und äußert sich drastisch: „Niemand, welche Häresie auch immer, hat es gewagt zu bellen und solche Gotteslästerungen zu verbreiten, es sei denn
[236] Cavadini, John C. S. 68
[237] zitiert in Cavadini, John C. S. 68
[238] ebd. S. 71
[239] ebd. S. 72
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der perfide Nestorius, der bekannte, Gottes Sohn sei nur ein Mensch. Wenn jemand sagt, Gottes Sohn sei ein Individuum und der von Maria geborene ein anderes Individuum, durch Gnade adoptiert, bis hin zu dem Punkt, es gebe zwei Söhne und von Natur aus Sohn und einer ein Mensch von Maria durch Gnade, den belegt die katholische und apostolische Kirche mit dem Anathema.“[240] Hadrian war nicht bereit zu einem Zugeständnis, das in einer ordnungsgemäßen Verwendung des Wortes Diener (Sklave) im Hinblick auf Jesus bestanden hätte. Für Hadrian bedeutet das Wort Gebundenheit zur Sünde, was weit von der Interpretation des Elipandus entfernt ist. Keiner der Evangelisten oder Apostel benutzt diesen Begriff, sie nennen Jesus Herr und Erretter. Hadrian greift zu auf die Verse in dem Brief des Apostels Paulus an die Philipper, Kapitel 2, Verse 6-7, worin die angesprochene Dienerschaft Jesu Christi von Elipandus als „Selbstentleerung“ gedeutet wird. Der korrekte Gebrauch des Wortes Diener wird dadurch ausgeschlossen. Nach Hadrian nennt Paulus ihn Herr in seiner universellen Bedeutung. Dieser Abschnitt des Philipperbriefes, so findet Hadrian, betont über die Maßen die „Selbstentfremdung“, wie sie von Elipandus aus dem Vers 7 herausgelesen wird, die auf Nestorius zurückgeht. Die fränkischen Bischöfe verwerfen ebenfalls den christologischen Standpunkt, wie er von Elipandus und danach mit Entschiedenheit von Felix vertreten wurde; sie sehen eine theologische Nähe zu Nestorius. Alkuin, indem er für die fränkischen Bischöfe spricht, verfolgt die von Hadrian vertretene Linie, und macht dazu weitergehende Ausführungen. Er kommentiert und fragt, welche andere Bedeutung könnte Adoption haben, außer dass Jesus Christus nicht der eigene Sohn Gottes, noch als Sohn der Jungfrau Maria geboren wurde zu Ihm (Gott), sondern eher als ein Diener (Sklave) adoptiert. Für Alkuin und die fränkischen Bischöfe kann nur eine Bedeutung für das Wort Adoption vorliegen. Sie stimmen mit Hadrian überein, verteidigen diese christologische Linie und gehen ausführlich darauf ein.[241]
Das Wort Sklave ist als Unterwerfung unter die Sünde zu verstehen. Aus dieser Unterwerfung und Gebundenheit entsteht für den Menschen die Notwendigkeit zur Adoption,[242] die nicht verwechselt werden darf mit dem Adoptionsbegriff der spanischen Bischöfe. Was es mit dieser Adoption auf sich hat, wird anschaulich gemacht im Evangelium nach Johannes Kapitel 1, Vers 12-13: (12) Allen, aber, die Ihn aufnahmen, gab er vollmacht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, (13) die nicht aus dem Blute und nicht aus dem Wollen des Fleisches und dem Wollen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.[243] Eine Definition, die Unterwerfung und Knechtschaft darstellt, wird gegeben in dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom, Kapitel 6 in den Versen 19-23. (19) Ich muss menschlich davon reden um der Schwachheit eures Fleisches willen: Wie ihr eure Glieder hingegeben hattet an den Dienst der Unreinheit und Ungerechtigkeit zu immer neuer Ungerechtigkeit, so gebt nun eure Glieder hin an den Dienst der Gerechtigkeit, dass sie heilig werden. (20) Denn als ihr Knechte der Sünde wart, da wart ihr frei von der Gerechtigkeit. (21) Was hattet ihr nun damals für Frucht? Solche, denen ihr euch heute schämt, denn das Ende derselben ist der Tod. (22) Nun aber, da ihr von der Sünde frei und Gottes Knechte geworden seid, habt ihr eure Frucht, dass ihr heilig werdet; das Ende aber ist das ewige Leben. (23) Denn der Sünde Sold ist der Tod; die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserem Herrn.[244] Die Propheten im
[240] Cavadini, John C. S. 74
[241] ebd. S. 76 ff
[242] ebd. S. 78
[243] Übersetzung nach Kürzinger (kath.)
[244] revidierte Übersetzung nach Luther, Wollerau 2009
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hebräischen Kanon der Heiligen Schrift haben Christus mit dem Wort Knecht (Diener) umschrieben, aber Hadrians Anliegen war es, den Gehorsam zu betonen, den Jesus Christus gegenüber dem Vater vollzog, bis hin zum Tode am Kreuz, wie es der Apostel Paulus im Brief an die Philipper, Kapitel 2, in den Versen 2-8 aufgreift. Elipandus erfährt Schelte und Gegnerschaft in gleicher Weise von den fränkischen Bischöfen: Wenn er also von einer Jungfrau geboren wurde als wahrer Gott, wie könnte der dann adoptiert oder Sklave seins? Um sicher zu sein, darfst du es nicht wagen, zu bekennen; Gott sei ein Knecht (Diener, Sklave) und/oder adoptiert. Wenn also der Sohn Gottes zum Zeitpunkt der Empfängnis wahrer Gott ist, wann ist da ein Zeitpunkt gewesen, dass er Mensch war ohne Gott, wie hätte er dann adoptiert werden können, Gottes Sohn zu sein?[245] Diese Fragen wurden gestellt aus der Sicht und Interpretation fränkischer und auch italienischer Bischöfe. Adoption wird gesehen als reiner Mensch (purus homo) ein Mensch ohne Gott (sine Deo) und somit der Lehre des Nestorius verknüpft; eine Interpretation die von außen herangetragen worden ist. Damit verbunden standen Fragen im Mittelpunkt auf dem Konzil in Frankfurt 794. Zu dem Zeitpunkt war das Ringen um die verschiedenen Lehrmeinungen zur Christologie fast zehn Jahre alt, seit Papst Hadrian sich 785 zum ersten Mal in einem Brief geäußert hatte.[246]
Weitaus größeren Umfang und größeres Aufsehen erregte der Meinungsaustausch zwischen Alkuin und Bischof Felix von Urgel, der seinen Ursprung hatte im Eingreifen Karls in die Diskussionen und theologischen Differenzen. Der Hauptverfechter der Interessen und Ansichten Karls war Alkuin. Aber auch die fränkischen Bischöfe wandten sich insgesamt geschlossen an ihre spanischen Amtsbrüder in einer Entgegnung zu den einzelnen Argumenten auf spanischer Seite. Die Spanier hatten ihre Darstellungen mit Rückgriff auf Isidor von Sevilla (560-636) untermauert, eine Persönlichkeit, die sich nicht nur auf dem Gebiete der Theologie vernehmen ließ, sondern in anderen Wissenschaften Bedeutendes leistete und seiner Zeit damit voraus war. Auf ihn ging die Gegenüberstellung von primogenitus (erstgeborener) und unigenitus (eingeborener) zurück, die von adoptionistischer Seite auf die beiden Naturen Christi übertragen worden waren, was die fränkischen Bischöfe zurückwiesen: „Wir wissen nämlich, dass der Sohn Gottes Gott ist aus beiderlei Natur sowohl eingeboren als auch erstgeboren, weil er einzig ohne Anfang aus Gott, dem Vater, gezeugt ist und einzig seit Beginn der Zeit von der Mutter, einer Jungfrau, geboren worden ist, und daher in beiderlei eingeboren und auch erstgeboren (ist), denn jeder eingeborene ist (auch) ein Erstgeborener, wenn auch gemäß dem menschlichen Geschlecht nicht jeder Erstgeborene eingeboren ist.[247] Alkuin und die fränkischen Bischöfe setzten dem adoptionistischen Ansinnen eine differenziertere Bezeichnung der menschlichen Natur Christi als primogenitus und der göttlichen Natur als unigenitus so entgegen, dass die personale Einheit beider Naturen ununterscheidbar zugleich unigenitus und primogenitus sei. Die fränkischen Bischöfe verwerfen wie zuvor schon ihre oberitalienischen Amtsbrüder die von den Spaniern vorgetragene Lehre von den drei Substanzen in Christus und die Bezeichnung Christi als göttlicher Mensch und menschlicher Gott. Sie verweisen in diesem Zusammenhang die Konzile von Nicäa (325) und Chalcedon (451): „Was ihr im Folgenden angefügt habt, haben wir nicht als Aussage im Bekenntnis der Symbole zu Nicäa gefunden, das in Christus zwei Naturen und drei Substanzen seien, und dass er
[245] zitiert in Cavadini, John C. S. 78
[246] ebd. s. 79
[247] Nagel, Helmut: Karl der Große und die theologischen Herausforderungen seiner Zeit. Zur Wechselwirkung zwischen Theologie und Politik im Zeitalter des großen Frankenherrschers. Berlin; Bern; New York; Paris; Wien 1998 zitiert auf S. 92 f
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göttlicher Mensch und menschlicher Gott sei. Was ist die Natur des Menschen, außer Seele und Körper, oder was ist zwischen Natur und Substanz, dass es für uns nötig wäre, drei Substanzen anzunehmen und nicht viel einfacher, wie die heiligen Väter es gesagt haben, unseren HERRN Jesus Christus als wahren Gott und wahren Menschen in einer Person zu bekennen? Es ist aber die Person in der Heiligen Dreifaltigkeit geblieben, zu welcher (Person) die menschliche Natur hinzugekommen ist, so dass eine Person ist, Gott und Mensch, nicht Gott gewordener Mensch und Mensch gewordener Gott, sondern Gott-Mensch und Mensch-Gott, wegen der Einheit der Person ein einziger Sohn Gottes und derselbe Sohn des Menschen, vollkommener Gott und vollkommener Mensch.[248]
Im Evangelium nach Matthäus, Kapitel 5, Vers 48 heißt es am Schluss der Bergpredigt durch Jesus Christus dazu: (48) Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.[249] Dies ist nicht nur ein Gebot und Erfordernis, es zeigt auch die Zielsetzung, wie sie für das menschliche Individuum vorgesehen ist, nämlich die Umgestaltung des Menschen in das Ebenbild Gottes zu dem er geschaffen wurde und die Rückführung dahin. In Genesis (1. Buch Mose), Kapitel 1, Vers 27 werden Absicht und Bestimmung zur Erschaffung des Menschen definiert: (27) Und Gott schuf den Menschen als Sein Bild. Als Gottes Bild schuf Er ihn. Er schuf sie als Mann und als Weib.[250] In dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom, Kapitel 5, Vers 14, ist etwas ausgesagt über Adam[251] und Christus: (14) Dennoch herrschte der Tod von Adam an bis Mose auch über die, die nicht gesündigt hatten durch die gleiche Übertretung wie Adam, welcher ist ein Bild dessen, der kommen sollte.[252] Adam und Evas Sünde ist kein Vergehen im Sinne des Dekalogs (zehn Gebote). Was es damit auf sich hat, erfährt die Menschheit in Genesis Kapitel 2, in den Versen 8-10 und 15-17: (8) Nun hatte der Herr Gott im Osten einen in Garten Eden gepflanzt; dort ließ er nun den Menschen sein, den er gebildet hatte. (9) Allerlei Bäume, lieblich zur Schau und köstlich als Speise, hatte der Herr Gott aus dem Boden sprießen lassen, in des Gartens Mitte aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. (15) Der Herr Gott nahm also den Menschen und setzte ihn in Edens Garten, dass er ihn bebaue und pflege. (16) Und der Herr Gott gebot dem Menschen und sprach: „Von allen Bäumen im Garten darfst du nach Belieben essen. (17) Nur von dem Baume, der Gutes und Böses kennen lehrt, darfst du nicht essen. Denn sobald du von ihm issest, bist du des Todes.[253] Die Geschichte vom Sündenfall, die uns in Genesis 3 entgegentritt ist sattsam bekannt. Von einem Apfel ist da oft die Rede gewesen, den Eva dem Adam gereicht habe. Im Kanon der Heiligen Schrift ist von keinem Apfel die Rede, es handelt sich hier eher um eine oberflächliche oft ins lächerliche gezogene Betrachtung. Wie stellt sie sich in Wirklichkeit dar? Ganz entscheidend und ausschlaggebend ist das Ergebnis des Sündenfalles, darüber wird in Genesis 3 am Ende berichtet in den Versen 22-24: (22) Und Gott der Herr sagte: „Sieh, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.- Nun aber, damit er nicht seine Hand ausstrecke und auch vom Baume des Lebens nehme und esse und ewig lebe“, – (23) wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, dass er den Erdboden bebaue, von dem er genommen war. (24) Und er trieb den Menschen hinaus und ließ die Cherubim mit dem flammenden Schwert östlich vom Garten Eden lagern, um den Weg zum Baum des Lebens zu bewachen.[254] Aber der Zugang sollte nicht für immer versperrt sein, wie das Versprechen, das Jesus Christus dem neben ihm am Kreuze hängenden in seiner letzten Stunde gegeben, nach dem dieser Reue gezeigt hatte, wie es im Evangelium nach Lukas; Kapitel 23, Vers 42-43 berichtet wird: (42) Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! (43) Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradise sein. In dem prophetischen Buch der Offenbarung des Johannes, Kapitel 2, Vers 7 steht dazu: (7) Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! Wer
[248] Nagel, Helmut: Karl der Große und die theologischen Herasuforderungen seiner Zeit. S. 93
[249] revidierte Übersetzung nach Luther. 1984
[250] Übersetzung nach Paul Riessler (kath). Rottenburg 1956
[251] Adam ist zugleich das hebräische Wort für Mensch
[252] revidierte Übersetzung nach Luther. Stuttgart 1984
[253] Übersetzung nach Paul Riessler
[254] revidierte Übersetzung nach Luther. Wollerau 2009
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überwindet, dem will ich zu essen geben von dem Baum des Lebens, der im Paradies Gottes ist.[255] Was hat die ersten Menschen, Adam und Eva (die Mutter aller Lebendigen), nachdem ihnen der Odem Gottes eingegeben worden war zur Handlung bewogen entgegen dem ausdrücklichen Gebot, nicht von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen? Sie hatten den Einflüsterungen der Schlange Raum gegeben, die in dem Satz gipfelten: Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.
Nach diesem Ausflug erfolgt erneut die Anknüpfung dort, wo vieles begonnen hat, was bestimmend werden sollte für die Geschichte der westlichen Welt oder des viel besungenen christlichen Abendlandes. Eine Frage lässt sich nicht umgehen, die durch den Standpunkt Alkuins und der fränkischen Bischöfe aufgeworfen worden ist. Es heißt bei ihnen, der Mensch sei geschaffen mit Leib und Seele und bilde mit beiden eine Einheit. Unzweifelhaft besteht hier eine Wechselwirkung und auch ein Zusammenhang Es kann keine Trennung geben zwischen psychischer und physischer Befindlichkeit, es sei in Freude oder im Leid, und wenn von Leib und Seele gesprochen wird, wo ist dann der Geist angesiedelt? Das viel zitierte Wort Heiliger Schrift aus dem Evangelium nach Matthäus, Kapitel 26, Vers 41, kommt hier zum Tragen: (41) Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet! Der Geist ist willig, das Fleisch aber ist schwach.[256] Der Geist kann wie die Seele emotional berührt werden, Geist und Seele sind immateriell und darum unbegrenzt, der Leib dagegen ist materiell und begrenzt.
In den unterschiedlichen Auffassungen hatte sich das Hauptgewicht auf zwei Themen und Standpunkte verlagert: Die Dreieinigkeit in Zusammenhang mit der Adoptionslehre und die Aussage in dem Brief des Apostels Paulus an die Philipper, Kapitel 2, Vers 7, wo es um den Begriff der „Entäußerung“ geht, von den Anhängern der Lehre von der Adoption als „Selbstentleerung“ verstanden. Zur Bekräftigung ihrer Aussagen werden von Alkuin und den fränkischen Bischöfen zahlreiche Zitate der Kirchenväter und der Päpste Leo I. (Papst 440-461) und Gregor I. (Papst 590-604), der auch in der orthodoxen Kirche großes Ansehen genießt angeführt. Karl selbst griff ebenfalls sehr entschieden ein, besorgt über Einheit von katholischer Kirche und den Staat, den er zu formen gedachte. Das Hauptargument gegen die Bezeichnung Christi als servus (Knecht, Sklave, Diener) liegt bei Alkuin und dem fränkischen Episkopat wie vordem schon bei Hadrian in der Belastung, die diese Bezeichnung für die Soteriologie (Lehre von der Erlösung) mit sich brachte, hervorgehoben durch ein Zitat: „Christus aber hat nicht gesündigt, deshalb ist er nicht ein Sklave der Sünde, sondern vielmehr ein Befreier und Erlöser derer, die Sklaven der Sünde sind….Nach dieser Erörterung über den Titel servus lenken die Bischöfe des Frankenlandes auf den Hauptgegenstand des Streites: Die Bezeichnung adoptivus (Adoption) für die menschliche Natur Jesu Christi: „Du aber, wer bist du, der du predigst, dass Christus adoptiert sei, woher dir diese Meinung gekommen wäre, hätte ich wissen wollen, wo hättest du diesen kennenlernen sollen, zeige. Die Patriarchen haben (ihn) nicht gekannt, Die Propheten haben (ihn) nicht erwähnt, die Apostel haben (ihn) nicht gepredigt, die heiligen Ausleger haben diesen Namen verschwiegen, die Gelehrten unseres Glaubens haben (ihn) nicht gelehrt….Du sagst nämlich: ‘Warum fürchtest du, den HERRN Christus adoptiert zu nennen?‘ Ich sage dir, weil weder die Apostel ihn so genannt haben, noch hat die heilige allgemeine Kirche die Sitte gehabt, ihn so zu nennen, stets auch nicht zu glauben,
[255] revidierte Übersetzung nach Luther. Stuttgart 1984
[256] Übersetzung nach Hermann Menge (ev)
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dass er adoptiert sei, sondern er ist der eigene Sohn, gemäß den vorangegangenen Zeugnissen der Apostel und Lehren der heiligen Lehrer.(Zitat)[257]
Gegen Ende ihres Schreibens führt der fränkische Episkopat dann den Vorwurf des Nestorianismus ins Feld, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Spanier in ihrem Schreiben zwar zahlreiche Häretiker vergangenen Jahrhunderte verdammt hätten, der bedeutende Nestorius aber nicht darunter zu finden sei, was als zusätzlicher Beleg für den Vorwurf des Nestorianismus gewertet wird. Aufs engste damit verbunden ist die Anschuldigung gegen die Spanier, zwei Söhne Gottes, einen adoptierten und einen eigenen zu lehren. Bei dem Vorwurf des Nestorianismus lassen es die fränkischen Bischöfe es allerdings nicht bewenden, indem sie den spanischen Adoptianern auch arianisches Gedankengut unterstellen: „Wie nämlich es niemals war, dass Gott der Vater, ohne Gott, den Sohn, gewesen ist…so war es niemals, dass der Mensch Jesus ohne Gott gewesen ist…Wie nämlich Arius den Sohn vom Vater getrennt hat, indem er sprach: Es war (eine Zeit), in welcher er nicht Sohn Gottes war, so trennt ihr durch die Adoption den Menschen Christus vom Sohn Gottes.[258] (Zitat)
Nach diesen Ausführungen ermahnen die fränkischen Bischöfe ihre spanischen Amtsbrüder weiterhin: „Erkennt, dass in (diesem) eurem Bekenntnis eine zweifache Täuschung des teuflischen Betruges hervorgebracht ist, das ist, dass er euch, die ihr durch die Gnade der Taufe erlöst worden seid, von der Einheit der katholischen Kirche trennt und mit dem Strick des schismatischen Irrtums vom Weg des ewigen Heils abhält und vor den Heiden unter denen ihr lebt, die Anfangsgründe des christlichen Glaubens versperrt, und während ihr unseren HERRN Jesus Christus, wir als Gott verehren und anbeten, sowohl als Knecht als auch als adoptiert predigt…Bedenkt, wie groß dieser Skandal unter den heidnischen Völkern ist, dass gesagt wird, der Gott der Christen sei ein Knecht oder adoptiert. Wir sind durch jenen adoptiert worden, nicht ist jener mit uns adoptiert worden, wir sind durch jenen von der Knechtschaft befreit worden, nicht (ist) jener mit uns ein Knecht.[259]
Alkuin und der fränkische Summenepiskopat sehen in der adoptionistischen Häresie eine doppelte Gefahr: Zum einen bedeutet sie die Trennung von der einen katholischen Kirche und damit verbunden der Verlust des persönlichen Heils, zum anderen ist sie nach fränkischer Auffassung ein Hinderungsgrund für die moslemischen Besatzer auf der iberischen Halbinsel, den christlichen Glauben anzunehmen, stellt doch die Bezeichnung des christlichen Gottes als Knecht nach ihrer Ansicht eine unzumutbare Erniedrigung Gottes dar, und muss somit für die Moslems als unüberbrückbares Hindernis erscheinen. Dieser Argumentationslinie folgend, hebt das fränkische Episkopat Jesus Christus noch einmal als Sohn Gottes in seiner Göttlichkeit hervor: „Wir wollen verkündigen, dass dieser wahrer und lebendiger und wirklich Sohn Gottes ist, damit wir (es) erwerben, zu einer glückseligen Schau zu gelangen, in welcher
[257] Nagel, Helmut: Karl der Große und die theologischen Herausforderungen seiner Zeit. S. 93 f
[258] ebd. S. 95
[259] zitiert ebd. S. 96
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die ewige Glückseligkeit und die gesegnete Ewigkeit (ist), dem Lob und Preis in alle Ewigkeiten (sind). Amen.“[260] Diese Widerlegungen von Seiten der oberitalienischen und fränkischen Bischöfe waren begleitet von einem direkten Eingriff Karls des Großen in die gegensätzlichen Auffassungen, der mit dem Gewicht seiner Herrscherpersönlichkeit zusätzlich die Bedeutung der aufgeworfenen Fragen unterstrich. Sein von den Hoftheologen, angeführt von Alkuin, formulierter Appell verfolgte zwei Ziele: Die Bewahrung der kirchlichen und damit auch der staatlichen Einheit und die Rückführung der abgewichenen Spanier durch eine groß angelegte Überzeugungsarbeit in die dogmatische und organisatorische Einheit der Kirche. In einem Lehrschreiben hatte Papst Hadrian 793/94 seine Bereitschaft zu erkennen gegeben, über die Abtrünnigen in Spanien, den Kirchenbann auszusprechen.[261] Die apostolische und patristische Lehrtradition sind für Karl und seine Berater die absolute Richtschnur, an der aller Glaube und alles Denken ausgerichtet werden muss; wenn die Spanier von dieser grundlegenden Norm abgewichen sind und darin beharren, so ist damit die grenzüberschreitende Gemeinschaft aufgehoben. Der Weg zu einer künftigen Zusammenarbeit wird aber unter den genannten Voraussetzungen offen gehalten.[262] In diesem Zusammenhang erwähnt das Schreiben Karls des Großen, dass er Mitgefühl für die politische Unfreiheit der spanischen Christen empfinde, den schismatischen Irrtum, der von den Bischöfen in Spanien ausgehe, aber nicht billigen könne, und ihm Sorgen bereite.[263] Ein unmittelbarer Eingriff innerhalb der moslemisch beherrschten Gebiete stieß aber auf Hindernisse. Die Drohung mit der Exkommunikation, die Papst Hadrian zuvor ausgesprochen hatte, konnte nicht die gleiche Wirkung erzielen, wie im Herrschaftsbereich selbst, weil die Zugriffsmöglichkeiten durch die politischen Machtverhältnisse in Spanien begrenzt waren.[264]
Die spanischen Bischöfe hatten an König Karl eine Anfrage gerichtet. In der freundlich gehaltenen Antwort wird die universale Bedeutung von Einheit und Lehre dargelegt: „Daher ist eure Besserung (correctio) unsere Freude, wenn ihr danach verlangt, Bundesgenossen im Glauben zu haben und Mitarbeiter in der Verkündigung der Wahrheit, so dass die Freude, die Christus seinen Jüngern verheißen hat, in euch wohne, und unsere Freude in euch vollständig sei.“ Im Evangelium nach Johannes, Kapitel 15, Vers 11 heißt es dazu; (11) Das sage ich euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde.[265] „Zur Vollendung dieser Freude haben wir in der nötigen brüderlichen Liebe befohlen, dass eine synodale Versammlung der heiligen Väter aus allen Kirchen unseres Herrschaftsgebietes von überall her zusammenkomme, damit die heilige Einmütigkeit aller kräftig beschließe, was man über die Adoption des Fleisches Christi glauben müsse, die, wie wir kürzlich erfahren haben, ihr mit euren Behauptungen und in der heiligen allgemeinen Kirche Gottes aus früheren Zeiten nie Gehörtem in euren Schriften vorbringt.[266]
Mit diesen Worten bestätigt Karl, dass der spanische Adoptionismus Gegenstand auf dem Frankfurter Konzil von 794 war, und dass Karl bereits im Vorwege zur Frankfurter Synode mit Hadrian Kontakt aufgenommen hatte, zeigte sich durch die Romreise, zu der Bischof Felix von Urgel auf dem Konzil von Regensburg 792 veranlasst wurde. Es war zu
[260] Nagel, Helmut: Karl der Große und die theologischen Herausfroderungen der Zeit mit Zitat. S. 96 f
[261] ebd. S. 98
[262] ebd. S. 100
[263] ebd. S. 101
[264] ebd. S. 98
[265] revidierte Lutherübersetzung 1984. Stuttgart 2007
[266] Nagel, Helmut: zitiert auf S. 101
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einer ausgeweiteten Korrespondenz zwischen dem fränkischen Hof und Rom gekommen, die ausgelöst wurde durch die Befürchtung vor einer weiteren Ausbreitung der Lehren, wie sie vom spanischen Episkopat ausgegangen waren und in der Notwendigkeit einer Gefahrenabwehr gesehen wurde, die ihre Grundlage in der von Bonifatius im römischen Sinne durchgeführten Reform der fränkischen Kirche mit dem Primat des päpstlichen Lehramtes.[267]
Zunächst ruft Karl die Spanier zur Einmütigkeit mit der traditionellen Lehre der römisch-fränkischen Kirche auf, wobei er in der Adoptionsfrage den Versuch erkennt, die Kirche mit einer neuen anders gearteten Christologie zu durchdringen, was nicht mit der Überlieferung durch die Kirchenväter in Einklang gebracht werden konnte. Karl und die Theologen des fränkischen Hofes vertraten eine auf namhafte Kirchenväter, insbesondere Augustin, zurückgehende Lehrtradition, die beherrschend war für das gesamte Frühmittelalter. Karl greift auch das Schreiben auf, in dem die spanischen Bischöfe Karl davor warnen, die Wege Kaiser Konstantins zu beschreiten. Der Frankenkönig weist den negativen Konstantinvergleich zurück. Die Bewertung Konstantins durch die Spanier, die seit den Tagen Isidors von Sevilla zweideutige Züge aufzuweisen hatte, die zumindest keine Verteidigung der von Kaiser Konstantin vertretenen Kirchenpolitik aufzuweisen hatte, die sich zeitweise schwankend gestaltete. Karl war einem positiven Vergleich mit der letzten machtvollen Herrscherpersönlichkeit der Römischen Geschichte nicht abgeneigt. Er hatte die in einem Brief Hadrians aus dem Jahre 778, in der die Bezeichnung Novus Constantinus (Neuer Konstantin) zu finden war, nicht ausdrücklich zurückgewiesen. Die sinnfällig gewordene Erneuerung des Römischen Reiches nach der Kaiserkrönung im Jahre 800 hatte aber nicht ausschließlich Kaiser Konstantin zum Vorbild. Auf dem Frankfurter Konzil waren die anwesenden Bischöfe bemüht, die Schriften der Spanier angemessen zu beurteilen, und Karl dabei auch mit Zustimmung der anwesenden Spanier als Autorität und Schiedsrichter anerkannt wurde. In einem Schreiben bekräftigt Karl seine Entschlossenheit, gegen alle vorzugehen, die irgendetwas dem rechtmäßigen Glauben Widersprechendes lehren, nachdem die Spanier ihm Beatus von Liebena, der ihm völlig unbekannt war, als Verführer vorgestellt hatten.[268]
Nach Karls Auffassung und des ihn umgebenden Hofkreises war die politische Emanzipation der hispanisch-westgotischen Christen von der moslemischen Herrschaft eine unabdingbare Voraussetzung, um in dem gegebenen politischen und kirchlichen Umfeld Teil der katholischen Kirche zu sein. Sie war aus fränkischer Sicht die unverzichtbare Heilsvermittlerin auch für das diesseitige Heil für den einzelnen wie auch für die Gesellschaft. Dieses Deutungsschema, das keine Veränderungen duldete, bestimmte das Denken und lässt eindrucksvoll erkennen, welche ungewöhnliche Bedeutung theologische Fragen für das Reich Karls des Großen hatten, gerade auch im Alltagsleben der Menschen. Das Schreiben Karls konnte eher als Mahnung, nicht als Drohung verstanden werden: „…Ihr habt uns, mit Hilfe der göttlichen Gnade, zu Mitarbeitern eurer Freude, wenn ihr mit uns Prediger des katholischen Glaubens sein wollt. Unzweifelhaft wird daher dort die Hilfe des göttlichen Mitgefühls sein, wo die Nächstenliebe der ganzen Kirche eins und das Bekenntnis des wahren Glaubens eins ist. Kehrt zur Menge des Volkes Christi und zur Einmütigkeit der bischöflichen Versammlung zurück.“[269] Die Verurteilung der Lehre des Elipandus von Toledo und des Felix von Urgel auf dem Frankfurter Konzil war reichsrechtlich bindend und bildeten einen Höhepunkt in der Auseinandersetzung mit der
[267] Nadel, Helmut: Karl der Große und die theologischen Herausforderungen der Zeit. S. 101 f
[268] ebd. S. 104 f
[269] ebd. mit Zitat
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Christologie der Adoption, wie sie von den spanischen Bischöfen vertreten und verbreitet wurde. Der Anstoß zu den weitreichenden räumlich und zeitlich ausgedehnten und vorgetragenen Gegensätzen, die ihren Höhepunkt auf dem Frankfurter Konzil 794 erreichten in Umfang und Besetzung der Beteiligten. Die Initiative war von Karl ausgegangen, sein Einfluss zu der Zeit, besonders im letzten Jahrzehnt des 8. Jahrhunderts, war stets gegenwärtig; er ließ nichts unbeobachtet, wenn auch die eigentlichen schriftlich und mündlich vorgetragenen theologischen Debatten von der zuständigen Gelehrsamkeit wahrgenommen wurden, bis 799 auf dem Konzil in Aachen die endliche und letzte Entscheidung fiel.[270]
Im April 796 hatte sich Alkuin wegen politischer Unruhen in seiner Heimat in York in Britannien entschlossen auf eine Rückkehr zu verzichten. In dankbarer Erinnerung für geleistete Dienste verlieh Karl dem siebzigjährigen die Abtei St. Martin in Tour, dem geschichtsträchtigen Ort, die zu den größten im Frankenreich gehörte. In der Bibliothek von St. Martin befand sich die lateinische Übersetzung der Akten des Konzils von Ephesus 431. Der Fund als Quellenmaterial bildete den Auftakt erneut in eine groß angelegte Argumentation zum immer noch laufenden Streit um die Christologie der Spanier. Im Frühjahr 797 eröffnete Alkuin erneut den theologischen Disput in einem Schreiben an Felix von Urgel,[271] der nach dem Konzil von Regensburg nicht ganz freiwillig zu Papst Hadrian gereist war, um zu widerrufen. Nachdem Widerruf wurde er nicht in die Freiheit entlassen, sondern festgesetzt. Es gelang ihm aber die Flucht und über Gerona und Septimanien im äußersten Nordosten Spaniens und Südwesten des Frankenreiches, Gebiete, die in einem Eroberungsfeldzug von den Sarazenen eingenommen worden waren, gelangte er wieder nach Urgel, wo er sein Amt als Bischof wieder einnahm, was die fränkische Seite offensichtlich nicht verhindern konnte, dennoch bezeichnete ihn Alkuin in einem Schreiben, das freundlich gehalten war als Bischof, und forderte ihn auf „…ins Lager des himmlischen Königs…“ zurückzukehren. Felix hatte trotz seines Widerrufs die Lehre von der Adoption erneut verbreitet, was Alkuin zu der Feststellung veranlasst, dass der Name Adoption weder im Alten noch Neuen Testament zu finden sei, und führt dazu aus: „Die ganze evangelische Vollmacht ruft, alle Schriften der Apostel bezeugen, die große Mehrheit auf der Welt glaubt, die römische Kirche predigt, dass Jesus Christus der wahre und eigene Sohn Gottes ist. Warum wollt ihr ihn den Namen eines adoptierten beilegen? Was ist ein adoptierter Sohn anderes, außer ein falscher Sohn?…“[272] Diese Position ist Alkuin mancher Orts als Monophysitismus ausgelegt worden.[273] Auf diesem Wege bei den Spaniern ein Verständnis hervorzurufen, erscheint unmöglich. Alkuin ist unentwegt bemüht, Felix für orthodoxe Ansicht zurückzugewinnen. Entsprechend lässt er sich vernehmen: Ermahne deinen Bruder, den ehrwürdigen Bischof Elipandus…, dass er mit dir und mit der unzähligen Menge der Heiligen zum Tor der ewigen Stadt emporsteigt. Richtet die Herde Christi, die ihr empfangen habt, um sie zu weiden, nicht zugrunde, sondern rettet (sie)…“[274] Demnach sieht Alkuin in der adoptionistischen Lehre eine Krankheit, die in der Lage ist, das ganze Gemeinwesen des Frankenreichs zu befallen und zu zerstören, analog den Ausführungen Karls in seiner Ansprache vor dem Frankfurter Konzil und hebt damit hervor, wie sehr die adpotionistische Lehre für die politisch-religiöse Spitze des Frankenreiches darstellte, welche dem großen Reformprogramm, das Karl in Angriff genommen hatte und zu vollenden gedachte
[270] Nagel, Helmut: S. 111
[271] ebd. S. 113
[272] ebd. mit Zitat S. 114
[273] ebd. S. 115
[274] ebd. mit Zitat S. 115
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entgegenstand. Alkuin sah in der Anführung der patristischen Zeugen das geeignete theologische Mittel, der Gefahr entgegenzutreten und sie zu überwinden.[275]
Einige Monate nach seinem Brief an Felix von Urgel wandte sich Alkuin im April/Mai 798 in einem Schreiben an Elipandus von Toledo. Im Verlauf seines Briefes lobt er das fromme Leben des Elipandus und warnt ihn gleichzeitig vor den Lehren des Felix, dessen frommen Lebenswandel er dennoch betont. Er vermisst einen überzeugenden Hinweis mit Begründung zur Adoptionslehre, stellt dabei die Besonderheit der Geburt und Erwählung Christi in den Vordergrund und schreibt: „…sondern sogleich in der Empfängnis selbst und in der Geburt ist Christus als wahrer Gott und eigener Sohn Gottes geboren, nicht als adoptierter Sohn und auch nicht als sogenannter Gott. Ohne jeden Zweifel muss man kräftig glauben und predigen, dass derselbe, der aus einer Jungfrau geboren wurde, wahrer Gott in zwei Naturen und wahrer Sohn Gottes ist; so, dass er ein einziger Christus und ein einziger Gott und ein einziger Sohn Gottes und ein einziger König und ein einziger Erlöser der ganzen Welt ist, aufgrund der Gottheit mit dem Vater wesensgleich, aufgrund der Menschheit mit der Mutter wesensgleich, dass derselbe wahrer Gott und wahrer Mensch in der Einheit der Person ist.[276]
Felix unternahm es, Alkuin von seiner Sicht zu überzeugen: „Warum lehnst du diesen Namen (Adoption) ab? Was kann es Herrlicheres geben, was Ehrenvolleres oder was Heiligeres der menschlichen Natur von Gott verliehen werden als dieses Geschenk, durch welches man erkennt, dass dieselbe Natur des Menschen von Gott nach dem Sündenfall wieder angenommen wurde?[277] Alkuin ist dem Gedanken nicht abgeneigt, indem wir durch die Bezeichnung adoptivus filius, (adoptierter Sohn) aber auch nur dann, wenn wir im wahren Sohn Gottes adoptiert sind. Für Christus hingegen bedeute dieser Titel eine Minderung, da die größere Ehre darin bestehe, wahrer Sohn Gottes zu sein.[278] Diese Aussage findet eine Erklärung im Brief des Apostels Paulus im Brief an die Gemeinde in Rom Kapitel 8, Verse 14-17: (14) Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. (15) Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet, sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba lieber Vater! (16) Der Geist selbst gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind. (17) Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm Leiden, damit wir mit zur Herrlichkeit erhoben werden.[279] In der Heiligen Schrift ist oft von Kindern Gottes die Rede, so schon im hebräischen Kanon, wenn von den Kindern Israels gesprochen wird. Die Worte Adoption oder adoptiert sind in der Heiligen Schrift von der ersten bis zur letzten Seite nicht zu finden. Wenn diese Worte benutzt werden, kommt es darauf an in welchem Sinne sie benutzt werden, das wollte Alkuin deutlich zu erkennen geben. Auf fränkisch-päpstlicher Seite wurde die Gewähr des eigenen Heiles nur im Deus-Christus (Gott-Christus) gesehen, also Christus als Gott in Gott, was Karl in seinem Brief an Elipandus und die spanischen Bischöfe unterstreicht unter Berufung auf Augustin, allerdings auf einer athanasianischen-kyrillischen Linie liegend.[280] Das war auch ein Rückgriff auf Kyrill von Alexandria (378-444), der entschieden dem Nestorius und seiner Lehre entgegengetreten war, in der er eine Verletzung
[275] Nagel. Helmut: S. 118
[276] ebd. mit Zitat S. 121 f
[277] ebd. mit Zitat S. 124
[278] ebd. S. 125
[279] revidierte Übersetzung nach Luther 1984
[280] Nagel, Helmut: S. 125
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der Dreieinigkeit Gottes sah. Auf dem Konzil von Ephesus 431 setzte sich Kyrill mit der Lehre von der Gottesmutterschaft Marias durch. Wenige Jahre später fand das Konzil von Chalcedon statt, auf dem sich Patriarchat von Alexandrien endgültig von der Reichskirche lossagte und zur koptischen Kirche wurde.
Wie sehr gerade die Verknüpfung von Christologie und Soteriologie im Mittelpunkt der theologischen Disputation stand, lässt die Argumentation des Felix erkennen: „Denn wenn unser Erlöser selbst in seinem Fleisch, das er aus dem Leib der Jungfrau, nämlich bei der Empfängnis, angenommen hat, beim Vater nicht adoptierter, sondern wahrer und eigener Sohn ist, was bleibt übrig, außer dass sein Fleisch von derselben Masse des menschlichen Wesens und nicht vom Fleisch der Mutter geschaffen und gemacht wurde, sondern von der Substanz des Vaters, wie auch von seiner Göttlichkeit entsprungen ist. Die logische Argumentation hat die Annahme zum Hintergrund, dass ohne die Vorstellung der Adoption der menschlichen Natur Christi „…die wahre Menschlichkeit Jesu die Gleichheit Jesu mit dem Menschen…verloren geht.“
Felix untermauert diese Argumentation, in welcher der inkarnierte (Fleisch gewordene) Christus als das Urbild der Erlösung erscheint: „Denn in der ersten Geburt, in der wir fleischlich geboren werden, kann keiner Mensch sein, der seinen Ursprung von woanders her als von dem ersten Adam, der aus der jungfräulichen Erde geschaffen wurde, herleiten könnte. Ebenso vermag niemand in der zweiten geistlichen Geburt, in der wir mit Wasser und dem Heiligen Geist wiedergeboren werden, die Gnade der geistlichen Geburt zu erlangen, es sei denn, er empfange diese beiden Geburten in Christus, dem zweiten Adam, der aus dem Fleisch einer Jungfrau geschaffen und geboren ist. Die erste Geburt ist nämlich fleischlich, die zweite geistlich und geschieht durch Adoption.
Diesen Standpunkt verschärft Felix und fügt hinzu: „Wenn aber irgendeiner, sagst du, diese geistliche Geburt, die durch Adoption geschieht, von Christus gemäß der Menschheit verwerfen will, so ist es vorher nötig, dass er jene, welche gemäß dem Fleisch ist, gänzlich von ihm trennt. Wenn nämlich in dieser da, welche geistlich ist, er sich mit uns nicht verständigt, ohne Zweifel auch nicht mit jener, welche fleischlich ist.
Felix sieht demnach in der fränkischen Christologie die Gefahr des Doketismus.[281]
Doketismus und die im Gegensatz dazu stehende Begriffswelt der Kenosis bedürfen in ihren Zusammenhängen der genaueren Erläuterung, um das Vorhergehende besser zu erfassen. Der Doketismus beinhaltet eine Christologie, in der Jesus Christus seinen Leib nur zum Schein angenommen hat, er also mit dem eigentlichen Menschsein nicht in Berührung gebracht werden kann, somit ist er einseitig nur Gott. Für die Doketisten galt die Materie als unrein und für Jesus somit unannehmbar. Der Lehre von der Kenosis steht dem entgegen, sie ist das genaue Gegenteil. In ihr wird über Jesus Christus ausgesagt, er habe bei der Menschwerdung auf seine Herkunft, die ihn Gott gleichstellte, „verzichtet“. Im Protestantismus hat es dazu eine Diskussion gegeben, die zu unterschiedlichen Auffassungen führte, von denen hier vier genannt werden sollen: So wurde die Ansicht vertreten Jesus habe bei seiner Menschwerdung ganz auf seine göttlichen Eigenschaften „verzichtet“ (Martin Chemnitz). Einer anderen Sicht zufolge war er zwar im Besitz der Eigenschaften, die ihn Gott gleichgestellt haben, machte aber keinen
[281] Nagel, Helmut: S.126
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Gebrauch davon (Johannes Brenz). Besonders im 19. Jahrhundert bildete sich im protestantischen Raum eine Schule von Kenotikern heraus, in der unterschieden wurde zwischen weltbezogenen Wesenszügen Gottes wie Allmacht, Allgegenwart, Allwissenheit und den immanenten Wesenszügen, die Jesus nicht ablegen konnte, wie Macht, Wahrheit und Heiligkeit (Gottfried Thomasius). Dazu ist eine Theologie vertreten worden, die unterscheidet zwischen mitteilbaren und unmitteilbaren Eigenschaften, das hieße der Mensch könne zwar die Eigenschaften der Nächstenliebe, der Barmherzigkeit, der Wahrheit und Heiligkeit als die mitteilbaren besitzen, nicht aber die unmitteilbaren der Allmacht, der Allwissenheit und der Allgegenwart.
Die katholische Kirche hat die Lehre der protestantischen Kenotiker mit Schärfe verurteilt. Papst Pius XII. erklärte in der Enzyklika Sempiternus Rex Christus 1951: Völlig unvereinbar mit dem Glaubensbekenntnis von Chalcedon ist auch eine unter Nichtkatholiken ziemlich weit verbreitete Ansicht, der eine leichtfertige und falsch ausgelegte Stelle aus dem Philipperbrief des heiligen Paulus (Phil 2, 7) eine Handhabe und einen Schein von Autorität bot-die Lehre von der sogenannten ‚Kenose‘-, nach der man in Christus eine ‚Entäußerung‘ der Gottheit des Wortes annimmt. Diese wahrhaft gotteslästerliche Erdichtung ist, ebenso wie der Irrtum des Doketismus, zu verwerfen, da sie das ganze Geheimnis der Menschwerdung und Erlösung zu einem blutlosen nichtigen Schatten entwertet. „In der unversehrten und vollkommenen Natur eines wahren Menschen“, so lehrt eindrucksvoll Leo der Große, „wurde der wahre Gott geboren, vollständig seiner Eigenart nach, vollständig der unseren nach.“ (zitiert in Wikipedia)
Es ist ersichtlich, wie die Gegensätze sich über die Jahrhunderte von Anbeginn der Gemeinde und Kirche über die Zeit Karls des Großen, die sich mit ihrem Ausgang prägend gestalten sollte, bis in die Gegenwart hingezogen haben. Im Mittelpunkt der Betrachtung theologischer und christologischer Abhandlung ist immer und erneut die Passage aus dem Brief des Apostels Paulus an die Philipper entgegengesetzt worden, besonders Vers 5 - 7 aus dem 2. Kapitel, worauf bereits weiter oben Bezug genommen worden ist: (5) Seid auf das in euch bedacht, was auch in Christus Jesus war. (6) Da er in Gottes Gestalt war, glaubte er nicht, das Gleichsein mit Gott selbstsüchtig festhalten zu müssen, (7) sondern er entäußerte sich selbst dadurch, dass er Knechtsgestalt annahm, dem Menschen ähnlich und in seinem Äußern wie ein Mensch gefunden wurde.[282]
Die Adoptionisten in ihrem Gegensatz zu Karl und Alkuin, hatten „Selbstentäußerung“ als „Selbstentleerung“ interpretiert, was aufgefasst wurde, als wäre Gott aus ihm entwichen. Jesus Christus ist im Fleisch auf diese Erde unter die Menschen gekommen, und unterschied sich äußerlich nicht von ihnen. Aber das Fleisch in dem er gekommen war, unterscheidet sich von dem Fleisch der Menschen unter denen er sich bewegte. (s. o. Seite 83 f) Eine Erklärung findet sich dazu im 2. Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth Vers 21: (21) Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.[283] Es gibt keinen zweiten Menschen, von allen die je diese Erde betreten haben, die das von sich sagen können. Und vollends heißt es dazu im christlichen Kanon der Heiligen Schrift im Brief an die Hebräer in Kapitel 4, Vers 15-16: (15) Denn wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. (16) Darum lasset uns
[282] Übersetzung nach Kürzinger (kath)
[283] revidierte Übersetzung 1984 nach Luther
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hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.[284] Diese Worte Gottes führen den Menschen nicht nur ins Zentrum und in die Zielsetzung der Heilsgeschichte, diese Worte besitzen auch eine gesellschaftspolitische Sprengkraft, denn Jesus Christus hätte sich auch anders äußern und anders handeln können, welcher Mensch wäre schon bereit aus seiner gesellschaftlichen Position heraus, eine solche Haltung einzunehmen. Jesus hätte ebenso gut sagen können: Ich bin zwar in eurem Fleisch und eurer Gestalt zu euch gekommen, nur ist mein Fleisch besser als das eure, und meine Gestalt darum anders geartet, darum stehe ich über euch. Genau das hat er nicht getan, sondern er hat sich mit den sündigen Menschen und der gefallenen Schöpfung gemein gemacht, um so den Weg zur Erlösung zu öffnen, darum ist eine Theologie falsch und irreführend, die besagt, Gott habe nicht gelitten, er leidet in seinem Sohn in allem was Menschen auf ihren Irrwegen begegnet. Voraussetzung, um dieser angebotenen und erwirkten Erlösung teilhaftig zu werden, ist der Glaube daran. Es wäre daher angebracht, das Angebot dieser Erlösung nicht zu missachten.
Das Konzil von Frankfurt, das 794 einberufen wurde, brachte eine wichtige Entscheidung in dem weiteren Verlauf des theologischen Streits um das christologische Verständnis. Es war nicht das letzte Zusammentreffen, aber es war besetzt mit den wichtigsten Entscheidungsträgern, von Karl selbst, den ihn am Hofe umgebenen Gelehrten sowie als Vertreter des Papstes Legaten aus Rom. Welcher Weg führte von Toledo, dem hartnäckigen Zentrum des dogmatischen Widerstandes, nach Frankfurt, wo ein groß angelegtes Konzil den Durchbruch und die Entscheidung schaffen sollte? In Spanien hatten Kirchenväter und Theologen eine eigene Schule begründet, die sich gegenüber Rom eine weitgehende Unabhängigkeit bewahrt hatte, schon bevor Spanien zum größten Teil unter moslemische Herrschaft geriet. Christologie bildete das Zentrum, um das die Argumente ausgetauscht wurden, und das Urteil über die Abtrünnigen aus Spanien fiel deutlich aus: „…gegen die gottlose und ruchlose Häresie des Elipandus, Bischof des toledanischen Sitzes und des Felix von Urgel und ihren Anhängern, die in übler Meinung eine Adoption im Sohn Gottes behaupteten. Dagegen widersprachen alle genannten heiligen Väter und wiesen sie einmütig zurück, und legten fest, dass diese Häresie von Grund auf aus der heiligen Kirche auszurotten sei“.[285] Darauf folgte die eigentliche Aussage zum Adoptionismus: „Durch diesen Sohn Gottes und zugleich Menschensohn, adoptiert der Menschheit nach und keineswegs adoptiert der Gottheit nach, erlöste er die Welt. Zur ekklesiologischen (kirchlichen) Bedeutung wird dazu ausgeführt: Es seien alle Heiligen diesem Sohn Gottes der Gnade nach gleichförmig und mit dem adoptierten ebenfalls Adoptierte und mit Christus „Christusse“. In der Auferstehung werden wir ihm nicht der Gottheit nach ähnlich sein, sondern der Menschheit des Fleisches nach.[286] Eine soteriologische (Soteriologie Lehre von der Erlösung) Sicht tritt hier hervor und erklärt sich so: Heilige (Menschen) können ihm (Christus) gleichförmig sein der Menschheit des Fleisches nach, aber nicht der Gottheit nach, sie sind in ihrem Menschsein mit ihm zusammen adoptiert.[287] Die spanische Seite äußert sich so unter Berufung auf den ersten Brief des Apostels Johannes Kapitel 3, Vers 2: (2) Geliebte, wir sind nun Gottes Kinder; und es ist
[284] revidierte Übersetzung nach Luther
[285] Das Frankfurter Konzil von 794 herausgegeben von Rainer Berndt mit einem Beitrag von Theresia Hainthaler: Von Toledo nach Frankfurt. Dogmengeschichtliche Untersuchungen zur adoptionistischen Kontroverse. Mainz 1997. S. 809 f
[286] ebd. S. 815
[287] ebd. S. 817
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noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es offenbart wird, dass wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.[288] An anderer Stelle im christlichen Kanon der Heiligen Schrift steht dazu im Brief des Apostels Paulus an die Römer in Kapitel 6, Vers 5-6: (5) Sind wir nämlich zusammengewachsen mit der Gestalt seines Todes, werden wir es auch sein mit der seiner Auferstehung. (6) Wir wissen ja, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt wurde, auf dass der sündige Leib vernichtet werde und wir so nicht mehr der Sünde Knechte seien.[289] Die Aussagen der Heiligen Schrift erlauben keinen Spielraum für Interpretationen, wie sie im Verlaufe der Kirchengeschichte auf mannigfache Weise vorgenommen worden sind und vorgenommen werden.
Die Ablehnung der Adoption, das lässt Elipandus in seinem Grundentwurf erkennen, gefährdet die Lehre von der wahren Menschwerdung durch die Geburt aus Maria.[290] Ein Bekenntnis lautet, worin eine deutliche Abkehr vom Bekenntnis, das 325 in Nicäa ausgesprochen wurde, erkennbar ist: „Wir glauben als Gott den Sohn Gottes, vor aller Zeit ohne Anfang aus dem Vater gezeugt, gleichewig und ihm gleich und wesensgleich nicht der Adoption nach, sondern der Herkunft nach, und nicht der Gnade, sondern der Natur nach, was derselbe Sohn im Evangelium nach Johannes in Kapitel 10, Vers 30 bezeugt: Ich und der Vater sind eins, und das übrige, was über seine Gottheit uns derselbe wahre Gott und wahre Mensch gesagt hat. Für das Heil des Menschengeschlechts aber ging er am Ende der Zeit aus jener innersten und unaussprechlichen Substanz des Vaters hervor und, ohne sich vom Vater zu entfernen, strebte er nach dem Untersten dieser Welt, erschien öffentlich dem Menschengeschlecht, nahm als Unsichtbarer einen sichtbaren Leib an und wurde auf unaussprechliche Weise aus der Jungfrau bei unversehrter Jungfräulichkeit der Mutter geboren. Gemäß der Tradition der Väter bekennen und glauben wir, dass der aus der Frau geborene, dem Gesetz unterstellte nicht der Herkunft nach der Sohn Gottes ist, sondern der Adoption nach, nicht der Natur nach, sondern der Gnade.“[291] Behauptungen, die Anhänger der Adoptionslehre hätten Jesus Christus zweigeteilt, werden schwer zu widerlegen sein. Um ihre Lehre zu unterstreichen wird als Schriftbeleg auf das Evangelium nach Johannes Kapitel 14, Vers 28 verwiesen: (28) Ihr habt gehört, dass ich euch gesagt habe: Ich gehe hin und komme wieder zu euch. Hättet ihr mich lieb, dann würdet ihr euch freuen, dass ich gesagt habe, ich gehe zum Vater; - denn mein Vater ist größer als ich.[292] Nicht wenige haben sich zu allen Zeiten aufgemacht, um den Beweis anzutreten, die Heilige Schrift sei ein Buch der Widersprüche. Das könnte auch geschehen, wenn die zwei Schriftstellen im Johannesevangelium, Kapitel 10, Vers 30 und Kapitel 14, Vers 28 zum Vergleich herangezogen würden. In Joh. 10, 30 werden der Vater und Jesus Christus als Einheit gesehen, und zwar als Wesenseinheit, nicht im Sinne von Meinungs-und Auffassungseinheit. Wenn es trotzdem in Joh. 14, 28 heißt: ...der Vater ist größer als ich, dann spricht Jesus hier als Mensch zu Menschen, aber eben als Mensch, ohne der Versuchung zur Sünde erlegen zu sein (s. o. Seite 85 f), der sich dennoch mit der Sünde und den Sündern auf eine Stufe stellt aus einer freien Entscheidung heraus. Es stellt sich die Frage, hätte er überhaupt auch anders entscheiden können? Er hätte anders entscheiden können mit allerdings den entsprechenden Konsequenzen. Hätte er sich über die Menschen gestellt, was er ja hätte können, dann wäre der Weg zu Erlösung versperrt gewesen. Welche Konsequenz hätte es gehabt, wenn
[288] revidierte Übersetzung nach Luther Wollerau 2009
[289] Übersetzung nach Kürzinger (kath)
[290] Hainthaler, Theresia: Von Toledo nach Frankfurt. S. 817 f
[291] ebd. S. 818
[292] revidierte Übersetzung nach Luther. Wollerau 2009
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Jesus Christus im Garten von Gethsemane den Gehorsam verweigert hätte (Evangelium nach Matthäus, Kapitel 26), oder wenn er dem um die Macht kämpfenden Gegenspieler Gottes nachgegeben und niedergefallen wäre zur Anbetung (Evangelium nach Matthäus, Kapitel 4)? Er stand in der Versuchung, den Leidensweg für sich und der Menschheit zu umgehen.
In seiner letzten schriftlichen Äußerung in einem Brief an Alkuin 798 greift Elipandus zu einem groben beleidigenden Umgangston. Darin lässt er sich vernehmen, der Sohn Gottes sei in seiner Knechtsgestalt geringer als der Vater.[293]
Es handelt sich aber bei der Sohnschaft um Wesensgleichheit mit Gott dem Vater, das ist Glaubensgut seit Nicäa und wird von Leo dem Großen (400-461), auf den sich Papst Pius XII. in einer entsprechenden Enzyklika beruft (s. o. Seite 96), so formuliert: „Dies ist mein Sohn, nicht adoptiert, sondern der eigene, nicht anderswoher geschaffen, sondern nur gezeugt, nicht von anderer Natur mir vergleichbar geworden, sondern von meiner Wesensart geboren.[294]
Im Mai/Juni 799 berief Karl ein Konzil nach Aachen, um eine endgültige Klärung zur Adoptionsfrage herbeizuführen, die auf dem Frankfurter Konzil 794 einen breiten Raum in den Verhandlungen eingenommen hatte, mit dem Ergebnis war Karl jedoch höchst unzufrieden. Felix von Urgel hatte eine Einladung nach Aachen erhalten, der er nach Zusicherung, er könne offen, ohne Repressalien befürchten zu müssen, seinen theologisch/christologischen Standpunkt vertreten, gefolgt war.[295] Die Orthodoxie mit ihrem beredten Sprecher Alkuin an der Spitze, der mit der politischen Rückendeckung des mächtigsten Herrschers in Westeuropa rechnen konnte, hatte gesiegt und Felix zum Widerruf bewogen. Dieser Widerruf war der Anfang vom Ende des Erfolges, den die Lehre von der Adoption Jesu Christi bis dahin hatte verbuchen können, sie konnte danach keinen Einfluss auf den Gang der dogmatischen Dinge mehr ausüben. Trotz der gegebenen Zusicherung konnte Felix nicht in seine Heimat zurückkehren, er wurde in Lyon in einem Kloster festgesetzt.[296]
Einer ausgedehnten Missionsarbeit im spanischen Grenzbereich südlich der Pyrenäen, geführt von Bischöfen, die Karl eigens dafür ausgewählt hatte, gelang es in eindrucksvoller Weise, das verloren gegangene Gelände zurückzugewinnen. Einige Monate nach dem Aachener Konzil erreichte Alkuin ein Antwortschreiben des Elipandus, das den Vorwurf enthielt, Alkuin sei ein neuer Arius, der den glorreichen König Karl verführt habe, wie einst Arius den Kaiser Konstantin. Bevor das Aachener Konzil stattfand, hatte Elipandus sich 798 an Felix gewandt und ihn zur Standhaftigkeit ermahnt. Er verstarb kurz darauf, und mit dem Widerruf des Felix waren die beiden Hauptakteure ausgeschaltet, die eine entscheidende und treibende Kraft gewesen waren. Selbst im moslemisch besetzten Teil Spaniens war der Lehre von der Adoption der Rückhalt genommen, bis er gänzlich erlosch.[297] Der Aufwand, der getrieben wurde, um der Lehre von der Adoption ein Ende zu bereiten, zeigt, welches Gefahrenpotential für die Einheit und den Bestand des Frankenreiches gesehen wurde.
[293] Hainthaler, Theresia: Von Toledo nach Frankfurt. S. 825
[294] zitiert ebd. S. 830
[295] Nagel, Helmut: S. 131 f
[296] ebd. S. 133 f
[297] ebd. S. 135
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Spanien war durch die moslemische Herrschaft zu einer innerhalb Westeuropas abweichenden historischen und politischen Entwicklung gelangt, die sich nicht nur nachteilig ausgewirkt hat, da die Araber eine weitgehend tolerante Herrschaft ausübten, und sie sich den in der Geschichte des antiken Griechenland herausgebildeten Wissenschaften öffneten im Gegensatz zum übrigen christlichen Europa, so gelangten die verschiedenen Wissenschaften aus der Zeit des Altertums auf dem Wege von Übersetzungen über Spanien nach Europa. An einem Beispiel aus der Mathematik ist das erkennbar. In Granada, Sevilla und Cordoba waren die drei großen moslemischen Schulen angesiedelt. Aus Cordoba gelangte eine Übersetzung des Euklid in den Westen Europas, ebenso eine Kopie des bedeutendsten Werkes arabischer Herkunft, einer Rechenkunst mit der arabischen Bezeichnung „Alchwarizmi“. „Gesprochen hat Algoritmi. Lasst uns Gott verdientes Lob sagen, unserem Anführer und Verteidiger.“ So lauteten die ersten Zeilen eines Manuskripts, das in der Bibliothek der Universität Cambridge aufbewahrt wird. Algoritmus ist ein Wort, das arabische Gelehrte in abgewandelter Form zu unserem Sprachschatz beigesteuert haben, und aus dem arabischen Wort „Aldschebr walmakabala“ zu Deutsch „Wiederkehr und Gegenüberstellung“ ist der mathematische Begriff „Algebra“ hergleitet worden, die als rein arabische mathematische Leistung angesehen werden kann.[298]
Auf dem Frankfurter Konzil wurde neben dem Streit um die Lehre von der Adoption ein weiteres Thema abgehandelt. Es ging um den Bilderstreit, der seinen Ursprung in Byzanz hatte, und neben theologischen Gesichtspunkten auch politische Brisanz enthielt. Im achten Jahrhundert zerstörten im oströmischen Reich erbitterte Streitigkeiten über den Gebrauch der Ikonen (Heiligenbilder) den gesellschaftlichen Konsens. In der ersten Phase der Auseinandersetzung zwischen Bilderfreunden und Bildergegnern setzten sich die Kaiser der ikonoklastischen Partei ein Bilderverbot durch. Später vollzog die kaiserliche Politik unter Konstantin IV. und seiner Mutter Irene jedoch eine Wende. Im Konzil von Nicäa 787 ließen sie der Verehrung von Bildern erneut freien Lauf. Der lateinische Westen zeigte zunächst wenig Verständnis für die byzantinischen Auseinandersetzungen um das Kultbild. Durch die fortschreitende Expansion des Frankenreiches entstand eine Rivalität zwischen dem Nachfolgestaat des weströmischen Reiches und Byzanz. In den Jahren um 790 wollte Karl in einem ideologischen Feldzug einen Konflikt begünstigen, dazu bot der Bilderstreit, der auch im Frankenreich nicht verborgen geblieben war, einen gegebenen Anlass. Karl strebte danach ein lateinisches Kaisertum zu errichten, und sah in dem oströmischen Reich ein Hindernis zu diesem Ziel, weil dort immer noch von einem Alleinanspruch ausgegangen wurde. Der heftig ausgetragene Streit in Ostrom bot die Gelegenheit zur Intervention in die innerpolitischen Machtverhältnisse, die genutzt wurde, ohne Rücksicht auf souveräne Belange zu nehmen. Karls Eingriff in den Bilderstreit richtete sich zunächst gegen die kaiserlichen Bilderverehrer, ohne sich gänzlich auf die Seite der Ikonoklasten zu schlagen. Ein solcher Schritt hätte ihm auch im Westen einiges Ansehen gekostet. Er fand eine Kompromisslösung, die eine einseitige Festlegung vermied. Er lehnte die Verehrung der Bilder ab, ohne sie gleichzeitig zu verbieten. Karls Hoftheologen verfassten ein Dokument „Libri Carolini“, darin argumentierten sie auf theologischer und philosophischer Grundlage, und stützten sich dabei besonders auf Augustin.[299] Die fränkischen Theoretiker dachten die Zeit nicht als ein Stück aus einer unendlichen Dauer. (Zur Zeittheorie s. o. Seite 13, 37 f, 38 f) Das wäre zu oberflächlich gewesen. Sie bestimmten sie vielmehr als eine von Menschen definierte Seite oder Perspektive der Ewigkeit. (Zeit ohne Begrenzung) Die Zeit ist aber nur dann erfahrbar, wenn sie sich in
[298] Karlson, Paul: vom Zauber der Zahlen. Berlin 1954 S. 182
[299] Das Frankfurter Konzil von 794. Jeck, Udo R.: Augustins Zeittheorie in den "Libri Carolini" S. 861 f
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Dimensionen aufspaltet. Diese Eigenschaft besitzt sie jedoch nicht an sich selbst. Wir sind es vielmehr, die sie in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aufteilen.[300] Die westlichen Intellektuellen benutzten ihre philosophischen Erfahrungen, die sie im Wesentlichen aus den Schriften Augustins entnommen hatten. Dazu gehörte auch seine Zeittheorie. Augustin betonte stets die Präferenz einer geistigen Gotteserkenntnis. Der byzantinische Bilderkult verbleibt nach fränkischer Ansicht im materiellen Bereich.[301] Der Frankenkönig Karl hatte seinen wissenschaftlichen Beratern die Aufgabe gestellt, gegen die Auswüchse des byzantinischen Bilderkultes ein neues Konzept bildlicher Darstellung zu erarbeiten. Zu diesem Zweck benutzten die westlichen Intellektuellen ihre philosophischen Erfahrungen, die im Wesentlichen den Schriften Augustins entnommen hatten.[302] Die Verfasser des Libri Carolini gingen davon aus, das Gott Geist ist. Das hieß, sich von den biblischen Texten leiten zu lassen. Daher ist Gott nicht auf fleischliche Weise zugänglich, sondern allein geistig zugänglich, was den Zugang zur Welt vom Zugang zu Gott unterscheidet. Diese Sicht findet ihren Niederschlag im Evangelium nach Johannes: Kapitel 4, Verse 22-24, wo Jesus Christus am Jakobsbrunnen zu einer Samariterin spricht: (22) Ihr betet an, was ihr nicht kennet; wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden. (23) Jedoch die Stunde kommt, und sie ist jetzt schon da, in der die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten werden. Der Vater sucht solche Anbeter; (24) denn Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen Ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.[303] Als der byzantinische Kaiser Leon III. (680-741) die Bilder entfernen ließ, berief er sich auf das Bilderverbot im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift in Exodus (2. Buch Mose) Kapitel 20, Vers 4: (4) Du sollst dir kein Gottesbild machen, noch irgend ein Abbild von dem, was droben im Himmel oder auf der Erde unten oder im Wasser unter dem Erdboden ist.[304 Dem ist eine Aussage aus dem Brief des Apostels Paulus an die Kolosser in Kapitel 1, Vers 14-17 entgegengehalten worden, wo von Jesus Christus ausgesagt ist: (14) In diesem haben wir die Erlösung, nämlich die Vergebung der Sünden; (15) er ist ja das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller (=der ganzen) Schöpfung; (16) denn in ihm (d. h. durch seine Vermittlung) ist alles geschaffen worden, was im Himmel und auf der Erde ist, das Sichtbare wie das Unsichtbare, mögen es Throne oder Herrschaften, Mächte oder Gewalten sein; alles ist durch ihn und für ihn geschaffen worden, (17) und er ist vor allem (= steht über allem), und alles (oder das ganze Weltall) hat in ihm seinen Bestand.[305] Ein führender Bildertheoretiker wie Johannes von Damaskus deutete dagegen den Bau der Bundeslade[306] als Hinweis auf eine Bilderverehrung aus der Frühzeit der jüdischen Geschichte. Eine These, die auch von Karls intellektuellen Beratern aufgegriffen wurde, und sie veranlasste, von einer radikalen Position Abstand zu nehmen, und in Grenzen für eine Achtung des Bilderverbots eintraten.[307] Die Verehrung der Bilder wurde zugestanden, nicht aber ihre Anbetung.
[300] Jeck, Udo R.: S. 869
[301] ebd. S. 873
[302] end. S. 872 f
[303] Übersetzung nach Rupert Storr (kath)
[304] Übersetzung nach Hamf/Stenzel (kath)
[305] Übersetzung nach Menge (ev)
[306] In der Bundeslade wurden die Gesetzestafeln mit den Gesetzen, die Moses auf dem Berg Sinai empfangen hatte, aufbewahrt. Die Lade führte das Volk Israel mit sich auf seiner Wanderung ins verheißene Land. sie wurde nach dem Bau des Tempels im Allerheigsten aufgestellt.
[307] Jeck, Udo R.: S. 878 f
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Die islamische Religion verbietet konsequent jegliche bildliche Darstellung, kann aber dennoch auf beachtliche Kunstwerke hinweisen wie die Moschee in Cordoba oder die Alhambra in Granada.
Wie weiter oben bereits angemerkt, hatte die Bilderverehrung auch Auswirkungen auf die politischen Beziehungen zwischen Ostrom und dem Frankenreich. Aber das gegenseitige Misstrauen und die damit verbundene Gegnerschaft hatten noch andere Ursachen als nur den Bilderstreit. Eine weitere Quelle nicht unerheblicher Differenzen, die nicht nur zu einer Belastung der Beziehungen zu Byzanz, sondern auch zu einer Verstimmung mit Rom und dem Papst führten, ist im Streit um das filioque im Nicäno-Konstantinopolitanum, dem erweiterten Bekenntnis von Nicäa zu suchen (s. o. Seite 51-53).
Hier die zwei unterschiedlichen Texte:
Filioque bedeutet „und (aus) dem Sohn“. Konkret handelt es sich um folgende Stelle:
„ […] et in Spiritum Sanctum,
Dominum et vivificantem,
qui ex Patre Filioque procedit […]“
„[…] und [wir glauben] an den Heiligen Geist,
der Herr ist und lebendig macht,
der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht […]“
Im griechischen Urtext, den das Konzil von Nicäa 325 als Dogma festgelegt hatte, heißt es jedoch nur:
„[…] καὶ εἰςI τὸ Πνεῦμα τὸ Ἅγιον,
τὸ κύριον, τὸ ζωοποιόν,
τὸ ἐκ τοῦ Πατρὸς ἐκπορευόμενον […]“
„[…] und an den Heiligen Geist,
den Herrn, den Lebendigmacher,
der aus dem Vater hervorgeht […]“ (zitiert aus Wikipedia)
Der Filioquestreit entzündete sich an den Beschlüssen des zweiten Konzils von Nicäa, das 787 von der byzantinischen Kaiserin Irene einberufen worden war. Es war ein ökumenisches Konzil, da außer den orthodoxen Bischöfen auch Abgesandte der römisch-katholischen Kirche teilnahmen.
Nachdem zur Mitte des 4. Jahrhunderts Athanasius von Alexandrien (gest. 373) im Zusammenhang der trinitarischen Streitigkeiten die Gottheit des Heiligen Geistes nachhaltig unterstrichen und neben die Personen des göttlichen Vaters und Sohnes gestellt hatte, nahm sich die spätantike Theologie verstärkt einer Wesens-und Verhältnisbeschreibung der trinitarischen Personen vor. Bereits in der Theologie um die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert deutete sich das unterschiedliche Verständnis über den Ausgang des Heiligen Geistes an, das fortan die westliche und östliche Theologie des Römischen Reiches bestimmen sollte.[308] Die Verhältnisse der drei Personen bedingen sich dabei so sehr, dass nach Augustin der Sohn an seiner eigenen Sendung teilhat.
[308] Nagel, Helmut: S. 205
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Die Trinität wird nach Augustin so zu einem Dreieck, das in seinem Wirken sich nahezu auf einen einzigen Punkt zu reduzieren scheint. Für die Lehre vom Ausgang des Heiligen Geistes bedeutete dies, dass der Heilige Geist die Rollen einer Verbindung der Liebe zwischen Vater und Sohn zukam, und von beiden als aus einem einzigen Prinzip hervorgehend zu denken sei; dabei hielt er jedoch aufgrund des biblischen Zeugnisses einschränkend fest, dass der Heilige Geist prinzipiell vom Vater ausgehe, wodurch das Theologumenon (theologischer Lehrsatz) des doppelten Ausgangs des Heiligen Geistes eine gewisse Korrektur erfuhr, ohne grundsätzlich infrage gestellt zu werden. Damit waren bereits an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert theologisch die Weichen gestellt, die eine Verständigung in der Filioquefrage im 8./9. Jahrhundert, abgesehen von den politischen Herausforderungen, so schwierig machen sollte, waren doch die Differenzen bezüglich des filioque in den unterschiedlichen trinitarischen Vorstellungen der Christenheit des Westens und des Ostens im alten Römischen Imperium begründet; denn ging es der östlichen Christenheit vornehmlich um die Betonung der unterschiedlichen Prioritäten der göttlichen Personen in der Trinität, so macht die Christenheit im Westen des Römischen Imperiums in erster Linie die gemeinsame göttliche Substanz der trinitarischen Personen zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen.[309]
Der Filioquefrage kam nach der Ansicht, die im Libri Carolini formuliert wurde, grundsätzliche Bedeutung zu, denn Karl und seine Hoftheologen wussten um die Stellung, die Papst Hadrian einnahm, der insgeheim die Position der byzantinischen Ostkirche vertrat. Sie wichen dennoch nicht von ihrem Standpunkt und lehnten entschieden das in Nicäa II verfasste und beschlossene Glaubensbekenntnis mit folgender Begründung ab:
„Denn richtig wird geglaubt und gewöhnlich wird bekannt, dass der Heilige Geist aus dem Vater und dem Sohn, nicht aus dem Vater durch den Sohn, hervorgeht, denn er geht nicht durch den Sohn hervor wie die Schöpfung, welche durch selbigen gemacht ist, auch geht er nicht gleichsam später hinsichtlich der Zeit oder geringer hinsichtlich der Kraft oder niedriger von Substanz hervor, sondern es wird geglaubt, dass er aus dem Vater und dem Sohn als gleichewig, als wesensgleich, als gleichbeschaffen, als eines Ruhmes hervortritt und einer Kraft und Göttlichkeit mit Ihnen ist.[310]
Der Streit um das filioque im Nicäno-Konstinopolitanum hatte auch außerpolitische Auswirkungen, die wie alles, was der Herrschaft Karls des Großen folgte, bestimmend waren für die westeuropäische Geschichte. Mit der Erweiterung des Bekenntnisses von Nicäa 325 durch erste Konzil von Konstantinopel 381 hatte sich auch zugleich ein theologischer Streitpunkt eingeschlichen.
Durch einen regen Pilger-und Kaufmannsverkehr zwischen Orient und Okzident zur Zeit Karls des Großen, insbesondere in dem Jahrzehnt von 797-807 sowie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum abbasidischen Kalifat von Bagdad und reicher Benefizien an das Jerusalemer Patriarchat war der fränkische Einfluss angewachsen. Die Besetzung der Geandtschaft des Jerusalemer Patriarchen im Jahre 807 macht daher deutlich, welch großen Einfluss das lateinische Mönchtum, insbesondere die aus dem Frankenreich stammenden Mönche, in Jerusalem besaß. Dies wird ausdrücklich, dass zuvor an den Gesandtschaften in den auch Mönche des griechischen Sabasklosters beteiligt waren. Die große Bedeutung, welche den fränkischen Pilgern zu Beginn des 9. Jahrhunderts beigemessen
[309] Nagel, Helmut: S. 106 f
[310] ebd. zitiert S. 211
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wurde, ist aus dem Tatbestand ersichtlich, dass siebzehn Frauen aus dem Frankenreich als Hüterinnen des Heiligen Grabes zu diesem Zeitpunkt bezeugt werden, was ohne eine starke fränkische Kolonie in Jerusalem undenkbar gewesen wäre. Die starke politische Einflussnahme Karls des Großen auf das Jerusalemer Patriarchat durch einen regen Gesandtschaftsverkehr mit dem Kalifen von Bagdad, Harun al Raschid (763-809), der Karl in Jerusalem breite Ehrenrechte einräumte.[311] Harun ist der arabische Name für Aaron, Moses Bruder und erster Hohepriester Israels. Harun und Karl hatten zwei gemeinsame Gegner, einer davon stammte jeweils aus dem gemeinsamen Lager, Harun das Kaiserreich von Byzanz und Umayyaden-Kalifat mit Hauptsitz in Spanien, von wo aus der Süden des Frankenreiches mehrfach attackiert wurde, das aber zugleich den Machtanspruch Haruns über die gesamte islamische Welt nicht anerkennen wollte, während Karl in eine Gegnerschaft mit Byzanz geriet, nicht nur wegen theologischer Gegensätze, sondern auch wegen Karls Machtanspruch über die westliche Welt, des vormals weströmischen Reiches, auf das auch der Kaiser in Byzanz historisch begründete Rechte geltend machte.
Papst Leo III. erkannte die theologische Bedeutung des Filioquezusatzes und zeigte gegenüber einer fränkischen Mission Verständnis, wie auch bereits sein Vorgänger Hadrian I. im Amt des Papstes. Beide bestritten nicht die theologische Rechtmäßigkeit des filioque, waren aber gleichzeitig nicht bereit zu einer Aufnahme in den Text des Nizäno-Konstantinopolitanum. Damit war dieses Bekenntnis in seiner universalen umfassenden Bedeutung für die christlichen Kirchen und ihrer Einheit geschwächt, ein einziges kleines Wort genügte dazu: filioque (und Sohn), daran hat sich bis in die unmittelbare Gegenwart nichts geändert. Die Päpste Hadrian I. und Leo III. hatten, indem sie das fränkische Ansinnen zurückwiesen, zu einem verstärkten Selbstbewusstsein gefunden.[312] Außenpolitisch bedeutete die päpstliche Parteinahme gegen das filioque im Messsymbol eine empfindliche Schwächung der fränkischen Stellung nicht nur in Jerusalem, sondern im ganzen orientalischen Raum, war doch nun offenkundig, dass der Kaiser zu Aachen und das Papsttum in einer für die frühmittelalterliche Welt so grundlegenden Frage wie dem Glaubensbekenntnis unterschiedlicher Auffassung waren. Damit hatte das theologische und zugleich auch das politischen Ansehen des orthodoxen Imperators Karl im östlichen Mittelmeerraum erheblichen Schaden genommen. Dies umso mehr als Karls wichtigster Verhandlungspartner auf moslemischer Seite, Kalif Harun al Raschid, 809 verstorben war, und die Kämpfe der Kalifensöhne um die Herrschaft sich bis 813 erstreckten, die einhergingen mit den ersten großen Christenverfolgungen und Kirchenzerstörungen im nahöstlichen Machtbereich, als der syropalästinensische Raum unter moslemische Herrschaft gelangte.[313]
Karl ließ in den Libri Carolini eine Linie erkennen, die darauf abzielte, das Ansehen und die Würde der römischen Kirche zu erhöhen, und sich als Diener ihrer Lehrautorität zu erweisen, als Streiter und Beschützer der mater ecclesia (Mutter Kirche). Diese Ausführungen ergeben ein Spannungsfeld zur politischen und theologischen Wirklichkeit, denen sich Karl gegenüber sah, und die Anlass gaben zu einer scharfen Kritik des fränkischen Hofes an den Beschlüssen von Nicäa II und an der Haltung, die Hadrians I., Schreiben an Kaiser Konstatin V und Kaiserin Irene erkennen ließ, worin eine Mitwirkung an diesen Beschlüssen offenbar wurde. Eine Erklärung für dieses Spannungsfeld ist in Herrschaftsauffassung Karls zu suchen, der sich als Beschützer der Kirche nach außen verstand und als Korrektor in Lehrfragen, gemeinsam mit dem Papst, nach innen empfand. Eine tiefgründige Verletzung durch den Hof von Byzanz sah er in dem gegen ihn gerichteten Ausschluss von der Konzilsteilnahme an Nicäa II 787
[311] Nagel, Helmut: S. 217 f
[312] ebd. S. 224 f
[313] ebd. S. 226.
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Hadrian I. gelang es in einem Beschwichtigungsversuch Karls Argwohn gegen Rom zu entkräften und ihm zu versichern, es bestünde keine Absicht zu einem tiefergreifenden Bündnis zwischen Rom und Byzanz. Diese Zusicherung vertiefte den Groll gegen Ostrom nur noch. Tatsache blieb: Karl sah durch den Ausschluss von Nicäa II die Grundlagen seiner Herrschaft berührt.[314]
Der Filioquestreit von Jerusalem bildet den Abschluss der theologischen Streitigkeiten zur Zeit Karls des Großen. An der fränkischen Haltung änderte auch der päpstliche Widerspruch nichts, zumal die päpstliche Position in der Filioquefrage zwiespältig war. Nur ein gutes Jahrzehnt nach dem Bilderstreit durch das Frankfurter Konzil 794 wurde das filioque im fernen Jerusalem Ursache eines Streits zwischen den lateinischen Mönchen des Ölbergklosters und den griechischen des St. Sabasklosters. Gerade gegen diesen verstärkten religiös-politischen Einfluss Karls des Großen im Jerusalemer Patriarchat wandten sich die griechischen St. Sabasmönche mit dem Vorwurf, alle Franken (also auch Kaiser Karl) seinen Häretiker, da sie das Nizäno-Konstantinopolitanum um das filioque erweitert hätten. Karl der Große räumte daraufhin der Filioquefrage höchste Priorität ein und berief 809 eigens eine Synode nach Aachen, um anhand dreier theologischer Gutachten die fränkische Position für orthodox (rechtgläubig) erklären zu lassen. Doch wie stets in Fragen der Lehre suchte der fränkische König und Kaiser auch jetzt die Eintracht mit Rom. So schickte er drei Gesandte zum Papst, die diesen in der Filioquefrage überzeugen sollten Doch trat diesmal im Gegensatz zum Bilderstreit der dogmatische Riss zwischen Rom und Aachen offen ins Licht. Zwar bekannte sich der Papst zum theologischen Lehrsatz des filioque, die Einfügung in das Nizäno-Konstantinopolitanum lehnte er jedoch ab, damit war das innere theologische Gefüge der universal gedachten Kirche beschädigt. Erstmals standen regnum (weltliche Herrschaft) und sacerdotium (geistliche Herrschaft) in Gegensatz zueinander.[315]
Die Herrschaftsauffassung Karls des Großen ist in der Einheit von politischem und geistlichem Staatsaufbau zu suchen, worin auch das Eingreifen Karls in die theologischen Auseinandersetzungen der Zeit seinen Ausdruck findet. Am Ende setzte sich Rom zu diesem Bestreben in einen Gegensatz und verfocht die Unabhängigkeit von politischer als weltlicher Herrschaft verstandener staatlicher Macht. Es war der Anfang eines Machtkampfes, der für die nachfolgende westeuropäische Geschichte eine prägende Auswirkung erhalten sollte, die schließlich hinführte zu einem Niedergang für beide Bereiche und Institutionen.[316]
Die theologischen Streitfragen, die zur Zeit Karls des Großen die christliche Welt bewegt haben, endeten mit der Aporie (Schwierigkeit) im Denken das Geheimnis der Dreieinigkeit zu ergründen, und vernunftgemäß und damit auch begreiflich, verständlich zu erklären (s. o. Seite 5). Diesen Zugang über die Philosophie zu ergründen, das bedeutet sie vernünftig eingängig zu machen, ohne Vernunfterkenntnis im Gegensatz zur Offenbarung zu stellen. Aristoteles gibt eine Erklärung zu Gott dem Schöpfer. Aristoteles und Platon waren Monotheisten, Platon hat sogar den Polytheismus scharf verurteilt. Aristoteles spricht von Gott dem Schöpfer als vom „unbewegten Beweger“, was bedeutet, dass Gott keine Ursache haben kann und hat, aber selbst Ursache der Schöpfung ist und die Schöpfung damit auch der Beginn der Kausalität. Die Dreieinigkeit vernünftig, was bedeuten kann philosophisch zu ergründen, unternimmt Gottfried Wilhelm Leibniz mit einem Satz aus der Mathematik: Sind zwei Größen einer dritten gleich, so sind sie untereinander gleich (s. o. Seite 43). Leibniz gilt als das letzte Universalgenie der Geschichte. Bis zum Jahr 2050 wird eine Leibniz-Expertengruppe an der Arbeit sein, um den Nachlass, das sein Gedankengebäude ausmacht, aufzuarbeiten, und in vollem Umfange aller
[314] Nagel, Helmut: 233 f
[315] ebd. S. 236 f
[316] ebd. S. 238
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Wissenschaft zugänglich zu machen. Es sei nur an das Duale Zahlensystem erinnert, mit der 2 als Basis, was heute aus der digitalen Computerwelt nicht weggedacht werden kann. In der Theologie war er bestrebt um die Verständigung unter den Konfessionen und stand dadurch im Katholizismus in einem hohen Ansehen, was nicht ohne Bedeutung ist, denn der Dreißigjährige Krieg neigte sich mit seinem Geburtsjahr 1646 gerade dem Ende zu. Die Dreieinigkeit am Beispiel der Sonne zu erklären, eröffnet einen anderen Ausweg, den als schwierig empfundenen Weg zu beschreiten. In der Sonne erkennen wir drei Funktionen ein und derselben Sache, wenn eine Funktion ausfällt, muss das ganze System als erledigt angesehen werden. Durch den Prozess der Kernverschmelzung in der Sonne selbst entsteht Energie, die in Licht und Wärme ihren Ausdruck findet. Die drei Funktionen sind aufeinander angewiesen, mit dem Ausfall einer Funktion ist die Existenzmöglichkeit der beiden anderen nicht mehr gegeben; Zweck und Ziel lassen sich nicht mehr verwirklichen. Die Funktionen können unterschiedliche Auswirkungen haben, Wärme kann unterschiedlich ausfallen mit der Wirkung, dass Wasser verdampft oder gefriert. Mit einem gänzlichen Ausfall der Wärme würde alles organische Leben erlöschen, dasselbe gilt auch für das Licht, ohne Licht gäbe es einfach kein Sein. Dieser kurze Vorspann soll überleiten zum Wesen und zur Bedeutung der Dreieinigkeit. Es gibt in der Dreieinigkeit, die auch mit drei Personen beschrieben und gleichgesetzt worden ist, keine Prioritäten, keine Abgrenzungen von Kompetenzen, keine hierarchische Rangordnung, keine räumliche oder zeitliche Abgrenzungen und keine Veränderungen wie beim Menschen, wäre es anders, müsste von einer Dreiteilung oder Dreigliederung gesprochen werden, was aber als Unmöglichkeit angesehen werden muss. Es gibt keine Funktionsübertragung oder Abgrenzung innerhalb der Dreieinigkeit und auch keine Abstufungen. Wenn der Eindruck entstehen könnte wie im Evangelium nach Johannes, Kapitel 14, Vers 28: (28) Ihr habt gehört, dass ich euch gesagt habe: Ich gehe hin und komme wieder zu euch. Hättet ihr mich lieb, so würdet ihr euch freuen, dass ich zum Vater gehe, denn der Vater ist größer als ich.[317] In dieser Aussage spricht Jesus als Mensch im Fleisch der Menschen mit dem er zu uns gekommen ist, einem Fleisch allerdings, in dem keine Sünde gefunden wurde, und das aller Versuchung ausgesetzt, ihr aber nicht erlegen war, nur auf diesem Wege konnte die Erlösung vollbracht werden, vom wahren Gott und wahren Menschen (s. o. Seite 81, 84, 97, 98, 101). Die Dreieinigkeit ist der Weg Gottes zum Menschen. Aus diesem theologischen Blickwinkel, muss die Auseinandersetzung um das filioque als müßig angesehen werden, besonders, wenn die Auswirkungen dazu ins Verhältnis gesetzt werden.
In einem Punkt unterscheidet sich die Streitkultur in der Christenheit zum abgehandelten Zeitraum. Felix von Urgel wurde zwar nach dem Konzil von Aachen die Rückkehr in seine Heimat verwehrt, und er wurde in einem Kloster in Lyon festgesetzt. Folter oder gar Scheiterhaufen kamen aber nicht zur Anwendung. Der Einsatz solcher Mittel sollte späteren „fortschrittlicheren“ Zeiten vorbehalten bleiben, in denen es geschehen konnte, dass unterschiedliche Auffassungen in der Abendmahlslehre, der Prädestinationslehre oder auch zur Dreieinigkeit zu einer Entscheidung zwischen Leben und Tod werden konnten. Das betrifft besonders die Zeit des ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Neuzeit im 16. und 17. Jahrhundert, wo unterschiedliche Ansichten in dogmatischen Fragen zu Bürgerkriegen bis hin zu einem europäisch ausgeweitetem Krieg im Dreißigjährigen Krieg von 1618-1648 einmündeten. Eine Entwicklung solchen Ausmaßes blieb der Kirche des Ostens erspart, sie erlag teilweise dem Ansturm von außen, bis sie sich in Russland ein festes Fundament schaffen konnte und dort ihre größte Ausdehnung erreichte.
Der letzte Akt in der Zeit der Herrschaft Karls des Großen wurde am Weihnachtstag des Jahres 800 vollzogen. Er bildete Ausgangspunkt und Grundlage für Europas weitere Entwicklung,
[317] revidierte Übersetzung nach Luther 1984
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darum muss diesem als Gründungsakt angesehenen Ereignis eine angemessene und ausführlichere Betrachtung zu Teil werden. Der Kaiserkrönung gingen Ereignisse voraus, die besonders das Verhältnis zu Byzanz (Ostrom), und dem einheitlich sich darstellenden weströmischen Reiches, das unter der Herrschaft Karls herangewachsen war. Der Name Heiliges Römisches Reich lässt schon erkennen, das aus der Gründung des von Karl geschaffenen einheitlichen Reiches, welcher Staatsgedanke als Ausgangspunkt ausersehen worden war, und wenn es hieß „Heiliges Reich“, so war damit zugleich ein Anspruch verbunden. Beim Aufbau seines Großreiches sah sich Karl drei Mächtegruppierungen gegenüber, die auf ihrer Überlieferungen und Bestrebungen universale Geltung beanspruchten: Das Imperium (weltliche Macht) Sazerdotium (geistliche Macht) und der religiösen auf den Gründer einer neuen Religion, Mohammed, zurückgehenden Islam, der sich zu einer machtvollen Ausdehnung, und schließlich zu einer Weltreligion entfaltet hatte. Innerhalb der Christenheit hatten sich gesondert zwei Größen herausgebildet und erhalten: Das oströmische Kaiserreich in Byzanz und das Papsttum in Rom, mit denen das Frankenreich in Beziehung trat, um ein geregeltes Verhältnis zu erlangen. Beide konnten auf eine Tradition verweisen, die das Römische Reich in seiner historischen Entwicklung betraf. Das Römische Reich in heidnischer und christlicher Zeit gründete sich auf einen universalen Staatsaufbau. Sein Staats-und Selbstverständnis bezog es aus seiner kulturellen Leistung und Entwicklung, die seine Identität ausmachte, mit der es eine Überlegenheit empfand zu den Völkerschaften, die das Reich umgaben. Die römische Staatsbürgerschaft war nicht an eine ethnische oder religiöse Herkunft gebunden. Der Apostel Paulus war römischer Staatsbürger, und in der Apostelgeschichte Kapitel 16 wird berichtet, wie er in Thyatira, einer Stadt in Lydien in Kleinasien, einem Gebiet im Westen der heutigen Türkei, nach Inhaftierung und Züchtigung sich als römischer Staatsbürger ausweisen konnte, was bei den zuständigen römischen Behördenvertretern Befürchtungen auslöste, weil sie gegen Recht und Gesetzt verstoßen hatten, auf das sich der Apostel berufen und Genugtuung fordern konnte, die er auch und erhielt.
Im dritten Viertel des 8. Jahrhunderts erweiterten und festigten die Langobarden ihre Herrschaft in Norditalien mit dem Erzbischofssitz in Ravenna und die Stadt Pavia, die zur Hauptstadt erkoren wurde. 772 starb Karls Bruder Karlmann, der seit 768 mit seinem Bruder die Herrschaft über das Frankenreich geteilt hatte. Seine Witwe floh darauf mit ihren beiden Söhnen zu Desiderius dem König der Langbarden, sie hoffte auf diese Weise für ihre Söhne die Nachfolge zu sichern. Mit dem Tode Karlmanns konnte sich Karl zum Alleinherrscher auf das bis dahin geteilte Reich aufschwingen, und seine Politik auf die Erweiterung der Macht nach außen richten. In dieser Lage verlangte Desiderius eine Begegnung mit dem Papst und die Salbung der Söhne Karlmanns zu Frankenkönigen, was Papst Hadrian in Bedrängnis brachte, er musste wählen zwischen Karl und dem Langbardenkönig, der seinen Machtbereich bedrohlich für Rom weiter nach Süden ausgedehnt hatte. Hadrian reiste im Frühjahr 773 zur Pfalz nach Diedenhofen zu Verhandlungen, die ergebnislos verliefen. Im Sommer desselben Jahres zog Karl mit einem Heer nach Italien, belagerte Pavia, das er nach neunmonatiger Belagerung im Juni 774 einnahm. Desiderius wurde in ein Kloster verbracht, und Karl krönte sich zum König der Langbarden ohne Wahl und kirchliche Weihen. Noch während der Belagerung war er im April 774 zum Erschrecken des Papstes nach Rom gezogen. Die Hilfe der Franken gegen die Langbarden war vom Papst erwünscht, nicht aber die Herrschaft Karls über Rom. Die oströmischen Kaiser hatten Karls Stellung in Italien nicht anerkannt, aber auch nicht ernsthaft angegriffen, was der Papst befürchtet hatte, statt dessen kam es zu einem Bündnis mit Byzanz.[318] Karl hat wohlüberlegt Rom dreimal einen Besuch abgestattet, immer zu dem höchsten Feiertag, Ostern,
[318] Classen, Peter: Karl der Große, das Papstum und Byzanz. Die Begründung des karolingischen Kaisertums. Sigmaringen 1985 S. 30
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dem Tag der Auferstehung Jesu Christi, und das vierte Mal zum zweithöchsten, dem Weihnachtstag, dem Geburtsfest Christi.[319]
Im Frühjahr 781 unternahm Karl seine zweite Romreise, die als Ergebnis ein Bündnis mit dem oströmischen Kaiserreich einbrachte. Nach dem Tode Kaiser Leons IV. im September 780 gelangte seine Witwe, Kaiserin Irene an die Macht, die sie als Mitkaiserin für ihren erst zehn Jahre alten Sohn Konstantin VI. übernahm. Sie war gezwungen ihre Herrschaft nach unterschiedlichen Richtungen hin abzusichern. Es gelang ihr den Widerstand aus der nahen Verwandtschaft abzuwehren. Aus Sizilien, das zur der Zeit als oströmisches Territorium angesehen wurde, erwuchs weiterer Widerstand durch den dortigen Oberbefehlshaber der oströmischen Streitkräfte, Elipidius, im Frühjahr 781. Dem byzantinischen Herrschaftsbereich zugehörig waren auch große Teile Süditaliens mit Benevent und Capua. Kaiserin Irene entsandte einen starken Flottenverband nach Sizilien und vertrieb Elipidius, der nach Nordafrika entfloh und im moslemischen Herrschaftsbereich Schutz suchte. Einer oströmischen Chronologie zufolge suchte Irene gleichzeitig ein Bündnis mit dem Herrscher des weströmischen Reiches zu schmieden, denn nach oströmischer Vorstellung wurde immer noch von einem einheitlichen römischen Staatsgedanken ausgegangen. Das angestrebte Bündnis sollte nach Absicht der Kaiserin durch ein Eheprojekt bekräftigt werden, durch eine Heirat zwischen Karls Tochter Rothrud mit dem jungen Kaiser. Die fränkischen Quellen vermitteln eine andere Sicht. Danach wurden Bündnis und Verlobung während der Romreise Karls im Frühjahr 781 ausgehandelt, und dass die Erhebung des Elipidius aus der Befürchtung heraus geschah, die Kaiserin könnte große Teile Süditaliens aufgeben und dem fränkischen Machtbereich überlassen.[320] Der Frankenkönig war bereit seine Tochter dem höchsten Herrscher der Christenheit zu vermählen und holte dazu griechische Erzieher an seinen Hof.[321] 785 hatte sich der Sachsenherzog Widukind Karl und damit auch dem fränkischen Herrschaftsanspruch unterworfen und sich christlich taufen lassen, für die Franken und ihrem König entstand eine Atempause und es herrschte die Überzeugung, die Sachsenkriege seinen endgültig beendet, so reifte in Karl der Entschluss zu einer dritten Italienreise, zu der er Ende 786 aufbrach. Vorgesehen waren Verhandlungen mit Byzanz, und Arichis, den Fürsten von Benevent, der als Haupt der freien Langobarden über ein gefestigtes Staatswesen herrschte und in Rom und im fränkischen Herrschaftsbereich Befürchtungen auslöste. In oder bei Capua trafen Gesandte Irenes und Konstantin VI. ein, um die seit Langem Verlobte Tochter Rothrud nach Konstantinopel zu geleiten. Karl hatte es sich in der Zwischenzeit anders überlegt, und er weigerte sich, seine Tochter ziehen zu lassen. Das noch zuvor von politischen Visionen begleitete Eheprojekt kam nicht zustande, und das fränkisch-byzantinische Einvernehmen zerbrach. Die Quellen berichten auch hier unterschiedlich, dass jeweils die eine Seite das Interesse verloren hatte. Beweggründe werden von beiden Seiten nicht genannt, aber das fränkische Ausgreifen nach Benevent und dem Süden Italiens, und die Weigerung einer fränkischen Teilhabe an einem Konzil in Konstantinopel boten Konfliktstoff, außerdem, so wird berichtet, habe Karl sehr an seiner Tochter gehangen. Zum dritten Mal feierte Karl 787 das Osterfest bei Papst Hadrian in Rom, und wieder erhielt die Römische Kirche Schenkungen, diesmal beneventinische und tuskische Ortschaften. Tassilo von Bayern versuchte in einem Konflikt mit dem Frankenkönig, die Vermittlung Hadrians zu erreichen, aber der Papst ließ den Bayernherzog fallen, und Karl hatte freie Hand, ihn gänzlich zu entmachten.[322] Papst Hadrian starb am Weihnachtstage 795 noch am folgenden Tag, dem Tag seines Begräbnisses wurde Leo III. zum Papst gewählt. Im selben Jahr und davor durchlebte Byzanz unruhige Jahre. Kaiserin Irene war es gelungen,
[319] Classen, Peter: S. 28
[320] ebd. S. 30
[321] ebd. S. 31 f
[322] ebd. S. 32 f
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die Bilderverehrung zu erneuern, suchte sie ihr Werk gegen den unsteten Sohn zu sichern, der einst Karls Tochter hatte heiraten sollen und nun zwischen der Mutter und den bilderfeindlichen Truppen, zwischen Einflüsterungen von Höflingen oder Frauen und einem unbeherrschten Selbstbewusstsein schwankt, die Mutter verjagt und zum Hof zurückholt, seine Ehe scheidet und eine Hofdame heiratet. Sein Lebenswandel gibt ihn der Verachtung seiner Umgebung preis, bis die eigene Mutter ihn im August 797 absetzen und blenden lässt. Die Tat löst besonders am fränkischen Hof entsetzen aus, als die Nachricht dort eintrifft, dennoch wird im darauffolgenden Jahr eine Gesandtschaft Irenes empfangen, um über einen Frieden zu verhandeln, wobei es um Grenzstreitigkeiten im Süden Italiens, und im Norden um Venetien und Istrien ging, worüber es seit den Feldzügen von 788 und den folgenden Jahren zu keiner Einigung gekommen war. Aus diesen Verhandlungen ist der Schluss gezogen worden, gegen Irene opponierende Kreise am Hof in Byzanz hätten ein Eingreifen Karls über seinen westlichen Einflussbereich hinaus befürwortet, stößt auf keinen realen Hintergrund.[323]
Karl sandte 798 eine große Legation nach Rom, um neben anderen Fragen, die zu klären waren, die Einführung der Metropolitanverfassung in der bayrischen Kirche zu betreiben. Den bayerischen Bischöfen schrieb Leo darauf, er habe mit Zustimmung und Willen des Königs Karl den Salzburger Arn zum Erzbischof erhoben, ihm das Pallium verliehen und Salzburg zum Metropolitensitz gemacht. Karl ordnete die Verfassung der fränkischen Kirche, der Papst vollzog die Verfügung des Königs. Indem Leo um diese Zeit begann, seine Urkunden nicht nur nach Pontifikatsjahren zu datieren, sondern auch Karls Regierungsjahre daneben zu stellen, damit brachte er Karls Herrschaft über Rom auch formell zum Ausdruck. Schon zu der Zeit erkundigte sich Alkuin bei Arn, was denn der römische Adel Neues vorhabe, und Arn erwiderte, der Papst führe ein gerechtes Leben, leide aber unter dem Angriff der Söhne der Zwietracht. Die Opposition gegen Leo führte Paschalis an, einer der Neffen Hadrians, gemeinsam mit Campulus, die beide an der Spitze der päpstlichen Bürokratie standen. Beide hatten unter Hadrian Karriere gemacht, und waren im Frankenreich gut bekannt; Paschalis war bereits 778 als Gesandter bei Karl gewesen, Campulus kurz vor Hadrians Tod. Hinter ihnen standen viele andere Adelige Einwohner Roms. Sie entschlossen sich zu einem Gewaltstreich und überfielen den Papst am 25. April 799 mit der Absicht, Leo zu blenden und seine Zunge zu verstümmeln, eine Maßnahme, die in diesen Zeiten gehandhabt wurde, um so eine Amtsunfähigkeit herbeizuführen, verletzten ihn aber nur ungefährlich und setzten ihn in einem Kloster fest, wo er von seinen Verletzungen genas. Die Beweggründe sind im Nachhinein schwer zu ermitteln, fest steht nur, dass der Anschlag scheiterte, obwohl die Anführer die Stadt beherrschten, gelang ihnen weder die Absetzung noch den Papst dem Willen seiner Feinde gefügig zu machen. Mit dem Überfall auf den Papst setzte sich die Kette von Ereignissen in Bewegung, die unmittelbar zur Erhebung Karls zum Kaiser führten. Die Nachricht von dem Putsch verbreitete sich schnell. Mit Hilfe des Herzogs Winigis von Spoleto, dem Abt eines Klosters und einiger Getreuer, die sich als Gesandte des Königs in der Nähe Roms aufgehalten hatten, konnte der Papst aus Rom entkommen. Die Situation ließ dem Papst keine Wahl, nur mit Hilfe der Franken konnte er auf Freiheit und Sicherheit hoffen. Noch im Mai erfuhr Karl in Aachen, wo ihm von einer Blendung des Papstes berichtet worden war, von den Ereignissen. Die Nachricht gab er sofort weiter an Alkuin in Tours. Sobald Karl von der Rettung Leos aus der Gefangenschaft hörte, schickte er einen hohen Hofgeistlichen und zwei Grafen entgegen, um ihn an seinen Hof zu geleiten. Karl erwog nun eine Romfahrt, änderte aber seine unmittelbaren Pläne nicht, sondern begab sich in zweiten Junihälfte nach Sachsen.[324] Im Juli 799 traf Papst Leo in Paderborn ein, wo Karl Hof hielt. Er wurde mit großem Zeremoniell empfangen, was keinen Zweifel zuließ über seine Rechtmäßigkeit als Papst. Dass er unversehrt und gesund vor Karl erschien, wurde von
[323] Classen, Peter: S. 41 f
[324] ebd. S. 45 ff
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manchen als Wunder gedeutet, wovon Karl aber nicht so ohne weiteres überzeugt war. Die Klagen gegen den Pontifex lauteten auf Simonie (Ämterkauf), Eidbruch und sittliche Verfehlungen, die durch Boten dem König nahegebracht wurden. Es gab anscheinend in der Umgebung des Hofes Geistliche, die von der Berechtigung der Klagen nicht einfach Abstand nehmen wollten. Unversehens sah sich Karl vor die Frage gestellt, ob ihm die Jurisdiktion in Rom und vielleicht sogar über dem Papst zustand.[325] Schon als der Papst nach Paderborn gekommen war hatte Alkuin, aufgeschreckt durch die Nachrichten aus Rom, Karl in einem Brief gemahnt, den Sachsenkrieg abzubrechen, um sich ganz der Verantwortung für den Schutz des Papstes und der Kirche widmen zu können. Die andere Frage, ob der Papst selbst Karls Gericht unterworfen werden könne, bestand für den Angelsachsen nicht. Alkuin lässt keinen Zweifel: Karl muss jetzt in Rom das Recht wiederherstellen, den Papst schützen, und die Frevler strafen. Aber er leitet diese Überzeugung nicht aus dem Amt ab, das Karl als mächtiger weltlicher Herrscher innehatte. Die königliche Würde des Franken ist für ihn nach den Katastrophen in Rom und Konstantinopel das höchste und letzte, auf der das Heil der Christenheit beruht; Gott selbst hat Karl die Aufgabe gestellt. Alkuin verwendet den Begriff des Imperium Christianum (Christliches Reich), den er in seinen Briefen seit 798 öfter gebraucht. Der Ausdruck ist ihm aus der Liturgie zugeflossen, wo es in Gebeten für das Reich an Stelle des Imperium Romanum (Römisches Reich) getreten war. Alkuin hat diese Änderung selbst betrieben. Der Begriff ist unpolitisch und an Orten entstanden, wo nicht mehr von der Identität von christlicher Kirche und Römischen Reich ausgegangen wurde, und das Gebet für das Römische Reich seinen Sinn verloren hatte.[326]
Karls Königtum war seit Langem in eine Stellung hineingewachsen, die alle bekannten Königtümer überragte. Über die Grenzen seines Reiches hinaus fühlte Karl sich für den rechten Glauben der Spanier und für den Schutz der Kirchen im Heiligen Land verantwortlich. Es wurden ihm im Laufe der Zeit manche Titel und Eigenschaften beigelegt, aber nichts deutet darauf hin, dass er die Erlangung der kaiserlichen Würde zielstrebig verfolgt hat; niemals hatte er in Rom Kaiserrechte an sich gezogen. Die geistige Konzeption des gesteigerten christlichen Königtums über ein Vielvölkerreich wird an Karls Hof nicht vom Vorbild des römisch-christlichen Kaisertums, sondern von dem des alttestamentlichen Königtums geprägt, nicht Konstantin, sondern David, der gesalbte König des Gottesvolkes, ist der Typus für Karl, gibt ihm den Namen, mit dem Alkuin und die anderen Glieder seines Hofkreises, geistliche und weltliche, ihn anredeten. Hatte Alkuin auf den Boden der theologischen-politischen Idee nachdem Richter über die Frevler von Rom und nach und nach der höchsten irdischen Würde gefragt, so war es den in Paderborn Versammelten, an ihre Spitze Karl und Leo, aufgegeben, eine Antwort im Rahmen des gültigen irdischen Rechtes und der praktischen Politik zu finden. Dass die Frage nach dem Gericht in Rom gestellt wurde, ergibt sich nicht nur aus der Situation, sondern sagt neben Alkuins Briefen auch das vermutlich noch 799 oder 800 entstandene Epos über Leo und Karl. Zweierlei ist damals sicher beschlossen worden, zunächst die unmittelbar folgende Rückführung Leos nach Rom durch Karls Gesandte als Begleitung und die Untersuchung durch diese, sodann aber auch die Romfahrt Karls selbst, die schon im Juni 799 erwogen worden war. Seine persönliche Entscheidung in Rom war notwendig, ob vom Standpunkt der politischen Theologie oder der Machtpolitik, von der Frage nach dem Gericht über den Papst oder nach den Pflichten des defensor ecclesiae (Verteidiger der Kirche) ausging. Wurde schon in Paderborn die Lösung aller Fragen darin gesehen, dass Karl selbst das Kaisertum übernehmen müsse? Zu Anfang des Jahres 801, wenige Tage nach seiner Erhebung zum Kaiser, hat Karl die nach Rom zurückgeführten Gegner des Papstes nach römischem Recht als Majestätsverbrecher abgeurteilt. Daraus ist die These abgeleitet worden, die Kaisererhebung
[325] Classen, Peter: S. 47 f
[326] ebd. S. 48
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sei von Leo allein, ohne Karls Wissen, vorbereitet und durchgeführt worden, weil nur ein Kaiser den rechtsgültigen Majestätsprozess leiten könne. War dem wirklich so, dann muss das schon in Paderborn allen bewusst gewesen sein.[327] Die rechtliche Lage in Rom war also keineswegs eindeutig so, dass nur ein Kaiser gegen die Aufrührer vorgehen konnte; aber sie war unklar, und alle Unklarheiten waren in dem Augenblick beseitigt, da es in Rom einen Kaiser gab. Das kann für Leo ein starker Antrieb gewesen sein, den Franken gegenüber den Kaiserplan zu erörtern, und dies nicht erst in Rom im Dezember 800, sondern schon in Paderborn im Spätsommer 799. Ihm war es wohl wichtiger, seine Gegner in Rom für alle Zeit unschädlich zu machen, als das Postulat des Constitutum Constantini (Konstantinische Schenkung) aufrecht zu erhalten, in Rom dürfe kein irdischer Kaiser herrschen.[328] Sollte die Kaiserfrage in Paderborn erörtert und sogar eine grundlegende Einigung erzielt worden sein, hatte diese Lösung gewiss noch keine festen Formen angenommen. Karl hat über ein Jahr nach Leos Abreise gewartet, bis er selbst nach Rom zog. Zunächst musste in Rom Klarheit geschaffen werden. Karls Abordnung geleitete den Papst dorthin zurück und prüfte in Karls Auftrag die Position beider Seiten. Die Argumente der Gegner müssen Leo nicht wenig belastet haben, dennoch konnte keine Verfehlung die Gewalttat seiner Gegner rechtfertigen, darum ließen die Franken Paschalis, Campulus und ihre Mittäter verhaften und ins Frankenreich überstellen. Karls Abgeordnete traten in Rom zwar nicht als Richter, wohl aber als vom fränkischen König beauftragte Untersuchungsbeamte auf, und die Verhaftung der Papstgegner war selbst dann, politisch zu sehen, wenn der Papst dazu eine formelle Vollmacht gegeben hätte, eine Handhabung des Frankenkönigs in Rom.[329]
Alkuins Briefe aus diesen Monaten ebenso wie die Verse, die er Karl auf die Romfahrt mitgehen ließ, spielen wohl auf das Richteramt an, mahnen zu rechtem Gericht und sprechen von der hohen Aufgabe in Rom, vom Kaisertum aber ist mit keinem Wort die Rede. Von den vielumstrittenen Ereignissen, die am Weihnachtstag 800 ihren Höhepunkt erreichten, berichten drei unmittelbar zeitgenössische Quellen, die einander ergänzen, aber kaum widersprechen, zu denen eine Reihe späterer kleinerer Zeugnisse hinzutreten. Der Hergang selbst bietet viel weniger Schwierigkeiten als die Deutung, die Erkenntnisse der Beweggründe und Ideen, die das Handeln der beteiligten Persönlichkeiten leiteten. Vom Standpunkt der Anhänger des Papstes Leo berichtet eine um 801 niedergeschriebene Vita des Papstes. Von fränkischer Seite liegen die Reichsannalen vor, die gleichfalls nicht lange nach den Ereignissen abgefasst, und die Sicht des Hofes wiederspiegeln. Neben diesen Quellen steht, vor allem für die dem Weihnachtstag unmittelbar vorausgehenden Geschehnisse von einzigartigem Wert, der Bericht des Lorscher Annalisten. Von Mainz war Karl nach Ravenna, wo er einen Teil des Heeres unter Pipin gegen Benevent abordnete, gezogen. Fast ein volles Jahr nach der Rückkehr des Papstes stand er am 23. November 800 vor den Toren Roms.[330]
Eine Woche nach seiner Ankunft machte Karl sich an die Arbeit. Das große Empfangszeremoniell, das Leo veranstaltet hatte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Anklagen gegen den Papst noch nicht aus dem Weg geräumt waren. In der Peterskirche trat unter Karls Vorsitz eine Versammlung zusammen, die neben dem römischen und fränkischen Klerus auch Laien angehörten. Die Rechtsform der Untersuchung lässt Eindeutigkeit vermissen; obwohl es auch im fränkischen Klerus Männer gab, die ganz anders dachten als Alkuin und Leos Rücktritt wünschten. Gleichwohl wurde es als notwendig angesehen, die Beschuldigungen vor dem Weihnachtsfest aus der Welt zu schaffen, und so ergab sich drei
[327] Classen, Peter: S. 50 f
[328] ebd. S. 52
[329] ebd. S. 54
[330] ebd. S. 58
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Wochen nach Beginn der Untersuchung eine Einigung, die den Papst freiwillig und ohne gerichtlichen Zwang zu einem Reinigungseid verpflichtete. Auf dem Ambo der Peterskirche schwor Leo am 23. Dezember den Eid, und der versammelte römische und fränkische Klerus feierte mit Litaneien und Laudes die wiederhergestellte Ehre und Unschuld des Papstes.[331]
Gemäß einem Bericht der Lorscher Annalen wurde am 23. Dezember 800 in Rom ein Konzil einberufen, das mit Papst Leo an der Spitze beschloss, „dass man Karl, den König der Franken, Kaiser nennen müsse“. Karl wollte diesen Antrag nicht ablehnen, sondern in aller Demut vor Gott und auf Bitten des Klerus und des ganzen christlichen Volkes nahm er am Tage der Geburt unseres Herrn Jesus Christus mit der Weihe des Papstes den Kaisernamen an“.
Papst Hadrian hatte zwar mit Kaiserin Irene zusammengearbeitet, aber seit dem Sturz Konstatins VI. und der Alleinherrschaft Irenes lassen sich Beziehungen zwischen Rom und Byzanz nicht nachweisen. Karl hatte 798 mit einer Gesandtschaft der Kaiserin in Aachen „über den Frieden“ verhandelt, also keinen Grund gesehen, ihr Recht zu bestreiten. Das Vorgehen gegen ihren Sohn hatte im Frankenreich Aufsehen und Abscheu erregt. Alkuin hatte in einem Brief an Karl der Absetzung Konstantins VI. gedacht, des Kaisertums Irenes aber nicht, und damit die Vakanz des byzantinischen Kaiserthrones vorweggenommen, vor diesem Hintergrund hatte Karl jede aggressive Haltung vermieden.[332]
Über die Krönung selber hat es unterschiedliche Darstellungen und Interpretationen gegeben. Als Karl sich bei der Messe des Weihnachtstages 800 vom Gebet vor der Confessio St. Petri erhob, setzte der Papst ihm eine sehr kostbare Krone auf das Haupt. Darauf folgte für Karl von allen anwesenden Römern die Bestätigung durch Akklamation mit Gesang und Anrufung der Heiligen. Der Papst bestätigte durch Kniefall, wie es bei den alten Kaisern üblich gewesen war, die Weihe und Anerkennung. „Und er wurde von allen als Kaiser der Römer eingesetzt“ (Liber Pontificalis), „und nach Ablegung des Patriziernamens wurde er imperator und augustus genannt“ (Reichsannalen). Die beiden Hauptberichte (Reichsannalen und Liber Pontificalis) nennen die zwei wichtigsten Vorgänge: Das Aufsetzen der Krone und die Akklamation durch die Römer in dieser Reihenfolge; als Ergebnis des Gesamtvorganges wird festgestellt, dass Karl zum Kaiser eingesetzt und Kaiser genannt wurde. Beide Vorgänge müssen einzeln betrachtet werden. Kronen waren seit Konstantin dem Großen zu den wichtigsten Herrschaftszeichen geworden.[333] Neu im Text ist also nur der Kaisertitel, Augustus und Imperator. Wie dem auch sei, es ist gewiss, dass der Ablauf genau abgesprochen und vorbereitet war. Das Volk zumindest aber der gesamte römische Klerus, hatte den Akklamationstext gelernt und geübt, wusste, was geschehen musste, wenn der Papst mit der Krönung das Zeichen gab.[334]
Das einzige Argument gegen eine Kaisersalbung Karls des Großen ist die These von einer Überrumpelung Karls durch den Papst, jene These, die schon aus ganz anderen Gründen als überwunden gelten muss. Wenn sich auch angesichts des Schweigens der Hauptquellen letzte Sicherheit nicht gewinnen lässt, so ist die Möglichkeit, dass Karl mit der Krone auch die Salbung empfing, gewiss auch nicht einfach von der Hand zu weisen. Zumindest aber sprach der Papst ein Weihegebet.[335]
[331] Classen, Peter: S. 59
[332] ebd. S. 60 f
[333] ebd. S. 62
[334] ebd. S. 67
[335] ebd. S. 68 f
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Wenn Karl einen anderen Weg ging, wenn er als erster aller Kaiser überhaupt einen anderen Weg ging, wenn er als erster aller Kaiser überhaupt seiner Titulatur ein auf Rom bezügliches Glied einfügte, dann bedeutet das, dass er die römische Wurzel seines Kaisertums nicht leugnen oder abschwächen, sondern gerade betonen wollte. Ihm lag nichts an einem unklaren inhaltslosen Kaisertitel, wie es zuweilen angelsächsische Könige geführt hatten. Der einzige im amtlichen Sprachgebrauch Italiens, besonders in Eidesformeln, längst gebräuchliche Titelform, die Rom nannte, sprach weder von Stadt noch von den „Römern“, sondern vom Römischen Reich. Indem Karl diese Formel aufnahm, konnte er das ganze Gewicht des allein echten, römischen Kaisertums hervorkehren, ohne die Römer den Franken vorzuziehen. So entstand die eigenartige Verknüpfung der übergreifenden Institution des Römischen Reiches mit dem Personenverband der Franken und Langobarden im kunstvoll ausgearbeiteten Titel Karls.[336]
Es wurde bisher die Quelle bewusst außer Acht gelassen, die unter den Berichten über Karls Erhebung zum Kaiser die Hauptschwierigkeit bietet: Einharts berühmtes Kapitel 28 der Vita Caroli Magni. Die rund dreißig Jahre nach den Ereignissen niedergeschriebene Quelle, deren sachliche Irrtümer in vielen Dingen so unbestritten sind wie die literarischen Qualitäten, gibt alles andere als eine Erzählung der Vorgänge, sondern eher eine bestimmte Interpretation bestimmter Gesichtspunkte wieder.[337]
Es kann der Eindruck gewonnen werden, dass Einhart die politische Distanz zu Rom nicht ohne Absicht betont. Darauf wird im Kapitel 28. Kapitel der letzte Romzug behandelt. Ihn veranlasste der Wunsch, nachdem Aufstand gegen Papst Leo, den Zustand der Kirche zu ordnen; einen ganzen Winter brachte Karl deshalb in Rom zu. „Zu dieser Zeit nahm er den Namen Imperator und Augustus“ an. Handelndes Subjekt ist Karl; der Papst, von dem nur anlässlich des Aufstandes die Rede war, erscheint hier überhaupt nicht. „Diesem Namen war er zuerst so abgeneigt, dass er versicherte, er hätte an jenem Tage, obwohl er ein hervorragendes Fest war, die Kirche nicht betreten, wenn er den Plan des Papstes hätte wissen können“.[338]
Das alles ergibt ein gut zusammengefügtes Bild, aber keine Schilderung der Vorgänge, und ist darum Missverständnissen ausgesetzt. Es wurde daraus der Schluss gezogen, Karl selbst sei von der Krönung überrascht worden. Wollte Einhart dies sagen, so entsprach es nicht den Tatsachen. Selbst wer zweifelt, ob in Paderborn 799 und in Rom zwei Tage vor Weihnachten über das Kaisertum verhandelt wurde, wird einräumen müssen, dass er durch den Empfang mit kaiserlichen Ehren am 23. November vorbereitet sein musste, dass eine Krone nicht einem Ahnungslosen übergestülpt werden konnte, dass eine Akklamation der Abrede und Einübung durch viele bedurfte, und dass Karl eine ungewöhnliche Naivität unterstellt werden müsste, wenn die Vorbereitungen ihm verborgen geblieben sein sollten. Der Möglichkeiten sind viele, aber sicher ist, dass Karl nicht wider Willen zum Kaiser wurde.[339]
Das Kaisertum, so wie es 800 in Rom geschaffen wurde, entsprach nicht Alkuins Vorstellungen. Mit dem römischen Titel war es nicht das Christliche Imperium, nicht eine Überhöhung des davidischen Königtums, das Alkuin vorschwebte. Vermied er auch offenen Widerspruch, so ist sein Ausweichen und Schweigen deutlich genug. Damit ist nicht gesagt, dass er gegen das Kaisertum selbst eingestellt war, nur die Form in der es verwirklichte wurde, lief seinen Ideen zuwider. Der Putsch zwang Papst Leo, um Hilfe nachzusuchen, wodurch Karl die Aufgabe
[336] Classen, Peter: S.73
[337] ebd. S. 74
[338] zitiert ebd. S. 75
[339] ebd. 75 ff
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zufiel, Verantwortung und schließlich richterliche Gewalt auszuüben, und eine eindeutige Definition seiner Stellung anzustreben.[340]
Ein Akt wie die Kaiserkrönung Karls des Großen von so weittragender und weitreichender Bedeutung, ohne vorher festgelegtes Protokoll zu vollziehen, ist schwer vorstellbar. Minuziöse protokollarische Festlegungen waren damals, genau wie heute, üblich. Die Quellen der Zeit berichten darüber aber nichts, dafür aber Darstellungen und Interpretationen, die Fragen übrig lassen, daran hat sich in den mehr als 1200 Jahren, die seit diesem Ereignis vergangen sind, nichts geändert. Wenn Absprachen stattgefunden haben in Paderborn und später in Rom, wofür vieles spricht, dann ist eine planvolle protokollarische Durchführung nirgends belegt. Die Krönung hat stattgefunden und die mittelalterliche Geschichte geprägt wie kein anderes Ereignis. Ein zweiter Punkt von ebenso großer Wichtigkeit muss hier genannt werden, der auf eine verfassungsrechtliche Absicherung hinweist, und einen weiteren Mangel offenlegt. Er betrifft den Rahmen für die beiden mächtigen Institutionen Papst als geistliches Oberhaupt und Kaiser als weltliches Oberhaupt. Eine Festlegung der beiden Kompetenzbereiche ist umgangen worden mit schwerwiegenden Auswirkungen in der zweiten Hälfte des Mittelalters. Die Unsicherheiten, die der Gründungsakt erkennen lässt, haben sich fortgesetzt, sie haben sich sogar fortgesetzt bis in die unmittelbare Gegenwart. Das Gebilde, das sich Europäische Union nennt, verfügt über keine verfassungsrechtliche Grundlage, die den Namen verdient. Verträge werden geschlossen und willkürlich gehandhabt, sie werden eingehalten oder auch nicht. Karl wollte dem staatlichen Gebilde, das er mit seinen vielen Völkerschaften und unterschiedlichen historischen Entwicklungen geschaffen hatte, einen Rahmen geben, der seinen Bestand gesichert hätte. Er hatte klar erkannt, worauf es ankam, aber die Kräfte und Umstände haben nicht ausgereicht, um alles in dem notwendigen Umfang zu verwirklichen. Seine unmittelbaren Nachfolger besaßen nicht das Format, um alles in eine Bahn zu lenken und weiter zu führen. Von einer anderen Krönung muss in diesem Zusammenhang berichtet werden: Die Krönung Napoleons I. zum Kaiser der Franzosen am 2. Dezember 1804 in der Kathedrale von Notre Dame in Paris. Schon der Krönungsakt zeigt wesentliche Unterschiede: Napoleon setzte sich die Krone selbst aufs Haupt, um dann auch seine Frau Josephine zu krönen. Der Papst stand daneben, ihm wurde nicht mehr als eine Zuschauerrolle zugebilligt. Napoleon stand dem universalen Staatsgedanken, wie er von Karl mit Leidenschaft vertreten wurde, ablehnend gegenüber; er wollte ein Europa unter nationalstaatlicher französischer Hegemonie. Napoleon hätte etwas bewirken können, keine Herrscherpersönlichkeit hatte seit Karl dem Großen eine solche Machtfülle in sich vereinigt wie Kaiser Napoleon, ihm war die Aufgabe zugefallen, Tradition und Moderne zusammenzuführen, er ist dieser Aufgabe nicht gerecht geworden. Beiden Kaisern wurde unter unterschiedlichen Voraussetzungen die Krone aufgesetzt, ein Akt für nur einen Augenblick mit langandauernden unübersehbaren Folgen. Eine Aussage Friedrich von Schillers passt dazu: „Was du von der Minute ausschlägst, bringt keine Ewigkeit zurück“. Europa ist heute zweigeteilt in ein monarchisches und ein republikanisches Europa, Gegensätze, die schwer zu überwinden sind. Die These, Monarchie und parlamentarische Demokratie könnten nicht zusammengehen, ist durch eine historische Entwicklung widerlegt. Den Beweis liefern die Beneluxstaaten, die skandinavischen Länder, Spanien und Großbritannien. Die Klammer, die das britische Commonwealth zusammenhält, das aus 53 Staaten besteht, ist die britische Monarchie, die in hervorragender Weise diese Aufgabe wahrnimmt. Die Monarchie verfügt anders als die Republik über traditionelle Bindungen, außerdem ist sie parteipolitischen Verpflichtungen entrückt. Monarchie und parlamentarische Demokratie bilden gemeinsam eine zusätzliche Absicherung gegen diktatorische Ambitionen.
[340] Classen, Peter: S. 78 f
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Wie nahm Karl seine Aufgabe wahr, die ihm nach seiner Rückkehr aus Rom zugefallen war? Hat er auch außerhalb Roms in seinen übrigen Herrschaftsgebieten neues Recht geschaffen? Einhart berichtet darüber, wie er als Kaiser begonnen habe, die Gesetze der Franken zu überarbeiten. 802/03 wurde damit der Anfang gemacht, Volksrechte im Frankenreich zu ergänzen und zu revidieren. Das religiöse Leben sollte in festgefügte Bahnen gelenkt werden, was sich in Verfügungen über Kirchenrecht und Klosterleben niederschlug. Karl leitet aus seinem Kaisertum neue Verpflichtung und neues Recht in seinem ganzen Reich ab, aber in den Reformgesetzen lebt weniger die römische Komponente des Kaisertums als vielmehr die christliche, die Verpflichtung des gottberufenen Herrschers, als der sich Karl verstand. Das Imperium Romanum (Römisches Reich) sollte umgewandelt werden in ein Imperium Christianum (Christliches Reich), wie es den Vorstellungen Alkuins entsprach.
Karls Handeln als Kaiser beschränkte sich auf sein altes Herrschaftsgebiet mit Einschluss des römischen Italien. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er je daran gedacht hat, darüber hinaus im Osten des Römischen Reiches Rechte geltend zu machen. Dennoch fühlte sich Byzanz vom ersten Tag an politisch angegriffen. Die Voraussetzung für das Geschehen am Weihnachtstage 800 war in den Augen Leos wie Karls die Vakanz des Thrones in Konstantinopel gewesen. Die Herrschaft der Kaiserin Irene stieß in Byzanz auf offene oder geheime Opposition, dennoch wurde die Kaiserkrönung in Rom als Usurpation durch die Franken betrachtet.[341]
802 wurde die Kaiserin Irene durch Nikephoros, der ihr leitender Finanzbeamter gewesen war, abgesetzt und verbannt. Der neue Kaiser Nikephoros setzte die begonnenen Verhandlungen mit Karl fort und entsandte eine Delegation, die im Sommer 803 empfangen wurde. Diesen Gesandten wurde der schriftliche Entwurf eines Friedensvertrages ausgehändigt, den die Griechen mit einem zusätzlichen Brief Kaiser Karls über Rom mit nach Konstantinopel nahmen. Vom Inhalt dieses Vertrages ist nichts überliefert, es ist aber vermutet worden, dass er den Vorschlag enthalten einer gegenseitigen Anerkennung des Kaisertum sowie vertragliche Absicherung der jeweiligen Herrschaftsgebiete, was Karl in späterer Zeit weiter angestrebt hat. Solche Vorschläge stießen in Byzanz auf Ablehnung, Karl wurde dort als Barbarenherrscher und Usurpator angesehen, dem eine Herrschaft über das immer noch als unteilbar geltende Römische Reich nicht zugebilligt werden konnte. Nikephoros ließ die Vorschläge unbeantwortet; zu kriegerischen Handlungen kam es zunächst nicht, Karl sah keinen Anlass und Nikephoros keine Möglichkeit dazu. Damit waren nicht nur die politischen, sondern auch die kirchlichen Beziehungen zwischen Konstantinopel und Rom abgebrochen, denn indem Leo III. Karl zum Kaiser ausgerufen hatte, war der Westen des Reiches nach byzantinischer Auffassung nicht nur vom Reich, sondern auch von der Reichskirche getrennt worden. Die Gesandten des Papstes und Karls hatten 802 gemeinsam in Konstantinopel den Ausgleich gesucht, waren aber abgewiesen worden, Papst Leo wurde als Schismatiker angesehen und Karl als Usurpator.[342]
Zu keiner Zeit hat Karl aus seinem Kaisertum territoriale Ansprüche abgeleitet, das kommt auch in der Nachfolgeordnung für seine Söhne zum Ausdruck. Kriegerische Verwicklung gab es um Venetien, das im Nordosten Italiens an das Frankenreich grenzte. Venetien war ein Gebiet geblieben, das sich selbst verwaltete, ohne die byzantinische Oberhoheit in Frage zu stellen. Byzanz sah dennoch einen Anlass militärisch einzugreifen, nicht das „Zwei-Kaiser-Problem war dabei ausschlaggebend, sondern der Streit um die Herrschaft über Venetien, der zu Kriegen zwischen Byzanz und den Franken führte, da Byzanz zur See die Überlegenheit besaß, blieb
[341] Classen, Peter: S. 81 f
[342} ebd. 86 f
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es erfolgreich.[343] Ein Krieg mit den Bulgaren, in dem Kaiser Nikephoros fiel, zwang Byzanz schließlich zum Einlenken, 810 kam es zu Friedensverhandlungen, im Text darin redet Karl Nikephoros mit fraternitas tua (Dein Bruder) an, ein Begriff aus dem Vokabular der „Familie der Könige“, mit dem eine Gleichrangigkeit am ehesten ihren Ausdruck fand, was in den Augen Einharts als eine Großmut des fränkischen Kaisers gegenüber den Griechen angesehen wurde. Der Frieden war auf beiden Seiten eine beschlossene Sache. Es folgten komplizierte Formen, mit denen das Beschlossene Rechtskraft erlangen und sichern sollte. Fast zwölf Jahre nach der Kaiserkrönung erkannte Byzanz das Kaisertum Karls an, indem Kaiser Michael dies Kaisertum als bloße Rangerhöhung für einen Herrscher über viele Völker erachtete und so trachtete, diesem Kaisertitel eine andere Deutung unterzuschieben, zugleich unternahm er es, ein Eheprojekt vorzuschlagen zwischen seinen von ihm erhobenen Mitkaiser Theophylakt und einer fränkischen Prinzessin. Auf diesem Wege so hatte er sich ausgemalt, sollte die Einheit des Römischen Reiches wieder erreicht werden. Der Vertrag zwischen beiden Kaisern wurde schriftlich festgelegt. Der Text ist nicht erhalten, es gibt aber reichlich Berichte aus der Zeit über das langwierige Ratifikationsverfahren. Es ist auch nichts darüber überliefert, wie Karl auf das Eheprojekt reagiert hat.[344]
Als 803 das Band zwischen Rom und Konstantinopel endgültig zerrissen, und das Papsttum dem römische-fränkischen Reich eingegliedert zu sein schien, erreichte Karl in Aachen die Nachricht, der Papst verfolge die Absicht, mit Karl Weihnachten zu feiern. Karl ließ Leo von seinem ältesten Sohn abholen und nach Reims geleiten, wo er ihn selbst empfing. Das Weihnachtsfest wurde Quierzy begangen, einer nordwestlich von Reims gelegenen Kaiserpfalz, danach begaben sich Kaiser und Papst zum Epiphanienfest nach Aachen. Aus den Reichsannalen ist die Andeutung zu entnehmen, Karl sei der Besuch des Papstes ungelegen gekommen. Es ist die Annahme geäußert worden, Leo habe damals das Constitutum Constantini zur Bestätigung vorgelegt, sei aber abgewiesen worden. Der einzige Anhaltspunkt für diese These ist darin begründet, dass Karl ein gutes Jahr danach, die später als Fälschung erkannte Konstantinische Schenkung, zur Abfassung des Reichsteilungsgesetzes, womit das Reich unter seine Söhne aufgeteilt wurde, benutzt hat.[345]
Das Heilige Römische Reich von 814 bis 1254 unter Einschluss der theologischen Geistesströmung der Scholastik.
Die mittelalterliche westeuropäische Geschichte, die mit der Herrschaft Karls des Großen ihren Ausgang nahm, ist überwiegend eine Geschichte des Heiligen Römischen Reiches. Die europäische Geschichte mit all ihren Errungenschaften ethischer und wissenschaftlicher Wertschöpfungen hat zwei Stützpfeiler, die aus der antiken Geschichte herrühren, auf Baumeister des Staates und Verfechter der Religion und der Welt des Glaubens, auf Griechenland, Rom und Israel, in der weitreichenden Epoche der antiken Welt. Es hat Hochkulturen gegeben, bevor Griechenland und Rom zum fundamentalen Bestandteil der europäischen Geschichte wurden in Ägypten am Nil, im Zweistromland am Euphrat und Tigris und weiter nach Osten in der persischen Geschichte. Große kulturelle Leistungen wurden vollbracht in Indien und im südostasiatischen Raum, die ebenfalls bis in den Zeitraum der Antike hineinreichen. Eine beachtenswerte Stellung nimmt China ein, das sich mit seinen kulturellen Errungenschaften, die bis in die Gegenwart reichen, über Jahrtausende hinweg ein homogenes Territorium bewahrt hat. Eine besondere Stellung nimmt auch Japan ein, dem es in kurzer Zeit gelang, Anschluss zu finden an die technische Entwicklung in Europa und Amerika. Der Einfluss dieser vorausgegangenen Kulturen mit ihren
[343] Classen, Peter: S. 91 f
{344] ebd. S. 93 ff
[345] ebd. S. 88 f
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Staatsentwürfen hat in der europäischen Geschichte in der Zeit, als Europa bestimmend wurde für den Verlauf der Menschheitsgeschichte, keine prägenden Spuren hinterlassen. Im politischen Denken von Hannah Arendt ist eine Fragestellung enthalten, in der untersucht wird, welche Beziehungen und Analogien sich herstellen lassen zu einer Linie von Athen, und Rom nach Philadelphia, inwieweit antike Staatsentwürfe hineinreichen in die amerikanische Geschichte, und welche Unterschiede sich hier auftun. [346]
Israel und die antike Welt der Griechen haben in der Zeit danach in der europäischen und deutschen Geschichte sehr deutliche Spuren hinterlassen durch das Christentum und die klassische Dichtung, die in der kulturgeschichtlichen Entwicklung im Griechenland der Antike ihr Vorbild suchte. Eine Entwicklung, die in der Zeit des Humanismus ihren Anfang nahm, die aber zuvor im Hochmittelalter in einem christlich-theologischen Zusammenhang in der Scholastik durch den Einfluss des griechischen Philosophen Aristoteles erkennbar ist. Darüber hinaus haben Israel und Griechenland dem europäischen Kulturkreis eine Besonderheit vermittelt, sie haben Geschichte geschrieben, eine anders geartete Geschichtsschreibung, als die Hochkultur am Nil oder des Zweistromlandes, die über die Aufzählung historischer Reminiszenzen nicht hinausgekommen ist. Ihr Blickfeld war eingeengt, auf Einzelheiten gerichtet, eine auf breitere Grundlagen aufbauende zusammenhängende Gesamtschau fehlt, und damit fehlt auch das Bewusstsein als Bedingung für den übergreifenden historischen Fortbestand.[347] Was die Hochkulturen am Nil und im Zweistromland hinterlassen haben, so eindrucksvoll es auch immer ist, bleibt wesentlich nur noch für die Archäologie von besonderem Interesse. So haben nur zwei Völker, Israel und Griechenland ihre Existenz aus dem Altertum herüber gerettet und Früchte getragen, die über ihre eigene Existenz hinausreicht, ohne diese Früchte ist der Baum, der daraus gewachsen ist nicht denkbar. Griechenland, Israel, ihre Geschichtsschreibung und das damit verbundene Bewusstsein ist weiter vererbt worden und bleibt der Menschheit in einem Gesamtverständnis erhalten.[348]
Es ist eine geistige Substanz, worauf Geschichtsbewusstsein beruht, die Bedingung ist für das Fortbestehen der materiellen Substanz.stellt sich nicht in einer Ausschließlichkeit, weil beide in ihrer kulturellen Wirkungsgeschichte auf unterschiedliche Quellen zurückgehen. Beide, Juden und Griechen haben in den Stürmen der Geschichte ihre Identität bewahrt, sie waren tief verwurzelt in einer Geschichtsschreibung, die sich eine geistige Grundlage schuf. Griechenland ist geographisch auf dem Platz geblieben, den es in der Antike innehatte. Israel musste seinen geographischen Ursprung aufgeben und war zweitausend Jahre in alle Welt verstreut; die geistigen Wurzeln, die ihm seine Identität bewahren halfen, waren zu tief, um ausgerissen zu werden. Hier wird noch einmal deutlich, was Geschichtsbewusstsein, das in einer Geschichtsschreibung gegründet ist, zu bedeuten hat.
[346] Romberg, Regine: Athen, Rom oder Philadephia? Die politischen Städte im Denken von Hanna Arendt. Würzburg 2007
[347] Rad, Gerdhard von: Gesammelte Schriften zum Alten Testament. München 1965. S. 149
[348] ebd. S. 148 f
[349] Kaltenstadler, Wilhelm: Griechische-römische Antike oder jüdischen Christentum, wem verdanken wir eunropäische Zivilisation? Hamburg 2005
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Der Übergang von der Antike zum Mittelalter ist unterschiedliche beurteilt worden, ein genaues Datum lässt sich nicht bestimmen, es kommt darauf an, welche Kriterien zu Grunde gelegt werden. Eine grobe Einteilung kann vorgenommen werden von 400 bis 1500.[350] Einige beginnen Konstantin dem Großen und der Einführung des Christentums (324), andere mit der Völkerwanderung, herbeigeführt durch das Eindringen der Hunnen nach Europa (375), die meisten Interpreten neigen zum Zeitpunkt, an dem das Weströmische Reich sein Ende fand (476). Zum Ende des Mittelalters wurden ebenso unterschiedliche Vorstellungen entwickelt. Sie reichen vom Untergang des oströmischen Reiches (1453), der Erfindung der Buchdruckerkunst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, der Entdeckung Amerikas (1492), der Beginn der Reformation Martin Luthers (1517), schließlich noch der westfälische Friede (1648).
Das „Heilige Römische Reich“ beginnt in dem Augenblick, als Karl dem König des Frankenreiches am Weihnachtstage des Jahres 800 die Kaiserkrone aufgesetzt wurde. Nach vollzogener Krönung huldigte das bei der Krönungszeremonie anwesende Volk: „Karl dem Augustus, dem von Gott gekrönten und friedebringenden Kaiser der Römer, Leben und Sieg.“ Der Bericht geht auf Einhart zurück, dem Hofschreiber und Biographen Karls des Großen.[351] Mit dem einen kurzen Satz ist Ursprung und Zielsetzung eindeutig definiert. Mit Rückgriff auf diese Geburtsstunde des Heiligen Römischen Reiches wurde es neu gestiftet, und damit bis ins 13. Jahrhundert gefestigt, von Otto dem Großen (936-973), dem Nachkommen des Sachsenführers Widukind, Karls hartnäckigstem Gegner in den Sachsenkriegen von 772-802. Am 2. Februar 962 ließ sich Otto I. als deutscher König zum römischen Kaiser krönen. Er hätte diesen Schritt sicher nicht getan, wenn nicht das Vorbild Karls des Großen vor ihm gestanden hätte.[352] Das Heilige Römische Reich ist später mit dem Zusatz „deutscher Nation“ versehen worden. Damit wurde diesem Reich ein nationaler Anstrich gegeben, den es nicht besaß, und auf dem seine Herrscher nie einen Anspruch erhoben hatten. In offiziellen Verlautbarungen der Zeit ist dieser Zusatz darum auch nicht zu finden. Noch im Jahre 1462 heißt es in einer Belehnungsurkunde Kaiser Friedrichs III. (1440-1493), obschon in deutscher Sprache: „Wir Friedrich von gottes gnaden Römischer kayser, zu allen zeiten mehrer des reichs…“[353] Mit dem Epitheton „deutscher Nation“ waren keine nationalstaatlichen Ambitionen verknüpft, eher das Gegenteil. Das Heilige Römische Reich war ein Vielvölkerstaat, bis zuletzt nur noch das übrig war, was zum späteren Zeitpunkt das eigentliche Deutschland ausmachte. Die römischen Kaiser verstanden sich seit Karl dem Großen als Schutzmacht der christlich-katholischen Kirche. Er schloss den Papst und die ganze westliche katholische Christenheit ein, weiterer Machtanspruch war damit nicht verbunden und wurde auch nicht ausgeübt. Kriege hatten ihren Ursprung und waren vordergründig bedingt durch den Gegensatz Papst-Kaiser, geistlicher Machtanspruch und weltlicher Machtanspruch, betroffen war hiervon Deutschland, wenn deutsche Fürsten dem deutschen König/Kaiser die Gefolgschaft verweigerten oder aus anderen Gründen sich ein Gegensatz ergab und Italien, das bei dem Zug deutscher Könige und Kaiser nach Rom zwangsläufig als Durchzugsgebiet genutzt wurde. Eine Zuspitzung erlebten die Auseinandersetzungen unter den Stauferkaisern Friedrich I. Barbarossa (1152-1190), Kaiser Heinrich VII. (1190-1197)
[350] Kleinpaul, Rudolf: Das Mittelalter. Bilder aus dem Leben und Treiben der Stände in Europa. Unveränderter Nachdruck von 1895. Würzburg 1998 S. 2 f
[351] ebd. S. 94
[352] ebd. S. 94
[353] zitiert bei Spieß, Karl-Heinz unter Mitarbeit von Willich, Thomas: Das Lehnswesen i, hohen und späten Mittelalter. Zweite verbesserte Auflage. Stuttgart 2009 S. 156
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und Kaiser Friedrich II. (1215-1250), was aber noch andere Gründe hatte, herbeigeführt durch den Zugriff der Sarazenen und später der Normannen auf Italien..
Die Kaiserwürde war nicht notwendigerweise an eine deutsche Dynastie gebunden, obwohl seit Karl dem Großen bis zum Ende der Stauferkaiser 1254 die Kaiserkrone an deutsche Dynastien verliehen wurde. Mit dem Ende des letzten Kaisers aus dem Geschlecht der Staufer begann das Interregnum (Zwischenzeit), vielfach mit der Bezeichnung „die kaiserlose, schreckliche Zeit“ versehen, es endete mit der Wahl Rudolf von Habsburg 1273 zum deutschen König. In dieser Zeit wurden Heinrich Raspe, Wilhelm von Holland, Alfons von Kastilien und Richard von Cornwall zu deutschen Königen gewählt, es gelang ihnen aber nicht die ihnen zugefallene Herrschergewalt in dem Umfang auszuüben, die nötig gewesen wäre, um den Absturz in eine Unordnung zu verhindern, sie hatten nicht die nötige Autorität, den an sie gestellten Anspruch gerecht zu werden. Auf zwei der genannten Könige muss ein besonderes Augenmerk gerichtet werden: Alfons von Kastilien und Richard von Cornwall. Bei der Wahl beider zu Königen handelte es sich um Doppelwahl, keine gute Voraussetzung, dem bereits wankenden Reich wieder nötiges Gleichgewicht und Festigkeit zu verschaffen.
Heinrich Raspe (1204-1247) war Landgraf von Thüringen, besaß also keinen besonderen Rückhalt, die ihn zu einer Machtposition innerhalb der Fürsten verholfen hätte. 1246 trat er zu einer Wahl zum Gegenkönig an gegen König/Kaiser Friedrich II: (1215-1250) und dessen Sohn Konrad IV. (1250-1254), nachdem Kaiser Friedrich II. von Papst Innozenz IV. für abgesetzt erklärt worden war. Er verstarb bereits 1247. Nach dem Tode Heinrich Raspes wurde, da sich kein deutscher Fürst bereitfand, den Kampf mit dem Stauferkaiser aufzunehmen, Wilhelm von Holland (1228 -1256) von der päpstlichen Partei zum Gegenkönig gewählt. Die Wahl fand unangefochtene Anerkennung. Das Staufergeschlecht war mit dem Tode Kaiser Friedrich II. 1250 und seines Sohnes Konrad IV. 1254 an sein Ende gekommen, das Wilhelm von Holland nur zwei Jahre überlebte, so dass eine weitere Königswahl nötig wurde. 1257 kam es zu einer Doppelwahl, Alfons von Kastilien (1221 – 1284) und Richard von Cornwall (1209-1272) wurden gleichzeitig zu Königen gewählt, weil das aus sieben Fürsten bestehende Wahlgremium keine eindeutige Einigung erzielen konnte. Beide waren verwandtschaftlich mit der Stauferdynastie verbunden. Alfons von Kastilien, genannt „der Weise“ (spanisch: El Sabio), weil er sich auch auf wissenschaftlichen Gebiet einen Namen gemacht hatte, war König von Kastilien und León, neben Thronstreitigkeiten hatte er auch die Reconquista weiter vorangetrieben und den moslemischen Einfluss zurückgedrängt. Richard von Cornwall entstammte dem Haus Plantagenet, das später noch in der englischen Geschichte Bedeutung erlangen sollte. Richard war Sohn des englischen Königs Johann (1199-1216) mit dem Zusatz Ohneland, weil er in Erbstreitigkeiten leer ausgegangen war. Einen Bekanntheitsgrad erlangte er dadurch, weil die englischen Barone, zugleich der führende Adel, ihm die Magna Charta abtrotzten, sie war der Einstieg in eine Beschneidung der Machtbefugnisse der Monarchie. Die beiden Könige konnten keine allgemeine Anerkennung im Reich erlangen. Richard von Cornwall starb 1272, worauf Alfons von Kastilien von Papst Gregor X. (Papst von 1271-1276) die Bestätigung seiner Königswahl (päpstliche Approbation) forderte, die ihm aber verweigert wurde. Damit war der Weg zu einer weiteren Königswahl eröffnet, die 1271 auf Rudolf von Habsburg (1218-1291) fiel. Er ist der Begründer des Hauses Habsburg, das mit geringen Unterbrechungen als Herrscherhaus bestand hatte, bis es 1806 durch Kaiser Napoleon seine Erledigung fand. Das Interregnum hat in der Geschichtsschreibung wenig Beachtung gefunden, wenngleich in diesem Zeitabschnitt wichtige Weichenstellungen zu einer späteren historischen Entwicklung erkennbar sind.
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Das Heilige Römische Reich war eine Wahlmonarchie, keine Erbmonarchie, und wenn sich in seiner entscheidenden Phase Dynastien herausbildeten, gestützt auf Sachsen, Franken, Salier und Hohenstaufen, so war doch Wahl und Wählbarkeit Voraussetzung. Am Beispiel Alfons von Kastilien und Richard von Cornwall zeit sich, wie sich ein System zur Wahl des deutschen Königs herausgebildet hatte. Beide wurden von sieben Fürsten gewählt, die als Wahlberechtigte Anerkennung gefunden hatten. Das Mitspracherecht des Papstes bei der Wahl zum deutschen König lässt den Machtzuwachs erkennen, den er erreicht hatte, als er Alfons von Kastilien die Approbation verweigerte. Das Wahlgremium war allerdings auf deutsche Fürsten beschränkt, was zu einem späteren Zeitpunkt nicht ohne Folgen bleiben sollte. Die Zeit des Interregnums lehrt auch, dass für die Wahl zum deutschen König, im nationalen Sinne verstanden, ethnische Abkunft nicht zwingend war. Hatte das Interregnum und sein Verlauf in der Geschichtsschreibung kaum Spuren hinterlassen, die besondere Beachtung hervorgerufen hätten, so änderte sich das rund 260 Jahre später bei einer Wahl zum römisch-deutschen König. Die Wahl Kaiser Karls V. (1519-1556), 1519, die keiner päpstlichen Approbation oder Krönung bedurfte, und die vermittels finanzieller Zuwendungen durch Jakob Fugger „dem Reichen“ (1459-1525), der als überzeugendes Argument 800,000 Gulden für die Vertreter des Wahlgremiums fließen ließ und so die Wahl Karls V. begünstigte zum Nachteil des französischen Königs Franz I. (1494-1547), der sich ebenfalls um die Wahl zum römisch-deutschen König und damit auch zum Kaiser beworben hatte. Die Summe muss in Relation zu dem Zeitpunkt gesehen werden, in dem der Jahresverdienst eines Handwerkers 20 Gulden betrug. Der Frühkapitalismus hatte seine Flügel ausgebreitet, und die gesellschaftliche Entwicklung unter seine Fittiche genommen. Die Fugger galten zu dem Zeitpunkt als das reichste Handelshaus Europas. Karl V., obwohl aus dem Hause Habsburg, verstand sich als Spanier, an seinem Hof durfte nur spanisch gesprochen werden, woraus das geflügelte Wort hergeleitet wurde: „das kommt mir spanisch vor“.
Dieses Wahlverfahren wurde 1356 durch die „Goldene Bulle“, die Kaiser Karl IV. (1316-1378) verfügt hatte, Gesetz, erhielt, modern ausgedrückt, verfassungsrechtliche Gesetzeskraft. Wahlberechtigt waren als Vertreter der Geistlichkeit der Erzbischöfe von Trier, Köln und Mainz und als weltliche Kurfürsten der König von Böhmen, der Kurfürst von der Pfalz, von Sachsen und von Brandenburg. Von einer Approbation des Papstes ist in dem Gesetzeswerk nichts vermerkt. Die Wahlverfahren waren begleitet von Zahlungen und der Vergabe von Pfründen, die geleistet wurden, um die Zustimmung der geistlichen und weltlichen Stimmberechtigten zu erhalten. Mit dem Interregnum hatte der Zerfall des Heiligen Römischen Reiches in seiner Bedeutung begonnen, die es zuvor in der mittelalterlichen Geschichte gehabt hatte.
An der Haltung Karls V. 1519 ist die Abkehr vom universalen Staatsgedanken ersichtlich, dem in der mittelalterlichen Welt Vorrang eingeräumt worden war. 1521 richtete Martin Luther eine Schrift an den „Christlichen Adel ‚deutscher Nation‘“. In beiden Fällen kündigt sich der Einstieg in nationalstaatliches Denken an. Im Westen schufen sich Spanien, Frankreich, die Niederlande und Großbritannien Kolonialimperien, und im Osten dehnte sich das russische Zarenreich, nach Niederringung der Tatarenherrschaft im 15. Jahrhundert, bis an den Pazifik aus. Diese Imperien hatten, gewollt oder ungewollt, im Römischen Reich der Antike ein Vorbild, weshalb die Bezeichnung „Kolonien“ als zutreffend angesehen werden muss. Kolonialherrschaft, die sich in der Anfangsphase und auch später durch Sklavenhandel und Ausbeutung der Unterworfenen Territorien auszeichnete, was Augustin schon Jahrhunderte zuvor zu der Frage verleitete: Was sich Staaten anderes als Räuberbanden?“
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Bevor das Interregnum seinen Verlauf nahm, ereigneten sich noch einmal Höhepunkte, die in Zusammenstößen unter den Kaisern Friedrich I. Barbarossa und Friedrich II. hervorragten, angesiedelt um das immer wieder ungeklärte Verhältnis zwischen Kaiser und Papst, zwischen weltlicher und geistlicher Macht, ob weltliche oder geistliche Herrschaftsform bestimmend sein sollte. 1160 war es zu einer Wahl zweier Päpste, einem kaiserlichen, Viktor IV. (1095-1164), und einem „päpstlichen“, Alexander III. (1100-1181), gekommen. Kämpfe und Kriege schlossen sich an, und im Süden, im Westen, im Norden und im Osten Europas, sah sich Friedrich Barbarossa allein gelassen mit den Herausforderungen. Es war bereits ein richtiger europäischer Konflikt. In Frankreich lagen sich 1162 die Heere des französischen Königs Ludwig VII. (1120-1180) und des englischen Königs Heinrich II. (1133-1189) und Friedrich Barbarossas gegenüber, aber zum Äußersten ist es nicht gekommen, da sollten bis 1914 noch einmal 752 Jahre vergehen. Es war die Zeit in der John of Salisbury (1115-1180) seinen berühmt gewordenen Satz sprach: „Quis Teutonicos constituit judices nationum?“ (Wer hat die Deutschen zum Richter über die Völker eingesetzt?)[354] In der von Deutschland ausgehenden Politik wurde ein Streben nach Vorherrschaft gesehen, der die europäische Welt überdrüssig geworden war. 1914 standen die am Krieg beteiligten „christlichen“ Nationen nicht vor der Frage, ob Kaiser oder Papst dem Gott der Christen am Nächsten stünden, vielmehr hielten sich verschiedene Nationen für die besseren Christen. Im Januar 1918 betete der amerikanische Präsident Woodrow Wilson öffentlich vor dem versammelten Kongress für die Vernichtung der deutschen Heeresmacht,[355] und in Deutschland wurde Martin Luthers Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“, das als Trost für Menschen im Glaubenskampf gedacht war, umfunktioniert in ein Kampflied nationaler Machtpolitik. Seit 1162 sind wieder 1754 Jahre vergangen, das legt den Gedanken nahe, ob es nicht reichlich an der Zeit ist, neue und andere Wege zu beschreiten.
Nach diesem Ausflug in ein Geflecht historischer Beziehungen, soll die Rückkehr zum Ursprung vorgenommen werden. Für die Herrscherpersönlichkeiten des Heiligen Römischen Reiches in seiner mittelalterlichen Phase, die sich als Kaiser in der Fortwirkung Karls des Großen verstanden, hat sich kein Shakespeare gefunden, der ihrer Tragik und Größe, ihre Gedankenwelt und Handlungen eingefangen und ihnen ein literarisches Denkmal gesetzt hätte. Die Schilderung ihrer Herrschaft ist begleitet von vier Schwerpunktthemen:
Die Karolinger, die ihren Namen zurückführten auf eben die Herrschaft Karls, zeigten nach dessen Tod schnell dieselben Verfallserscheinungen, die zuvor die Merowinger durchlebt und durchlitten hatten, bis die Kaiser aus sächsischen Hause die Erneuerung herbeiführten, und dem Reich dauerhaft eine Festigkeit verliehen.
Das Erbe Karls des Großen trat dessen einzig überlebend gebliebene Sohn Ludwig an, der zuvor als König von Aquitanien, im Südwesten des Frankenreiches gelegen, eingesetzt, und ab 813
[354] zitiert bei Reiners, Ludwig: Roman der Staatskunst. Leben und Leistung der Lords. München 1955. S. 457
[355] Congressional Record of the 2nd Session of the 55th Congress of the United States, vol.LVI. Washington 1918. S. 761 f
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zum Mitkaiser ernannt worden war. Ludwigs Herrschaftsperiode folgt einer Einteilung in drei Phasen, beginnend mit einem Reformvorhaben, das die Jahre von 816 bis 821 ausfüllte. Das Hauptaugenmerk war auf Kirche, Klöster und Geistlichkeit gerichtet, wie es den Vorstellungen Alkuins entsprach, dem Entwurf eines Imperiums christianum (christliches Reich), das auch auf Augustin zurückgeführt werden kann, die beide ohne ihre besondere Erwähnung Pate gestanden haben, zu einem von Christentum und Kirche durchdrungenem Reich. Hierzu muss ein Aachener Gesetzgebungswerk hervorgehoben werden. Es enthielt die Anleitungen zur Kloster-und Klerikerreform, in der Mönche und Nonnen die Regeln des Benediktinerordens zur Pflicht gemacht wurden. Für die Kleriker galten andere Maßstäbe und Regelungen, mit denen eine organisatorische Vermischung der beiden Stränge christlichen und kirchlichen Lebens vermieden werden sollte. In Aachen wurden von 816 bis 821 vier Synoden abgehalten, die auch das Verhältnis von Königtum zu den kirchlichen Einrichtungen festlegte. Zudem wurden straffe auf Einheit gerichtete Standards geschaffen. Die Reichskirche erfuhr durch die Vereinheitlichung zur Organisation und Lebensführung eine Stärkung, womit zugleich eine Aufrechterhaltung der Reichseinheit beabsichtigt war. Ziel dieser Reformen war die völlige Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens durch Kirche, Klöster und Geistlichkeit. Das Reformpaket wurde insgeheim begleitet durch eine politische Regelung, die Ludwig I. nebenher betrieben hatte, in welcher für die Nach-und Erbfolge Bestimmungen festgeschrieben wurden. Die Erbansprüche der Söhne mussten darin zu Gunsten der Reichseinheit weichen.[356]
Die Geschichtsschreibung hat die Herrscherpersönlichkeiten, die auf Karl dem Großen folgten keine ausführliche Betrachtung gewidmet. Die Zeit gilt als Zeit des Verfalls und Niederganges, des von Karl geschaffenen Großreiches. Diese Zeit, wie immer sie auch beurteilt werden mag, muss als Weichenstellung angesehen werden für die europäische Geschichte danach, wie die Herrschaft Karls selbst. Beide Gegensätze vereinigen sich zu einem historischen Entwicklungsprozess. König Ludwig I. erhielt den Beinamen „der Fromme“, wobei vielfach eher an Frömmelei gedacht wurde, weil in seiner Haltung eine übertriebene Frömmigkeit gesehen wurde, mit der die übrigen Staatsgeschäfte vernachlässigt wurden. Es hat aber auch ein Nachdenken eingesetzt unter den Historikern, die sich mit den Karolingern und dem Niedergang dieses Geschlechts befassten, indem manches Urteil einer differenzierteren Betrachtung Platz machte. Das große Stichwort seiner ersten Regierungsjahre kann mit dem Begriff Reform gekennzeichnet werden, und in der Geschichte des politischen Denkens hat seine Regierungszeit bedeutende unauslöschliche Spuren hinterlassen. Ludwig ging aus von einem transpersonalen, institutionellen Reich, dem aber die notwendige Einheit und Beständigkeit verloren ging. Die Einheitsidee blieb nur im Rahmen der Zerfallsprodukte erhalten: Dem fränkischen West-und Ostreich, aus denen in einem Jahrhunderte dauernden unheilvollen Konflikt Deutschland und Frankreich hervorgehen sollten.[357] Das Wort Frankreich hebt den Ursprung deutlicher hervor: Reich der Franken, mehr als das französische Wort: La France.
Ludwigs Regierung unterschied sich, seine Vorstellungswelt wurde beherrscht von dem Gedanken an das Imperium christianum, das er zu verwirklichen trachtete, die ausgerichtet war auf alle anderen Belange und Handlungen der Staatsführung, die in einer gelebten Christlichkeit ihre Erfüllung finden und darin aufgehen sollten. Das Bestreben lag darin, die Identität von Staatsmacht und dem ethischen Ausdruck des Evangeliums herbeizuführen. Allen voran musste
[356] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 361
[357] ebd. S. 361 ff
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der Herrscher gottgefällig leben und unter seiner Verantwortung ebenso Volk und Gesellschaft. Herrschaft ist ein Auftrag, mit dem vor Gott Rechenschaft abgelegt werden muss. Dem Regierungsamt war aufgetragen, beispielhaft und Leistungsorientiert zu wirken. Der Herrscher hat persönlich ein Amtsethos und einem damit verbundenen Pflichtbewusstsein zu leben und zu fordern. Das Volk wird darin nicht als jederzeit verfügbare Masse gesehen, es besitzt Rechte, die es in Anspruch nehmen kann. Die Gesamtkonzeption dieser Herrschaftsidee enthält die Grundsätze und Bestimmungen, denen sich auch der Herrscher selbst zu unterwerfen hat. Dieses auf ausschließlich christliche Ethik gegründete Herrschaftsverständnis musste zu einer engen Verbindung, angefangen vom Kaiser, den Fürsten, den Ordensleuten, der Geistlichkeit und den im Staate fungierenden Amtsträgern, staatlichen und kirchlichen Institutionen führen. Staat und Kirche waren in diesem Staatsverständnis zu einer Einheit und zu einem einheitlichen Handeln verpflichtet. Damit stand zugleich die Entscheidung an, wem das letzte Urteil zustand, der geistlichen oder der weltlichen Herrschaft. Ludwig räumte im Verlaufe seiner Regierung den Bischöfen nicht nur ein größeres Mitspracherecht in geistlichen Belangen ein, er gestand der Geistlichen Herrschaft eine überlegene Weisungsbefugnis zu. Ludwig sieht in seiner Herrschaft eine von Gott gestellte Aufgabe, die ihm eine erhöhte Verantwortung abverlangt, und in der Erfüllung dieser Aufgabe einen Gottesdienst. Er begann seine Regierung mit einer Reform des Hofes, sein Einzug 814 in Aachen ließ hierzu einen Eifer erkennen, seine Schwestern wurden wegen anstößigen Lebenswandels in ein Kloster verwiesen, und einflussreiche Vettern seines Vaters mussten in die Verbannung gehen. Rechtsgrundsätze erhielten in den genannten ersten Regierungsjahren schriftlich festgelegte Gesetzeskraft.[358] Viele der angesprochenen Maxime passen in moderne Staats-und Verfassungsentwürfe, die heute wie damals nur dann ein tragfähiges Staatsfundament hergeben, wenn bei allen Beteiligten der politische Wille zur Einhaltung vorhanden ist. Die beste Verfassung wird scheitern, wenn dieser Wille in Staat und Gesellschaft in ungenügendem Maße vorhanden oder gänzlich abhandengekommen ist. Missbrauch garantierter Freiheiten führt genauso zu politischen Irrwegen, wie Missbrauch der Autorität. Es gilt zu untersuchen und festzustellen, warum es Ludwig nicht gelungen ist, die hohen Ansprüche, gegründet auf christliche Wertvorstellungen, entsprechend zu verwirklichen. Sein Vater hatte das Reich in Kriegen, die fast die gesamte Zeit seiner Herrschaft in Anspruch nahmen, geschmiedet. Ludwig ist mit dem Versuch das Reich im christlichen Geiste zu konsolidieren gescheitert.
Ludwigs Reform beeindruckt nicht nur wegen des konsequenten und energischen Zugriffs. Ihr kann die Durchsetzung bleibender Lebens-und Verfassungsgrundlagen nachgesagt werden, die gleichermaßen für Mönchtum und Klerus gelten sollten. Die Reform muss ein wahrhaft imponierendes Werk genannt werden, das in wenigen Jahren erstellt wurde, und über die Epoche hinaus Bedeutung erlangen sollte.[359]
Neue Wege beschritt Ludwig der Fromme in der Privilegierung der Klöster und Bischofskirchen, mit der die Reichskirche überzogen wurde. Bischofskirchen und Klöster konnten sich bisher die Immunität geben lassen, die eine von staatlicher Gewalt anerkannte Eigenständigkeit einschloss. Neben der Immunität gab es ein Schutzversprechen. Ludwig vereinte die beiden Elemente Immunität und Schutz. Für die Bischofskirche war die Schutzunterstellung nicht nur etwas vollkommen Neues, sie bedeutete eine Verfassungsänderung und erweiterte Herrscherbefugnis. Die Reichskirche erhielt einen neuen
[358] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 363 f
[359] ebd. 368
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Status. Der Charakter des Schutzes war von Ludwig nicht als Herrschaft und Besitz gedacht, er wollte diesen Schutz als Fürsorge verstanden wissen. Mit der Schutzfunktion waren nicht die Absicht und das Recht der Bischofs-und Abteinsetzung verbunden, wie es zuvor gehandhabt worden war. Ludwig gewährte das Recht auf freie Wahl, für das er sich allerdings das Recht auf Bestätigung vorbehielt, das dazu die Forderung nach Treue zum Inhalt hatte. Den Kirchen und Klöstern wurden neben den zugestandenen Privilegien genaue Verpflichtungen gegenüber Kaiser und Reich auferlegt. Für die Bischöfe und Äbte wurden die seit Karl dem Großen üblichen Dienste fortgesetzt, was auch den Kriegsdienst einschloss. Den Klöstern oblag es, Gebete für den Herrscher und seine Familie sowie für das ganze Reich zu entrichten. 828 wurde der Abtei Fulda anlässlich eines Feldzuges gegen die Bulgaren auferlegt, tausend Messen zu lesen und ebenso viele Psalter zu rezitieren.[360]
Das Reich blieb auch zur Zeit Ludwigs des Frommen darauf angewiesen, den großen umfangreichen Besitz der Herrschaftsbereiche und Territorien der Kirchen und Klöster für den Kriegsdienst zu nutzen. Die militärische Vormachtstellung der karolingischen und später, bis zum Investiturstreit, der deutschen Könige in Europa, beruhte vorwiegend auf dem Aufgebot der kirchlichen Vasallen, die zeitweise bis zu zwei Dritteln oder gar drei Viertel der Heeresmacht ausmachte.[361]
In einer Admonitio generalis (allgemeine Ermahnung) von 789 wurden Bischofskapitularien erlassen. Kapitularien wurden in der Hofkapelle ausgefertigt und enthielten gesetzliche Bestimmungen zu Rechtsprechung und Verwaltung sowie in militärischen, kirchlichen und kulturellen Angelegenheiten. Sie waren schriftlich niedergelegt und im mittelalterlichen Latein gehalten, ihre Einteilung in Kapiteln gab ihnen den Namen. Der Ausdruck Kapitularien bezeichnet in der Rechtsgeschichte hoheitliche Anordnungen im Sinne von Gesetzen vor allem in der Zeit der Karolinger, besonders aber unter Karl dem Großen. Die Reform sollte möglichst breit greifen, das gesamte Volk sollte erfasst werden. Bischöfen und Kirchen war die Aufgabe zugedacht und sie zu einer Mitarbeit aufgerufen. Der Aufruf hat überaus breite Allgemeinwirkung erzielt, ganz im Stil der Admonitio (Ermahnung) und weitere gleichartiger Kapitularien begannen die Bischöfe hauptsächlich auf Synoden für ihre Diözesen Reformkapitularien zu veröffentlichen. Etwa fünfzig solcher Kapitularien sind erhalten, die fast alle aus dem 9. Jahrhundert stammen. Sie dienten dem Zweck, die von Karl angestoßene und von Ludwig verstärkt fortgesetzte Kirchenreform ins Volk zu tragen, um dabei auch die letzte Pfarrei zu erfassen. Aus der Kenntnis dieser Kapitularien wird ersichtlich, wie die Kirchenbasis damit angesprochen und erreicht wurde. Der Inhalt ist vielfältig, wie nur ein Pfarrerleben vielfältig sein kann, und trägt bestimmte immer wiederkehrende zeitübliche Züge.[362]
Ludwig konnte in seiner Reform vielfach bereits an das vom Vater Begonnene anknüpfen und weiterführen. Der Seelsorgeklerus wird dazu gedrängt, sich der „kanonischen“ Lebensform zu unterwerfen. Der Pflichtenkatalog, den ein Weihekandidat zu beschwören hat, wird folgendermaßen umrissen:
„Im Angesicht von Bischof, Klerus und Volk soll er folgendes versprechen: Dass er das Gebet des Herrn und das Credo versteht, dass er das Glaubensbekenntnis, sowohl das, was Athanasius, als auch das, was die anderen Väter zusammengestellt haben, ganz kennt und in beiden das Volk richtig belehrt, dass er die heiligen Schriften täglich liest und das Volk entsprechend
[360] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 368 f
[361] ebd. zitiert nach F. Prinz. S. 369
[362] ebd. 369 f
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belehrt, dass er eifrig in der ständigen Lesung ist, dass er die geschlechtliche Unberührtheit einhält, dass er Frauen weder in seinem Hause wohnen lässt noch ihre Besuche gestattet, dass er immer Zeugen bei sich hat, die Auskunft über seinen Lebenswandelwandel geben können, dass er gebefreudig, gastlich, bescheiden, gütig, barmherzig, großzügig und kirchlich ist, dass er predigt, auch Kranke und Bedrückte besucht; weiter, dass er nicht unterlässt, zu den geistlichen Zeiten die Kirche aufzusuchen, und zwar bei den Gebetszeiten in der Nacht, am Morgen, zur Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet, und diese Gebetszeiten, soweit möglich, zusammen mit frommen Priestern verrichtet“[363]
Es ist ersichtlich, wie sich die kanonische Lebensform sich der monastischen Lebensweise anpasst. In der bischöflichen Gesetzgebung begegnet den Menschen der Alltage des Pfarrlebens, jedoch aus dem Blickwinkel der Anweisungen, die sich auf eine kirchliche und weltlich-staatliche Hierarchie gründen, dogmatische Grundsätze werden ausgeklammert, Pfarrseelsorge und die Pflichten, die dem Klerus und dem Volk auferlegt worden sind, bilden das Hauptanliegen. Breiter Raum wird der Buße eingeräumt. Täglich sollten die Gläubigen, so wird gemahnt, vor Gott beichten und wenigstens einmal im Jahr auch vor dem Priester in den Tagen vor Beginn der Fastenzeit. Der Pfarrer hat eine gerechte Buße aufzuerlegen, zugleich aber dem Beichtenden behilflich zu sein, sowohl beim Bekenntnis wie bei der Abbüßung. Karls des Großen Admonitio generalis hatte sich in Fragen der Ehe unmissverständlich festgelegt. Eine Wiederverheiratung war verboten, solange noch der Partner lebte. Einhard, Karls Hofbiograph, berichtet, Karl habe vier Frauen und vier Konkubinen gehabt, wenn auch nicht in gleichzeitiger Polygamie. Das Bewusstsein von Ehe hatte sich gegenüber der Merowingerzeit strengeren Regeln unterworfen. Adelhard begegnete seinem königlichen Vetter mit Vorwürfen und Anklagen, weil die ihm angetraute königliche Langobarden-Tochter kurz entschlossen verstieß. Das Beispiel zeigt, wie sich Adel geistliche und weltliche Obrigkeiten Sonderechte anmaßten und beanspruchten, und die strengen Regeln, die sie dem Kirchenvolk auferlegt hatten, zu umgehen trachteten, je mehr dies in der Kirchengeschichte einriss, umso mehr musste das System insgesamt seine Glaubwürdigkeit einbüßen. Ein Grundsatz blieb weitgehend festgefügt: Erbe konnten nur die Nachkommen in Anspruch nehmen, die aus einer legitimen Ehe hervorgegangen waren.[364] Nachdem sich Christentum und Kirche im Kern des Reiches konsolidiert hatte, ersteckte sich die Missionsarbeit nach Norden in die skandinavischen Länder und auf dem Balkan nach Ungarn und Bulgarien.
Nicht allein im kirchlichen Bereich bewies Ludwig Reformeifer, er vollzog auch für die Zukunft des Reiches einen ungewöhnlichen Schritt, der im Gegensatz stand zur bisherigen karolingischen Tradition. 817 wurde mit der Ordinatio imperii eine Regelung zur Nachfolge festgelegt. Zwei Grundsätze sollten darin vereint werden, die der fränkischen Tradition entgegenstanden. Nach fränkischem Recht war das Reich teilbar, nach römischem und kirchlichem Recht musste die Einheit gewahrt bleiben. Die Wahrung der Einheit war dem ältesten Sohn Lothar zugedacht, der damit auch als Kaiser die oberste Regierungsgewalt erhielt. Die jüngeren Söhne Ludwig und Pippin wurden Bayern und Aquitanien als Herrschaftsbereich zugeteilt, waren aber ihrem Bruder untergeordnet. Weitere Teilungen sollten für die Zukunft ausgeschlossen sein. Das Reich galt wie die Kirche als Einheit, und durfte mit Rücksicht auf die Nachkommen nicht geteilt werden. Die Entwürfe Karls des Großen sahen die Teilung unter die Erbberechtigen Nachkommen vor, das änderte Ludwig, in seiner Gesetzgebung hatte die
[363] zitiert bei Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 370
[364] S. 370 ff
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Wahrung der Reichseinheit den Vorrang.[365] Die Reform wurde über den kirchlichen Bereich hinaus weitergeführt durch die Kapitulariengesetzgebung. Für die Abfassung, Registrierung und Aufbewahrung authentischer Exemplare am Hof wurde große Sorgfalt aufgewandt. Inhaltlich wurden die Reformen Karls fortgesetzt, sowohl was die Rechtssicherung betraf, worin auch ein Schutz der Armen und Schwachen vorgesehen war. Für Arme und Schwache sollten mögliche Prozesse Vorrang haben. Ein Höhepunkt wurde erreicht mit einer Eindämmung der Gottesurteile, Karl hatte noch auf ihre Anerkennung bestanden. Ludwig nahm hier eine Einschränkung vor, manche Formen wurden ganz verboten, und Zweikämpfe wurden nur noch mit Stock und Schild erlaubt, auch das Prozessverfahren sollte durch die Aufbietung gut beleumdeter Zeugen verbessert werden. Ein Eingriff erfolgte auch in die Stammesrechte, in denen in der Zeit zwischen 816 bis 820 wurde in den Kapitularien eine Anzahl von Korrekturen vorgenommen.[366]
Mit dem Tod Leo III. 816 stand zum ersten Mal nach der Begründung des abendländischen Kaisertums eine Papstwahl an. Der neugewählte Papst Stephan IV. (816-817) kehrte nicht zum alten, päpstlicherseits bis ins 8. Jahrhundert eingehaltenen byzantinischen Kaiserrecht zurück, wonach vor der Weihe die kaiserliche Zustimmung einzuholen war. Stephan begnügte sich mit der Anzeige seiner Erhebung, ließ aber die Römer auf Ludwig vereidigen und fand sich im Oktober in Reims ein. Mitgebracht hatte er die „Krone Konstantins“, mit der er den Kaiser bei gleichzeitiger Salbung krönte; als konstitutiv ist dieser Akt nicht aufgefasst worden. Absprachen über das künftige Verhältnis, führten zum „Pactum Hludowicianum“ (Ludwigspakt) von 817, die eine freie Wahl des Papsttums garantierte, die erst nach dessen Weihe anzuzeigen war, ferner wurde der päpstlichen Administration in Verwaltung und Justiz eine innere Autonomie zugesprochen, über die der Kaiser allerdings die letzte Oberhoheit behielt, in Fällen von Gewaltanwendung oder Unterdrückung durch örtliche Machthaber.[367]
Die 817 erlassene Ordinatio imperii stellte in der fränkischen Geschichte etwas gänzlich Neues dar, bewertete sie doch die Einheit des Reiches höher als das Erbrecht der Königssöhne. Diese Auffassung beruhte auf der Idee des „corpus christianorrum“, der als Leib Christi verstandenen Einheit und wurde theologisch untermauert. Ludwigs Berater aus der ersten reformerischen Phase, in der die Ordinatio erlassen worden war, waren ohne Ausnahme Anhänger dieser Staatskonzeption.[368]
Als 828 an den Reichsgrenzen Rückschläge zu verzeichnen waren, trat Wala mit einer großen Reformschrift hervor. Wala (780-836), gewann als Vetter Karls und vormaliges Mitglied des Hofrates unter Ludwig bedeutenden Einfluss. Im Winter 828/829 äußerte er sich über die Missstände im Reich, die sich unheilvoll auswirkten und ein beträchtliches Ausmaß angenommen hätten. Der Hof, so Wala, werde zu lässig geführt, und sei zu nachlässig gegen Pfründenjäger, der Klerus trage Schuld an mangelhafter Seelsorge und Disziplin, die Großen des Reiches, weil ständig in Korruption und Fehden verstrickt, seien ebenso anzuklagen. Der Kaiser, an dem die Stabilität des ganzen Reiches hänge, müsse mehr Tatkraft für Recht und Glauben, mehr Sorge für eine bessere Auswahl der Amtsträger zeigen, doch dürfe sich kein
[365] Angenendt, Arnold: S. 374 f
[366] ebd. S. 375
[367] ebd. S. 378
[368] ebd. S. 379
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Herrscher zum Herrn der Kirche machen, sonst vergrößere er nur die verderbliche Mischung von Geistlichem und Weltlichem.[369]
Ludwig nahm die Besserung der Zustände in Angriff, ein dreitägiges Fasten mit allgemeiner Gewissenserforschung wurde ausgerufen, sodann wöchentliche Gerichtssitzungen am Hof, Erkundung aller Missstände im Reich und für Pfingsten 819 vier große Reformsynoden, allein von der Pariser Synode sind Akten überliefert. Gemäß den Konzilsbeschlüssen bildete die Kirche einen einzigen Leib, in dem der himmlische König und Herrscher Jesus Christus das Haupt ist. Die Leitung wird auf Erden stellvertretend wahrgenommen. Die Stellvertretung gliedert sich in zwei im Haupt Christus vereinten Ämtern, Königtum und Priestertum, deren Inhaber als Könige und Bischöfe als Vikare Christi gelten. Zur Stellvertretung gibt es eine Aussage im christlichen Kanon der Heiligen Schrift im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth im 2. Korinther, Kapitel 5, Vers 20: So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott. Die Pariser Synode unternahm den Versuch, die Kompetenz der beiden Leitungsgewalten innerhalb des Corpus Christianum gegeneinander abzugrenzen und griff dabei auf die Zwei-Gewalten-Lehre des Papstes Gelasius I. (492-496) zurück, die antike Voraussetzungen zur Grundlage hatte, und von unterschiedlich gearteten Bereichen her dachte: Von einem weltlichen Staat und einer geistlichen Kirche. Im Blick auf das moderne Staatsverständnis muss darauf hingewiesen werden, dass hier nicht an säkularem Staat und geistlicher Kirche gedacht wird. Es stehen nicht zwei Größen nebeneinander, es gibt in Wahrheit nur einen einzigen Corpus (Leib) Christi mit zwei Leitungsgewalten. Gemäß diesen Grundsätzen wurde das Reformprogramm aufgestellt mit klarer Scheidung der Kompetenzen und Verdrängung der Laiengewalt aus dem innerkirchlichen Bereich.[370]
Als Ludwig die Desiderate der Reformkonzilien auf einer Herbstversammlung in Worms vorgelegt wurden, hielt er ein anderes Programm für wichtiger, Er hatte insgeheim den Entschluss gefasst, die 817 von ihm selbst erlassene Ordinatio imperii zu unterlaufen. Aus seiner zweiten Ehe war ihm 823 ein Sohn geboren worden, der den Namen Karl erhielt. Von da an verfolgte Ludwig 829 den Plan einer Reichsteilung, um seinem Sohn Karl aus zweiter Ehe einen Anteil am Reich zu sichern. Das Vorhaben stieß auf Widerstand und führte zu einem Aufstand, der seine Herrschaft gefährdete und an der sie schließlich zerbrach. Einflussreiche Kreise des Hofes, die eine Teilung des Reiches verhindern wollten, erreichten staatsstreichartig die Einsetzung des ältesten Sohnes Lothar als Herrscher und erzwangen 830 von Ludwig des Einhaltung des 817 beschlossenen Gesetzeswerkes, das die Teilung des Reiches unmöglich machen sollte. Der innerdynastische Machtkampf erreichte seinen Höhepunkt in militärischen Auseinandersetzungen, in denen Ludwigs Söhne gegen den Vater standen, die aber keine wirkliche Entscheidung brachten. 833/834 wurde Ludwig für abgesetzt erklärt, während der Kämpfe, in denen die Fronten mehrfach wechselten, erlangte keine der beiden Seiten die Oberhand. Ludwig hatte die reformerisch gesonnenen Vertreter des Hofes, die der Reichseinheit zuneigten und seinem Sohn Lothar folgten gegen sich, dennoch gelang es ihm bis zu seinem Tode 840, sich als Kaiser zu behaupten. Die Söhne Ludwigs, Pippin und Ludwig, hatten zuvor Aquitanien und Bayern zu ihrem Herrschaftsbereich erhalten. 838 starb Pippin von Aquitannien, worauf der Sohn Karl aus zweiter Ehe, die eigentliche Ursache des Erbschaftsstreites, Aquitanien als Herrschaftsgebiet zugeteilt erhielt, womit die
[369] zitiert bei Angenendt, Arnold: S. 380
[370] Angenendt, Arnold: S. 381
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Teilungspartei einen wichtigen Erfolg verbuchen konnte. Als 840 Kaiser Ludwig starb, erhob der Sohn im Sinne der festgelegten Nachfolgeregelung von 817 Anspruch auf die vollen Rechte als Kaiser, dem sich seine Brüder widersetzten, 841 kam es zu einer Schlacht, in der Ludwig militärisch unterlag. Allen Zeitgenossen galt diese Schlacht als verabscheuungswürdiges Blutvergießen unter Brüdern und Christen.[371] Das Ergebnis dieses militärischen Schlagabtausches wurde ganz im Sinne der Zeit als Gottesurteil angesehen. Die Niederlage Lothars I. (795-855) mit seinem Kaiseranspruch war Auslöser der Teilung des Reiches, die 843 durch den Teilungsvertrag von Verdun vollzogen wurde. Lothar als Kaiser erhielt einen von der Nordsee bis nach Italien und Rom verlaufenden Streifen, Ludwig, der mit dem Beinamen „der Deutsche“ (806-876) ausgezeichnet wurde erhielt „Ostfranken“ und Karl II., nun mit Zunamen „der Kahle“ (823-877) benannt, „Westfranken“ zum Königreich von 875 bis 877 war er König von Italien und römischer Kaiser.[372] Mehr als tausend Jahre später sollte Verdun 1916 im Ersten Weltkrieg traurige Berühmtheit erlangen. In einer zehnmonatigen Schlacht mit Verlusten von insgesamt mehr als 700.000 Soldaten, darunter mehr als 300.000 Toten auf beiden Seiten, alles für einige Kilometer Geländegewinn.
Die Gründe für das Zerbrechen des von Karl dem Großen errichteten Großreiches sind oft seinem Sohn und Nachfolger Ludwig angelastet worden. Es habe ihm an der nötigen Tat-und Entschlusskraft gefehlt, und war so den am Hofe herrschenden Schwankungen seiner Berater erlegen. Hinzu kam eine Frömmigkeit, die ihn von einer diesseits gerichteten Wirklichkeit entfernte. Eine andere Sicht vermittelt das Bild, das ihn als Herrscher darstellt, der ganz einem christlichen Weltbild anhing, von dem, nach seiner Vorstellung, das Reich durchdrungen sein sollte, wie es in einem umfangreichen Gesetzeswerk zum Ausdruck kommt. Die christlichen Ideale als Zielsetzung darin ist er selber aber in entscheidenden Punkten untreu geworden, was nicht zuletzt als Auslöser allen Unheils, das daraus folgte, angesehen werden muss.[373]
Weitere Teilungen beschleunigten den Verfall der Karolingerherrschaft. Als entschiedener Verfechter der Reichseinheit wandte sich Kaiser Lothar I. dem Teilungsgedanken zu. In Italien regierte sein Sohn Ludwig (844-875), der als Ludwig II. (844-875) zum Kaiser erhoben wurde. Das Verwirrspiel nahm kein Ende und führte zu einer erneuten Dreiteilung. Ostfranken wurde in eine Nord-und Südhälfte geteilt, Ludwig der Deutsche erhielt das ostfränkische Gebiet nördlich der Alpen, sein Sohn Italien mit Teilen von Burgund, für Karl dem Kahlen verblieb Westfranken. Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle gaben sich der Hoffnung hin, nach dem Ableben Lothars, Teile seines Reiches zu „erwerben“. Der mittlere „Streifen“, ehemals in Gänze Kaiser Lothars Reich, war bereits in ost-oder westfränkische Hände übergegangen. Karl III. mit Beinamen „der Dicke“ (839-888) war der letzte karolingische Kaiser, dem es von 881 bis 888 gelang, das Reich, einschließlich Ost-und Westfranken, nach Krönung in Rom zum Kaiser, unter seiner Herrschaft zu vereinen. Zur dreifachen Zahlenfolge der acht, lässt sich nach genau tausend Jahren eine Linie ziehen zum Jahr 1888, dem Dreikaiserjahr, in dem nach dem Tod Kaiser Wilhelm I. und seines Sohnes Kaiser Friedrich I., Kaiser Wilhelm II. folgte. Ludwig IV. (893-911), mit Beinamen „das Kind“, war der einzige legitime Erbe Kaiser Arnulfs von Kärnten (850-899). Er verstarb bereit 911 im Alter von 18 Jahren. Mit seinem Ende erlosch auch die ostfränkische Linie der Karolinger, und der Frankenherzog Konrad wurde als Konrad I. (881-918) zum deutschen König gewählt. Das Ende der Karolinger war auch der erste westeuropäische Selbstzerfleischungsprozess, der mit dem Ende Karls des Großen seinen
[371] Angenendt, Arnold: S. 381
[372] ebd. S. 382 f
[373] ebd. S. 384
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Anfang nahm, er sollte in der nachfolgenden europäischen Geschichte bei Weitem nicht der letzte sein. Mit den Zersetzungserscheinungen, die das Innere des Reiches erfasst hatten, trat eine äußere Bedrohung hinzu, die eine Abwehr erschwerten, und das Vertrauen in den Bestand des Reiches ins Wanken brachten. Bereits Karl der Große musste einen Küstenschutz organisieren, um die Nor(d)mannen, die skandinavischen Wikinger, am Vordringen ins Landesinnere zu verhindern. Für die Franken war die Kampfesweise der Wikinger, die sich auf einen maritimen Flottenverband stützten, ungewohnt und unbekannt. Die eigentliche Normannennot begann in den 30er Jahren des 9, Jahrhunderts, Küstenorte und Hafenplätze wurden durch jährlich wiederkehrende Überfälle der Wikinger gebrandschatzt und ausgeplündert, sowohl auf den britannischen Inseln wie auf dem Kontinent, an den entsprechenden Orten lebten die Menschen in Angst und ständiger Bedrohung. 845 wurde Hamburg ausgeraubt und zerstört. Beliebte Ziele waren die Küsten und Flussläufe des Westfrankenreiches, insbesondere die Mündungen von Rhein, Schelde, Seine und Loire. In den 40er Jahren errichteten sie feste Plätze und drangen von dort ins Landesinnere ein, bis nach Paris, Nantes und Bordeaux, Städte und Abteien wurden des Öfteren mehrere Male geplündert und nicht selten eingeäschert. Nach 865 fiel England bis auf Wessex in ihre Hand, und sie errichteten dort eigenständige Reiche. Erst Alfred der Große (871-900) vermochte ihnen Einhalt zu gebieten, wodurch sich der Druck auf den Kontinent erhöhte. Über Schelde, Maas und Rhein drangen sie nach 879 tief in das Innere des Reiches der Karolinger vor, bis nach Lüttich, Aachen, Köln, Trier und Koblenz. Sie umrundeten die Küsten der iberischen Halbinsel und erreichten südfranzösische und norditalienische Küstenregionen.
Im europäischen Süden erhob sich zu gleicher Zeit eine nicht minder große Gefahr. Ende der 20er Jahre begannen die Sarazenen Sizilien und Süditalien zu erobern, 831 fiel Palermo. Von Bari und Tarent aus gelangten sie weiter nach Salerno, Capua und Neapel. 846 liefen ihre Schiffe zum ersten Mal in die Tibermündung ein, und die außerhalb der römischen Mauern liegenden Peters-und Paulbasiliken wurden geplündert. Papst Leo IV. (847-855) ließ den Vatikan mit Mauern umgeben, so konnte 849 ein weiterer Angriff abgewehrt werden. Monte Cassino wurde 882 zerstört. Im gleichen Zeitraum drangen die Sarazenen in die Rhonemündung ein, errichteten dort Stützpunkte, und vermochten zeitweilig sogar Alpenpässe zu beherrschen, von wo aus sie einmal bis nach St. Gallen, einem Zentrum christlichen Kultur, vordrangen. Die Kontrolle der Alpenpässe war geeignet, den Verkehr nach dem geistlichen Rom zu gefährden.
Das Heilige Römische Reich war geradezu eingekreist und hatte den überfallartigen Angriffen wenig entgegenzusetzen. Wie vom Westen und Süden die Wikinger und vom Süden die Sarazenen, so verunsicherten vom Osten her die Ungarn das Reich. Ihre Einfälle und Raubzüge erstrecken sich bis weithinein in ostfränkisches Gebiet; es gelang ihnen zeitweise bis ins westfränkische Reich vorzudringen und bis tief nach Süden in die italienische Halbinsel.[376]
Als im Jahre 911 der letzte ostfränkische Karolinger, Ludwig das Kind, inmitten unsäglicher Wirren und Bedrohungen von innen und außen, die das Reich heimgesucht hatten, verstarb, wurde der Frankenherzog Konrad von ostfränkischen Herzögen zum König gewählt. Noch vor einem Menschenalter hatten die Westfranken in einem ähnlichen Falle den ostfränkischen Karolinger, Karl den Dicken, dem Sohn Ludwigs des Deutschen, auf den Thron erhoben. Mit dem Ableben Ludwigs IV. dachte in Ostfranken niemand daran, einem westfränkischen Herrscher die Krone anzutragen, ein Schritt, der die endgültige Trennung von Ost-und Westfranken nach sich zog. Für die Wahl Konrads I. war die Wahl mit den letzten beiden
[374] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter
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Herrschern Arnulf und Ludwig maßgebend. Er war Herzog der Franken, dem Stammlande der bisherigen Dynastie und somit des angesehensten Herzogtums, ferner, dass er dem Episkopat, dem Träger der Idee von der Reichseinheit als der geeignete Mann erschien. Bezeichnender Weise konnten an der Wahl Konrads westfränkische Herzöge nicht teilnehmen, womit ein weiterer Grund zur Festigung der Teilung gegeben war, der zusätzlich angefacht wurde durch den Abfall Lothringens von Ostfranken. In zwei Kriegszügen versuchte Konrad I. vergeblich den Verlauf des Geschehens rückgängig zu machen, und Lothringen wieder mit Ostfranken zu vereinen, damit begann ein unheilvoller langer Weg durch die europäische Geschichte, der immer noch seine Spuren hinterlässt. Konrad I. war in ständigen Kämpfen mit den Herzögen seines Reiches verwickelt, die so weit als möglich eine Unabhängigkeit von der Krone bewahren wollten. Kaiser Konrad I. starb im Dezember 918, ohne einen Nachfolger zu hinterlassen. Vor seinem Tode wartete er mit dem Vorschlag auf, nicht seinen Bruder Eberhard zum Nachfolger zu bestimmen und zu wählen, sondern Heinrich von Sachsen, der sein entschiedenster Gegner gewesen war. Er entsandte vor seinem zeitlichen Ende seinen Bruder Eberhard zu Herzog Heinrich mit den dazugehörigen Insignien, um ihn die Krone anzutragen. Heinrich I. wurde 919 in Fritzlar von Franken und Sachsen zum König gewählt. Die Tat Konrads I. und seines Bruders Eberhard ist als selbstlos und als staatsmännische Leistung gewertet worden, sie hatten in der Einschätzung der Machtverhältnisse eine Wahl getroffen, in der die persönlichen Belange dem Nutzen des Reiches untergeordnet wurden.[375] Mit der Wahl Heinrichs I. zum König begann die Zeit der Könige und Kaiser aus dem sächsischen Hause, sie festigten das Reich und führten es zurück zu alter Größe und Bedeutung. Die Einheit, jedoch, wie sie unter Karl dem Großen herbeigeführt worden war, konnten auch sie nicht wieder herstellen. König Heinrich I. gelang es, Lothringen für das Ostfrankenreich zurückzugewinnen. Ein Vorgang, der sich in mehr als tausend Jahren in Zeitabständen wechselseitig wiederholen sollte.
Die Regierungszeit Heinrichs I. (919-936) kann als eine Phase der Konsolidierung angesehen werden, nachdem es durch die Karolinger als Nachfahren Karls des Großen eine Schwächeperiode zu überstehen hatte. Mit Otto I. dem Großen (936-973) begann somit eine erneute Erneuerung des Heiligen Römischen Reiches. Otto ist in der Historiographie die Stellung als Begründer eines deutschen Reiches zuerkannt worden. Es wäre aber verfehlt ihn auch als Begründer eines deutschen Nationalstaates darzustellen, wie es im 19. Jahrhundert geschehen ist, wo der Nationalstaatsgedanke in das Reich Ottos I. hineininterpretiert worden ist, davon war das Reich Ottos I. weit entfernt. Der universale Staatsgedanke, wie er unter Karl dem Großen bestanden hatte und zielstrebig ausgebaut worden war, ließ sich nicht wiederherstellen. Die auseinanderstrebenden politischen Mächte und Kräfte ließen die Ausbildung eines politischen Willens dazu nicht in genügendem Ausmaß anwachsen, eher war das Bestreben eine beherrschende Stellung einzunehmen erkennbar, verbunden mit einem Hegemonieanspruch, der die Gegensätze im Laufe der Zeit beflügelte.
Das Heilige Römische Reich ist ein Herzstück europäischer historischer Erfahrung. eine Geschichte, die deutlich macht, wie sich der Kontinent entwickelte in dem Zeitraum zwischen dem frühen Mittelalter und dem 19. Jahrhundert. Mit dem Aufkommen europäischer Nationalstaaten, die vermehrt ein Eigenleben herausbildeten, insbesondere in Kultur und noch mehr in den verschiedenen Sprachen, die das Lateinische in den Hintergrund treten ließen, wurde die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches verdunkelt. Dieses
[375] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. Nach zeitgenössischen Quellen. Leipzig 1924. S. 54 f
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Imperium, das seinen Namen auf das Römische Imperium der Antike zurückführte, hat in seiner Grundkonzeption die Dauer des antiken Römischen Imperiums überflügelt, und umfasste große Teile des europäischen Kontinents. In Erweiterung des gegenwärtigen Deutschlands schloss es heutige Moderne Staaten oder Teile davon ein. In Erweiterung des gegenwärtigen Deutschlands schloss es heutige moderne Staaten oder Teile davon ein wie Österreich, Belgien, Tschechische Republik, Dänemark, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Polen und die Schweiz. Andere Staaten standen in einer Verbindung wie Ungarn, Spanien und Schweden oder waren in die Geschichte einbezogen in einer Weise, der später keine Bedeutung beigemessen wurde wie England, das mit Richard von Cornwall (1257-1272) einen deutschen König stellte. Als fundamental erwiesen sich die ost-west oder nord-süd Spannungen in Europa, die sich mit dem Kernstaat zwischen Rhein, Elbe, Oder und den Alpen überschnitten. Diese Spannungen spiegelten sich wider in den fließenden Grenzen und dem Patchworkcharakter seiner inneren Unterteilungen. In aller Kürze, die Geschichte dieses Imperiums ist nicht nur Teil einer Anzahl nationaler Staaten mit ihrer Geschichte, sondern liegt im Herzen der allgemeinen Geschichte des Kontinents.[376]
Das Vorhergesagte ist nicht vergleichbar mit der üblichen Darstellung der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches. James Madison, Präsident der Vereinigten Staaten von 1809 bis 1817, war maßgeblich an der Abfassung der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika beteiligt, die im September 1787, nach dem gewonnenen Unabhängigkeitskrieg von 1776 bis 1783 gegen Großbritannien, in Kraft trat. Er untersuchte die europäische Geschichte der Vergangenheit und der entsprechenden Gegenwart, um daraus Erkenntnisse zu schöpfen. In einer Rückschau auf das Heilige Römische Reich, das zur Zeit des von ihm konzipierten Verfassungsentwurfes 1787 formal noch bestand, kam er zu dem Schluss, dieses Imperium sei ein Leib ohne Nerven, unfähig, die Mitglieder dieses Reiches in einer Regierung zusammenzufassen und zur Regelung seiner inneren und äußeren Belange, eine Einheit herbeizuführen, ohne die ein Staatsgebilde keinen Bestand haben kann. Dieses Reich war nicht in der Verfassung, einer Bedrohung von außen zu begegnen, und damit für seine Sicherheit aufzukommen. Seine Innereien hatten kein funktionsfähiges Immunsystem zur Verfügung, um den Körper vor Krankheiten zu schützen. Es bestand aus einem Katalog der Liederlichkeit seiner Großen und der Unterdrückung der Schwachen, aus einer allgemeinen Albernheit, Verwirrung und des Elends. Nach dieser verächtlichen Einschätzung sah Madison nur ein abschreckendes Beispiel einer Verfassungsordnung, die ihn bewog, andere Entwürfe zu bevorzugen. Die Vereinigten Staaten gelangten zu einem Verfassungsaufbau mit föderativen Grundsätzen, der dennoch einen straff geführten einheitlichen Staat begründete. Der amerikanische Präsident hat eine verfassungsrechtlich abgesicherte Machtvollkommenheit, wie sie die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, des Ersten Kaiserreiches, ja nicht einmal die Kaiser des Zweiten Reiches besessen haben. Die Kaiser des Zweiten Reiches konnten zwar den Reichskanzler ernennen und entlassen, ohne das Parlament, den Reichstag, zu befragen, um seine Zustimmung einzuholen. Ein Kaiser konnte dennoch nicht am Reichstag vorbeiregieren, der aufgrund des Wahlrechtes demokratisch legitimiert war. Kaiser Wilhelm II. hat solche Versuche unternommen und ist gescheitert, wobei der Reichstag solchen Versuchen mit einer schwachen Vorstellung begegnet ist. Kein Verfassungsorgan des Zweiten Reiches konnte am Reichstag vorbeiregieren. Der Reichskanzler war parteiunabhängig und musste sich die Mehrheiten über die Parteigrenzen hinweg suchen, denn der Reichstag verfügte
[376] Wilson, Peter H.: The Holy Roman Empire. A Thousend Years of Europe's History. First published 2016. Printed in Great Britain ba Clays Ltd. St. Ives plc. S. 1 f
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verfassungsrechtlich über das Gesetzgebungs-und Budgetrecht. Die Vereinigten Staaten können mit einer besonderen historischen Leistung aufwarten, sie haben aus den verschiedenen in der Hauptsache europäischen Nationalitäten, die nach Amerika eingewandert sind, eine Nation geformt mit einem stark ausgeprägten Selbstbewusstsein. Diese historische Tatsache hat die Frage entstehen lassen, ob die Vereinigten Staaten als Modellfall für ein Vereintes Europa gelten könnten. Ein solches Modell wäre politisch nicht zu realisieren, es stieße nicht nur auf den Widerstand der vielen verschiedenen Nationalitäten, es würde auch seine kulturelle und historischen Vielfalt einebnen, und zu einer geistigen Verarmung führen.
Die unten gezeigte Karte belegt das weiter oben gesagte.[377] Das Imperium war geradezu eingekreist. Eine historische Feststellung, die getroffen werden kann, die sich fortgesetzt hat, und die bestimmend wurde für die Geschichte seines Bestehens und darüber hinaus, wobei die Frage ungeklärt bleibt, wo die eigentliche Gefahrenquelle zu suchen ist: Im Zentrum oder bei den Mächten, die das Zentrum umgaben. Die Antwort, auf die Prinzipien von Schuld und Vergeltung zu begründen, hat sich als verhängnisvoll erwiesen. Europa braucht ein Geschichts-und Staatsverständnis, das eine wirkliche Einheit begründen könnte.
Bis zum Ende der Karolingerherrschaft
Die Einfälle der Araber, Normannen und Ungarn (nach H. K. Schulze)
[377] Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. S. 386
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Was sich für Amerika als gut und richtig erwiesen hat, wäre für Europa undurchführbar. Es steht vor der Herausforderung, seine kulturelle und historische Vielfalt seiner verschiedenen Nationen und Völker zu einer wirkungsvollen und wirkmächtigen Einheit zusammenzufassen.
Madison stand mit seiner Beurteilung dieses Heiligen Römischen Reiches nicht alleine da. Samuel Pufendorf (1632-1694) und John Locke (1632-1704), Philosophen und Staatsrechtler, der eine aus Deutschland, der andere aus England, waren nicht ohne Einfluss auf die Verfassungsdiskussionen, die auch Amerika bewegten. Pufendorf hatte es als „ein irreguläres Monstrum“, und Voltaire (1694-1778) konnte in diesem Staatsgebilde nichts Heiliges und nichts Römisches entdecken.[378] Mit dem Beginn der Neuzeit wurde das Heilige Römische Reich mit dem Zusatz „deutscher Nation“ versehen. Ein törichter Zusatz, erweckt er doch den Eindruck, als handele es sich um ein Nationalstaatsgebilde, das es nie gewesen war und auch nie sein wollte. Der Zusatz musste die Befürchtung entstehen lassen, eine Hegemoniestellung anzustreben, und damit Misstrauen auslösen.
Otto I. hat dieses Imperium im Sinne seiner eigentlichen Bestimmung in Anlehnung an Karl den Großen erneuert, obwohl ein deutscher Herrschaftsanspruch sich abzeichnete. Vieles hat er erreicht, aber die Teilung Westeuropas konnte er nicht überwinden, die Gräben der Trennung waren bereits zu tief ausgehoben. Die Frage, was hätte anders kommen können und müssen schließt sich hier an, es geht nicht darum Reminiszenzen zu pflegen, sondern der Geschichte einen Weg zur politischen Gestaltung zu eröffnen und zu einer gemeinsamen Bewusstseinsbildung. Aus den sächsischen Kaiser und Königen ragen die Ottonen heraus, den Otto I. hatte ebenbürtige Nachfolger, seinen Sohn Otto II. und seinen Enkel Otto III. Beide starben auf tragische Weise im Jünglingsalter. 1962 am 2. Februar wäre ein Tag gewesen einer tausendjährigen Wiederkehr des Tages, an dem Otto I. in Rom zum Kaiser gekrönt wurde. Der Tag blieb unerwähnt, als hätte diesen Tag in seiner Bedeutung nie gegeben. Die Ottonen haben so viel Desinteresse nicht verdient, ebenso wenig die Salier und die Staufer, die ihnen folgten. Ein tausendjähriges Jubiläum hätte das Jahr 1936 ergeben, dem Herrschaftsantritt Otto I. 936. Der Nationalsozialismus mit seinem heidnischen Germanenmythos, der sein Geschichtsbewusstsein aus einer noch weiter zurückliegenden Epoche herleitete, hatte diesem Ereignis ebenfalls einer Beachtung nicht für Wert erachtet. Geschichtsvergessenheit ist das besondere Merkmal der politischen Gegenwart. Dabei geht es nicht darum einer Epoche nachzutrauern, sie lässt sich nicht wieder zum Leben erwecken. Die andere Seite der Betrachtung wäre eine völlige Verleugnung dieser Geschichte, und sie zur Bedeutungslosigkeit verkommen zu lassen. Vom griechisch-römischen Historiker Polybios (200-120 v. Chr.) ist die Aussage überliefert: „Ein Mensch ohne Geschichte ist wie ein Gesicht ohne Augen“. Auf die geistige Ebene übertragen bedeutet es ein Umherirren in völliger Dunkelheit, und was für das Individuum gilt, trifft auch für das Kollektiv eines Volkes oder einer Nation zu. Die Herrscherpersönlichkeiten der erwähnten Dynastien sollten nach den angestrebten Zielsetzungen beurteilt werden, nicht nach Erfolg oder Misserfolg. Ihnen gelang es das von den schwächlichen Nachfolgern Karls des Großen hinterlassene Reich, das in Auflösung begriffen war, wieder zu ordnen und zu festigen. Das Leben der deutschen Cäsaren glich einem großen Drama. Seine Handlung wurde bestimmt von den menschlichen Leidenschaften, von Liebe und Hass, von Todesmut und der Furcht, von der Großmut und der Erbärmlichkeit; seine Personen waren Heilige und Ketzer, Ritter und Bauern, Priester und Narren, es ist angesiedelt in einer Zeit, die das „finstere Mittelalter“ genannt wird, ein (Vor-)Urteil, das der historischen
[378] Wilson, Peter H.: The Holy Roman Empire. S. 2
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Wirklichkeit nicht stand hält. Denn in dieser Menschheitsepoche verschmolz Antikes, Germanisches und Christliches zu einer neuen Einheit und besaß damit etwas, wonach wir Europäer in Ost und West uns nur sehnen können: Einen gemeinsamen Glauben, ein gemeinsames Bildungsideal, ein gemeinsames Weltbild. [379]
Zwischen der Krönung des Sachsen Otto I. in Aachen und der Hinrichtung des letzten Staufers Konradin 1268 in Nealpel liegen die Jahrhunderte, in denen der steile Aufstieg und der tiefe Fall des deutsche Kaisertums sich ereignete. Dreihundertzweiunddreißig Jahre und ebenso viele Blätter im Buch der Geschichte, auf denen die Taten der Kaiser Otto, Heinrich, Konrad, Friedrich in einer imponierenden Reihe verzeichnet stehen, wie sie in dieser Kontinuität über diesen Zeitraum in der Geschichte kaum zu finden sind.[380] Sie alle hatten sich Karl den Großen zum Vorbild genommen. Sie müssen an seiner Herrschaft und dem, was er angestrebt und erreicht hat, gemessen werden. Sie alle haben die Einheit Westeuropas, wie sie unter Karl dem Großen bestanden hatte nicht wieder erlangt. In einem anderen Punkt, indem auch Karl wenig vorzuweisen hat, muss das weiter gesteckte Ziel einer Verständigung und Vereinigung mit Byzanz, dem oströmischen Reich gesehen werden. Was hier unternommen wurde, ist, trotz mancher Bemühungen, nicht über Ansätze hinausgekommen. Mit dem faktischen Ende des Heiligen Römischen Reiches als Imperium Mitte des 13. Jahrhunderts begann ein vorher nie dagewesener Verfall, von dem es sich nicht wieder erholt hat. Kaiser und Papst, die das weltliche und geistliche Schwert führten, hatten ihr jeweiliges Schwert gegeneinander gerichtet, und damit die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses in einem geistigen und geistlichen Abgrund enden lassen. Das Imperium wurde umringt und auf einen Kernbestand zusammengedrückt, bis es nicht einmal mehr ein Schatten seiner selbst war. Nach einer Übergangszeit von rund zweihundert Jahren begann das Zeitalter der Entdeckungen und an den Rändern des alten Imperiums, im Westen und Osten Europas, entstanden neue Imperien, von denen das ehemals Heilige Römische Reich mit seiner Staatskonzeption ausgeschlossen blieb. Aber auch diese Imperien haben nicht überlebt, auch sie haben mit ihren Herrschaftsansprüchen und dem Einsatz von Mitteln und Methoden die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses ad absurdum geführt, und Europa in einem Zeitraum von fünfhundert Jahren zur Bedeutungslosigkeit geraten lassen, und Wege, um von dieser Politik Abstand zu nehmen, sind nirgendwo erkennbar. „Amerika, du hast es besser“, hat Goethe einmal verlauten lassen, Amerika hätte die einmalige historisch gebotene Möglichkeit ergreifen können, eine anders geartete Welt zu schaffen, aber es konnte der Versuchung nicht wiederstehen, und trat in die Fußstapfen seiner imperialen europäischen Vorbilder, viele Menschen, die das alte Europa verlassen und etwas auf gänzlich anderes und Neues gehofft hatten, wurden enttäuscht.
Europa, als Einheit gesehen, kann nicht auf einer zentralistisch ausgerichteten Staatsführung mit einem zentralistischen Fundament als Verfassungsordnung bestehen. Ein solches Projekt als Grundlage wird scheitern, weil es die eigenständige historische Entwicklung seiner verschiedenen Nationalitäten unberücksichtigt lässt. Ebenso scheitern wird ein Europa, das einer nationalstaatlichen Hegemonie unterworfen werden soll. Europa muss sich seiner universalen Staatsidee erinnern, und in Zusammenhang damit muss es aufgebaut werden auf föderative Prinzipien. Bestes Beispiel aus jüngster Vergangenheit ist das Brexit-Votum in Großbritannien am 23. Juni 2016, wo die Befürworter des Austritts aus der Europäischen Union einen Apell richteten, sich der Größe des Landes mit seiner Geschichte zu erinnern.
[379] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren: Triupf und Tragödie der Kaiser des Mittelalters. Locarno 1977. S. 13 f
[380] ebd. S. 14
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Ein legitimer Appell mit unschönen Begleiterscheinungen zwar, der dennoch ein bestimmtes Geschichtsbewusstsein ansprechen wollte. Großbritannien gelang es das größte Imperium der Menschheitsgeschichte zu errichten. Ein Resultat ist die Vorherrschaft englischen Sprache als Medium der sprachlichen Verständigung weltweit. Andere Nationen haben ebenso weitreichenden Einfluss ausgeübt. In Süd-und Mittelamerika wird Spanisch oder Portugiesisch gesprochen. In großen Teilen Afrikas ist Französisch Amtssprache. Französischer kultureller Einfluss findet sich auch im Nahen und Fernen Osten. In gleicher Weise hat sich russische Kultur und Sprache ausgedehnt. Nationale und kulturelle Eigenständigkeit mit ihrer historischen Entwicklung darf nicht einem europäischen Zentralismus geopfert werden, das muss für alle europäischen Nationen gelten, ob klein oder groß. Die vielfältigen Errungenschaften europäischer Geschichte sollen erhalten bleiben und gleichzeitig zu einer Einheit geführt werden. Das ist die alles bestimmende Herausforderung.
Zwei Nationen weisen hier eine Besonderheit auf: Großbritannien und Deutschland. Zunächst ist da die geographische Besonderheit: Großbritannien ist vom Meer umgeben, und eine weise Politik hat mit der beginnenden Neuzeit dazu geführt, sich aus den kontinentalen Händeln herauszuhalten und auf eine Politik hingewirkt, die ihm die Rolle des Schiedsrichters einbrachte. Deutschland hingegen war von Land und Ländern umgeben, die ihm nicht immer oder auch nie wohlgesonnen waren. Deutsche Politik hat hierzu einen unrühmlichen Beitrag geleistet. Das Unrecht, das Deutschland in seiner Geschichte hinnehmen musste, wurde mit Unrecht vergolten. So war es im Ersten Weltkrieg und noch mehr im Zweiten Weltkrieg, und so geschieht es auch gegenwärtig. Deutschland nutzt seine überlegene ökonomische Stellung und erzwingt einen wirtschaftlichen Verlauf, der sehenden Auges in einem Verhängnis endet. Die Gegenseite sieht es naturgemäß aus anderer Warte und hält entsprechende Vergeltungsmaßnahmen für gerechtfertigt. Beide Seiten haben es vermieden nach einer Politik Ausschau zu halten, die Europa einen gedeihlichen Verlauf seiner Geschichte ermöglicht hätte.
1250 verstarb die letzte bedeutende Herrscherpersönlichkeit aus dem Geschlecht der Staufer, womit auch eine glanzvolle Epoche ein Ende fand. Sein Sohn und Nachfolger Konrad IV. überlebte seinen Vater, als Herzog von Schwaben, König des Heiligen Römischen Reiches (HRR), König von Sizilien und König von Jerusalem, nur um vier Jahre. Ihm folgte sein Sohn, bekannt unter dem Namen Konradin ein Diminutiv für den Namen Konrad, vergleichbar mit dem letzten Kaiser des weströmischen Reiches Romulus Augustulus (Kaiserchen). Konradin wurde 1268 auf Betreiben des französischen Herzogs von Anjou in Neapel öffentlich hingerichtet. Damit begann der Weg des HRR in die Bedeutungslosigkeit ideell und materiell. Das Schwergewicht kontinentaler Politik verlagerte sich nach Frankreich und erreichte mit Kaiser Napoleon seinen Höhepunkt. Französische Politik war dem universalen Staatsgedanken in den Jahrhunderten seiner Vorherrschaft abholt. Die letzten Stauferkaiser hatten ihren Herrschaftsbereich in den äußersten Süden verlegt mit Sizilien als Mittelpunkt. Sizilien geriet nach dem Ende der Staufer unter König Karl I. unter französische Dominanz, die aber schnell ein Ende fand. Im März 1282 kam es zu einem Aufstand der „Sizilianischen Vesper“ und der Herzog von Anjou wurde von der Insel vertrieben.
Sechshundert Jahre mussten von diesem Zeitraum an vergehen, bis Deutschland sich von dem Schlag erholte, der seinen Einfluss in und durch das HRR zum Erliegen brachte. 1871 wurde im Schloss von Versailles das Zweite deutsche Kaiserreich ausgerufen. Ein Akt der Demütigung für Frankreich, der mit viel Kritik auch innerhalb Deutschlands bedacht worden ist. Das Zweite Reich sah sich einem anderen Deutschland gegenüber. Die Reformation Martin Luthers und des reformierten Protestantismus hatten das Land grundlegend verändert.
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Darüber hinaus war es konfessionell gespalten, eine belastende Hypothek, die noch einmal zurückführte in die Zeit, wo es auf den Boden, auf dem seine Geschichte gewachsen, eine Zeit der Blüte erlebte, geistlich, geistig und an weltlicher Macht. Ein Wiederaufleben eines Staats-Glaubens- und Kirchenverständnisses aus mittelalterlicher Zeit war ausgeschlossen. Jede Andeutung in diese Richtung wäre im Europa der Nationalstaaten auf Ablehnung gestoßen und hätte in der bestehenden politischen Wirklichkeit keinen Nährboden gefunden. Der Architekt zur Gründung des Zweiten Reiches war Otto von Bismarck, seit September 1862 preußischer Ministerpräsident und nach 1871 Reichskanzler des von ihm konzipierten Deutschen Reiches. In der Konfessionsfrage hatte er eine unnachgiebige protestantische Haltung eingenommen. Das Zweite Reich stützte sich auf die protestantische Macht Preußens. Im italienischen Krieg 1859, in dem Frankreich die Italiener gegen Österreich unterstützte, stand ein Eingreifen Preußens auf österreichischer Seite in Aussicht. Bismarck ließ dazu ein Gedankenspiel einfließen: Die Preußen sollten die Grenzpfähle ausreißen, im Tornüster mit sich führen und dort wieder einrammen, wo das protestantische Glaubensbekenntnis aufhöre.[381] Diese Haltung hat sich nicht durchgesetzt. Das neu gegründete Reich hatte eine Belastungsprobe zu bestehen in einem Zusammenstoß mit der katholischen Kirche, der als Kulturkampf in die Geschichte eingegangen ist. Bismarck hat in mehreren Reichstagsreden Stellung bezogen, ein Auszug daraus lässt erkennen, in welchem Stil die Debatten ausgetragen wurden:
In einer Rede gehalten am 30. November 1881 im Reichstag zum Thema: „Über die Stellung Preußens zum Vatikan; der Kulturkampf und der Frieden“.:
„Über den materiellen Stand der Verhandlungen mit dem römischen Stuhle hier Ausdruck zu geben, beabsichtige ich nicht, ich teile, wie gesagt, die Ansicht des Herrn Vorredners nicht, dass es dem Reiche oder dem Lande nützlich wäre, wenn ich es täte.
„Der Herr Vorredner hat völlig Recht, wenn er sagt, dass dieser Kampf, den er selbst Kulturkampf genannt hat, seine wesentlich politische Seite hat. Die römische Kirche ist von jeher nicht bloß eine geistliche und kirchliche Macht, sondern auch eine politische Macht gewesen, und der Herr Vorredner hat uns dazu nichts Neues gesagt, die wir unsere deutsche Geschichte tausend Jahre rückwärts kennen. Das Papsttum ist, wie jede Kirche gelegentlich, eine sehr starke politische Macht gewesen. Rein konfessionelle Kämpfe würde ich überhaupt nicht führen; wenn der politische Beisatz, die Machtfrage nicht wäre, eine Machtfrage, die auch in der vorchristlichen Zeit sich zwischen Königen und Priestern kenntlich gemacht hat, - wenn die nicht da wäre, würde ich mit einer solchen Entschiedenheit in diesen Kampf nicht eingetreten sein, da ich konfessionelle Stellungen nicht bekämpfe.
Der Herr Vorredner hat mir vorgeworfen und hat auch darin wieder den üblichen Mangel an Konsequenz bei mir entdeckt, dass ich diesen Kampf nicht fortgesetzt hätte, dass ich ihn eine Zeit hindurch mit Lebhaftigkeit betrieben und nachher fallen gelassen hätte. Nun jeder Kampf hat seine Höhe und seine Hitze, aber kein Kampf im Innern zwischen Parteien und der Regierung, kein Konflikt, kann von mir als eine dauernde und nützliche Institution behandelt werden. Ich muss Kämpfe führen, aber doch nur zu dem Zweck, den Frieden zu erlangen; die Kämpfe können sehr heiß werden, dass hängt nicht immer von mir allein ab – aber mein Endziel ist immer noch der Friede….“[382]
[381] Angelow, Jürgen: Der deutsche Bund. Darmstadt 2003. S. 113
[382] zitiert in "Bismarcks gesammelte Werke", Drie Bände, 3. Band. Stuttgart 1915 S. 102
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Im Reichstag des Zweiten Kaiserreiches herrschte Redefreiheit, in mancher Hinsicht mehr Redefreiheit als im Reichstag der Weimarer Republik oder dem Deutschen Bundestag nachdem Zweiten Weltkrieg, denn das Deutsche Reich war nach 1871 ein souveräner Staat ohne Einschränkungen. Bismarck hatte in den achtundzwanzig Jahren seiner Regierungszeit, zuerst als preußischer Ministerpräsident, dann als Reichskanzler, etwas erreicht, wozu vergleichbare europäische Nationen Generationen und Jahrhunderte benötigten. In seiner Regierungszeit wurde Deutschland nach England und Frankreich drittgrößte Kolonialmacht. Berlin war diplomatischer Mittelpunkt in Europa geworden. Seinen Nachfolgern war das alles zu wenig, sie forderten für das Reich einen „Platz an der Sonne“, den es längst hatte, so musste in einem solchen Bestreben eine Unzufriedenheit mit dem Erreichten gesehen werden und ein Verlangen nach weiterer Ausdehnung, was außerhalb Deutschlands Misstrauen erweckte. Deutschland hat in einem Zeitraum von genau einhunderteins Jahren zwei Staatsmänner von besonderem Format hervorgebracht: Otto von Bismarck mit Amtsantritt 1862 und Konrad Adenauer mit Ausscheiden aus dem Amt 1963. Von Adenauer hat Sir Winston Churchill geurteilt, er sei der größte deutsche Staatsmann seit Bismarck gewesen. Bismarck und Adenauer, der eine strenger Protestant, der andere streng katholisch, ein Finderzeig der Geschichte. Beiden, Bismarck und Adenauer, ist die staatsmännische Leistung von dem Volk, für das sie politische Verantwortung getragen haben, ohne Anerkennung geblieben. Bismarck erfuhr in der historischen Rückschau nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zurücksetzung in der Geschichtsschreibung und auf Historikerkongressen dem Zeitgeist entsprechend, und Adenauer wird seit dem denkunwürdigen Jahr 1968 als Restaurator der NS-Herrschaft gehandelt. Beide wurden am Ende ihrer Regierungszeit mit hinterhältigen Intrigen aus dem Amt gedrängt. Ein Volk, das als Nation mit seiner Geschichte und Persönlichkeiten seiner Geschichte, wie Bismarck und Adenauer, so umgeht, stellt seine Existenzberechtigung in Frage. Es dürfte schwer fallen, in der Geschichte anderer Nationen vergleichbare Vorgänge zu finden. Was Adenauer aber noch besonders auszeichnet, war die Gründung einer politischen christlichen Partei über die Konfessionsgrenzen hinweg, was wenige Jahrzehnte zuvor noch undenkbar gewesen wäre.
In historischen Betrachtungen, die sich über seinen langen Zeitraum erstrecken, muss ein feines Gespür dafür entwickelt, und in den unterschiedlichen Epochen sorgfältig das Geschehen beobachtet werden. Es gilt den geographischen Kontext zu berücksichtigen, sowie Charaktereigenschaften, die zeitlos gültig sind, und nicht zuletzt den zeitlichen Rahmen. Analogien sind mit der Gefahr verbunden, ahistorisch zu wirken, wenn eine Epoche in eine andere verpflanzt und dann als Maßstab herangezogen wird. Alle historischen Vorgänge sind auch einer Kontinuität und Kausalität unterworfen und bedürfen daher einer Analyse, um Schlüsse zu ziehen, die eine nützliche Anwendung gewährleisten.
Was mit der Herrschaft Otto I. (936-973) glorreich begann, endete kläglich. Es kann dazu nicht Aufgabe sein, ein richtendes Urteil zu fällen, es muss die Zielsetzung einer Politik vorangestellt werden, ihre Berechtigung und Nützlichkeit, damit ein erstrebenswertes Ziel aufgezeigt werden kann. Ethischer Maßstab ist der christliche Wertekanon.
Otto I. versuchte mit siebenunddreißig Jahren, lesen und Schreiben zu erlernen, hierin seinem Vorgänger und Vorbild Karl ähnlich, der damit auch seine Schwierigkeiten hatte. Schreiben die Sichtbarmachung des Gesprochenen, der geheimnisvolle Vorgang, gesagtes zu verewigen; er war ihm über lange Jahre als eine Kunst erschienen, die zu erlernen eines echten Mannes nicht würdig war. Dafür war der Kleriker zuständig, dem es auf der Klosterschule beigebracht worden war. Die Begegnung mit der Zivilisation Roms und die Bekehrung zum Christentum, hatte bei den Deutschen nur eine Art Tünche hinterlassen, unter der altgermanisches Wesen
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noch deutlich hervorschimmerte.[383] Otto hatte nicht nur den Mut, sich in dem fränkischen Schatten seines Vorgängers zu messen, er besaß die Kühnheit, in seine Fußstapfen zu treten. Aachen galt ihm als Symbol für seine ehrgeizigen Pläne, auch als Warnung gedacht an die in Frankreich immer noch regierenden Westfranken, seine Kreise nicht zu stören. Er wollte damit seinen Anspruch anzeigen, als Führer des einstigen Weströmischen Reiches angesehen zu werden, insgeheim schwebte ihm vor, sich als Imperator Augustus zum Kaiser des erneuerten Römischen Reiches aufzuschwingen. Otto, ein Mann von bäuerlichen Adel, ohne die Kenntnis der lateinischen Sprache und des Lesens und Schreibens unkundig, aus einem Lande stammend, das keine Hauptstadt besaß und damit auch kein kulturelles Zentrum vorweisen konnte, über keine umfassende effektive Verwaltung verfügte, schickte sich an, ganz große Pläne zu verwirklichen und ein Reich zu errichten, in dem Christentum und Antike sich vereinigten.[384] Das Unterfangen erschien vielen als Selbstüberschätzung. „Wie die Deutschen ein Volk geworden sind, das ist der köstliche und unvergängliche Inhalt der Geschichte Otto des Großen.[385] Hier nahm diese Geschichte ihren Anfang. Am Anfang stand das Krönungsfest in Aachen, dazu ausersehen als ersten Schritt auf dem Wege zu einem großen Ziel. Wer den geschilderten Aufwand mit seinen Zeremonien, und für die Zeit mit kostbarem Äußeren versehen, könnte den Gedanken nähren, es sei alles auf Schau angelegt gewesen. Zeremonien sind nichts Äußeres, nicht bloße Form, sie wirken von außen nach innen, sie schaffen Traditionen, und Tradition ist die Klammer, mit der die auseinanderstrebenden Kräfte eines Staates, einer Kirche oder eines Gemeinwesens zusammengehalten werden.[386] Otto war dennoch ein Mann, dem jede Pracht und Prunk unerwünscht war, sein Tagesablauf bestand aus Arbeit und Gebet.[387]
Widukind von Corvey (925-980), Historiker und Chronist der Zeit, dem die Nachwelt bis ins Einzelne gehende Schilderungen verdankt, kann als eine maßgebliche Quelle angesehen werden. Er war im jugendlichen Alter von fünfzehn Jahren in das Kloster Corvey eingetreten. Seine Sachsengeschichte besteht aus drei Bänden, und umfasst die Frühgeschichte bis zum Tode Heinrichs I. 936. Ihm ist auch die eingehende Wiedergabe der Königskrönung Otto I. 936 zu verdanken. Noch umfangreicher ist das Werk des Bischofs Thietmar von Merseburg (975-1018). Seine Chronik umfasst acht Bände und befasst sich mit dem Leben der frommen Kaiser und Könige Sachsens von Heinrich I. über die Ottonen bis Heinrich II. Quelle und Vorbild für ihn war Widukind von Corvey. Thietmars Werk umfasst die Frühgeschichte bis zum Tode Heinrichs II. Ihm verdankt die Geschichtsschreibung ebenfalls die eingehende Schilderung der Krönung Ottos I. 936 in Aachen. Ausschließlich mit Kritik wird das Leben Heinrichs I. bedacht, seine Untreue gegen seine Ehefrau Hatheburg und seine Ablehnung zur Krönung auch die Salbung zu empfangen. Otto I. wird eine Vorbildfunktion für seine Zeit zuerkannt. Otto II. (973-983) wird die Aufhebung des Bistums Merseburg als Fehlentscheidung angelastet. Der frühe Tod Otto III. (983 - 1002) wird als Strafe Gottes für alle Menschen gedeutet. Heinrich II. hat er die Wiedererrichtung des Bistums Merseburg hoch angerechnet. Er erntete aber auch Kritik an Entscheidungen gegen den Episkopat und über Klöster. (Aus Wikipedia)
Schon Karl der Große hatte nicht die Absicht verfolgt, einen von Nationalitäten oder germanischen Völkern beherrschten Staat oder Imperium zu begründen, die zuvor in das
[383] Fischer-Fabian: Die deutschen Cäsaren. S. 17
[384] ebd. S. 25
[385] ebd. S. 26 zitiert nach dem Historiker Robert Haltzmann
[386] ebd. S. 26
[387] ebd. S. 27
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Römische Reich eingedrungen waren, und dort unter unterschiedlichen Voraussetzungen ihre Herrschaft aufgerichtet hatten, was sich auch als eine Unmöglichkeit erwies, da die in dem späteren Großreich zusammengefassten Völker und Ethnien von so unterschiedlicher Herkunft waren, dass ihm das Imperium Romanum als Vorbild diente, das eben keine auf eine Ethnie oder Nationalität begründete Herrschaft zum Ziel hatte. Seine zusammenhaltende Identität ist auf geistiger und kultureller Ebene zu suchen und zu finden, wobei die antike griechische Geisteswelt einen wesentlichen Einfluss ausübte, während die ausdrücklich römische Leistung in der Technik und dem Staatsaufbau zu finden ist. In der nachrömischen Phase der europäischen Geschichte gelang es nicht, ein einheitliches Staatsgefüge wiederherzustellen, wie es im Römischen Reich gelungen war, gestützt auf eine überlegene Armee, die als unschlagbar angesehen wurde, wie viele Armeen davor und danach auch schon. Die staatlichen Einrichtungen und Kultur des Reiches, das Karl nach römischem Vorbild zu errichten gedachte, verband unterschiedliche Völkerschaften, nicht nur römische und germanische, als einigende Klammer war der christliche Glaube ausersehen.[388] Der Nationalstaatsgedanke, wie er in der späteren europäischen Geschichte Gestalt annahm, war dem mittelalterlichen Denken fremd, ebenso die Konstruktion einer ethnischen germanischen Überlegenheit. Dazu waren die verschiedenen Germanenvölker viel zu unterschiedlich, weshalb sie auch zu keiner Einheit finden konnten.
Die Teilungen des Frankenreiches im 9. Jahrhundert ergaben zunächst drei selbstständige Teile. Es wäre aber verfrüht hier von Nation zu sprechen im heutigen Verständnis des Wortes. Die Herrscher der Befürwortung einer Teilung gingen eher von dynastischen und in Verbindung damit von kirchlichen Interessen als von Geographischen und völkischen Gesichtspunkten aus.[389] Bald bildete sich für Teile ein Sonderstatus heraus: für Burgund und Italien, womit erkennbar wird, wie dieses Imperium neben einem deutschen auch aus einem französischen und italienischen Teil bestand.[390] Die Päpste hatten ein großes Interesse daran, die Thronfolge in Deutschland durch Wahl zu bestimmen. Die deutschen Könige verdankten zwar die Kaiserkrone nicht den Päpsten, sondern einer Vormachtstellung in Europa, die ihren Ausdruck darin fand, dass dieses Wahlrecht nur deutschen Fürsten zustand, selbst bei Bewerbern, die nicht einer deutschen Dynastie angehörten, im nationalen Sinne verstanden. Mit zunehmenden Einfluss der Päpste, was sich besonders im Investiturstreit zeigte, standen die Päpste auf Seiten der Fürsten.[391] Die Macht der Kirche gründete sich nicht auf Heeresmacht, womit deutlich wird, welche Einflussmöglichkeiten sich im geistlichen Bereich ergaben. In der Frühphase dieses Imperiums sahen sich die deutschen Könige und Kaiser, nachdem die karolingische Schwächeperiode überwunden war, als Träger und Verkörperung dieser Idee. Es erhöhte den Glanz der königlichen und kaiserlichen Stellung und gab ihr einen sakralen Charakter. Der „Rex et Sacerdos“, König und Priester, wurde bei der Königsweihe in den Klerikerstand aufgenommen, und diese Weihe galt in der frühen Zeit als Sakrament. Diese Auffassungen bedingten von Anfang manche Beschränkungen für den König. Staatsallmacht und absolutistisches Herrschertum waren mit ihm ebenso unvereinbar wie eine rein nationalistische Innen-und Außenpolitik und dem modernen Imperialismus.[392] Die Befugnisse der Herzöge, die nach dem König die mächtigste Position innehatten und der Grafen, denen als wichtigste Aufgabe die Bewahrung des inneren Friedens in ihrem Gebiet oblag, der Pfalzgrafen,
[388] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser nach zeitgenössischen Quellen. Leipzig 1924. S. 14
[389] ebd. S. 15
[390] ebd. S. 18
[391] ebd. S. 22
[392] ebd. S. 27
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die den König als obersten Gerichtsherrn vertraten, der Markgrafen, denen die Sicherung der gefährdeten Grenzlande anvertraut war, der Burggrafen, die besonders im eroberten Slawenlande einer größeren Burg und ihrer Umgebung vorgesetzt waren, können hier nicht näher umschrieben werden. Das Wesentliche ist, dass diese Herrschaftsbefugnisse im Verlaufe der Zeit den Charakter erblicher Lehen annahmen, und so dem König als obersten Lehensherren immer mehr entzogen wurden.[393]
Das mittelalterliche Staatswesen, wie es sich in Ostfranken und Westfranken teilte, und sein Schwergewicht nach Ostfranken, was in späterer Zeit als Deutschland angesehen wurde, war gekennzeichnet durch die Beschränkung der königlichen und kaiserlichen Macht in mehrfacher Hinsicht durch die fürstlichen Gewalten und dem Geltungsanspruch der päpstlichen Macht. Das Mittelalter hat Herrscherpersönlichkeiten hervorgebracht, die es verstanden den Reichköper, dessen Zentrum das spätere Deutschland war, als ein wirkliches Machtgefüge zu erhalten. Es ging ihnen nicht um ein Deutschland, wie es sich im Verlaufe der Geschichte herausgebildet hat. Sie verstanden sich als Bewahrer des Heiligen Römischen Reiches und dem Staatsziel, das damit verbunden war. Die Idee, diese Reichseinheit wiederherzustellen, haben sie niemals aufgegeben. Hieran knüpft sich der Streit an um Segen und Unsegen der Italienpolitik mit das Ziel Rom, als geistliches Zentrum, mit Heeresmacht zu erreichen, der Generationen von Historikern beschäftigt hat, bis hin zu der fragwürdigen These, die aufgewandten Kräfte der Italienzüge deutscher Kaiser hätten besser nach Osten gerichtet werden sollen. Wer so urteilt hat Sinn und Ziel der Italienpolitik nicht verstanden, die darauf beruhte, die Einheit des geistlichen und weltlichen Schwertes zu bewahren oder wiederherzustellen. Die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches haben sich im Zenit ihrer Macht nicht einem Imperialismus zugewandt, ihnen war daran gelegen, die Klammer und die Kernidee eines christlichen Imperiums zu gestalten und zu erhalten.[394] Die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches waren an gegebene Bedingungen geknüpft, die ihnen nicht in allen Belangen freie Hand ließen. Die Kirche mit der sie verbunden waren, musste nicht erst gegründet und ins Leben gerufen werden, sie konnte in dem zu betrachteten Zeitraum bereits auf eine mehr als tausendjährige historische Entwicklung zurückblicken. Sie war eine auf festen Grundlagen bestehende Organisation, gestützt auf Lehre und Disziplin, Bedingungen für ihren Zusammenhalt, der inzwischen einen Rückblick auf mehr als zweitausend Jahre erlaubt. Sie erhob und erhebt einen Anspruch auf Universalität, auf Geltung als Weltkirche. Katholische Kirche bedeutet allgemeine Kirche, was in einem unvereinbaren Gegensatz zu einer national ausgerichteten Kirche steht.[395] Das waren die Grundvoraussetzungen, denen sich die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gegenüber sahen, bis eine Entwicklung eintrat, die den universalen Staatsgedanken in den Hintergrund treten ließ. Diesen Herausforderungen sah sich Kaiser Otto I. als zweiter Erneuerer nach Karl dem Großen, des auf Rom und die renovatio imperii (Erneuerung des Imperiums, eines christlichen Imperiums) zurückgehenden Staatsverständnisses gegenüber gestellt.
Otto I. konnte auf ein gefestigtes Reich zurückgreifen, das sein Vater Heinrich I. ihm hinterlassen hatte, gegen den der Vorwurf erhoben worden war, er habe sich von Frömmigkeit und christlich begründeten Voraussetzungen entfernt. Der Chronist Thietmar von Merseburg gab hier den Ton an. Beide, Thietmar und sein Vorbild als Chronist, Widukind von Corvey, hatten der Geschichte der Sachsen ihre besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Die Sachsen erschienen dort in einem anderen Licht, nicht als Bösewichter und Rebellen. Wideukind von Corvey
nicht als Bösewichter und Rebellen. Widukind von Corvey
[393] Bühler, Johannes: die sächsischen und salischen Kaiser. S. 32
[394] ebd. S. 34 f
[395] ebd. S. 39
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wird nachgesagt, er habe seinen Namen gewählt, um an Widukind zu erinnern, den Karl der Große mit großen Mühen bezwingen konnte. Die Schilderungen seiner Sachsengeschichte haben etwas von biblischer Einfalt und Kraft, und wer könnte den Geist der Zeit besser übermitteln als der Zeitgenosse selbst.[396] Die sächsischen Kaiser und Könige nutzten die von ihnen errungene Herrscherstellung nicht, um Genugtuung zu erlangen für die Unbill die das Volk der Sachsen unter Karl erduldet hatte. Ihre Herrschaft war nicht von Gedanken an Genugtuung oder gar Rache getragen, im Gegenteil, für sie war Karl das Vorbild, dem es nachzueifern galt.
Die Könige und Kaiser des HRR waren nicht nur ideell, sondern ebenso auch politisch an die Kirche gebunden. Im römischen Reich hatten die Bischöfe seit Konstatin dem Großen politisch und wirtschaftlich steigenden Einfluss gewonnen. Das Frankenreich übernahm auch darin das Erbe Roms, die kirchlichen Würdenträger wurden unter den Merowingern und noch mehr unter Karl dem Großen mit immer neuen Zuweisungen von Grundbesitz bedacht und blieben neben und über den weltlichen Großen vor allem ihrer höheren Bildung wegen ein unverzichtbarer Bestandteil bei der Heranziehung in den Staatsgeschäften. Unter den Schwachen Nachfolgern Karls des Großen gewann die geistliche Hierarchie vollkommen das Übergewicht im fränkischen Reich, zugleich aber bildeten sie eine wichtige Voraussetzung für den Zusammenhalt des Reiches. Als Ost-und Westfranken auseinanderfielen, trachtete Kaiser Konrad I. danach vornehmlich die geistliche Aristokratie und das vorübergehend erstarkte Papsttum zu stützen. Trotz der Hilfe erlag den Herzögen, die nach mehr Unabhängigkeit von der Königsgewalt strebten, unter denen sich der Sachsenherzog Heinrich als der stärkste erwies. König Heinrich verzichtete bei seiner Krönung auf kirchliche Weihen und Salbung, was ihm als eine Abkehr von der karolingischen Überlieferung angelastet wurde. Diese Einschätzung hat er im Rahmen seiner Herrschaft widerlegt. Er ließ seinen begabten Sohn Brun zum Kleriker ausbilden und zeigte dadurch, dass er dem geistlichen Herrschaftsbereich in seiner Bedeutung nicht geringer achtete.[397] Der als erster Bischof Reiches angesehene Heriger von Mainz machte Heinrich das Angebot zur Krönung und Salbung, die er nicht direkt zurückwies, sie aber auch nicht annahm, er gab die Antwort: „Mir genügt es, wenn ich, wie bisher keiner meiner Vorfahren (aus sächsischem Geschlecht) mit Gottes Gnade und eurer Huld zum König ernannt wurde, salben jedoch und krönen möge man Besseren als uns gewähren, solche Ehren halten wir uns nicht für würdig.“ Diese Worte fanden den Beifall des ganzen Versammelten Volkes, und mit zum Himmel emporgehobener Rechten wiederholte es unter gewaltigem Geschrei zum Zeichen der Begrüßung wieder und wieder den Namen des Königs.[398]
Im Frankenreich und unter Konrad I. war die Geistlichkeit Hauptvertreter des Einheitsgedankens im Reiche gewesen, wenngleich sie aus sich heraus nicht die Kraft besessen hatte, die Teilung des fränkischen Großreiches zu verhindern, so bot sie doch immer einen starken Stützpunkt in der Hand eines mächtigen und tatkräftigen Herrschers. Der weit ausgedehnte Kirchenbesitz, der nicht wie der weltliche Grundbesitz erblich, und nicht wie die Herzogtümer an Grenzen gebunden war, und untereinander eine selbstständige Organisation mit Abstufungen in Erzbistümer und Bistümer vorsah, bot den Königen durch das Besetzungsrecht in den Bistümern und Reichsabteien, dazu die höhere Bildung der Kleriker, die Möglichkeit ein Gegengewicht gegen auseinanderstrebende Herzogtümer zu bilden. Kaiser Otto I. nützte als einer der größten Staatsmänner in der deutschen Geschichte diese Möglichkeit
[396] fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 28
[397] Bühler, Johannes: die sächsischen und salischen Kaiser. S. 40 f
[398] ebd. zitiert S. 86
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in umfassendster Weise. Sein Herrschaftsaufbau stellt zwar weder in der Idee noch in den angewandten Mitteln etwas völlig Neues dar, aber die zielführende Hinwendung eines bisher planlos geübten Gewohnheitsrechtes auf den Staatsgedanken führte zu teilweise neuen Verhältnissen.[399] Aber wenn diese Kirchenpolitik unter Otto I. die einzige Möglichkeit bot, den Staat zu retten und sich unter seinen Nachfolgern eine geraume Zeit bewährte, so war der Konflikt mit der Kirche und dem Papsttum unter anderen Verhältnissen nicht zu umgehen. Die ostfränkischen (deutschen) Kirchenfürsten wünschten naturgemäß keine Veränderung. Ihr maßgebender Einfluss auf die Staatsgeschäfte, ihre Vorzugsstellung der weltlichen Aristokratie gegenüber, die stete Vermehrung des Kirchenguts, möglichste Unabhängigkeit von Rom, die gerade die angesehensten Inhaber der Bischofstühle erstrebten, machten sie zu den natürlichsten Bundesgenossen der Krone. Von dem sittlich tief gesunkenen und in die Hände des verwilderten römischen Adels geratenen Papsttum konnte der Anstoß zu einer Umgestaltung nicht ausgehen, der kam von ganz anderer Seite.[400] In der katholischen Kirche, wie später auch in den Kirchen anderer Konfessionen und Denominationen, sind immer die zwei Strömungen erkennbar, die eine weltflüchtig, asketisch, die andere mehr welt-und kulturfreudig. Trotz aller Verschiedenheit und nicht selten heftiger Befehdung laufen beide auf ein gleiches Ziel hinaus: weltbeherrschende Stellung. Die eine sucht sie mit den Mitteln dieser Welt, Politik, Reichtum, Kunst, Wissenschaft, die andere durch Verachtung der Welt und ihrer Güter zu erreichen. Beide Strömungen sind immer da, doch wechselt ihre Vorherrschaft periodisch. Im Brief an die Hebräer im christlichen Kanon der Heiligen Schrift heißt es dazu in Kapitel 13, Vers 14: (14) Denn wir haben hier keine bleibende Stadt (=Wohnstätte, Heimat), sondern die zukünftige suchen wir.[401] Von diesem archimedischen Punkt bewegte das Christentum die Welt, wurde aber später als Weltbeweger in den Strudel der Welt hineingezogen. Doch wenn die Kirche schon völlig darin unterzugehen scheint, besinnt sie sich auf ihren ersten Ausgangspunkt, und der Kreislauf beginnt von neuem.[402]
Im Frankenreich und daran anschließend durch das ottonische Herrschaftsgefüge hatte sich die weltliche Einstellung der Kirche uneingeschränkt durchgesetzt. Die Schäden, die daraus erwachsen waren, bedingten die Zurückdrängung des asketischen Ideals, die eine Gegenbewegung auslöste. Die Klosterreformen von Cluny in Burgund und Gorze in Niederlothringen waren getragen von einem asketischen Geist, der sich zu einem wirksamen Wegbereiter aufschwang. Die Bewegung litt aber an einer Engstirnigkeit und Engherzigkeit, die aber als unumgänglich angesehen wurde, denn das durch lange Kriegswirren verwilderte Europa konnte eine fanatische Einseitigkeit besser durchdringen. Die Reformbewegungen waren in dem Teil des westfränkischen (französischen) Reiches entstanden, das noch zum HRR zugerechnet wurde. Die deutschen Kaiser von Otto I. an haben diese asketische Richtung in jeder Weise begünstigt. In dieser Haltung sollte keine widersprüchliche Inkonsequenz gesehen werden, denn das innere Erstarken der Kirche hatte seine Ursache in der Reformbewegung. Hätten sich die Kaiser entschlossen, dagegen vorzugehen, hätten sie der sittlichen Ausrichtung der Reformer Hindernisse bereitet und die Institution Kirche, auf die sich ihre Herrschaft wesentlich stützte, geschwächt. An solchen kaiserlichen Herrschaftsverständnis wäre nicht nur die kirchliche Welt, sondern mit ihr auch die politische Welt irre geworden, woraus ersichtlich ist, auf welchen Rückhalt die Kirche, trotz ihres Niederganges, zurückgreifen konnte.
[399] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 41 f
[400] ebd. S. 43
[401] Übersetzung nach Hermann Menge (ev.)
[402] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 44
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Die Vertreter eines neu entstandenen christlichen Ideals konnten sich einer Aufmerksamkeit und Bewunderung erfreuen. Die Reformer hatten auch nicht das Ziel verfolgt, die kaiserliche Herrschaft in Frage zu stellen. Cluny hielt noch unter Heinrich IV. (1056-1106) die Beziehungen zum kaiserlichen Hof aufrecht, und versuchte zwischen Kaiser und Papst zu vermitteln in einer Zeit, wo die Gegnerschaft zwischen Kaiser und Papst mit dem Gang nach Canossa 1077 seinen Höhepunkt erreicht hatte. Die Reformer in Lothringen hatten sich schon in dem Zeitraum davor Ideen geöffnet und Thesen vertreten, die eine Unterwerfung der weltlichen unter die geistliche Herrschaft befürworteten, Vorstellungen, die unter Papst Gregor VII. (1073-1085) kompromisslos nach Verwirklichung trachteten. Der sächsische Kaiser Heinrich II. (1002-1024)) und der salische Kaiser Heinrich III. (1039-1056) ließen die Reformer gewähren, und bereiteten dem reformerischen Eifer keine Hindernisse. Die Reformer hatten einen Wiederhall gefunden, die ein Vorgehen von kaiserlicher Seite, da hier die Machtfrage berührt wurde, keine Erfolgsaussichten bot. Kaiser Otto I. hatte noch Päpste ab-und eingesetzt, eine Methode, die in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts auf schwer zu überwindende Gegenwehr stieß.
Heinrich I. hinterließ seinem Sohn Otto I. ein gefestigtes Reich, der so ein Fundament vorfand, auf dem weiterführende ausbaufähige Pläne verwirklicht werden konnten. Eine andere Herausforderung hatte Heinrich zu bestehen durch die in Zeitabständen wiederkehrenden Einfälle der Ungarn, die sich mit ihrer Kampftechnik, gestützt auf Reiterformationen mit schnellen wendigen Pferden, als unüberwindbar erwiesen hatten, weil von sächsischer Seite nicht Vergleichbares entgegengesetzt werden konnte. Ein glücklicher Umstand in den wechselvollen Kämpfen hatte es gefügt und die Möglichkeit geschaffen, einen neunjährigen Waffenstillstand zu vereinbaren, verbunden mit der Verpflichtung einer jährlichen Tributleistung. Der Waffenstillstand galt nur für Thüringen und Sachsen, Bayern und Schwaben waren davon ausgenommen, diese Gebiete waren weiterhin schutzlos den Einfällen ausgeliefert, die nicht auf Eroberung und Herrschaft aus waren, sondern als Raubzüge eingestuft werden konnten, sie drangen zeitweise bis ins Westfrankenreich (Frankreich) vor und bedrohten St. Gallen, in der heutigen Schweiz gelegen, ein für die damalige Zeit geradezu geheiligter Ort.[403] Der neunjährige Waffenstillstand wurde emsig genutzt, ein anders geartetes Reiterheer wurde geschaffen, das sich den Ungarn als ebenbürtig erwies, befestigte und besetzte Verteidigungsanlagen, als Burgen bezeichnet, wurden erbaut, in denen die „Bürger“ im Falle herannahender Gefahr Schutz suchen konnten. Die Maßnahmen bestanden im Jahre 933 ihre Bewährungsprobe, und es gelang erstmalig die Angreifer zurückzudrängen. Kriegerische Verwicklungen ergaben sich nach Osten gegen slawische Völker und nach Norden gegen die Dänen, König Knut ließ sich im Zuge dieser Zusammenstöße 928 christlich taufen. Die Kriege wurden nicht unter ethnischen oder gar nationalen, sondern unter christlichen Gesichtspunkten ausgetragen, ob zum Vorwand oder aus ehrlicher Meinung bedarf unterschiedlicher Beurteilung. Schon zu Zeiten Karls des Großen waren hierzu Richtlinien erlassen worden. Im Jahre 806 wurde kriegerischem Eifer von Priestern mit einer Verordnung begegnet. Sie verbot Propaganda für den Krieg. Kein Kleriker durfte Blut vergießen oder dazu auffordern, die Todesstrafe wurde erstmals eingeschränkt.[404]
Heinrich hatte seinen Sohn Otto zum Nachfolger bestimmt, der durch die Vorarbeit seines Vaters die Herrschaft unter günstigen Voraussetzungen übernahm. Widukind von Coryey
[403] Bühler, Johannes: die sächsischen und salischen Kaiser. S. 88
[404] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser von Karl dem Großen bis Wilhelm II. Frankfurt a. M. S. 27
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überliefert dazu: Nachdem also Heinrich der Vater des Vaterlandes und der beste und größte König gestorben war, erkor alles Volk der Franken und Sachsen dessen Sohn Otto zu seinem Fürsten, den bereits sein Vater zum Könige bestimmt hatte. Man erklärte, der Ort der gemeinsamen Wahl müsse die Pfalz zu Aachen sein…[405]
Die Königskrönung 936 in Aachen war begleitet von Rivalitäten unter den Erzbischöfen des Reiches in Köln, Trier und Mainz, die in der späteren Geschichte noch von Bedeutung sein werden als die drei geistlichen Vertreter der sieben Kurfürsten, die ab 1356 berechtigt waren den deutschen König zu wählen. Jeder von ihnen beanspruchte das Recht Otto zum König zu weihen und zu salben. Der Erzbischof von Trier begründete seinen Anspruch, indem er das auf die Apostel zurückgehende Entstehungsdatum seiner Kirche anführte, der von Köln wies daraufhin, dass der Krönungsort auf dem Gebiet seiner Diözese liege, und der von Mainz pochte auf sein hohes Ansehen. Der Kompromiss, der gefunden wurde, entbehrt nicht der Merkwürdigkeiten. Der Mainzer durfte salben und krönen, der Kölner die Krone halten, der Trierer mit zum Throne gehen. Der neue Herrscher wurde zum Altar geführt, auf dem die Insignien des Reiches lagen: das Schwert mit dem Gürtel, Mantel und Armspangen, Zepter und Stab – und die Krone. Kleinodien alles, gefertigt von den ersten Künstlern des Landes, gewirkt aus Silber und Gold, besetzt mit edlen Steinen. Man schrieb ihnen übernatürliche Kräfte zu, die sie ihrem Träger verliehen. Das Te deum laudamus erklang: „Dich Gott, loben wir“, man kniete zum Gebet nieder und erflehte den Segen Gottes. Der Erzbischof von Mainz nahm das Schwert, überreichte es Otto und sprach: „Nimm dieses Schwert, vernichte damit alle Feinde des Herrn, die Heiden wie die schlechten Christen, denn kraft der Gewalt Gottes ist Dir die Macht gegeben über das Reich, auf dass der Frieden herrsche in der Christenheit.“[406]
„Schwer ruht das Haupt, das eine Krone drückt“, heißt es bei Shakespeare(1564-1616), einem Dichter, der den Geschlechtern der Sachsen, Salier und Staufer nicht geboren wurde. Ihre Triumphe und Tragödien hätten ihm gleichermaßen die Größe einer Dichtung geliefert, die er in seinem Land bei den Häusern York und Lancaster fand.[407]
Shakespeare starb zehn Tage nach seinem großen spanischen Zeitgenossen Miguel Cervantes (1547-1616), der für Spanien das ist, was Shakespeare für England, und wurde in der Holy Trinity Church beigesetzt. Auf der Steinplatte, die sein Grab markiert, steht die Inschrift:
GOOD FREND FOR JESUS SAKE FOREBEARE;
TO DIGG THE DUST ENCLOSED HEAR.
BLEST BE THE MAN THAT SPARES THES STONES,
AND CURSED BE HE THAT MOVES MY BONES.
O guter Freund, um Jesu Willen grabe nicht
im Staube, der hier eingeschlossen liegt.
Gesegnet sei, wer schonet diese Steine,
verflucht sei, wer bewegt meine Gebeine.
[405] zitiert in Bühler, Johannes: die sächsischen und salischen Kaiser. S. 101
[406] zitiert bei Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 28 f
[407] ebd. S. 30
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Shakespeares ehemaligen Theaterkollegen, veröffentlichten unter dem Titel: „Mr. Shakespeare’s Comedies, Histories and Tragedies“ in einem großformatigen Buch, dem eine Würdigung vorangestellt ist:
Triumph my Britain, thou hast one to show
To whom all scenes of Europe homage owe.
He was not of an age, but for all time! …
Britannien, frohlocke, du nennst ihn dein eigen,
vor dem Europas Bühnen sich verneigen.
Nicht einer Zeit gehört er, sondern allen Zeiten! (Aus Wikipedia)
Am Beispiel dieser beiden Namen ist abzulesen, welche Vielfalt die europäische Kultur und Geistesgeschichte zu bieten hat, sie sollte nicht durch einen gesteuerten Zentralismus eingeebnet und überlagert werden.
Wie schwer eine Krone drückt, bekam König Otto sehr bald zu spüren durch Druck von außen und von innen. Die Glocken begannen bald Sturm zu läuten über dem HRR, das er zu erhalten und zu erneuern trachtete. Da Herrschaft ausschließlich gegründet war auf die Persönlichkeit des Herrschenden, wurde jeder Thronwechsel zu einem Test. Getestet wurde wie stark der „Neue“ war und wie weit man mit ihm gehen konnte. Es hat zu allen Zeiten Parteien gegeben, deren Blütenträume unter dem alten Herrscher nicht gereift waren, und die ihr Heil vom Nachfolger erhofften. So auch hier, es kam zu Intrigen, zu Verschwörungen, zu Landfriedensbruch und zu Aufständen jenseits der Grenze. Als erstes erhoben sich die Böhmen, denen Ottos Vater das Joch hoher Tribute auferlegt hatte. Jetzt erachteten sie die Zeit für gekommen, die Last abzuschütteln, und sie fanden in Bolislav einen Anführer, dem die Aufgabe zufiel. Er rechtfertigte zu Beginn das Vertrauen, das in ihn gesetzt wurde. Das erste Heer, das ihm entgegengesandt wurde, unterlag. Ein zweiter Anlauf zu seiner Überwindung wurde unternommen durch die Merseburger, eine Truppe aus Dieben, Räubern, Wegelagerern, Totschlägern und Mördern, alle für den Galgen bestimmt, denen um den Preis einer Frontbewährung die Freiheit winkte. Gleichzeitig mit den Böhmen empörten sich die Slawen an der Elbe. Hier griff Otto ein in eigener Regie. Er setzte sich an die Spitze seiner Soldaten, war aber klug genug, sie nicht zu führen. Das überließ er erfahrenen Berufssoldaten, die einem Jahrzehnte dauerndem Grenzkrieg ergraut waren, den Gegner und sein Land kannten. Die schwere Kunst, sich selbst zu bescheiden und Aufgaben an den besseren Mann zu delegieren, war in der Geschichte nicht allen Herrschern gegeben, die sich „groß“ nannten oder groß genannt wurden, Otto beherrschte sie in Vollendung. Es gelang in östlicher Richtung gegen slawische Völker, Böhmen und Ungarn sich Erleichterung zu verschaffen, da gab es reichlich Ungemach im Inneren. Sächsische Grafen, die dem Frankenherzog Eberhard dienstverpflichtet waren, verweigerten sich mit der Begründung, der König sei aus dem Volk der Sachsen, und nur ihm fühlten sie sich zur Treue verpflichtet.[408] Eberhard wandte sich gegen Bruning, einem sächsischen Adeligen und Lehnsträger Eberhards, nahm dessen Stadt Heilmern, brannte sie nieder und tötete alle Einwohner. Eberhard war im Recht, hatte aber zum Mittel der Selbstjustiz gegriffen, ohne vorher das Gericht des Königs anzurufen. Er wurde verurteilt, Pferde im Werte von hundert Talenten zu liefern. Pferdebesitz war zur der Zeit ein Zeichen von Macht und Besitz. Eberhards Unterführer mussten eine Strafe hinnehmen, die sie in aller Öffentlichkeit der Verachtung preisgab, sie bestand darin einen toten Hund bis zur Königsstadt Magdeburg zu tragen. Ein geflügeltes Wort erinnert daran, wenn jemand, bildlich gesprochen, „auf den Hund gekommen ist“. Mit dieser Strafe wurden insbesondere die Freien bedacht, wenn sie gegen
[408] fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 30 f
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ihren Lehensherrn unbotmäßig geworden waren, was sie in ihrem gesellschaftlichen Stand herabminderte.[409] Ungemach bereiteten auch die Bayern und die nachkommen ihres Herzogs Arnulf. Widerwillig hatten sie an den Krönungsfeierlichkeiten in Aachen teilgenommen. Karl der Große und König Heinrich I. hatten sie schon mit viel Mühe zur Anerkennung ihrer Herrschaft gebracht. Ein Vorgang, der sich in nahezu regelmäßigen Zeitabständen wiederholen sollte, unabhängig vom Herrschafts-oder Regierungssystem, und der Widerspenstigen Zähmung ist nach mehr als tausend Jahren immer noch nicht abgeschlossen.[410]
Es kehrte keine Ruhe ein, es erhob sich weiterer Widerstand aus einer Richtung, aus der Otto am wenigsten erwartet hatte, es war sein Stiefbruder Thankmar, der sich um die Krone betrogen glaubte, weil er der ältere der drei Brüder war. Spross aus erster Ehe des Vaters, die für nichtig erklärt worden war. Schon mit der Wahl seiner Mittel, um ans Ziel zu gelangen, hatte sich Thankmar in einer Weise vergriffen durch eine Tat der Willkür, die ihn als möglichen Herrscher disqualifizierte. Er überfiel Heinrich den jüngsten Bruder, nahm ihn in Geiselhaft und lieferte ihn an den Mitverschworenen Herzog Eberhard von Franken aus, der ihn auf seiner Eresburg gefangen setzte. Otto hatte sich nur schwer entschließen können, um Härte zu zeigen, denn er hatte gegenüber seinem Stiefbruder ein schlechtes Gewissen. Aber Milde zu zeigen angesichts einer so ruchlosen Tat, für die keine Rechtfertigung gefunden werden konnte, wäre missverstanden worden. Otto zog mit Heeresmacht gegen die Eresburg, wo er einzog, ohne Widerstand zu finden, weil die Besatzung ihm die Tore öffnete. Thankmar, von seinen Anhängern verlassen, gelang es sich in die Kirche zu retten, seine Waffen und die goldene Kette als Zeichen des Thronfolgers legte er auf den Altar, um seine Unterwerfung anzuzeigen.[411] Der heilige Ort galt schon im alten Israel als Schutzzone, die dem Frieden Gottes unterworfen war. Als König David sein Ende nahen sah, und seinen Sohn Salomo zum König und Nachfolger ausrufen ließ, widersetzte sich ein anderer Sohn Adonja und erhob Anspruch auf den Thron. König David bestätigte vor Salomos Mutter Batseba die Nachfolge ihres Sohnes. Adonja wurde von seinen Anhängern verlassen und Furcht überkam ihn. Im 1. Buch der Könige im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift wird darüber berichtet. Im 1. Kapitel in den Versen 50-53 ist zu lesen: (50) Aber Adonja fürchtete sich vor Salomo und machte sich auf, ging hin und fasste die Hörner des Altars. (51) Und es wurde Salomo berichtet: „Sieh Adonja fürchtet den König Salomo und sieh er fasst die Hörner des Altars und sagt: ‚Der König Salomo schwöre mir heute, dass er seinen Knecht nicht töten wird mit dem Schwert.‘“ (52) Salomo sagte: „Wird er redlich sein, so soll kein Haar von ihm zur Erde fallen, wird aber Böses an ihm gefunden, so soll er sterben.“ (53) Und der König Salomo sandte hin und ließ ihn vom Altar herabholen. Und als er kam fiel er vor dem König Salomo nieder. Salomo aber sagte zu ihm: „Geh in dein Haus.“[412] Mit Thankmar verlief es nicht so glimpflich, seine Verfolger brachen den Frieden und ermordeten ihn auf den Stufen des Altars. Otto ist über diese Tat entsetzt, er hat sie nicht befohlen und auch nicht gebilligt. Aber die Täter zu bestrafen, kann er sich nicht entschließen. „Er beklagte seines Bruders Ende“, schreibt Widukind von Corvey, „und zeigte seines Gemütes Größe, indem er Thankmars kriegerischer Tüchtigkeit und seiner Tugenden lobend gedachte.“ Die Strafe traf die vier vornehmsten Anhänger Thankmars, die noch am selben Abend, nachdem sie ihr letztes Gebet gesprochen hatten, hingerichtet wurden.[413]
Eberhard von Franken sah sich in gleicher Weise einer Bedrohung ausgesetzt, ihn konnte als Mitverschworenen das Gericht ebenso treffen. Er fand sich allein gelassen und wollte Frieden mit dem König und sah die Möglichkeit in Heinrich, den er noch in seiner Gewalt hatte.
[409] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S 105
[410] Fischer-Fabian: Die deutschen Cäsaren. S. 32
[411] ebd. S. 32 f
[412] revidierte Übersetzung nach Martin Luther. Wollerau 2009
[413] zitiert in Fischer-Fabian, Siegfried. S. 33
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Kurz entschlossen handelte er, wandte sich an Heinrich, bat flehentlich um Verzeihung, für das Ungemach, das er ihm bereitet hatte, zugleich machte er ihm ein verlockendes Angebot, er werde, so versicherte er ihm, der sich die Sehnsucht nach Krone bewahrt hatte, denn er hielt sich als „Purpurgeborener“ als ihr rechtmäßiger Besitzer, bei günstigerer Gelegenheit den nötigen Rückhalt bieten auf dem Wege zum ersehnten Ziel. Heinrich sollte, so war der Plan, sich bei seinem Bruder Otto für ihn verwenden, um Vergebung zu erlangen. Heinrich, ein Jüngling von siebzehn Jahren, ging ein auf den „Deal“, kehrte nach Quedlinburg zurück und wurde von Otto aufgenommen, wie ein verlorener Sohn, „mit mehr Liebe und Treue, als er selbst mitbrachte.“[414] Durch Heinrichs Fürsprache durfte Eberhard vor dem König erscheinen, wurde aus Gründen der Staatsraison für einige Monate ins Exil geschickt, und dann, nach einem Treueschwur, in seine alten Ämter und Ehren eingesetzt. Bis hierher war der hinterhältige Plan vollständig aufgegangen.
Die Ausführung ließ nicht lange auf sich warten, Heinrich bedrohte nicht nur seinen Bruder Otto, er war ebenso auf einem Wege, die Reichseinheit zu gefährden. Er wünschte dem König eine lange und gesegnete Regierungszeit, während ein wohlerwogener Plan heranreifte, Bündnisfühler ausgestreckt und die Organisation eines Aufstandes betrieben wurde. Er bewog den Herzog Giselbert von Lothringen, Schwager des Königs, zum Abfall vom Reich, Maßnahmen, die den Segenswünschen und Treuebekundungen folgten. Er suchte Unterstützung im westfränkischen Reich und erinnerte Herzog Eberhard an sein gegebenes Versprechen. Otto geriet zunehmend in Bedrängnis und war der Verzweiflung nahe, musste er doch erleben, wie Freunde sich abwandten, selbst engste Familienbande ich gegen ihn erhoben und entgegengebrachtes Vertrauen missbrauchten. Otto wähnte sich in der Gewissheit ein Werkzeug der Gnade Gottes zu sein, und Gott hatte ihn nicht auserwählt, um ihn scheitern zu lassen. Er behielt in Gegebenheiten, die als ausweglos erscheinen mussten, seine königliche Würde, wie es seiner Überzeugung entsprach. Ein Schlüssel, der ihn die Kraft zu überwinden verlieh. Die tiefe Religiosität dieses Königs hat etwas Kindliches und Erschütterndes zugleich an sich. Die himmlischen Heerscharen, die schutzgewährenden Heiligen waren für ihn Mächte, die wirklich existierten, die geradezu verpflichtet waren, ihm zu helfen.[415]
Im Jahre 939 gab Heinrich in Saalfeld ein großes Fest, zu dem zahlreiche Gäste erschienen waren, an die Heinrich großzügig, als sei er schon der König, Gaben verteilte, wodurch er unter ihnen Anhänger gewann. Auf Anraten seiner Mitverschworenen ließ er in Sachsen feste Plätze mit Besatzungen einrichten, und begab sich mit Getreuen nach Lothringen. Die Nachricht rief allenthalben Bestürzung hervor, weil die Vorgänge Krieg bedeuteten. Der König selbst hielt entsprechende Berichte nicht für glaubwürdig, als aber über ihre Richtigkeit keine Zweifel mehr bestehen konnten, folgte Otto mit Heeresmacht seinen Bruder nach. Die Stadt Dortmund beherbergte hinter ihren Festungsmauern eine Besatzung Heinrichs, sie wagte es nicht beim Herannahen Ottos, Widerstand zu leisten, und zog unter ihrem Befehlshaber Hagen aus der Stadt und begab sich in die Hände des Königs. Er erhielt den Auftrag, nachdem er den Treueid geleistet hatte, Heinrich entgegen zu ziehen und ihn umzustimmen. Im Falle der Weigerung sollte Hagen zum König zurückkehren. Heinrich und Giselbert rüsteten sich zum Kampfe und zogen dem König an den Rhein entgegen. Hagen, getreu seinem Schwur, begab sich mit einer kleinen Zahl über den Rhein. Sie standen auf dem linken Rheinufer einer Übermacht Heinrichs gegenüber.[416]
Eine vernichtende Niederlage schien unabwendbar. Da stieg Otto vom Pferd und ließ sich die Heilige Lanze reichen. Diese Lanze war ein Zeichen der Herrschaft und gehörte zu den Reichskleinodien. Was ihr jedoch eine Ausnahmestellung sicherte, war ein goldverzierter Nagel, den sie in einer Aussparung in der Mitte des Lanzenblattes trug. Es war einer der Nägel,
[414] zitiert aus Quellen der Zeit bei fischer-Fabian. S. 33
[415] ebd. S. 34 f
[415] Bühler, Johannes: die sächsischen und salischen Kaiser. S. 106 f
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mit den man in Jerusalem Jesus ans Kreuz geschlagen hatte. Die Menschen der Zeit glaubten fest daran, technische Möglichkeiten, das Alter von Stoffen zu bestimmen, wie es heute möglich ist, gab es zu der Zeit nicht. 386 wurde der Handel mit Reliquien oder sie von dem gesicherten Ort zu entfernen durch Codex Theodosianus untersagt. Dieses Verbot wurde auf dem 4. Laterankonzil 1215 bestätigt und in kanonisches Recht überführt. (Aus Wikipedia) Dennoch kam es im Laufe der Jahrhunderte zu einem inflationären Handel mit Reliquien.
Ein Bericht aus den Quellen der Zeit ist überliefert, wie König Otto die Heilige Lanz in die Erde stieß, den Helm vom Kopf riss, die Arme zum Himmel emporhob und schrie: „Herr, der Du alles geschaffen hat und alles lenkst, siehe herab auf dieses Volk, an dessen Spitze Dein Wille mich gestellt. Rette jetzt vor unseren Feinden, damit alle Welt erfahre, dass es eitel ist, sich gegen das aufzulehnen, was Du gewollt!“ Der Bericht und das Gebet hätte auch aus dem Hebräischen Kanon der Heiligen Schrift über einen der Könige Israels stammen können.
Und ihm wurde geholfen! Dem kleinen Haufen Gewappneter auf dem linken Rheinufer, es heißt, es seien hundert Geharnischte gewesen, denen es durch Kriegslist gelang, die Übermacht zu zersprengen, wobei Heinrich einen Hieb erlitt, an dem er sein Leben lang zu leiden hatte.[417]
Nach der Kunde vom Abfall seiner Städte und durch des Königs Sieg entmutigt, kehrte Heinrich mit nur neun Rittern langsam nach Sachsen zur Stadt Merseburg. Daraufhin kehrte auch der König um und belagerte mit seinem Heere die Stadt, in der sich sein Bruder aufhielt. Nach zwei Monaten ergab sich Heinrich.[418] Er streckte die Waffen, unterwarf sich seinem Bruder und wurde nicht nur in Gnaden aufgenommen, er erhielt sogar durch Giselberts Tod das Herzogtum Lothringen. Was Zeitgenossen und die Nachfahren nach so viel Nachsichtigkeit in Erstaunen versetzte. Heinrich empörte sich erneut, und fand Unterstützung in unzufriedenen Heerführern, die jenseits der Elbe unter harten Umständen ihre Abwehrbereitschaft gegen Angriffe slawischer Völker beweisen mussten. Sie vermissten für den geleisteten Dienst eine entsprechende Anerkennung, und waren so für Heinrichs erneute Umsturzpläne zu gewinnen. 941sollte das Osterfest in Quedlinburg, einer von Ottos Lieblingsresidenzen, begangen werden. Der Plan sah vor, die Gelegenheit zu nutzen, während der in österlicher Stimmung versunkenen Versammlung, König Otto zu ermorden. Dieser Gipfel der Niedertracht nahm jedoch nicht den gewünschten Verlauf, weil ein Mitverschwörer Verrat übte. Otto wurde bedrängt, die Feierlichkeiten abzusagen, zu einem solchen Schritt aber war der König nicht bereit. Es wäre ein Eingeständnis von Furcht und Feigheit gewesen, unvereinbar mit der königlichen Würde. Am vorgesehenen Ablauf der Festlichkeiten wurde nichts geändert, nur die Zahl der Leibwächter wurde verdoppelt. Die Täter waren gewarnt, der Mordplan wurde fallen gelassen. Dafür wurde ein blutiges öffentliches Strafgericht in Magdeburg abgehalten. Otto verfuhr hier nach dem zu allen Zeiten geübten Grundsatz, die Kleinen hängen, die Großen schonen. Die wirklich Schuldigen wurden mit Verbannung und Einziehung der Besitztümer auf Zeit bestraft. Der Bruder, der den Bruder ermorden wollte, kam nach Ingelheim in Untersuchungshaft, bis ein Ehrengericht der Herzöge über ihn entschieden hatte. Heinrich entkam mit Hilfe eines bestechlichen Priesters und entfloh, aber nicht um erneut einen Aufstand zu entfachen. Zum Weihnachtsfest 941 im Frankfurter Dom erschien Heinrich als Büßer. Die „Frankfurter Weihnacht“ hat noch nach tausend Jahren ihren Widerhall gefunden in Werken der Maler und Dichter. Besonders beeindruckend aber ist der in Versform gehaltene Bericht der Zeitzeugin Roswitha von Gandersheim (935-1002). Roswitha lebte als Nonne in einem Kloster zwischen Harz und Leine im niedersächsischen Bergland gelegenen Reichsstift, dessen Äbtissin, Gerberga, eine Nichte Ottos war. Roswitha von Gandersheim war daher stets gut informiert über Affären am Hofe der Ottonen. In ihrer „Gesta Oddonis Caesaris Augusti besang sie die Taten Ottos, dem neuen Cäsar Augustus, die sie ihm eigenhändig überreichen durfte. Albrecht Dürer (1471-1528) hat die Szene in einem Holzschnitt festgehalten, wie Roswitha auf den
[417] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren: S. 35
[418] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 108
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Knien Otto die von ihr verfasste Geschichte dem sitzenden Otto überreicht, neben ihm sitzend die Äbtissin Gerberga. (aus Wikipedia) Roswitha hat die Ereignisse der „Frankfurter Weihnacht“ herzbewegend in Hexametern festgehalten. Bei der Wiedergabe in deutscher Sprache handelt es sich um eine Übersetzung, denn Roswitha hat ihr umfangreiches literarisches Werk in lateinischer Sprache verfasst,[419] was auf einem beachtlichen Fundus an klassischer Bildung schließen lässt.
Hier ein Ausschnitt zu den Ereignissen in der „Frankfurter Weihnacht:“
Unter den heiligen Gesängen der hochehrwürdigen Weihnacht
Nackten Fußes betretend die heilige Schwelle des Domes
Scheut er sich nicht vor grimmigen Frost beim toben des Winters,
Sondern er warf sich nieder am heiligen Altar mit dem Antlitz,
Fest anschmiegend den adeligen Leib der gefrorenen Erde.
So mit der ganzen Gewalt des schmerzlich bewegten Gemütes
Flehte der Herzog darum, der Verzeihung Geschenk zu gewinnen.
Als es der König vernommen, besiegte die Liebe die Strenge,
und des nahenden Festes, das alle verehren, gedenkend,
bei dem Frieden der Welt verkünden die Himmelsbewohner,
ihres Königs froh von zarter Jungfrau geboren,
dass er liebend löse die Welt schon reif zum Verderben,
solchem Tage mithin, dem Bringer des Friedens zur Ehre,
fühlt er Erbarmen, gerührt vom Schuldbekenntnis des Bruders,
und gönnt liebend ihm wieder Besitz von seiner Geneigtheit
Nebst dem ersehnten Geschenk von seiner vollen Vergebung.[420]
Von Zerknirschung und Reue konnte nach diesem Vorfall keine Rede sein. Heinrich hatte eingesehen, dass er seinen Ehrgeiz nur mit seinem Bruder zufrieden stellen konnte, nicht gegen ihn. Seine Demütigung war ein politischer Schachzug. Ottos Rechnung ging scheinbar auf. „Nicht wie ein Bruder trat er auf von nun an“, schreibt Roswitha über Heinrich, „sondern wie ein Sklave suchte er Ottos Befehle zu erfüllen.“ Aus Trotz wurde Beflissenheit, aus Empörung bedingungslose Unterwerfung, und es galt die freigewordene Stelle des Herzogs von Bayern neu zu besetzen, und Heinrich erwies sich als geeigneter Kandidat. Gegen seinen König hat er nicht mehr integriert, dafür gegen des Königs Sohn Liudolf, den Liebling des Vaters. Eine Intrige, die Schuld war, das Land wieder in einen Krieg zu stürzen, der Söhne gegen den Vater.[421]
Bevor sich Roswitha dem Leben Ottos zuwandte, verfasste sie in Hexametern gehaltene Werke, die das Frömmigkeitsideal betonen, beginnend mit Maria der Mutter Jesu und weiteren Heiligen und Märtyrerinnen. In Abgrenzung dazu verfasste sie ein Dramenbuch, für das der römische Lustspieldichter Publius Terenz (195-159 v. Chr.) das Vorbild abgab in formaler, nicht in sittlicher Hinsicht. An Stelle schlüpfriger Liebesgeschichten trat die Darstellung keuscher und frommer Jungfrauen. Um den nötigen Kontrast zu erzielen zwischen Tugend und Verderbtheit und die Standhaftigkeit christlicher Frauen und Männer ins Licht zu setzen, bevölkerte sie die Szene mit Huren, Kupplerinnen, Sadisten und Masochisten. In ihrem Drama Sapientia werden die Heldinnen entjungfert, ausgepeitscht, schließlich schneidet man ihnen die Brüste ab, aus denen reine Milch nicht Blut fließt.[422]
[419] Fischer-Fabian, Siegfried: S. 37 f
[420] zitiert in Bühler, Johannes: S. 112
[421] Fischer-Fabian, Siefried: S. 38
[422] ebd. S. 37 f
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Die frühesten Zeugnisse epischer Dichtung in Hexametern (Sechsmaß) finden sich bei Homer in der Ilias und Odyssee (800 v. Chr.). Diese Literaturgattung war bestimmend für Roswithas literarisches Schaffen.
Roswitha, die in ihrer Zeit die Bezeichnung „helltönende Stimme aus Gandersheim“ gefunden hatte, ist als Frau eine herausragende Erscheinung in der Literaturgeschichte, und der Nachhall war daher beträchtlich, kann sie doch gleichgestellt werden mit männlichen Geistesgrößen durch die Kultur-und Geistesgeschichte über alle Zeiten hinweg. Im 15. Jahrhundert erhoben sich Stimmen, die sie als Verfasserin überhaupt in Frage stellten, bis hin zum Vorwurf der Fälschung. Ein Schicksal, das sie mit Homer und Shakespeare teilt, denn auch bei diesen beiden ist angezweifelt worden, ob ein Individuum fähig sein könnte, ein literarisches Werk solchen Ausmaßes zu schaffen. Für Roswitha tritt noch ein anderes hinzu: Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte, das eine Frau des Lateinischen in einer Weise mächtig war, die sie ebenbürtig erscheinen ließ neben den Großen der antiken Geisteswelt. Sie ist und bleibt als Frau eine große Ausnahmeerscheinung.
Vollends im 19. Und noch mehr im 20. Jahrhundert diente sie als Instrumentarium, um sie stilgerecht als Vorkämpferin für die Gleichberechtigung der Frau und Frauenrechte erscheinen zu lassen. Das „finstere“ Mittelalter hat Frauenpersönlichkeiten hervorgebracht wie selten davor und danach, die Spuren hinterlassen haben über ihre Zeit hinweg und entsprechende Würdigung verdienen: Adelheid von Burgund (931-999), Matilde von Quedlinburg (955-999), Theophano (960-991) und Hildegard von Bingen (1088-1179). Alle diese Frauen entstammten dem herrschenden Adel, und sie hätten sich nicht hergegeben zu einem Kampf für gesellschaftliche Veränderungen. Sie hätten dazu genauso wenig Verständnis aufgebracht wie die britische Königin Victoria (1837-1901), die kein Verständnis hatte für das Aufbegehren der Frauen, das sich zu ihrer Zeit abzeichnete. Die Geschichte Großbritanniens kann mit einer Besonderheit aufwarten, seine Geschichte hat zwei Frauen als Herrscherpersönlichkeiten hervorgebracht, die einer ganzen Epoche den Namen gaben, das Elisabethanische Zeitalter für die Herrschaft Königin Elisabeth I. (1558-1603) und das Victorianische Zeitalter, benannt nach Königin Victoria. Schon für das Zeitalter der Ottonen und sächsischen Kaiser (936-1024) spricht die Geschichtsschreibung im 19. Und noch mehr im 20. Jahrhundert von Deutschland und Frankreich, von Germanen und Slawen, um so ethnische und nationale Gegensätze herauszuarbeiten. Solche Denkkategorien waren in dem zu betrachtenden Zeitraum fremd. Es ist nicht ohne Risiko für den Historiker, Analogien von einer Geschichtsepoche auf die andere zu übertragen. Nationalstaatliches Denken passt nicht in die Zeit des HRR und kann auch nicht passend gemacht werden. Das gilt noch viel mehr für den von den Nationalsozialisten entfachten Germanenkult. Die Zeit des HRR blieb zur Zeit der NS-Herrschaft unerwähnt, und nicht nur das, die Zeit wurde mit betonter Nichtachtung übergangen bis hin zu der Feststellung, diese Zeit sei für Deutschland eine verlorene Zeit gewesen. NS-Ideologie und HRR sind unüberbrückbare Gegensatze. In den Kämpfen, die das HRR zu bestehen hatte, ging es nicht um Germanen oder um Deutschland als Nation. Die Germanenvölker, die auf den verschiedenen Gebieten des weströmischen Reiches ihrer Herrschaft errichteten, haben zu keiner Zeit eine ethnisch begründete Gewaltherrschaft angestrebt. Aus ihren Herrschaftsgebieten, die identisch sind mit dem heutigen Staatsgebiet Britanniens, Frankreichs, Italiens, Spaniens und später den Niederlanden, entstanden Staaten mit unverwechselbarer Identität, eigener Kultur und Sprache und somit gänzlich eigenständiger Entwicklung, mit nur einem verbindenden Grundgedanken: dem christlichen Glauben, der allerdings besonders nach der Zeit der Reformation, eher auseinander strebende, statt verbindende Kraft hervorbrachte, und daher zu schwach war, einen starken Zusammenhalt zu schaffen.
Eine Erneuerung des Staatsgedankens, der prägend gewesen war für das HRR, kam auf dem Wiener Kongress, wo 1814/15 nach der Niederringung Napoleons I. die Neuordnung Europas ausgehandelt wurde, nicht in Betracht, obwohl der Untergang des HRR, das formal bis 1806 bestanden hatte, noch keine zehn Jahre zurücklag. An seine Stelle trat die „Heilige Allianz“,
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gestützt auf den dynastischen Frieden des Wiener Kongresses. Bereits 1814 hatte der britischen Außenminister Viscount Castlereagh für ein regelmäßiges Treffen der fünf europäischen Großmächte (Pentarchie) geworben, was zusammen mit der Anregung des russischen Zaren Alexander I. (1777-1825), der bereits1804 erste Vorstöße in London unternommen hatte, zur Gründung der Heiligen Allianz führte. Alexander I. war es auch, der den Vertrag entwarf. Das Bündnis kam zustande, obwohl die drei Monarchen unterschiedlichen christlichen Konfessionen angehörten: Der russische Zar war orthodox, Kaiser Franz I. (1768-1835) von Österreich römisch-katholisch und König Friedrich Wilhelm III. (1797-1840) von Preußen evangelisch. Der Gründungsakt durch die drei genannten Monarchen geschah im September 1815 in Paris, 1818 schloss sich Frankreich der Allianz an, der sich mit Ausnahme des britischen Königs Georg III. (1738-1820), für den sein Sohn, später Georg IV. (1820-1830), die Regentschaft führte und des Papstes alle europäischen Monarchen anschlossen.
Gründungserklärung der Heiligen Allianz vom 26. September 1815:
„Im Namen der heiligen und unteilbaren Dreieinigkeit! Ihre Majestäten, der Kaiser von Österreich, der König von Preußen und der Zar von Russland haben infolge der großen Ereignisse, die Europa in den letzten drei Jahren erfüllt haben, und besonders der Wohltaten, die die göttliche Vorsehung über die Staaten ausgegossen hat, deren Regierungen ihr Vertrauen und ihre Hoffnungen auf sie allein gesetzt haben, die innere Überzeugung gewonnen, dass es notwendig ist, ihre gegenseitigen Beziehungen auf die erhabenen Wahrheiten zu begründen, die die unvergängliche Religion des göttlichen Erlösers lehrt. Sie erklären daher feierlich, dass die gegenwärtige Vereinbarung lediglich den Zweck hat, vor aller Welt ihren unerschütterlichen Entschluss zu bekunden, als die Richtschnur ihres Verhaltens in der inneren Verwaltung ihrer Staaten sowohl als durch in den politischen Beziehungen zu jeder anderen Regierung alleine die Gebote der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens, die, weit entfernt, nur auf das Privatleben anwendbar zu sein, erst recht die Entschließung der Fürsten direkt beeinflussen und alle ihre Schritte lenken sollen, damit sie so den menschlichen Einrichtungen Dauer verleihen und ihren Unvollkommenheiten abhelfen.“
In dieser Gründungserklärung finden die kraftvoll ausgeführten Kernaussagen des Evangeliums von Jesus Christus keinen Niederschlag, darum wurden auch die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen und Reformen den Gegnern des Evangeliums überlassen.
Von Roswitha von Gandersheim ausgehend, lässt sich im 19. Jahrhundert eine Dichterin, Schriftstellerin und Komponistin ausmachen: Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848). Sie ist vergleichbar mit Roswitha, steht auch sie im Rahmen der Zeit als Frau ebenfalls eine Ausnahmeerscheinung dar. Die Novelle „Die Judenbuche“ und die Ballade „Der Knabe im Moor“ geben einen tiefen Einblick in das Wesen ihres Schaffens, geprägt von ebenso tiefer Religiosität. Sie entstammte Adelskreisen, wie überhaupt die Kultur und Geistesgeschichte in Deutschland mit ihren Höhepunkten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur durch die Stütze des herrschenden Adels eine so herausragende Stellung einnehmen konnte. Dieser Epoche, die Deutschland den Ruf einbrachte, das Volk der Dichter und Denker zu sein, ist nach dem Zweiten Weltkrieg das Zeugnis zuteil geworden, sie habe zu wenig revolutionären Geist aufzuweisen und habe daher dem obrigkeitsstaatlichen Denken Vorschub geleistet. Diese Einschätzung hält der historischen Wirklichkeit nicht stand, nur nimmt diese Geisteswelt Abstand von revolutionären Exzessen. In der britischen Geschichte ist es gelungen ausgleichend zu wirken nach innen wie nach außen, weshalb ihr die Verwerfungen, die den Kontinent erschütterten, erspart blieb, darum ist die Geschichte Britanniens um vieles glücklicher verlaufen. Von Goethe ist sinngemäß das Zitat überliefert: Die Geschichte sei im Grunde ein Kampf zwischen Glauben und Unglauben. Diese Aussage
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kann im übertragenen Sinne angewandt werden mit der Feststellung: Die Geschichte ist im Grunde ein Kampf zwischen Republik und Monarchie. In Britanniens Geschichte ist es gelungen, die Gegensätze aufzuheben, ganz im besten Sinne der Philosophie Hegels.
Schon unter Karl dem Großen gestalteten sich enge Beziehungen zur angelsächsischen Welt, die unter Otto dem Großen ihre Fortsetzung fanden 929 durch seine Heirat mit Edith, der Tochter eines angelsächsischen Königs Aethelstan. Die Angelsachsen waren die Vettern der Sachsen, sie hatten den Kontinent während der Völkerwanderung verlassen, der Kontakt mit ihnen war jedoch nie abgerissen, und eheliche Verbindungen bedeuteten einflussreiche Verschwägerungen in ganz Europa.[423] Mehr als tausend Jahre später hieß es von Königin Victoria, sie sei die Großmutter Europas.
Das Jahr 946 wurde durch ein Unglück, welches das ganze Sachsenvolk betraf, denkwürdig. Es starb nämlich die Königin Edith, seligen Andenkens. Ihren Sterbetag, den 26. Januar, begingen die Sachsen mit Seufzern und Tränen. Sie entstammte dem Volke der Angeln und war durch ihre große Frömmigkeit wie durch ihre hohe königliche Abstammung gleich berühmt. Zehn Jahre teilte sie mit dem König den Thron, im elften starb sie, nachdem sie neunzehn Jahre in Sachsen gelebt hatte. Sie hinterließ einen Sohn, Ludolf, den dazumal kein Mensch an körperlichen und geistigen Fähigkeiten übertraf, und eine Tochter, Luitgard, welche den Herzog Konrad von Lothringen heiratete. Die Königin wurde zu Magdeburg in der neuen Kirche begraben.[424]
Das überschwängliche Lob, das dem Lieblingssohn Ludolf (Liudolf) in diesem zeitgenössischen Bericht zu Teil wird, sollte bald bitterer Trauer und Enttäuschung weichen, doch bis es dahin kam, sollten noch andere Ereignisse von bedrohlichem Ausmaß stattfinden.
Hierzu ein zeitgenössischer Bericht über Kämpfe im Grenzgebiet mit verschiedenen slawischen Völkerschaften: In Folge unserer inneren Unruhen wurden die Slawen übermütig, sengten, mordeten und plünderten und suchten Gero, den der König über sie gesetzt hatte, tückisch zu beseitigen. Doch der kam ihrer List mit einer Gegenlist zuvor und ließ bei einem großen Festgelage in einer Nacht an die dreißig sinnlos betrunkene Barbarenhäuptlinge erschlagen. Da sich Gero allein gegen die zahlreichen Stämme nicht halten konnte – auch die Abodriten empörten sich damals und rieben eins unserer Heere auf –, so führte der König des Öfteren ein Aufgebot gegen sie, schädigte sie empfindlich, bedrückte sie schwer und bedrohte sie mit völliger Vernichtung. Trotzdem war ihnen der Krieg immer lieber als der Frieden, für die leidenschaftlich geliebte Freiheit achteten sie alles Elend für nichts. Dieser Menschenschlag ist hart, erträgt jede Not, ist an ganz kärgliche Nahrung gewöhnt, und worüber die Unseren als erdrückende Beschwerde stöhnen, das macht den Slawen noch eine Art Vergnügen. So verging Tag um Tag, Sieg folgte auf Niederlage und Niederlage auf Sieg: Hier ging es um Ruhm um das große weite Reich, dort um Freiheit oder tiefste Knechtschaft. Der Sachse war dazumal von zahlreichen Feinden umringt: von Slawen im Osten, den Franken im Süden, den Lothringern im Westen, den Dänen und weiteren Slawenvölkern im Norden. Das war auch der Grund, weshalb sich der Kampf mit den Slawen so in die Länge zog.[425] Deutsche oder Germanen im Gegensatz zu Slawen sind in diesem Bericht nicht zu finden, es ging eben nicht um ethnische oder nationale Gegensätze. Im Vordergrund stand der Kampf Heiden gegen Christen. Bezeichnend ist auch, wenn von Barbaren gesprochen wird. Dieser Begriff war offenbar aus der Antike herübergerettet worden, die Griechen und Römer benutzten ihn, um damit
[423] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 21
[424] Bühler, Johannes: die sächsischen und salischen Kaiser: S. 115 f
[425] ebd. S. 109
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die Überlegenheit ihrer geistigen und kulturellen Errungenschaften hervorzuheben als Abgrenzung gegen die sie umgebenden Völker, die als rückständig, unfähig und unzivilisiert angesehen wurden. Völkische und religiöse Zugehörigkeit waren hierbei zweitrangig.
Nicht nur in östliche Richtung bewegten sich Ottos Heere. 946 sah er sich veranlasst ins Westfrankenreich einzudringen, um in die dort ausgebrochenen Kämpfe zwischen den Adelsgeschlechtern ein zugreifen. Seit 936 herrschte, von Hugo dem Großen (898-956) auf den Thron erhoben, der Sohn Karls des Einfältigen (879-929), Ludwig IV: (920-954), in Westfranken (Frankreich), der noch dem Geschlecht der Karolinger angehörte, und sich von Hugo, dem eigentlichen Machthaber befreien wollte, ein Machtkampf wie zuvor zwischen den Merowingern und Karolingern. Beide waren mit Otto I. verschwägert und suchen seinen Beistand, dem so eine Rolle als Schiedsrichter und Vermittler zukam.[426] Der Sohn Hugos, Hugo Capet (941-996), wurde der Begründer einer neuen Dynastie und eines Dynastiewechsels von den Karolingern zu den Kapetingern. Die Kapetinger sind heute das älteste noch auf den Mannesstamm zurückgehende Herrschergeschlecht des europäischen Hochadels, und damit die älteste noch blühende Familie Europas, vertreten durch die Häuser Bourbon, Orléans und Braganz. Im Verlauf einer über tausendjährigen Geschichte stellte es neben den Königen Frankreichs eine große Anzahl von Monarchen bereits erloschener und noch bestehender Monarchien. Aktuell regierende Monarchen, die auf die Kapetinger zurückgeführt werden können, sind König Philipp IV. von Spanien und Großherzog Henri von Luxemburg. (aus Wikipedia)
Otto versammelte seine Heeresmacht bei Cambrai im äußersten Nordwesten des heutigen Frankreich gelegen. Hugo ließ Ludwig, gewarnt durch den Anmarsch Ottos, freie Hand, der ritt Otto entgegen und schloss sich ihm an. König Otto zog mit seinem Heer gegen das westwärts gelegene Laon und von dort nach Paris, um Hugo zu belagern. Ein Angriff auf Reims führte zur Absetzung des amtierenden Bischofs, der durch einen anderen; Ludwig gewogenen, ersetzt wurde. Eine Anzahl seiner Krieger wurde nach Rouen, eine Stadt in Küstennähe des Atlantiks gelegen, entsandt. In dieser Stadt hatten dänische Wikinger ihre Herrschaft errichtet, eine Belagerung erwies sich als undurchführbar. Nach drei Monaten führte Otto sein Heer zurück nach Sachsen. Die zuvor eingenommenen Gebiete und Städte wurden in die Hände Ludwigs gegeben. Im darauf folgenden Jahr verständigten sich Otto und Hugo und regelten die offen gebliebenen Fragen vertraglich.[427]
Ottos nächstes Unternehmen von wirklich historischem Ausmaß startete 951. Es war seine erste Italienreise, die mit einem wahren, filmreifen Abenteuer in Zusammenhang stand. In dem Jahr kam es in Como am Comer See zu einem skandalträchtigen politischen Zwischenfall, der im Nu in aller Munde war. Rompilger trugen die Neuigkeit auf ihrem Heimweg über die Alpen in das Reich Ottos. Die Einzelheiten der Berichte erregten die Gemüter und schufen ein Klima des Zornes und des Mitleids. Die Heldin des dramatischen Geschehens war eine Frau, was die Gemütsbewegungen zusätzlich steigerte. Eine Frau von Jugend und Schönheit, von hohem Adel, und darüber hinaus knüpften verwandtschaftliche Bande sie an das regierende Geschlecht des Sachsenkönigs, was die Brisanz des Falles weiter steigerte. Besonders ins Blickfeld geriet ein „welsches Pärchen“, mit Namen Berengar und Willa, was sich leicht zu einem verallgemeinerten Urteil ausweitete über eine bestimmte südländische Mentalität. In Italien herrschten seit Erlöschen der karolingischen, dynastischen Linie friedlose Zustände, die Zerstörung und Unsicherheit nach sich zogen. Unterschiedliche Fürstengeschlechter beanspruchten den Thron als König von Italien, und jeder war überzeugt, der von Gott berufene zu sein.
[426] Bühler, Johannes: die sächsischen und salischen Kaiser. S. 410
[427] ebd. S. 116 f
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Beteiligt waren fränkische, langobardische und italienische Geschlechter. Sie scheuten selbst ein Bündnis mit Sarazenen und Ungarn nicht, die immer wieder marodierend durchs Land zogen, um ans Ziel, die Königswürde über Italien, zu gelangen. Lothar, Sohn Hugos I. (887-947), König von Reichsitalien von 926-946, konnte sich in dem Streit gegen seine Gegner behaupten und die Krone Italiens für sich erringen. Gute Beziehungen zu den Schlüsselmächten der Zeit: Byzanz, dem päpstlichen Rom, Burgund und dem Hof Ottos halfen seine Herrschaft zu festigen. Ein ernst zu nehmender Mitbewerber war Markgraf Berengar gewesen, er zeigte wenig Bereitschaft, sich mit dem Ergebnis abzufinden. Da starb König Lothar 950 nach zwei Regierungsjahren. Markgraf Berengar trat die Nachfolge an und ließ sich unvermittelt zum König von Italien krönen. Lothar hatte eine Witwe hinterlassen, Adelheid von Burgund, die über großen Rückhalt verfügte, der ihr bescheinigte, nur ein von ihr erwählter Gatte könne König von Italien sein. Berengar wollte es soweit nicht kommen lassen, Adelheid wurde ausgeraubt, misshandelt und in ein Burgverließ geworfen. Fluchtmöglichkeiten von einem einsam gelegenen Bergschloss ergaben sich nicht. Ein Pater und eine Dienerin wurden ihr gelassen, neben der Möglichkeit, das Verließ in Zeitabständen zu verlassen, um sich auf einem Söller Erholung zu verschaffen. Die Zeit wurde genutzt, um die Umgebung auszuforschen nach einer Möglichkeit zu entkommen. Ein Burgbediensteter formt aus gehackten Holzscheiten Buchstaben, die das Wort GRABET ergeben. Die Gefangenen machen sich ans Werk und beginnen eine mühsame Wochen andauernde Auflockerung des im Verließ festgestampften Lehmbodens, bis sie an eine grottenähnliche Vertiefung gelangen, die in einen Gang mündet, der einmal als geheime Fluchtmöglichkeit gedacht war. Es beginnt eine mit Gefahren verbundene Flucht durch Wälder, Kornfelder und Sümpfen. Der Pater war vorausgeeilt, um die geglückte Flucht bei Personen des Vertrauens zu melden. Odilo, Abt des Klosters Cluny, von wo eine weit beachtete Reformbewegung ausgegangen war, hat sich dazu geäußert, ganz im Stile einer von Cluny ausgegangenen Frömmigkeit: „Gott wollte sie durch viele Schläge züchtigen, auf das nicht strafbare Fleischeslust das noch jugendliche Weib durchglühe und sie als Witwe lebendig in Lüsten erstürbe.“[428] Diese bis in Einzelheiten gehende Schilderung wahrhaft dramatischer Ereignisse, steht im Gegensatz zur vielfach in der Geschichtsschreibung vereinfachten Darstellung, sie habe ihre Freiheit dem Eingreifen König Ottos zu verdanken, als Otto sie traf und sich mit ihr verband, war sie schon in Freiheit, wenn auch einer gefährdeten Freiheit. Der Abt Odilo war Adelheit schon zu Lebzeiten ein vertrauter Freund, fühlte sich berufen, ihr Andenken zu verherrlichen und, um die Erinnerung wachzuhalten, ihr eine Gedächtnisschrift zu widmen, die bis heute die Grundlage aller biographischen Versuche über die Kaiserin Adelheit geblieben ist.[429] Mutter der Herrschenden wurde Adelheid von Gerbert von Aurillac (946-1003) genannt, womit er das Höchste an Achtung und Ehrerbietung zum Ausdruck bringen wollte für die Frau, der Mutter wie der Herrscherin Adelheid, die ein halbes Jahrhundert zuerst als Gemahlin König Ottos I., dann als Kaiserin und später als Mutter zweier Imperatoren, Ottos II. (973-983) und Großmutter Ottos III. (983-1002) die Geschicke des Reiches entscheidend mitgestaltete.[430] Dem Urteil Gerberts von Aurillac kommt besondere Bedeutung zu, weil der Lebenslauf dieses Mönches in dem Umfeld der Zeit etwas Außergewöhnliches darstellt. Am Beginn seines Lebens, beheimatet in Aquitanien, im Südwesten des heutigen Frankreich gelegen, entstammte einfachen ärmlichen Verhältnissen, was ihn abhob von den Bischöfen und Päpsten seiner Zeit, die zumeist dem Hochadel angehörten. Von kleinen Anfängen, die mit der Aufnahme in einem Kloster begannen. Er wurde als Mönch geweiht, was nicht selbstverständlich war, denn er galt aufgrund seiner Herkunft
[428] zitiert bei Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 40
[429] Aus der Festschrift zur Jahrtausendfeier der Kaiserkrönung Ottos des Großen. Zweiter Teil. Die Lebensbeschreibung der Kaiserin Adelheit von Abt Odilio von Cluny. Bearbeitet von Herbert Paulhart. Graz/Köln 1962.
S. 7
[430] ebd. S. 7
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als Laienbruder. 967 fiel der junge Mönch dem spanischen Adeligen Borrel II. auf, der im Kloster zu Besuch war, ihn mitnahm nach Spanien, und dort zu mathematischen Studien bewegte. Er hielt sich zwei Jahre in Spanien auf, und studierte in der christlichen Stadt Barcelona Naturwissenschaften. Er wurde auch bekannt gemacht mit dem arabischen Zahlensystem, allerdings noch ohne die Null, ein System, das eigentlich durch arabische Vermittlung von Indien übernommen worden war. Mit diesen Studien wurde ihm die Möglichkeit eröffnet, einen Wissensstand zu erreichen, der im christlichen Resteuropa ungewöhnlich hoch war. 969 begleitete er Borrell II. auf eine Pilgerreise nach Rom, dort traf er Papst Johannes XIII. (Papst von 965-972) und Kaiser Otto I. Auf Anraten des Papstes wurde Gerbert als Tutor für den jungen Sohn, später Otto II. eingesetzt, von hier aus wurde er nach Reims entsandt, wo er seine Studien vervollständigte. Aus dieser Zeit sind Briefe erhalten, in denen Gerbert die Wichtigkeit mathematischer Studien hervorhob. 982 wurde er durch die Fürsprache Otto II., seinem ehemaligen Schüler, zum Abt von Bobbio in Italien ernannt, was aber bei den Mönchen auf Widerstand stieß und ihn daher bewog nach Reims zurückzukehren, wo er die Stelle eines Sekretärs des Erzbischofs übernahm und nach dessen Tode das Amt des Erzbischofs. Ab dem Jahr 997 war Gerbert Lehrer und politischer Berater des jungen Kaisers Otto III, der ihn 998 zum Erzbischof von Ravenna erhob, und aus dieser Position heraus 999 als Sylvester II. zum Papst. Eine Erhebung des römischen Adels zwang ihn 1001 Rom zu verlassen, wohin er kurz vor seinem Tode 1003 zurückkehrte. (Aus Wikipedia)
Das burgundische Königshaus förderte seit jeher die Cluniazenser durch Stiftungen und der Errichtung von Klöstern. Die angesehenen Reformmönche von Cluny drängten zur Ausbreitung ihrer Reformvorstellungen in die Welt. Sie pilgerten nach Rom, um sich als Mitarbeiter des Papstes zu betätigen, oder zogen durch die westfränkischen (französischen), später sächsischen Lande, um neue Richtlinien mit den Weltgeistlichen zu erörtern. Sie wollten vor allem in der Seelsorge praktisch tätig sein. Das heute wieder umstrittene Thema völliger Ehelosigkeit der Geistlichen vertraten sie ohne Einschränkung (s. o. Seite 72). Ihr Einsatz galt auch der Erhaltung des Landfriedens, in einer Zeit häufiger Fehden unter den Adelsherrschern. Adelheid verteidigte Cluniazenser-Kongregation, damit sie dem Papst direkt unterstellt blieb, ohne dass Diözesanbischöfe eingreifen durften.[431]
Als Otto nach Italien kam, war er seit fünf Jahren Witwer gewesen. Der Witwer Otto und die Witwe Adelheid trafen sich zum ersten Mal in Pavia, der Hauptstadt Reichsitaliens, des italienischen Königreiches. Adelheid hatte zuvor auf die ihr zugewiesene Burg Canossa Zuflucht gefunden, auf derselben Burg, auf der später Kaiser Heinrich IV. 1077 von Papst Gregor VII. die Loslösung vom Kirchenbann erflehte. Hier hatte sie ihre Gesundheit wiedererlangt und durch die darauf erfolgte Verbindung mit Otto eine Freiheit in Sicherheit. Aus der geschundenen Gefangenen wurde die Frau des mächtigsten Mannes im weströmischen Reich. Der ans märchenhafte grenzende Wiederaufstieg dieser Frau hat ihren Niederschlag gefunden, gleichsam die Helena der italienischen Volkssage. In Magdeburg wurde eigens eine Otto-Adelheit-Münze geprägt, heute für Münzsammler eine gesuchte Rarität.[432] Die höchste Würde erlangte sie 1097 durch die Heiligsprechung.
Otto war mit einem schlagkräftigen Heer nach Italien gekommen, das Bewunderung hervorrief, zusammen mit einem repräsentativen Gefolge weltlicher und geistlicher Fürsten, was Erstaunen auslöste. Otto wurde von der Bevölkerung stürmisch begrüßt, er hatte Hoffnungen geweckt auf bessere Zeiten. So wurde in Pavia Ende 951 die Hochzeit der zwanzigjährigen Adelheid mit dem neununddreißigjährigen Otto gefeiert. Otto hatte zwar Adelheid die Freiheit gebracht,
[431] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser. S. 46 f
[432] Fischer-Fabian, Siegfried: die deutschen Cäsaren. S. 41
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durch den Schutz, den er gewährte, aber er verdankte ihr auch die Stellung als König von Italien als Witwe eines Mannes, der zu Lebzeiten König von Italien gewesen war. Die anfängliche Vernunftehe mündete bald in eine sehr erfüllte Verbindung. Es kam zu einer zweiten Krönungsfeier, bei der die Stadt Pavia zum militärischen Zentrum der Lombardei und zur Residenz des Sachsenkönigs erhoben wurde. Otto hatte damit auch einen zweiten Herrschertitel erworben als König der Langobarden. Er nannte sich Rex Langobardorum et Francorum, König der Langobarden und Franken, wie sein Vorbild Karl der Große.[433]
Das Eheglück wurde aber allzu bald ungewöhnlichen Belastungen ausgesetzt, die nicht im persönlichen Bereich Adelheids und Ottos zu suchen waren. Was die Hochzeitsfreuden trübte war die kühle Absage, die ihnen aus Rom entgegengebracht wurde. Der Papst war nicht frei in seinen Entscheidungen, er stand unter Druck und Einfluss römischer Senatoren und des Adels, die sich nicht Otto als Kaiser vorstellen konnten und ihre Abneigung offen kundtaten. Darüber hatten zuvor Verhandlungen stattgefunden, und die Delegation Ottos war von Friedrich, dem Erzbischof von Mainz, geleitet worden. Nachdem das Scheitern der Verhandlungen offenkundig geworden war, fiel Friedrich bei Otto in Ungnade, womit ihm ein weiterer Gegner erwachsen war. Friedrich war nie ein Freund der Krone gewesen. Er kehrte zurück ins thüringische Saalfeld, wo er andere Unzufriedene und zu kurz gekommene um sich versammelte, darunter der Prominenteste des Königs geliebter Sohn Liudolf, der sich zurückgesetzt glaubte. Seitdem sein Vater wieder geheiratet hatte, befürchtete er von der Thronfolge ausgeschlossen zu werden, wenn seine Stiefmutter Adelheid einen Sohn zur Welt brächte. Sein Onkel Heinrich, des Königs Bruder, der zwar keinen gewaltsamen Aufruhr entfachen wollte, nahm diesmal zum Mittel der Intrige seine Zuflucht und machte in Pavia diskrete Andeutungen gegenüber seinem Neffen Liudolf, der in engster Verwandtschaft einen anderen Enttäuschten, seinen Schwager, des Königs Schwiegersohn, Konrad, Herzog von Lothringen wegen seines roten Haarwuchses Konrad der Rote genannt. Den Aufstand, den beide entfachten, brachte Verwüstung und Ungemach für das Reich und die Bevölkerung. Die Gründe des Krieges gegen die Reichsgewalt des Königs durch die Stammesherzöge hatten ihre Ursache im familiären Bereich und nicht, um einer übermächtigen Zentralgewalt entgegenzuwirken. Der Krieg brachte Otto die Rettung in zweifacher Hinsicht: Die Schwäche, in die das Reich durch die inneren kriegerischen Verwicklungen geraten war, ließen die Ungarn nicht ungenutzt, nachdem sie mehrfach erfolgreich abgewehrt worden waren, drangen sie 954 über die Grenzen nach Bayern, Schwaben, Franken und Lothringen, um diese Gebiete mit ihren Raubzügen zu überziehen. Im Gegensatz zu den Zeiten davor, waren sie nicht überall unwillkommen. Liudolf ließ ihnen Hilfe angedeihen, und schickte ihnen ortskundige Führer, und Konrad der Rote schloss sogar einen Bündnisvertrag. Damit büßten sie jeden Rückhalt ein, den zuvor im Volk gefunden hatten. Angesichts der Gefahrenlage hatte Otto einen Sühnetermin einberufen, bei dem die gegnerischen Parteien erschienen. Die Rede Ottos ist in Widukinds Sachsengeschichte für alle Zeiten festgehalten: „Sehet meiner Söhne beraubt, sitze ich hier, kinderlos: habe ich doch den Sohn aus meinem Blut zum schlimmsten Feind und den anderen auch, den Tochtermann, den ich so geliebt und aus niederer Stellung zu hoher Macht emporgehoben. Das alles würde ich tragen, wenn nicht die Feinde Gottes und der Christenmenschen in diese Händel hineingezogen würden. Sie [die Ungarn] haben mein Reich verödet, mein Volk gefangen und getötet, die Städte zerstört, die Kirchen verbrannt, die Priester gewürgt. Noch triefen von Blut die Gassen, und die Feinde Christi kehren zurück in ihr Land mit dem Gold, das ich meinen Söhnen geschenkt. Welche Frevel, welche Treulosigkeit man mir noch antun kann, vermag ich nicht auszudenken.“[434] Otto hatte zuvor nach Berengars Vertreibung mit seinen Getreuen in Italien überwintert, beging das Weihnachtsfest in Pavia,
[433] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser. S. 47
[434] zitiert in Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 43
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regelte die Verhältnisse, solange er in Italien war. Im Frühjahr 952 kehrte er ins Reich zurück, zuvor hatte er Konrad dem Roten in Italien die Verfolgung Berengars anvertraut. Herzog Liudolf war seinem Vater ins Reich nach Saalfeld in Thüringen vorausgeeilt, und entfaltete dort mit königlicher Pracht ein Weihnachtsfest, das einer Hofhaltung glich, gemeinsam mit Erzbischof Friedrich und allen Großen des Reiches, die erschienen waren, hielt er sie in seiner Umgebung fest, was zu Misstrauen führte und Anlass gab zu Verdächtigungen. Die Verhandlungen, die sich bei diesen Zusammenkünften ergaben, ließen in ihrem Ergebnis Unheil erwarten. Herzog Konrad hatte in Italien Berengar angeraten, sich König Otto zu stellen. Im gleichen Jahre 952 wurde Mitte August ein Reichstag der Franken, Sachsen, Bayern, Alemannen und Langobarden abgehalten, auf dem auch Berengar erschien, um sich mit seinem Sohn Adelbert der Herrschaft des König zu unterwerfen, der ihm mit einer huldvollen Geste Italien zurückgab, trotz der Intrigen, die er zuvor mit Herzog Heinrich, des Königs Bruder, gesponnen hatte. Nach seiner Ankunft in Italien verfocht er einen Herrschaftsstil, der ihn bald verhasst machte.[435]
In diese Zeit fällt ein Bericht Widukinds von Corvey über des Königs Frau Adelheid: Die erlauchte Königin schenkte ihrem Gemahl als Erstgeborenen den Heinrich, dann Brun und als dritten ihn, dem der Name seines erhabenen Vaters gegeben wurde und den nach dessen Hinscheiden der Erdkreis als seinen Herrn und Kaiser erhofft, dazu eine Tochter, die den Namen seiner heiligen Mutter erhielt und von der Näheres zu künden wir uns nicht anmaßen, da ihr Ruhm alles überstrahlt, was wir zu sagen oder zu schreiben vermöchten.[436]
Im Jahre 953 kam die Verschwörung Liudolfs zum Ausbruch, er sah sich gegenüber Heinrich von Bayern und Adelheid zurückgesetzt, ihm schloss sich Friedrich von Mainz an, der sich durch Erzbischof Brun in seinem Erzkanzlerposten beeinträchtigt sah, und Konrad von Lothringen, der wegen des Verhaltens Ottos zu Berengar zürnte. Auf einem Reichstag zu Fritzlar wurden Liudolf und Konrad ihrer Herzogtümer für verlustig erklärt. Lothringen und Schwaben fielen zum Teil dem König zu, Lothringen übergab er seinem Bruder Brun, dem es gelang, sein Herrschaftsgebiet zu befrieden. 954 fielen die Ungarn ein, von den Aufständischen begünstigt, wodurch sie jeden Rückhalt im Volke verloren. Zuerst unterwarfen sich Konrad und Friedrich, dann nach nochmaligen schweren Kämpfen um Regensburg auch Liudolf. Dieser fiel reuevoll mit bloßen Füßen vor seinem Vater nieder, als dieser in Subeldun in Thüringen dem Weidwerk oblag. Die flehentlichen Bitten rührten zuerst den König, dann alle Anwesenden zu Tränen. Die väterliche Liebe nahm ihn wieder in Gnaden auf, und Liudolf gelobte Gehorsam. Konrad und Liudolf behielten nur ihre Güter.
Otto betraute 953 Johannes von Gorze (900-974) mit der Leitung einer Delegation zu Verhandlungen mit dem Kalifen von Cordoba Abd ar-Rahmann nach Spanien. Als Mönch, Diplomaten und Klosterreformer sah Otto in ihm den geeigneten Überbringer einer Botschaft an den Kalifen. Die Mission stieß auf Schwierigkeiten, und er wurde für einige Zeit inhaftiert, weil Otto in einem überbrachten Schreiben den christlichen Glauben als den einzig wahren Glauben hervorgehoben hatte. Es gelang ihm aber das Vertrauen des Kalifen zu gewinnen. Nachdem Johannes die Vorzüge seines Königs hervorgehoben hatte, erwiderte der Kalif, König Otto zeige in einem Punkt wenig Klugheit, als Johannes fragte, wie das zu verstehen sei, erhielt er die Antwort: Er behält nicht die ganze Gewalt in seinen Händen, sondern lässt den Seinen große Selbstständigkeit und große Teile seines Reiches. Er glaubt wohl sie dadurch in größerer Treue und Ergebenheit zu halten, täuscht sich darin aber sehr, denn er nährt dadurch nur ihren Übermut und ihre Widerspenstigkeit. Das zeigte sich jüngst an seinem Schwiegersohn, der ihm
[435] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 119 f
[436] ebd. S. 120
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den eigenen Sohn treulos verführte, sich gegen den König empörte und das fremde Ungarnvolk mitten in seine Lande führte und so der Verheerung durch die Feinde noch seine Unterstützung lieh. Wie ersichtlich stieß diese Haltung Ottos in der mohammedanischen Welt auf wenig Verständnis, und trugen eher zu einer Missachtung bei, was durch die Inhaftierung Johannes von Gorze als Delegationsleiter seinen Ausdruck fand.[437]
Im Juli 955 hielt sich Otto in Sachsen auf, als eine Gesandtschaft der Ungarn erschien, um ihre Ergebenheit und Friedfertigkeit zu versichern. Ihre wahre Absicht sollte sich bald zeigen, sie wollten sich einen Einblick verschaffen über den Verlauf der Kämpfe im Innern des Reiches. Die Gesandtschaft verblieb einige Tage am Hofe Ottos, um dann in friedfertiger Aufmachung wieder abzureisen. Kaum war dies geschehen, da trafen Boten seines Bruders, des Herzogs von Bayern, ein und meldeten: „Die Ungarn fallen in hellen Haufen in deine Lande ein und wollen mit dir einen Waffengang wagen.“[438]
Die Ungarn waren trotz aller (kirchen)amtlicher Gräuelpropaganda keine Untermenschen, sondern nur andere Menschen von einer anderen Ethnie. Sie waren grausam, doch nicht grausamer als die Krieger des Reiches, die bei ihren Strafexpeditionen gegen die Slawen regelmäßig Tausende hinmetzelten. Sie waren erbarmungslos, doch nie so blutdürstig wie die Wikinger, die oft um des Mordens willen mordeten. Sie fühlten sich als Boten ihrer Götter, aber ihnen fehlte der religiöse Fanatismus, der den Sarazenen eigen war. Und was die Kirchen betraf, die sie plünderten, die Klöster, die sie anzündeten, so waren sie hier in bester Gesellschaft: In dem zu Ende gegangenen Krieg des Vaters gegen die Söhne blieben die christlichen Kirchen vor Brandschatzung durch Christen nicht verschont.[439]
Der Ungarneinfall in Bayern und Schwaben geschah im Juli 955, zur Invasion ermuntert durch Ottos soeben noch rebellierende Verwandte. Die Alarmnachrichten vom Einfall erreichte Otto in Magdeburg. Widukind von Corvey schildert die Schrecken des Krieges. Ein Teil der Ungarn beunruhigte die Lande durch handstreichartige Überfälle, plünderte in Franken, brandschatzte Worms, während der Hauptteil die Grenzstadt Schwabens, Augsburg am Lech, belagerte. Augsburgs fünfundsechzigjähriger Bischof Ulrich war der erste 993 heiliggesprochene Bischof. Er trat an die Spitze der Bevölkerung und des verhältnismäßig kleinen Verteidigungsheeres. Er teilte alle Gefahren, durch Predigten stärkte er den Mut der Bürger und Soldaten. Nonnen beteten auf den Straßen und in den Kirchen. Bei einem Ausfall am östlichen Barfüßlertor ritt Bischof Ulrich mitten unter ihnen, im Ornat, wie es ich gehört, ohne Waffen, ohne Helm und ohne Panzer. Die Ungarn hinhalten, die Häuser an der Stadtmauer befestigen, das waren bischöfliche Weisungen, bis Ottos Ersatzheer anrückte.440]
Ulrich blieb unverletzt, und als die Ungarn im Morgengrauen zum Sturm auf die Mauern antraten, ausgerüstet mit Rammböcken und Leitern, war die Moral der Belagerten gefestigt, die der Belagerer aber gesunken, denn die Anführer mussten die vorderen Reihen mit Peitschen antreiben. Mitten in den Angriff hinein ertönten plötzlich Hornsignale, und wie ein Spuk lösten sich die Angriffsreihen auf. Was von den wackeren Augsburgern als Wunder gefeiert wurde, war keines. Es war ein planmäßiger Rückzug, ausgelöst durch die Nachricht eines Landesverräters. Urheber war Graf Bertholt, der sich mit König Otto überworfen hatte, und von ihm enteignet und gebannt worden war. Bertholt verriet den Ungarn die Marschrichtung des von Otto aufgebotenen Heeres, was beinahe zu einer drohenden Niederlage geführt hätte.
[437] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 121 f
[438] ebd. S. 122
[439] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 46
[440] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser. S. 49 f
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Als in Ottos Heer die Nachricht überbracht wurde, die Ungarn hätten die Belagerung Augsburgs aufgehoben, breitete sich eine euphorische Stimmung aus, die verstärkt wurde durch einen morgendlichen Feldgottesdienst, eine Zeremonie, die Otto in Erkenntnis der Tatsache, dass Soldaten nicht nur gute Waffen, ebenso aber auch guten Mut benötigen, weshalb der Gottesdienst besonders eindrucksvoll gestaltet wurde. So wurde das Heer formiert, das gemeinhin als erstes gesamtdeutsches Aufgebot aufgefasst worden ist. An der Spitze marschierten die Bayern, dann die Franken, dann der König, schließlich die Schwaben. Der Schutz des Trosses oblag den verbündeten Böhmen. Die Sachsen mussten die Grenze nach Osten gegen die Slawen sichern, und waren daher nicht Teil des Aufgebots. Die denkwürdige Schlacht auf dem Lechfeld am 10. August 955 veränderte das Gesicht Europas. Sie wurde als ein Sieg des christlichen Glaubens über die heidnischen Götter angesehen. Gegen die Elite der starknochigen, schwerfälligen Panzerreiter im Heere Ottos hatte sich die leichtfüßige Kavallerie der Ungarn festgerannt, ihre Niederlage war vollkommen, und bedeutete das Ende aller Ungarneinfälle. Die Entscheidung hatte Ottos Schwiegersohn, Konrad der Rote, herbeigeführt, als das Heer Ottos bereits in Unordnung geraten war. Eine Tat, die auch als Sühneleistung betrachtet wurde, dafür, dass er zuvor seinem Schwiegervater reichlich Ungemach bereitet hatte.[441]
In der Geschichtsschreibung besonders des 19. Und 20. Jahrhunderts ist Otto der Große als der eigentliche Begründer des Deutschen Reiches und der deutschen Nationalstaates angesehen worden. Nichts lag den Herrschern und Menschen der Zeit ferner als ein Denken in nationalstaatlichen Kategorien, und wenn für die Ungarnschlacht von einem ersten gesamtdeutschen Aufgebot gesprochen wird, so kann hier ein irreführender Eindruck hervorgerufen werden. Allein in sprachlicher Hinsicht gab es Unterschiede zwischen den genannten ehemals germanischen Völkern, noch bis vor dem Zweiten Weltkrieg waren die einzelnen deutschen Dialekte so unterschiedlich, das eine Verständigung nur über die hochdeutsche Sprache möglich war. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging eine kulturelle Eigenart, die Deutschland zuvor ausgezeichnet hatte, verloren. Ein kultureller Verlust, geopfert einer Diskothekenkultur, bis hin zu einem besonders primitiven Sprachniveau. Die deutsche Sprache ist mit Angelismen durchsetzt. Es ist nicht die erste Verschandelung der deutschen Sprache durch englisch-deutsche Mischkonstruktionen aus Adjektiven, Infinitiven und Partizipien wie shoppen, recyceln oder gedownlowded. Im 18. Jahrhundert war es noch viel schlimmer, nur dass die deutsche Sprache in gleicher Weise mit französisch-deutschen Wortkonstruktionen angereichert war.
Der nördlich gelegene Teil des HRR fand die Bezeichnung Regnum Teutonicum (Deutsches Reich) oder Regnum Teutonicorum (Reich der Deutschen). Beide Begriffe sind weit entfernt von einem Streben zur Errichtung eines Nationalstaates, wie es sich nach der Reformation Martin Luthers, besonders aber nach der Französischen Revolution herausgebildet hat. Das HRR setzte sich zusammen aus drei Hauptteilen: Dem Regnum Teutonicum, dem Regnum Italicum (Reichsitalien) und dem Königreich Burgund, dem dritten französischen Reichsteil des HRR, insgesamt bestand dieses Reich in der Hauptsache aus einem deutschen, italienischen und französischen Teil, wenn es auch im Laufe der Zeit in Richtung Osten erweitert wurde. Es war also ein Staatsgebilde, das aus mehreren Völkerschaften zusammengesetzt war. Ein häufiger Gebrauch des Gebildes Regnum Teutonicum als Bezeichnung eines Territoriums ist ab Ende des 11. Jahrhunderts nachweisbar. Der Begriff deutsch taucht in seiner Mittelhochdeutschen Form ab dem 13. Jahrhundert zunächst vornehmlich als Bezeichnung der
[441] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 48 ff
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Sprache auf. Erst vom 16. Jahrhundert an wird die Bezeichnung Regnum Teutonicum zunehmend durch den Begriff Deutschland abgelöst (Aus Wikipedia).
Ein Ereignis von richtungsweisender Bedeutung erlebte die Zeit mit der Kaiserkrönung Otto I. am 2. Februar 962. Vieler Persönlichkeiten wurde in diesem Jahr in Deutschland gedacht auch solcher, mit vergleichsweise geringerer Bedeutung Der 2. Februar 1962, die tausendjährige Wiederkehr der Kaiserkrönung Ottos, fand keine Beachtung. Dass dieses Datum der Vergessenheit anheimgefallen war, müsste befremden. Den Österreichern war dieses Datum ein prunkvoller Staatsakt wert. Die Italiener erinnerten sich mit einer feierlichen Veranstaltung in Rom. Aus Anlass dieses denkwürdigen Tages der Kaiserkrönung in Rom, veranstaltete das Institut für österreichische Geschichtsforschung in der Zeit vom 31. Januar bis 2. Februar 1962 eine Gedenkfeier. Der Akademische Festakt, zu dem Rektor und Senat die Einladungen ergehen ließen, fand am Mittwoch, den 31. Januar 1962, 10 Uhr, in dem mit der Krone des Heiligen Römischen Reiches geschmückten Großen Festsaal der Universität in Anwesenheit des österreichischen Bundespräsiden und anderer hoher Vertreter der Regierung und kirchlicher Würdenträger statt. Beachtenswert ist die Anzahl der Botschafter und hochrangiger diplomatischer Vertreter aus folgenden Staaten, die der Einladung gefolgt waren: Spanien, Niederlande, Großbritannien, Argentinien, Norwegen, Jugoslawien, Iran, Japan, Finnland, Israel, Bundesrepublik Deutschland, Griechenland, Peru, Rumänien, Brasilien, Thailand, Libanon, Vereinigte Arabische Republik, Apostolische Nuntiatur, Belgien, Portugal, Tschechoslowakei, Bulgarien, Cuba, Chile, Dänemark, Indonesien, Vereinigte Staaten von Amerika und Italien.[442]
Die Begrüßungsansprache wurde vom Rektor der Universität Wien, Prof. Frank Arnold, gehalten. Zunächst bemühte er sich zu versichern, die Gedenkveranstaltung sei nicht Ausdruck einer Sehnsucht nach Rückkehr in das Reich Ottos I. oder dem romantischen Traum einer Restauration des Sacrum Imperium. Es war in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts üblich, mit solchen Versicherungen, möglichen Verdächtigungen, die leicht aufkommen konnten, entgegenzuwirken, weil kurz zuvor die Geschichte, die im Wesentlichen vom Territorium, das schon Otto I. beherrscht hatte, ausgegangen war, einen so verhängnisvollen Verlauf genommen hatte, allerdings von einer Ideologie, die im krassen Gegensatz zu den Grundsätzen ottonischer Herrschaft gestanden hatte, weshalb diese Zeit während der NS-Herrschaft dem Vergessen anheim gegeben wurde. Die gegebene Versicherung von einer Rückkehr in jene Zeit Ottos, und sei es nur gedanklich, sei die Gedenkfeier weit entfernt, war eher in Richtung auf das übrige Deutschland gerichtet, denn unmittelbar darauf spricht Prof. Arnold von der ruhmreichen Vergangenheit Österreichs, das im 20. Jahrhundert gänzlich ausgelöscht worden war als einziger Vielvölkerstaat in Europa, der er bis 1918 gewesen war. Ein Vielvölkerstaat, der noch am meisten dem Staatsentwurf des HRR entsprochen hätte.[443]
In der Bundesrepublik Deutschland war dieser Tag keines nennenswerten Andenkens Wert gewesen. Nur der Bundespräsident Heinrich Lübke hatte das Datum beiläufig erwähnt, anlässlich der Eröffnung der Landwirtschaftsausstellung „Grüne Woche“ in Berlin. Die Italiener erinnerten sich seiner in einer festlichen Veranstaltung in Rom. 1862, einhundert Jahre vorher war das in Deutschland noch anders gewesen. Allerdings auch in diesen Gedenkfeiern dachte niemand daran, das Reich im Sinne Ottos I. zu erneuern, obwohl das von ihm erneuerte und so geschaffene Reich erst wenige Jahrzehnte zuvor 1806 auch formell untergegangen war. 1862 war der Tag begleitet von einem Ringen um die deutsche Einheit, das zentrale Thema
[442] Mitteilungen des Institiuts für Österreichische Geschichtsforschung. Festschrift zur Jahrtausendfeier der Kaiserkrönung Ottos des Großen. Erster Teil. Festbericht, Vorträge, Abhandlungen. Graz/Köln 1962 S. 5 ff
[443] ebd. S. 14
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nach dem Scheitern der Einheitsbestrebungen in der Frankfurter Nationalversammlung 1848. Kleindeutsch oder großdeutsch war zur alles entscheidenden Frage geworden. Es hätte auch heißen können Preußen oder Österreich, bis schließlich Österreich nach vollzogener Einheit 1871 nicht mehr dazugehörte. Deutschland hatte sich unter Preußens Führung zu einem deutschen Nationalstaat formiert. Gegen den Willen seines Königs Wilhelm I., der an dem denkwürdigen Tag der Ausrufung zum Kaiser am 18. Januar 1871 im Schloss zu Versailles nicht in dem allgemeinen Jubel einstimmen wollte. „Heute wird Preußen zu Grabe getragen“ hatte er in Euphorie des Tages vorahnend festgestellt, zu Grabe getragen wurde auch ein preußischer Grundsatz: Mehr sein als scheinen (esse quam videre).
Die verschiedenen Epochen der Geschichte mit ihren Wandlungen und Veränderungen, geistig, gesellschaftlich und technisch, haben gute, weniger gute, oder sogar besonders schlechte Erscheinungen hervorgebracht. Hier gilt das Wort des Apostels Paulus in deinem 1. Brief an die Gemeinde in Thessalonich, Kapitel 5, Vers 21: (21) Prüfet alles und das Gute behaltet.[444] Eine solche Prüfung kann nur aufgebaut werden auf dem Evangelium von Jesus Christus. Er ist der Felsen, alles was nicht auf diesem Felsen steht ist auf Sand gebaut. Die Geschichte kennt den Einsturz vieler Häuser, die ihr Fundament nicht auf diesen Felsen errichtet hatten. Das gilt besonders für den Bereich der als christlich angesehen wird.
Das denkwürdige Jahr 955 hatte Otto in bis dahin nie gekannte Höhen politischer Auswirkungen getragen. Da fasste er im Mai 961 den Entschluss, nach Italien zu neuen Ufern aufzubrechen. Er rief seine Getreuen in großer Zahl nach Worms, wo er mit einmütiger Zustimmung der Großen des Reiches und des gesamten Volkes sein Sohn Otto zum König, gewählt wurde. Von Worms aus begab er sich nach Aachen, und hier wurde des Königs Sohn nach Anerkennung der Wahl auch durch die Lothringer zum König geweiht. Hierauf kehrte der Vater nach Sachsen zurück, erledigte die Reichsgeschäfte, vertraute seinen Sohn dem Erzbischof Wilhelm von Mainz zum Schutze und zur Erziehung an und ritt dann über Bayern nach Trient und Italien und zog, ohne auf Widerstand zu stoßen in Pavia ein. Er ordnete an, den von Berengar zerstörten Palast wieder aufzubauen. Berengar aber und Willa schlossen sich mit ihren Söhnen, wo sich die Gelegenheit bot in festen Plätzen und Burgen ein, ohne einen Ausfall gegen den König zu wagen.[445] Diese Ereignisse hatten eine Vorgeschichte. Berengar war von Papst Johannes XII. als Bedrohung angesehen worden und hatte darum Otto um Hilfe angerufen. Otto besuchte häufig die Pfalz in Regensburg, wo noch neben Magdeburg, Aachen und Rom eine Erinnerungskultur sichtbar ist, hier verbrachte er mehrfach christliche Feiertage, so auch Weihnachten 960, als zwei Gesandte des Papstes, mit Vollmachten versehen, um eine Audienz nachsuchten. König Otto wurde in einer Botschaft des Papstes bestätigt, dass ihm, dem Nachfolger der fränkischen Herrscher, ein Anrecht auf die Schutzherrschaft über Rom zustehe, ein Recht, das mit der Verpflichtung einherging, der Kirche Beistand gegen Bedrohung und Unterdrückung zu leisten. Johannes XII. stand in keinem guten Ruf, aber Otto sah nicht auf das Privatleben des Papstes, Vorrang hatte das Amt, von dem die Vergabe der Kaiserkrone abhing, so wurde es seit Karl dem Großen gesehen, und Otto war entschlossen in Fußstapfen seines großen Vorgängers zu treten, nicht Machthunger oder Repräsentationsbedürfnis waren der Ansporn, es ging um die Einheit von geistlicher und weltlicher Macht, auf die der Bestand des Reiches gegründet war. Der Papst war eine Macht, die nicht auf militärische Stärke gegründet war, aber dennoch nicht umgangen werden konnte. Noch Josef Stalin hatte die Frage gestellt: „Wieviel Divisionen hat der Papst?“ Otto hatte einen hohen Preis zahlen müssen für die Erfahrung, dass verwandtschaftliche Bande nicht vor Feindschaft schützte und Familienherzöge nicht zuverlässiger waren als fremde Herzöge, darum war er mehr und
[444] revidierte Übersetzung nach Luther. Wollerau 2009
[445] Bühler. Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser in Dokumenten. S. 127 f
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mehr dazu übergegangen, sein Reich mit Hilfe der Bischöfe zu regieren. In der Kirche fand er ein Gegengewicht gegen die weltliche Macht, fand er gebildete, des Lesens und Schreibens kundige Verwaltungsbeamte, fand er in den Klostergütern die wirtschaftliche Grundlage zur Bestreitung seines Staatshaushaltes, fand er schließlich, indem er den Bischöfen immer mehr weltliche Rechte gewährte und die Immunität gegenüber den Herzögen, auch die Männer, mit denen er seine Kriege führte. Das alles war nicht umsonst, doch das Land, das dafür zu Lehen gegeben wurde, hatte den ursprünglichen Sinn des Wortes verliehen bewahrt, es fiel nach dem Tod des Belehnten wieder an die Krone, dem Träger als obersten Lehnsherrn, zurück. Ihr Lehensgut konnte nicht an die Erben übergehen, weil die Diener der Kirche durch das Zölibat ohne legitime Erben waren. Dieser Reichskirche, die Heerfahrts-,Herbergs-, und Kanzleidienste leistete und damit das Reich am Leben erhielt, glaubte der König auf die Dauer nur sicher zu sein, wenn er sich des Papstes versicherte. Der Papst als Nachfolger des Apostels Petrus war den Bischöfen, bei aller Kritik, oberste Instanz geblieben. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht schien der Gang nach Rom von Nutzen. Der König und seine Herzöge im Norden des Reiches hatten in wirtschaftlicher Hinsicht nichts zu bieten, trotz des Schwergewichtes, das sie dem Reich durch militärische Stärke vermittelten, ging der internationale Handel an ihnen vorüber. Das große Geld verblieb überwiegend in Italien und der Handel konzentrierte sich auf Wirtschaftsmetropolen wie den Seestädten Venedig, Byzanz, Pisa und Genua. Aber nicht nur auf materielle Güter war das Streben gerichtet, geistige Güter waren ebenso begehrt. [446] Der Mittelmeerhandel hatte seine die damalige Welt beherrschende Stellung seit den Tagen des römischen Reiches nicht eingebüßt.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann eine umfangreiche Auseinandersetzung unter Historikern über Sinn und Zweck der mittelalterlichen Kaiserpolitik, die je nach kleindeutschen oder großdeutschen Standpunkt die Kaiserpolitik ablehnten oder verteidigten. In der Hauptsache begleiteten die Herzöge der Bayern, Schwaben, Franken und Lothringer den König/Kaiser nach Italien. Den Sachsen war vorwiegend die Aufgabe zugefallen, die wechselvollen Kämpfe mit slawischen Völkern zu bestehen. Von 951 bis 1111 zogen die Kaiser des Reiches achtzehnmal an Italien. Im Wechsel der Kaiserpersönlichkeiten wechselten auch die Kaiserideen. Der Teil des Heiligen Römischen Reiches, der das Zentrum bildete, griff nach allen Seiten hin aus, was nicht allein auf ideologische Ursachen zurückzuführen war, die geographische Lage war ebenso ausschlaggebend. Die Züge über die Alpen blieben ein grandioser Traum mit hohem Blutzoll, der jeweils nur für kurze Zeit Erfüllung brachte. Eine Frage knüpft sich dazu an: Bedurfte das geistliche Oberhaupt der christlichen katholischen Kirche oder die „gottgewollte Ewigkeit des römischen Reiches“ eines mächtigen Schutzes?[447]
Die Geschichtsschreibung des 19. Und 20. Jahrhunderts spricht vielfach von „den Deutschen“, die nach Italien zogen. Es gab keine „Deutschen“ im national verstandenen Sinne, der Begriff hatte zu der Zeit keine Bedeutung, nach Süden zogen die bereits erwähnten Völkerschaften, die sich eine Eigenständigkeit und Identität bewahrt hatten, was sich fortgesetzt hat bis ins 19. Jahrhundert. Die Staaten, die sich durch Bismarcks Politik 1871 zu einem Nationalstaat vereinten, hatten keine fünf Jahre zuvor noch als souveräne Staaten Krieg miteinander geführt, weshalb das von Bismarck etablierte Verfassungswerk dezidiert föderalistische Züge trug, wie schon die von der Frankfurter Nationalversammlung 1848 konzipierte Verfassung, was auch einer unterschiedlichen kulturellen Vielfalt Rechnung getragen hatte. Ebenso abwegig ist es in den Kämpfen mit slawischen Völkerschaften im Osten des HRR von „Deutschen“ oder gar „Germanen“ zu sprechen. Es ging nicht um ethnische (rassische) Vorlieben oder Vorherrschaft. Otto selbst hatte den Weg vorgegeben, sein Sohn Wilhelm, aus einer verehelichen Beziehung,
[446] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 54 f
[447] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser. S. 54 ff
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dem späteren Erzbischof von Mainz (954-968), entstammte einer Verbindung mit einer slawischen Fürstentochter.[448] Die ständigen kriegerischen Verwicklungen hatten ihren Ursprung im christlich-heidnischen Gegensatz, wie zuvor der Gegensatz zwischen Franken und Sachsen, diesmal ging die Stoßkraft von den Sachsen aus, und auch hier war Gewaltanwendung ein Mittel der Bekehrung, aber ebenfalls nicht in einer Ausschließlichkeit, es gab auch Missionierung, die auf Überzeugungsarbeit beruhte. Die Missionierung der Slawen wurde im Wesentlichen als eine organisatorische Frage verstanden. An den zentralen Burgorten der Heveller und Redarier, Brandenburg (Brennabor) und Havelberg, gründete Otto I. 948 slawische Bistümer. 968 und 972 kam das Bistum Oldenburg im Gebiet der Abodriten hinzu, im südöstlichen Bereich fungierten Merseburg, Zeitz und Meißen als Suffragane der neuen Kirchenprovinz Magdeburg. Die größte Aufmerksamkeit galt offensichtlich der Errichtung christlicher Kirchen und kirchlicher Strukturen sowie der Eintreibung entsprechender Abgaben. In diesem Rahmen behielt die slawische Bevölkerung offenbar die Möglichkeit ihren heidnischen religiösen Kult weiterzuführen. Davon zeugen nicht nur spätere Berichte Bischof Thietmars von Merseburg über die slawischen Angehörigen seines Bistums, sondern auch archäologische Befunde, die auf ein Nebeneinander von Kirchen und heidnischen Kultstätten hinweisen.[449] Auch die Ungarn hatten sich dem christlichen Glauben zugewandt. Stephan I. der Heilige (939-1038) war erster König des von ihm gegründeten Königreichs Ungarn. Er gilt als der Nationalheilige Ungarns. Er christianisierte die heidnischen Magyaren. Sein Gedenktag ist der 20. August, der in Ungarn Staatsfeiertag ist. Die römisch-katholische Kirche gedenkt seiner als apostolischen Heiligen eine Würdigung, die Menschen zu Teil wird, die sich um die Ausbreitung des christlichen Glaubens besonders verdient gemacht haben. (Aus Wikipedia)
Die Vorstellung, dass einem König, zuerst König Karl der Franken und des von ihm geschaffenen Reiches, dann dem mächtigsten Herrscher im HRR zustand, und das war der Sachsenherzog Otto, den die mächtigsten Herzöge im ostfränkischen Reich zu ihrem König gewählt hatten, die Kaiserwürde gehörte, war seit den Tagen Karls im Volk lebendig geblieben. Wie lebendig, das hatten die Krieger auf dem Lechfeld gezeigt, als sie spontan Otto nach dem Sieg über die Ungarn zum Imperator ausriefen. Die Idee eines Kaiserreiches war lebendig und es wurde als ein Mangel angesehen, dass die Länder, die einen Glauben hatten, nicht auch einen Herrscher haben sollten. Die Erringung des Kaisertitels wurde nicht nur als ein Recht angesehen, die wurde auch als Pflicht erachtet. Das Volk wollte es, und Gott gebot es durch den Mund des Propheten Daniel hatte er verkündet, das Römische Reich, das durch Konstantin ein christliches Reich geworden, und durch Karl an die Franken gelangt, werde bis ans Ende der Zeiten dauern, so stand es in dem Buch des Propheten Daniel im 7. Kapitel, und so wurde es geglaubt, und der zur Zeit mächtigste Mann war verpflichtet, es zu erneuern, und damit das von Gott gesprochene Wort zu erfüllen.[450]
Über die vier Reiche aus dem 7. Kapitel des Buches des Propheten Daniel wir bereits im 2. Kapitel des Buches berichtet: Der König Nebukadnezar hatte große Teile des Volkes Israel aus Judäa nach Babylon in die Gefangenschaft geführt (586 v. Chr.). Der Gefangenenchor aus Verdis Oper Nabucco (Nebukadnezar) lässt die Zeit eindrucksvoll aufleben. Eines Nachts hatte er einen Traum, der seiner Erinnerung entfallen war, worauf er seine Magier und Chaldäer zusammenrief, ihn den Traum anzuzeigen und zu deuten. Die Magier verlangten vom König den Traum darzustellen, dann wären sie bereit ihn zu deuten. Der König sah in diesen Bedingungen nur Ausflüchte und sprach das Todesurteil, das auch den Propheten Daniel und seine drei Freunde treffen sollte, die ebenfalls gefangen aus Judäa weggeführt worden waren.
[448] Körntgen, Ludger: Ottonen und Salier. Darmstadt 2002. S. 14
[449] ebd. S. 24
[450] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 56
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Daniel erwirkte Zutritt beim König, und ließ ihn wissen, nur Gott der Höchste könne den Traum offenbaren und deuten. Nach erneutem Gebet ging Daniel zum König, schilderte den Traum und versprach ihn zu deuten. Das Bild, das Daniel dem König beschrieb, bestand aus vier unterschiedlichen Zusammensetzungen, die auf die Menschheitsgeschichte gedeutet worden sind, und findet sich im 2. Kapitel des Buches Daniel in den Versen 27-45: (27) Daniel stand vor dem König und sprach: Das verborgene Ding, das der König fordert von den Weisen, Gelehrten, Sternsehern und Wahrsagern, steht in ihrem Vermögen nicht, dem König zu sagen. (28) Aber es ist ein Gott im Himmel, der kann verborgene Dinge offenbaren, der hat dem König Nebukadnezar angezeigt, was in künftigen Zeiten geschehen soll. (29) Mit deinem Traum und deinen Gesichten, da du schliefest, verhielt’s sich also: Du, König, dachtest auf deinem Bette, wie es hernach gehen werde; und der so verborgene Dinge offenbart, hat dir angezeigt, wie es geschehen werde. (30) So ist mir solch verborgenes Ding offenbart, nicht durch meine Weisheit, als wäre sie größer denn aller, die da leben; sondern darum, dass dem König die Deutung angezeigt würde und du deines Herzens Gedanken erführest. (31) Du, König, sahest, und siehe, ein großes und hohes und sehr glänzendes Bild stand vor dir, das war schrecklich anzusehen. (32) Des Bildes Haupt war von feinem Golde, seine Brust und Arme waren von Silber, sein Bauch und seine Lenden waren von Erz, (33) seine Schenkel waren Eisen, seine Füße waren eines Teils aus Eisen und eines Teils aus Ton. (34) Solches sahest du, bis dass ein Stein herabgerissen ward ohne Hände, der schlug das Bild an seine Füße, die Eisen und Ton waren, und zermalmte sie. (35) Da wurden miteinander zermalmt das Eisen, Ton, Erz, Silber und Gold und wurden wie Spreu auf der Sommertenne, und der Wind verwehte sie, dass man sie nirgends mehr finden konnte. Der Stein aber, der das Bild schlug, ward ein großer Berg, dass er die ganze Welt füllte. (36) Das ist der Traum. Nun wollen wir die Deutung vor dem König sagen. (37) Du, König, bist ein König aller Könige, dem der Gott des Himmels Königreich, Macht, Stärke und Ehre gegeben hat (38) und alles, da die Leute wohnen, dazu die Tiere auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel in deine Hände gegeben und dir über alles Gewalt verliehen hat. Du bist das goldene Haupt. (39) Nach dir wird ein anderes Königreich aufkommen, geringer denn deines. Danach das dritte Königreich, das ehern ist, welches wird über die Lande Herrschen. (40) Und das vierte ward hart wie Eisen, denn gleich wie Eisen alles zermalmt und zerschlägt, ja, wie Eisen alles zerbricht, also wird es auch diese alle zermalmen und zerbrechen.
Es kann kein Zweifel darüber bestehen, um Schädel zu zertrümmern, ob in länglicher oder runder Form, hat sich Eisen als das beste erwiesen, schreibt Sir Winston Churchill in: „A History of the English-speaking Peoples“ zum Übergang von der Bronze-zur Eisenzeit.
(41) Dass du aber gesehen hast die Füße und Zehen eines Teils aus Ton und eines Teils Eisen: das wird ein zerteiltes Königreich sein, doch wird von des Eisens Art darin bleiben, wie du denn gesehen hast Eisen mit Ton vermengt. (42) Und dass die Zehen an seinen Füßen eines Teils Eisen und eines Teils Ton sind, wird’s zum Teil ein starkes und zum Teil ein schwaches Reich sein. (43) Und dass du gesehen hast Eisen und Ton vermengt: werden sie sich auch nach Menschengeblüt untereinander Mengen, aber sie werden doch nicht aneinander halten, gleichwie sich Eisen mit Ton nicht mengen lässt.
Nebukadnezars Traum stellt uns den Gegensatz von Weltreich und Gottesreich vor Augen. Das Weltreich ist nur eines, wenn auch seine Träger zu der von Gott bestimmten Zeit wechseln. Im Verlauf seiner Entwicklung wird es immer gefährlicher für die Menschheit, während seine Beschaffenheit von einem Zeitraum zum andern sich verschlechtert d. h.: die Fähigkeit, die einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammenschließen und zusammenzuhalten, nimmt ab.
(44) Aber zur Zeit solcher Königreiche wird der Gott des Himmels ein Königreich aufrichten, das nimmermehr zerstört wird; und sein Königreich wird auf kein anderes Volk kommen.
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Es wird alle diese Königreiche zermalmen und verstören; aber es selbst wird ewiglich bleiben; (45) wie du denn gesehen hast einen Stein, ohne Hände vom Berge herabgerissen, der das Eisen. Erz, Ton, Silber und Gold zermalmte. Also hat der große Gott dem König gezeigt, wie es hernach gehen werde; und der Traum ist gewiss, und die Deutung ist recht.
Was die Deutung der Weltreiche betrifft, so herrscht in Bezug auf das von einem starken Willen beseelte goldene Haupt keine Meinungsverschiedenheit; wohl aber gehen die Meinungen der Ausleger bei den drei anderen auseinander. Die, welche sich auf die Verwendung dieses und des in Kapitel 7 folgenden Ergänzungsgesichts in der Offenbarung des Johannes stützen, sehen in dem zweiten Weltreich das medisch-persische (Cyrus) in dem dritten das griechisch-mazedonische (Alexander), in dem vierten das römische (Augustus), das zuerst in ein weströmisches und ein oströmisches und hernach in eine Vielzahl von kleinen Staaten zerfiel, und in der Endzeit in eine Zehnzahl von Königreichen auseinandergehen wird. Anfangs eisenstark, hat es alle anderen Reiche unterworfen und zertrümmert, später aber die Elemente in sich aufgenommen, die sich mit dem römischen Wesen nicht verschmelzen ließen.[451]
Zum Bild ist ein geflügeltes Wort über die Jahrtausende erhalten geblieben: Der Koloss auf tönernen Füßen. Peter Scholl-Latour hat diesen Satz in einem seiner Bücher diesen Titel gewählt. Zu allen Zeiten ist das Bild und die damit verbundene Prophezeiung auf das politische Tagesgeschehen angewandt worden, so auch in der politischen Gegenwart. Es ist nicht nur gefährlich, es muss auch als unzulässig angesehen werden in die Zukunft hinein, aufgrund prophetischer Aussagen der Heiligen Schrift, diese Aussagen zur Grundlage politischen Handelns zu machen. Der Apostel Paulus warnt ausdrücklich in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth in 1. Korinther, Kapitel 4, Vers 5: (5) Darum urteilt über nichts vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch das im Dunkel verborgene ans Licht bringen und die Gedanken der Herzen offenbar machen wird; und dann wird einem jeden das ihm gebührende Lob von Gott her zu Teil werden.[452]
Im Herbst 961 überschritt Otto eines aus allen Stämmen bestehenden Heeres den Brenner, selbst eine Abteilung Wenden war dabei. Über Mangel an Zulauf hatte er sich nicht beklagen können. Es folgten ihm die Herzöge, Bischöfe und Grafen. Auf ihn wartete in Rom die Kaiserkrone. Die mehrere Kilogramm schwere Krone, die Otto aufs Haupt gesetzt wurde, war von ihm bereits nach dem Ungarnsieg 955 bei einem Goldschmied in Reichenau in Auftrag gegeben worden. An der Krone sind auch zu einem späteren Zeitpunkt Änderungen vorgenommen worden. (Aus Wikipedia) Sie besteht aus acht Platten in reinem Gold, die durch perlenbesetzte Scharniere verbunden sind und wirken wie Mauern, die ein Heiligtum umgeben. Acht Ecken hat die Pfalzkapelle Karls des Großen, acht Menschen überlebten die Sintflut, acht ist die Zahl der Vollkommenheit, des Unendlichen, ist die Kaiserzahl. Vier der Platten sind mit Perlen und Edelsteinen besetzt, dabei ist die Zahl einem genau durchdachten System unterworfen: 240 Perlen stehen 120 Steinen gegenüber, darunter sind 144 größere Perlen und 96 kleinere, 84 größere Steine und 36 kleinere. Alles Zahlen, die durch zwölf teilbar sind. Überall taucht diese zwölf auf: zwölf Steine zieren die Stirnplatte und symbolisieren die zwölf Apostel; die auf der Nackenplatte stehen für die zwölf Stämme Israels. Die restlichen vier Platten tragen bildliche Darstellungen. Rechts vom Kreuz, vom Betrachter her gesehen, erscheint König Salomon, der einen Spruch aus seinen Weisheiten präsentiert: time Dominum et recede a malo (fürchte Gott und meide das Unrecht), die Platte links vom Kreuz drückt aus, dass die Könige im Namen Christi regieren: per me reges regnant (durch mich herrschen Herrscher). Anschließend ist
[451] Text der Heiligen Schrift in der Übersetzung nach Martin Luther. Jubliläumsbibel mit erklärenden Anmerkungen. Stuttgart 1954
[452] Übersetzung nach Hermann Menge (ev.)
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König Ezechias (Hiskija) dargestellt mit dem Propheten Jesaja, der ihm verkündet: ecce adiciam super dies tuos XV annos (wohlan, ich will zu deinen Lebenstagen noch 15 Jahre hinzufügen). Und auf der letzten trägt König David ein Sprechband: honor regis iudicium diligit (der ehrenhafte König liebt den Rechtsspruch). Dies sind die vier Bibelstellen, die während der Krönung dem Herrscher zugerufen wurden.[453] Die für die Anfertigung der Krone Verantwortlichen haben durch die Anordnungen, wie die Krone anzufertigen sei, eine tiefer greifende biblische Kenntnis und Erkenntnis erkennen lassen. Die Krone mit dem alles entscheidenden Symbolcharakter hat ihren Grund in das von Alkuin am Hofe Karls des Großen konzipierte „Davidische Königtum“, das im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift Ursprung und Verheißung hat, weit mehr als auf das Kaiserreich, wie es von Kaiser Konstantin und seinen Nachfolgern im 4. Jahrhundert begründete Reich mit dem Christentum als Staatsreligion mit einem Augustus/Kaiser an der Spitze. Von besonderer Bedeutung ist der Hinweis auf König Ezechiel (Hiskija) (716-687 v. Chr.). König Ezechias war, modern ausgedrückt, ein Reformkönig, denn auch die Geschichte Israels und später Judas ist begleitet von Zeiten des Abfalls und Hinwendung zu dem, was ethisch in den Geboten Gottes verankert war. Passend zur Abbildung in der Krone findet sich ein Bericht im 2. Buch der Könige im 20. Kapitel, in den Versen 1-7. (1) In jener Zeit war Ezechias todkrank gewesen. Da besuchte ihn der Prophet Isaias, des Amoz Sohn, und sprach zu ihm: „So spricht der Herr: ‚Bestelle dein Haus! Denn sterben musst du, und wirst nicht genesen.‘“ (2) Da wandte sich Ezechias mit seinem Antlitz zur Wand und betete zum Herrn. (3) Er sprach: „Ach Herr! Gedenke doch, dass ich vor Dir treu und mit ungeteiltem Herzen wandelte, und dass ich tat, was Dir gefiel!“ Dann brach Ezechias in lautes Weinen aus. (4) Aber noch war Isaias nicht aus dem mittleren Vorhof, da erging das Wort des Herrn an ihn: (5) „Kehr um und künde dem Fürsten meines Volkes, Ezechias: ‚So spricht der Herr, des David deines Ahnen Gott: Ich habe dein Gebet gehört und deine Tränen angesehen. So will ich dich heilen. Am dritten Tage kannst du schon in das Haus des Herrn gehen. (6) Ich füge deinen Lebenstagen fünfzehn Jahre hinzu, und rette dich aus des Assyrerkönigs Hand, dich und die Stadt. Ich schirme diese Stadt um Meinetwillen, und wegen meines Dieners David.‘“ (7) Isaias sprach: „Holt ein Feigenpflaster!“ Sie holten es und legten es auf das Geschwür. Da genas er.[454]
Nach vollzogener Krönung zum Kaiser gelobte ihm der Papst Johannes XII. Otto, zeit seines Lebens nicht von ihm abzuweichen. Als Gegenleistung verschaffte ihm Otto am 13. Februar 962 das Privileg, was danach viel umstritten war, aber letztlich für echt angesehen wurde. Es enthält die Bestätigung der päpstlichen Besitzungen und die Bestimmung, dass die Weihe eines neuen Papstes nicht stattfinden dürfe, ehe er dem Kaiser den Treueid geleistet habe, beides stützt sich auf karolingische Urkunden.[455]
Der Kaiser kehrte von Rom nach Pavia zurück und feierte hier Ostern. Berengar hatte sich erneut zum Widerstand entschlossen, und bezog mit seinem Heer den zur Festung ausgebauten Berg San Leone, nicht weit von dem heute kleinsten selbstständigen Staat San Marino. Willa, Berengars Gattin, hatte sich auf einer Insel im Lago Maggiore verschanzt, während ihr Sohn Adelbert bandenmäßig das Land durchstreifte und unsicher machte. Willa hielt sich auf ihrer befestigten Insel zwei Monate, wurde gefangen genommen, aber der Kaiser verzichtete auf eine Bestrafung, und entließ sie in seiner Milde in Freiheit. Das Entgegenkommen nutzte sie, begab sich zu Berengar, und überredete ihn, sich nicht dem Kaiser zu ergeben. Der Kaiser beging das Weihnachts- und Osterfest (963) in Pavia. Bergengar entschloss sich zum Widerstand. Der Kaiser verließ Pavia und belagerte Berengar, wodurch den Sommer über starke
[453] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 58 f
[454] Übersetzung nach Paul Riesler (kath)
[455] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 413
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Kräfte gebunden wurden. Der Papst brach sein Gelöbnis und schloss sich Berengar an, und öffnete Adelbert die Tore Roms. Otto brach die Belagerung San Leones ab, und begab sich mit einer Heeresmacht nach Rom. Angesichts des herannahenden Heeres spalteten sich die Römer, die einen hielten es mit dem Kaiser, andere suchten dem Papst zu gefallen. Eine weitere Entwicklung, die bestimmend werden sollte für das gesamte Mittelalter. Der Kaiser berief nun eine große Anzahl von Bischöfen zu einer Synode ein.[456] Luitbrand[457] berichtet darüber: Nachdem alle versammelten Bischöfe unter tiefsten Schweigen Platz genommen hatten, begann der heilige Kaiser: „Der Herr Papst Johannes sollte sich schicklich an diesem erlauchten und heiligen Konzile beteiligen. Wir fragen darum euch, heilige Väter, die ihr mit ihm zusammenlebt und gemeinsam mit ihm die Geschäfte erledigt, weshalb er ferne bleibt.“ Darauf antworteten die römischen Bischöfe, die Kardinalpriester und Diakone mit allem Volke: Wir wundern uns über eure hochheilige Weisheit, die von uns über Dinge Aufschluss wünscht, die weder den Bewohnern Spaniens noch selbst denen von Babylon und Indien unbekannt sind. Er ist ja nicht einer von jenen, die in Schafskleidern kommen, innen aber reißende Wölfe sind, sondern er wütet offenkundig, treibt in aller Offenheit Teufelsgeschäfte und sucht dies gar nicht zu verschleiern.“ Worauf der Kaiser: „Es scheint uns billig, dass die Anklagepunkte aufgeführt werden, dann wollen wir gemeinsam beraten, was zu geschehen hat.“[458]
Da riefen die Bischöfe, Priester, Diakone, der übrige Klerus und das ganze Volk der Römer wie ein Mann: „Hat der Papst Johannes nicht noch weit schändlichere und furchtbarere, eines Papstes durchaus unwürdige Verbrechen begangen, als eben der Diakon Benedikt verlas, so soll uns der heilige Apostelfürst nicht von unseren Sünden lossprechen…Und wollt ihr uns nicht Glauben schenken, so müsst ihr wenigstens dem Heere des Herrn Kaisers glauben, das ihn vor fünf Tagen in Waffen und Rüstung sah, nur die Tiber, die zwischen ihm und dem Heere floss, verhinderte es, dass er also gewappnet gefangen wurde.“ Hierzu bemerkte der Herr Kaiser: „Für diesen Vorgang gibt es so viele Zeugen wie Krieger in unserem Heere.“ Nun schlug die heilige Synode vor: „Wenn es dem heiligen Kaiser gefällt, soll an den Papst ein Schreiben mit der Aufforderung abgehen, dass er sich persönlich stelle und von diesen Anklagen reinige. Der Kaiser sandte also an den Papst einen Brief, der die angegebenen Anklagen enthielt und ihn zur Verantwortung aufforderte. Der Brief schloss: „Wir bitten Eure Paternität eindringlichst, doch nach Rom zu kommen und euch von diesen Anschuldigungen zu reinigen. Solltet Ihr euch aber vor Gewalttätigkeiten der erhitzten Menge fürchten, so versichern wir Euch eidlich, dass Euch nichts geschehen soll, als was in den heiligen Satzungen der Kirche für solche Fälle vorgesehen ist. Gegeben den 6. November.“ – Als der Papst diesen Brief gelesen hatte, schrieb er zu seiner Verteidigung nur diese Zeilen: „Bischof Johannes, Knecht der Knechte Gottes, an alle Bischöfe. Wir haben gehört, ihr wollt jemand anders zur Papste machen. Ich exkommuniziere euch durch den allmächtigen Gott, so dass ihr niemand mehr weihen und die Messe nicht mehr lesen dürft.
Des Papstes wahrer Charakter hatte sich sogleich nach der Krönung enthüllt. Er konspirierte mit seinen ehemaligen Gegnern, gegen die er Otto zu Hilfe gerufen hatte. Er unterhandelte sogar mit Ungarn und Griechen, die er jedoch sofort wieder an Otto verriet. Der Kaiser erfuhr davon durch abgefangene Briefe, durch Spione und geistliche Zwischenträger. Trotzdem ließ er noch Milde walten und meinte der Papst sei Verführungskünsten seiner Umgebung erlegen.
[456] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 128 f
[457] ebd. Anmerlkungen S. 443: Luitbrand war am italienischen Königshofe erzogen und Kanzler Berengars gewesen. Er trat dann in Ottos Dienste und wurde 961 Bischof von Cremona. Seine geschichtlichen Werke: "Das Buch der Vergeltung", eine Geschichte seiner Zeit bis 949, "Die Geschchte Ottos", und der "Bericht über Luibrands Gesandtschaft nach Konstantinopel", 968, sind zwar historisch nicht zuverlässig, von Hass und Parteileidenschaft verzerrt, aber doch ein unschätzbar lebensvolles Bild seiner Zeit.
[458] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 129 f
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Zuversichtlich ging er davon aus, das Beispiel rechtschaffener Männer werde ihn bessern. Otto täuschte sich, denn der Papst trieb sein Doppelspiel weiter. Er blieb ebenso infam wie treulos. Oktavian Johannes (Johannes XII.) verbündete sich mit den alten Feinden, die mit korsischen Freischärlern und angeworbenen Sarazenen anrückten. Er öffnete ihnen die Tore Roms, während der Kaiser in Oberitalien weilte, und die Burgen Berengars und seiner Mitstreiter berannte. Doch der Kaiser kam schneller nach Rom zurück, als der Papst es erwartete. Das Duell zwischen Kaiser und Papst begann vor aller Welt. Der heute noch gezählte 131. Nachfolger Petri mit Helm und Panzer, Schwert und Schild auf der Tiberseite! Er drohte dem durch ihn noch vor einem dreiviertel Jahr gekrönten kaiserlichen Haupt, um sich selbst zur Heldenfigur und seiner Sodalteska Mut zu machen. Dann verschwand er schnell mit seinen Verbündeten und dem Kirchenschatz. Im November 963 zog Otto wieder ein in die Ewige Stadt. Die Römer stellten Geiseln und schworen niemals wieder einen Papst, ohne Zustimmung des Kaisers und seiner Söhne zu wählen. Auf einer im gleichen Monat stattfindenden Synode in der Peterskirche wurde der Papst abgesetzt. Alles, was geschehen war, kam noch einmal zur Sprache. Alle hatten es geduldet, niemand vorher eingegriffen. Jetzt sprach man von einem Ungeheuer, das aus der römischen Kirche ausgestoßen wurde. Der Entweihung des Heiligen Stuhles durch Oktavian Johannes folgte eine unrechtsmäßige Erhebung. Der Kaiser entschied sich für einen Laien, den Vorsteher des päpstlichen Sekretariats, der alle Weihen des Priesters, Bischof und Papstes an einem Tag empfing. Er nannte sich Leo VIII. Draußen tobten die Politiker der Ewigen Stadt. Es bildete sich eine kaiserliche, außerrömische Partei und eine päpstliche und stadtrömische Partei. Die Rivalität brach offen aus, als zwei mächtige Geschlechter, die Tusculaner und die Creszentier, beide in der Tradition des Senators Alberichs II., Vater des abgesetzten Papstes, um die städtische und päpstliche Regentschaft kämpften. Der sechsundzwanzigjährige Oktavian Johannes übte eine entsetzliche Rache. Er ließ den Kardinälen, die gegen ihn gestimmt und ihn abgesetzt hatten, grausam verstümmeln im Gesicht oder durch Handabschneiden. Johannes zelebrierte die Messe, als wenn nichts geschehen wäre. Am 14. Mai 964 wurde er „vom Teufel erschlagen, als er Ehebruch trieb, berichtet ein Chronist.[459]
Aufschlussreich ist auch wie zeitgenössische Quellen darüber berichten: Da sich der Papst weigerte, nach Rom zurückzukehren und sich zu rechtfertigen, wählte das römische Volk einmütig den Protoskriniar Leo,[460] einen tüchtigen und eifrigen Mann, an Johannes‘ Stelle. An der Synode, auf der dies bestimmt wurde, beteiligten sich fast alle Bischöfe Roms und Italiens sowie der Patriarch von Aquileja. Aus dem Reich waren die Erzbischöfe Adaldag (von Hamburg-Bremen) und Heinrich (von Trier), sowie die Bischöfe Lantward (von Minden) und Otger (von Speyer) zugegen. Als sich Johannes abgesetzt sah, bereute er nur allzu spät sein Vorgehen und trennte sich von Adelbert, der sich abermals nach Korsika begab. Im gleichen Jahr (963) wurde die Feste Garda in Italien genommen. Das Weihnachtsfest feierte der Kaiser in Rom. Der auf dem Monte San Leone belagerte Berengar wurde gefangen genommen, und die Burg ergab sich dem Kaiser, und Berengar wurde mit Willa nach Bayern geschickt (964). Die Römer fielen wie üblich wieder vom Kaiser ab, verschworen sich mit verschiedenen Burgherren außerhalb der Stadt und suchten mit diesen den Kaiser zu töten. Ihr Anschlag wurde noch an dem Tage, an dem sie ihn ausführen wollten, aufgedeckt, der Kaiser kam ihnen zuvor, griff am 3. Januar 964 mit einer ganz kleinen Schar seiner Mannen die Verschwörer an und erschlug eine beträchtliche Zahl seiner Gegner in der Stadt. Am folgenden Tage erschienen die
[459] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser. S. 58 ff
[460] Bühler, Johannes: Anmerkungen S. 413. Protoskrinar war der Vorsteher und Schreiber, er gilt asl Kleriker, Leo hatte am Tage seiner Wahl noch nicht einmal die niederen Weihen, die nun entgegen den Kirchengesetzen, alle an einem Tage nachgeholt wurden.
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Römer vor dem Kaiser, stellten hundert Geiseln und gelobten über dem Körper des heiligen Petrus dem Kaiser und dem Papste (Leo) eidlich die Treue.
Der Kaiser blieb hierauf noch eine volle Woche in Rom, danach wandte er sich mit Heeresmacht nach Spoleto und Camerino, Gebiete westlich von Rom gelegen, um dort die Verhältnisse zu ordnen. Auf Bitten des Papstes Leo gab er die Geiseln den Römern wieder frei. Zum Dank für diese Wohltat ließen sie sofort den Papst Johannes wieder in die Stadt und brachen dem Kaiser und dem Papste Leo ohne Scheu die ihnen zugeschworene Treue. Papst Leo konnte, von einem kleinen Gefolge begleitet, nur mit knapper Not das nackte Leben retten. Er suchte den Kaiser in Camerino auf und feierte daselbst das Osterfest.[461]
Aus den Synodalakten: Johannes hielt noch Ende Februar 964 in Rom eine Synode ab, auf der also verhandelt wurde: Johannes der frömmste und mildreichste Papst der heiligen römischen Kirche, stellte die Frage: „Wie ihr wisst geliebteste Brüder, war ich durch kaiserliche Gewalt zwei Monate von meinem Sitze vertrieben. Ich frage deshalb, ob jene Synode, die während meiner Abwesenheit in meiner Kirche (am 10. Dezember 963) vom Kaiser Otto, seinen Erzbischöfen und Bischöfen abgehalten wurde, eine rechtmäßige war oder nicht?“ Das heilige Konzil antwortete: „Jene Synode kann nicht als rechtmäßig bezeichnet werden, weil eine solche durch die Satzungen der heiligen Väter durchaus verboten ist.“ Der frömmste und mildreichste Papst fuhr fort: „Welcher Rechtstitel kommt eigentlich jener Synode zu?“ Das heilige Konzil antwortete: „Es war eine Hurengeschichte zugunsten des Ehebrechers, des Eindringlings Leo, der sich der Braut (der römischen Kirche) eines anderen (des Papstes Johannes) ermächtigt hatte.“ Und weiter der frömmste und mildreichste Papst: „Ist demnach diese Synode von uns zu verdammen?“ Das heilige Konzil antwortete: „Sie ist laut Autorität der heiligen Väter zu verdammen.“ (Johannes belegte hierauf Leo, falls er sich noch weiterhin irgendwie päpstliche Rechte und Funktionen anmaße, ferner den Bischof Sico von Ostia, der diesen geweiht hatte, mit dem Banne. Die Gesandten, die in seinem Auftrage Otto nach Italien gerufen hatten, wurden schmählich verstümmelt).Bischof Otger von Speier, der gefangen genommen worden war, ließ er grausam geißeln und unter mancherlei Schwierigkeiten in seiner Nähe festhalten, entließ ihn aber dann plötzlich, in der Hoffnung, vom Kaiser Verzeihung zu erlangen. Durch Gottes Fügung sah er sich jedoch in dieser Erwartung getäuscht, da er am 14. Mai von hinnen schied.[462]
Die Hoffnung, beim Kaiser Verzeihung und Vergebung zu finden, war nicht unbegründet. Es hatte sich herumgesprochen, dass Otto über einen reuigen Sünder mehr erfreut war als über zehn Gerechte. Clementia (Barmherzigkeit) wurde diese Eigenschaft genannt, die Gnade gegenüber dem, der gefehlt hatte. Eine Eigenschaft, die ihm bereits das kopfschüttelnde Befremden des in Spanien herrschenden Kalifen eigetragen hatte, eines Herrschers, der ihn sonst über die Maßen bewunderte.[463]
Nach dem Hinscheiden des Papstes Johannes XII. erkoren die Römer, ohne die Ankunft des Kaisers abzuwarten, einen Diakon der römischen Kirche, Benedikt, weihten ihn und setzten ihn auf den apostolischen Stuhl. Die Nachricht von diesen Ereignissen, veranlassten Otto eine militärische Lösung herbeizuführen. Sein herangeführtes Heer bildete einen Belagerungsring um Rom. Im Juni öffneten die Römer dem Kaiser die Tore Roms. Leo VIII. wurde wieder als Papst bestätigt. Er berief mit zahlreichen Bischöfen eine Synode ein, die mit allgemeiner Zustimmung Benedikt seines Amtes enthob. Leo riss ihm das päpstliche Pallium vom Leibe und den Hirtenstab aus der Hand und zerbrach ihn vor der Versammlung in Stücke.
[461] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 132 f
[462] ebd. S. 134
[463] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 62
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Benedikt wurde auf Veranlassung des Kaisers seine Würde als Diakon belassen. Nach der Feier des Johannesfestes am 24. Juni 964 verließ der Kaiser Rom. Auf dem Rückmarsch wurde sein Heer von einer Seuche erfasst. An dieser Pest starben der Erzbischof Hinrich von Trier, Der Abt Gerrich von Weißenburg, der Herr Gottfried von Lothringen und eine ungezählte Menge Vornehmer und des gemeinen Volkes. Endlich, so der zeitgenössische Bericht, hörte durch Gottes Barmherzigkeit die Pest zu wüten auf. Das Weihnachtsfest 964 feierte der Kaiser in Pavia. Nach Erledigung der Reichsgeschäfte in Italien begab er sich ins immer noch ostfränkische Reich. An der Grenze von Schwaben und Franken empfingen ihn sein Sohn, König Otto, und Erzbischof Wilhelm. Von hier aus ging es weiter nach Worms, wo er mit seinem Bruder, Erzbischof Brun, zusammentraf. Die ganze Fastenzeit hielt sich der Kaiser in Franken auf und feierte Ostern in Ingelheim. Von da aus fuhr er zu Schiff nach Köln, wo er seine Mutter Matilde, ihrer Schwester, der westfränkischen Königin Gerberg und ihren Sohn Lothar begegnete. Er bewirtete sie alle mit der gebührenden Liebe und Ehrerbietung, und ritt danach in seine Heimat Sachsen. Den abgesetzten Benedikt nahm er von Rom mit nach Franken und übergab ihm zur Bewachung dem Erzbischof Adaldag. Den zwei Töchtern Berengas wies er einen ehrenvollen Aufenthalt in der Pfalz bei der Frau Kaiserin an. Im gleichen Jahr starb der Papst Leo. Die Römer sandten als Boten den Protoskriniar Azo und den Bischof Marinus von Sutri nach Sachsen zum Kaiser, damit er einen Mann seiner Wahl zum Papst ernenne. Die römische Abordnung wurde ehrenvoll empfangen und in ihre Heimat entlassen. Der Kaiser ließ mit ihnen die Bischöfe Otger von Speier und Luitbrand von Cremona nach Rom reisen. Johannes, Bischof von Narni, wurde vom ganzen römischen Volke erwählt und auf den päpstlichen Stuhl erhoben. Er behandelte die römischen Großen sogleich mit unbegründeter Hoffart, und machte sie sich dadurch zu erbitterten Feinden. Er wurde ergriffen, aus der Stadt vertrieben, nach Campanien und in Haft gehalten.[464]
In den hier aufgeführten zeitgenössischen Berichten wird vielfach bereits von „Deutschland“ und „Frankreich“ gesprochen, ein solcher Einschub mit der entsprechenden Interpretation wird der historischen Entwicklung der Zeit nicht gerecht. Es gab zu der Zeit, diese im nationalstaatlichen Sinne verstandenen Begriffe nicht. Darum ist es abwegig, von Deutschland und Frankreich zu sprechen. Die Herausbildung zu Nationalstaaten geschah Jahrhunderte später, Deutschland formte sich sogar erst im 19. Jahrhundert zu einem Nationalstaat, viel später als das übrige Europa. Deutschland hat hier etwas mit Italien gemeinsam, das seine Einheit als Nationalstaat auch erst 1861 erlangte.
Im folgenden Jahr 966 zog der Kaiser erneut nach Rom. Bei seinem Herannahen entließen ihn die Römer aus der Haft und er konnte wieder als Papst, als Papst Johannes XIII seine Amtsgeschäfte fortführen. Im gleichen Jahr starb Berenga, der frühere König von Italien, er wurde in Bamberg bestattet, seine Witwe Willa nahm den Schleier und wurde Nonne. Der Kaiser blieb sechs Jahre in Rom, „dem Haupt des Erdenkreises und dem Sitz der allgemeinen Kirche“. Es ging ihm um gesicherte Verhältnisse in Italien und im Patrimonium Petri. „Der von Gott gekrönte Cäsar!“ So titulierte ihn Johannes XIII. Oder überschwänglich: der „dritte Konstantin, der dreifach gesegnete und höchst Heilige“. Die Gegner sahen es anders: „Wehe Rom, dein Volk ist mit dem Schwerte hingerichtet. In Säcken tragen sie dein Gold und Silber fort“, warnte die Stimme eines Mönches von Soracte. Wie Otto in den politischen und militärischen Entscheidungen nach Osten und Süden auf den Spuren Karls des Großen blieb, so verfolgte er auch die gleichen dynastischen Grundsätze bei der Wahl der Erben. Am Weihnachtstage, des Jahres 967 führte Otto I. seinen zwölfjährigen Sohn nach Sankt Peter und ließ ihn durch Johannes XIII. zum kaiserlichen Nachfolger krönen und zum Cäsar und Augustus
[464] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 134 ff
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erheben.[465] Für das darauffolgende Jahr ist ein Bericht von Widukind von Corvey überliefert über kriegerische Verwicklungen mit dem byzantinischen Kaiserreich. Otto schrieb 968 dazu aus Italien an die Herzöge und Heerführer in Sachsen: „Otto, von Gottes Gnaden Kaiser und Augustus, wünscht den Herzögen und Präfekten unseres Reiches alles Liebe und Gute. Durch Gottes Huld steht es mit unserem Befinden und allen unseren Unternehmungen ausgezeichnet. Außerdem suchten uns Abgesandte des Königs von Konstantinopel auf, Männer in hohen Würden, die sich angelegentlich um Frieden bemühten. Nun, es mag kommen wie immer, sie werden es, will‘s Gott, unter keinen Umständen auf einen Krieg ankommen lassen. Die Provinzen Apulien und Kalabrien werden sie uns, falls es zu keiner anderen Vereinbarung kommt, überlassen müssen. Fügen sie sich unserem Willen, so werden wir diesen Sommer unsere Gemahlin mit unserem gleichnamigen Sohn nach Franken vorausschicken, während wir selbst unter Gottes Geleite über La Garde=Fraînet (im Südosten Frankreichs in der Provence gelegen, das damals zum Königreich Burgund gehörte) unseren Weg nehmen, um die Sarazenen in jener Gegend zu vernichten…Unser Sohn ist an Weihnachten vom heiligen Papste zum Kaiser gekrönt worden. Geschrieben den 18. Januar in Kampanien bei Capua.“
Als dieser Brief vor den Großen und zahlreichem Volke auf dem Landtage verlesen wurde, glaubte man doch den Frieden mit den Redariern aufrecht erhalten zu müssen, weil der Krieg mit den Dänen unmittelbar bevorstand, und nicht zwei Feldzüge gleichzeitig geführt werden konnten.
Der Kaiser hatte den Griechen zu viel Vertrauen geschenkt. Als er ihnen einen Teil seines Heeres entgegensandte, um die griechische Prinzessin für seinen Sohn abzuholen, wurde es von den Griechen hinterlistig überfallen, teilweise erschlagen oder gefangen genommen und zum Kaiser nach Konstantinopel gebracht. Daraufhin entsandte der Kaiser ein starkes Aufgebot nach Kalabrien. Die Griechen waren über ihren letzten Erfolg übermütig und ließen alle Vorsicht außer Acht. Sie fielen darum in die Hände der kaiserlichen Krieger, die eine ungezählte Menge von ihnen erschlugen, die übrigen nahmen sie gefangen, schnitten ihnen die Nasen ab und entließen sie so nach Konstantinopel. Dann erpressten sie von den Griechen in Kalabrien und Apulien Tribut und kehrten ruhmbedeckt mit reicher Beute beladen zu Kaiser Otto zurück (969).[466]
Es handelte sich hier um einen reinen Eroberungskrieg von Christen gegen Christen, nicht um einen Krieg zum Schutze der christlichen katholischen oder byzantinischen Kirche, der dazu noch erbarmungslos geführt wurde. Es sollte in der Geschichte des „christlichen Abendlandes“ bei weitem nicht der letzte sein. Am Beginn des Berichtes heißt es: „Otto, von Gottes Gnaden Kaiser und Augustus,…“ Diese Berufung auf die Gnade Gottes darf nicht verwechselt oder gleichgesetzt werden mit dem Gottesgnadentum absolutistischer Herrscher, wie es sich im 17. und 18. Jahrhundert herausgebildet hatte. Eine solche Machtbefugnis war den Herrschern des HRR nicht gegeben. Friedrich der Große, so ist überliefert, habe beim Anblick einer Regimentsfahne, auf der zu lesen stand: Pro Deo, pro Patria (für Gott und Vaterland), dazu gemeint: Das pro Deo sollte gestrichen werden, was hat Gott mit den Händeln der Menschen zu tun? Der als Deist und Spötter angesehene preußische König hatte hier mehr Gottesfurcht bewiesen als manche fromme Herrscher vor ihm und nach ihm, die allzu leichtfertig den Namen Gottes in Anspruch genommen haben.
Nach den Ereignissen im äußersten Süden Italiens empörten sich die Griechen in Konstantinopel gegen ihren Kaiser. Er wurde auf Anstiften seiner eigenen Frau ermordet und
[465] Mühr, Alfred: die deutschen Kaiser. S. 61
[466[ Bühler, Johannes: Die säcjsischen und salischen Kaiser. S. 139 nach einem Bericht von Widukind von Corvey
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ein neuer Herrscher eingesetzt. Der ließ die Gefangenen des kaiserlichen Heeres frei und entsandte das Mädchen Theophano mit einem stattlichen Heere und prächtigen Geschenke zum Kaiser Otto, der die Theophano seinem Sohn übergab (972).[467] Sie wurde zu einer der herausragenden Frauenpersönlichkeiten der Zeit.
Die Hochzeit des sechzehnjährigen Otto mit der fast gleichalterigen griechischen Prinzessin Theophano fand statt am 19. April 972 ebenfalls in der Peterskirche! Die politische Eheschließung kann als ein Meisterstück der ottonischen Diplomatie angesehen werden. Sie bedeutete Annäherung und endlich Frieden mit Byzanz. Ost und West fanden sich nach fast zweihundert Jahren vorübergehend wieder zusammen. Was Karl der Große versucht hatte, und was ihm misslungen war – Zusammenschluss durch eheliche Verbindung – das gelang dem ersten Sachsenkaiser durch die Heiratspolitik mit seinem Sohn. Seit Jahren mischten sich in Byzanz die Proteste gegen den Barbaren Otto mit unverbindlichen Freundschaftserklärungen, so dass schließlich eine militärische Auseinandersetzung drohte. Otto blieb beharrlich und geschmeidig und entsandte einen Unterhändler nach dem anderen zur Hauptstadt an den Bosperus. Als das junge Paar, Otto II. und Theophano, eine Nichte des Johannes Tsimiskes, nicht etwa eine Tochter des Kaisers Romanos‘ II. wie fälschlich behauptet worden war, in Sankt Peter getraut wurden, erhob sich Papst Johannes XIII. zu einer weiteren Proklamation. Er krönte auf kaiserliche Anweisung die Griechin am gleichen Tag zur Kaiserin. Als ottonische Morgengabe empfing die kaiserliche Braut Ländereien an der Nordsee und am adriatischen Meer, im Harz und am Rhein. Wieder ein Beispiel der Heirat eines Sachsen mit einer Frau aus ausländischer Dynastie. Darüber hinaus Ottos I. geglücktes Diplomatenspiel um die Ehe seines Sohnes, zu dem höherem Zweck der endgültigen Anerkennung als römischer Kaiser und gleichberechtigter der Herrscher aus Byzanz.[468] Der Gedanke an die einstige Größe und Einheit des Römischen Reiches war noch nicht erloschen.
Als Otto im Spätsommer 972 ins Regnum Teutonicum zurückkehrte, traf er auf ein Land, das sich erstmals seit langer Zeit wieder eines tiefen Friedens erfreuen durfte. Die Bürgerkriege waren erloschen. An den Grenzen herrschte Ruhe. Städte wuchsen empor. Die Klöster waren zu Mittelpunkten der Kultur geworden. Ihre Schulen bildeten die kommende Elite des Reiches aus, entwickelten neue Techniken des Kunsthandwerks, lehrten die Bauern ihre Erträge zu erhöhen. Handel und Wirtschaft zeigten zaghafte, aber hoffnungsvolle Ansätze. Auf den Landstraßen herrschte Sicherheit, und wer auf sein Recht vertraute, konnte auf eine sichere Stütze hoffen. Dem Kaiser blieb nur wenig Zeit, sich seines Lebenswerkes zu erfreuen. Er hatte ein Alter von sechzig Jahren erreicht, ein Alter in dem heutige Politiker erst ihre eigentliche Laufbahn beginnen. In jener Zeit betrug das Durchschnittsalter vierzig Jahre. Während Otto durchs Land reiste, kümmerte er sich um Einzelheiten unterschiedlichster Art, er gewährte einem Kloster Zollfreiheit, maßregelte einen Bischof wegen ungebührlicher Übergriffe, dämpfte auf Gerichtstagen den Übermut der Ämter, ließ sich von Gelehrten der Zeit Vorträge halten, schlichtete den Streit um den Zehnten, ein Steuersatz nach Vorbild im hebräischen Kanon der Heiligen Schrift.
Sein Handeln ist vergleichbar mit Preußens Friedrich (1740-1786), der in regelmäßigen Zeitabständen das vergleichsweise kleine Land bereiste und inspizierte. Er kümmerte sich um Schafzucht, Kartoffelanbau oder um den Schulbesuch der Kinder. Durch eine Aneinanderreihung vieler kleiner Dinge kommen bei uns die großen Dinge zustande, war eines seiner Maxime. Wie ganz anders ist die Geschichte Großbritanniens verlaufen, kein Alexander, kein Cäsar, kein Augustus, kein Konstantin, kein Karl, kein Otto, kein Friedrich, kein Napoleon,
[467] Bühler, Johannes: Die sächsischen un salischen Kaiser. S. 139
[468] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser. S. 61 f
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die Hauptakteure seiner Geschichte werden in den Blättern der Geschichtsbücher im Verhältnis nur beiläufig erwähnt. An den Höhepunkten seiner Geschichte stehen Frauen. Dennoch ist seine Geschichte erfolgreicher verlaufen, unter der Regie zweier Frauen entstand das größte Imperium der Menschheitsgeschichte. Englisch ist heute Weltsprache Nummer eins.
Die Chronisten schildern Ottos Erschütterung, die ihn befiel, wenn er an den Gräbern seiner Mitstreiter oder die ihm sonst nahe gestanden hatten stand. In St Alban bei Mainz besuchte er seine Tochter Liutgard, über ihrem Grab hing eine silberne Spindel als sinnreiches Andenken an ihren Fleiß. Er gedachte seines Sohnes Liudolf, Liebling des Volkes, Stiefkind des Schicksals und seines Ältesten, Wilhelm, mit dem Makel unehelicher Geburt behaftet, was zu der Zeit viel zählte, er stieg trotzdem auf als Erzbischof von Mainz zu höchsten Würden. In Köln erinnerte er sich seines Bruders Brun, in Magdeburg kniete er vor dem Sarkophag Edithas, der Engländerin, seiner ersten Frau. In jenem Dom, der seine ureigene Schöpfung war, zu dessen Bau er aus Ravenna Marmorsäulen geschickt hatte, Mosaiken, goldene Leuchter, edelsteinbesetzte Monstranzen und eingemauert in jedem Säulenkopf die Gebeine von Heiligen. In der Krypta des Domes zu Quedlinburg lag seine Mutter Matilde, mit der er lange Jahre in Unfrieden gelebt, da sie aus übersteigerter Frömmigkeit der Kirche mehr gab, als ihr nach Ottos Verständnis zustand.[469]
Von der Königin Matilde[470] ist ein zeitgenössischer Bericht überliefert, der das Frömmigkeitsideal der Zeit beleuchtet: Des Kaisers Mutter Matilde war von bewunderungswürdiger Heiligkeit. Jede Nacht erfüllte sie ihre Zelle, die sich in unmittelbarer Nähe der Kirche befand, mit dem Wohllaut von himmlischen Gesängen jeder Art. Sie ruhte nämlich in ihrer Zelle nur kurze Zeit, erhob sich jede Nacht und ging zur Kirche. In und vor ihrer Zelle sowie auf dem Wege zur Kirche hatte sie drei Chöre von Sängern und Sängerinnen aufgestellt, die Gottes Güte und Milde zu lobpreisen hatten. Sie selbst wartete in der Kirche unter Wachen und beten auf die Feier des Messopfers. Dann besuchte sie alle Kranken in der Nachbarschaft, von denen sie gehört hatte, und versorgte sie mit allem Nötigen, beschenkte hierauf die Armen mit offener Hand und nahm fremde Pilger auf, an denen es nie fehlte, niemand entließ sie ohne ein freundliches Wort und fast niemanden ohne Gaben und Unterstützung, deren er eben bedurfte. Oft übersandte sie auch Wanderern, die sie von ihrer Zelle aus in größerer Entfernung sah, was sie brauchten. Obwohl sie sich Tag und Nacht in tiefer Demut solchen Liebesdiensten widmete, vergab sie doch ihrer königlichen Würde nichts, und es galt von ihr das Wort der Schrift: „Saß sie auch einer Königin gleich inmitten des Volkes, das um sie stand, so war sie doch allezeit und allerorts der Trauernden Trösterin.“ Alle Diener und Dienerinnen ihres Hauses unterwies sie in mancherlei Künsten und den Wissenschaften, denen sie nach dem Tode des Königs mit gutem Erfolge oblag…So starb sie in der Fülle ihrer Tage, jeglicher Ehre, aller guten Werke und ihrer Almosen, nachdem sie alle ihre königlichen Reichtümer an die Knechte und Mägde Gottes sowie an die Armen verteilt hatte, legte sie am 14. März 968 ihre Seele in die Hände Christi zurück.[471]
Der Kaiser Otto der Große hat die Erneuerung des Heiligen Römischen Reiches betrieben, das unter den Nachfolgern Karls des Großen in gefährliches Fahrwasser geraten war und in die Bedeutungslosigkeit abzustürzen drohte. Er festigte das Reich, wenn es ihm auch nicht gelang, seine Einheit, wie sie unter Karl dem Großen bestanden hatte, wiederherzustellen.
[469] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren. S. 64 f
[470] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. Anmerkungen S. 414: Von Königin Mathilde besitzen wir eine ältere und eine jüngere Lebensbeschreibung, die nach Art der Heiligengeschichte verfasst sind und eine Reihe anziehender Schilderungen bringen.
[471] ebd. S. 140
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Das letzte große Ereignis in seinem Leben war der Hoftag in Quedlinburg, wo im März 973 der letzte Reichstag unter seiner Regie stattfand, begleitet von seiner Frau Adelheid und dem jungen bereits zum Kaiser gekrönten Otto II. mit seiner Mitkaiserin Theophano. Nicht nur die großen des Reiches waren gekommen, das ganze Abendland hatte sich eingefunden: Aus Böhmen Boleslav II., der Herzog Mieszko aus Polen schickte seinen Sohn; Russen und Bulgaren sandten ihre vornehmsten Leute und Ungarn zwölf hohe Adelige; Dänemarks König Harald war durch eine Delegation vertreten wie auch der neue Papst Benedikt VI. und der byzantinische Kaiser. Etwas später traf eine sarazenische Gesandtschaft der in Afrika und Sizilien herrschenden Fatmiden ein. Sie kamen, um Geschenke zu überbringen, um ihre Treue zu versichern, um die Grenzen der neuen Bistümer festzulegen, um einen Tribut zu entrichten, oder um den kaiserlichen Segen zu erbitten. Ein erhebender Eindruck in den Ostertagen in Quedlinburg mit bunten Trachten der fremden Völker, das vielstimmige Gewirr der Sprachen, in den Straßen drängte sich das Volk. Quedlinburg war für einige Tage zu einem Mittelpunkt geworden. Anfang Mai zieht der Kaiser von Quedlinburg nach Merseburg, in die Stadt, die er kraft eines Gelübdes vor der Schlacht auf dem Lechfeld zur Bischofsstadt gemacht hatte, geweiht dem heiligen Laurentius. Von Merseburg geht es nach Memleben an der Unstrut, wo sein Vater den Ungarn eine Schlacht geliefert hatte und dort später starb. Es war als zöge ihn eine von Emotionen bewegte Gewalt dorthin.[472]
Am 7. Mai 973 starb der Kaiser der Römer, der König der Völker, und hinterließ für alle Zeiten zahlreiche und ruhmvolle Denkmäler seiner Taten für Gott und die Menschen. In seiner letzten Stunde hatte er das Abendmahl verlangt des göttlichen Leibes und Blutes, das ihm gereicht wurde.[473] Widukind, zeitgenössischer Chronist, berichtet dazu: „…er nahm es, und übergab dann ohne Seufzer mit großer Ruhe den letzten Hauch dem barmherzigen Schöpfer aller Dinge…Das Volk aber sprach viel zu seinem Lobe und gedachte dankbar seiner Taten: wie er mit väterlicher Milde sein Volk regiert und es von den Feinden befreite, von den Ungarn, Sarazenen, Wikingern, Slawen; wie er Italien unterworfen, die Götzentempel der Heiden zerstört, Kirchen gebaut und Priester entsandt habe. Und noch manches brachten sie vor, als sie an der königlichen Leiche unter Tränen zum Gebet niederknieten.“[474]
Otto der Große erhielt auch Insonderheit einen Beinamen: Der „dritte Konstantin“, nach Kaiser Konstantin selbst und Karl dem Großen. Die Nachfolge war geregelt, dafür hatte Otto I. vorgesorgt, ihm folgte sein Sohn als Otto II. auf den Thron. Zwar war die Monarchie des HRR keine Erbmonarchie, und die Wahl eines Nachfolgers wurde durch ein dafür anerkanntes Fürstengremium durchgeführt und bestätigt. Dennoch waren die Kaiser der Sachsen, Salier, und Staufer in einer Art Erbfolge auf den Thron gelangt. Die Zusammenstöße und Gegensätze zwischen dem in Rom gekrönten weströmischen Kaiser und dem oströmischen Kaiser in Byzanz zeigen, dass das Römische Reich gerade auch von Byzanz aus immer noch als eine Einheit angesehen wurde, obwohl die Südhälfte mit Nordafrika, Ägypten, Syrien und Spanien bereits von der moslemischen Welt übernommen worden war. Es muss aber als eine Besonderheit angesehen werden für die Entwicklung des HRR, weil die Wahl zum König/Kaiser in Aachen auf dem Territorium des Regnum Teutonicum stattfand, und das Wahlgremium ausschließlich aus Fürsten bestand mit einem Herrschaftsbereich innerhalb des Regnum Teutonicum. Das weströmische Reich, wie es sich bei Karl dem Großen herausgebildet hatte, war also im vollen Umfang nicht bei dieser Wahl vertreten, ja nicht einmal Reichsitalien und Burgund. Diese Gebiete und das westfränkische Reich mussten das als Ausgrenzung empfinden. Der römische Kaiser des Mittelalters wird in der modernen
[472] Fischer-Fabian, Siegfried: Die deutschen Cäsaren: S. 65 f
[473] Bühler, Johannes: Die sächsischen und salischen Kaiser. S. 142
[474] zitiert bei Fischer-Fabian: Die deutschen Cäsaren. S. 66
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Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung oft als deutscher Kaiser bezeichnet; er war in seiner Schutzfunktion für die heilige römisch- katholische Kirche auch außerhalb des HRR anerkannt. Der Titel hatte oft aber mehr Symbolcharakter als Machtbefugnis. Die Kaiser und Könige aus sächsischem Hause von 919-1024 hatten das Reich gefestigt, und ihm ein tragfähiges Fundament verschafft, das zuvor von Auflösung und Zusammenbruch bedroht war. Dem Volk der Sachsen, das für das HRR in einer Phase seines historischen Werdegangs tonangebend war, hatte Karl der Große noch die Vernichtung angedroht; es hatte nicht nur das Reich wieder aufgerichtet, sondern ihm im Sinne der Zeit einen dezidiert christlichen Charakter verliehen.
Als Otto II. 973 seinem Vater auf dem Thron folgte, konnte er, wie zuvor sein Vater Herrschaftspositionen übernehmen, die seine Vorgänger Heinrich I. und Otto I. erst hatten aufbauen müssen. Er war nicht nur zum König, er war auch als westlicher Herrscher nach byzantinischem und karolingischem Vorbild zum Mitkaiser gekrönt worden, verheiratet mit einer Byzantinerin, stand er deutlich über den Großen des Reiches und konnte einen Anspruch erheben, der sogar den westfränkischen Karolingern überlegen war. Eine solche Perspektive ist aber deutlicher von neuzeitlichen Erfahrungen mit machtstaatlichem Handeln und modernen Vorstellungen von Politik geprägt als von den Bedingungen, unter denen ottonische Königsherrschaft entstanden ist und immer wieder behauptet werden musste. Durch die spätkarolingische Entwicklung waren Herrschaftsrechte und Herrschaftsgrundlagen des Königtums zu einem großen Teil an die führenden Adelsfamilien übergegangen und häufig mit deren Eigenbesitz verschmolzen. Das Königtum der Ottonen hatte sich in einem Kontext gebildet, in dem der Herrschaftsanspruch des Adels selbstverständlich war; die Herrschaft des Königs war wesentlich durch Ausgleich mit den führenden Adelsfamilien möglich geworden und blieb auf die Akzeptanz durch den Adel angewiesen. Zwar konnte Otto der Große, nicht zuletzt durch die Krönung in Aachen, im Anspruch und im äußeren Erscheinungsbild seines Königtums an seine karolingischen Vorgänger anknüpfen, doch wurden dadurch die Grundlagen und der neue Rahmen der ottonischen Herrschaft nicht überschritten.[475]
978 war ein Jahr, das von einem besonderen Ereignis gekennzeichnet ist. In diesem Jahre stand der dreiundzwanzigjährige Kaiser Otto II. seit fünf Jahren als dritter Sachse an der Spitze des Reiches. Er hatte die üblichen Erfahrungen mit seinen verwandtschaftlichen Bindungen zu bestehen, die sich mehrfach zu ernsten Empörungen steigerten und sich schließlich zu Aufständen ausgeweitet hatten, bis im Vorfrühling auf dem Hoftag in Magdeburg sich die Versöhnung Bahn brach. Wie sein Vater hatte Otto II. gegenüber ränkesüchtigen Mitgliedern des Königshauses Gnade gewährt. Die Trennung vom bayerischen Herzogtum, das sich oft genug als besonders hartnäckig erwies, hatte als Ergebnis die Begründung einer eigenen Markgrafschaft Österreich, der als Beginn einer österreichischen Geschichte angesehen werden kann. Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch rivalisierende Fürsten, die zum Aufbruch der Bayern nach Kärnten und Tirol führte. An einem Sommertag des genannten Jahres verbrachten das junge Kaiserpaar Otto und seine byzantinisch-griechische Ehefrau Theophano in der Kaiserpfalz in Aachen. Theophano bevorzugte es, sich in byzantinischer Tracht zu kleiden, womit sie sich von der übrigen fürstlichen Versammlung abhob, ein Zeichen gesteigerten Selbstbewusstseins, das sich auch in bestimmender Weise in der herzoglich-fürstlichen Umgebung durch selbstsicheres Auftreten äußerte. Ihre Zurückhaltung, die sie noch zu Lebzeiten ihres kaiserlichen Schwiegervaters geübt hatte, war mehr und mehr von ihr gewichen und hatte selbstsicherem Auftreten Platz gemacht. Das kaiserlich-familiäre Idyll wurde je gestört, als reitende Boten die Ankunft feindlicher Heeresmacht ankündigten. Der westfränkische König Lothar hatte die Gunst der Stunde genutzt und bedrohte die
[475] Körntgen, Ludger: Ottonen und Salier. S. 26
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ahnungslose kaiserliche Gesellschaft, um sich handstreichartig des Kaiserpaares zu bemächtigen. Die Überraschung war gelungen, das Kaiserpaar flüchtete mit Gefolge nach Köln. König Lothar hatte die Kaiserstadt eingenommen. Die zuvor versammelte Gesellschaft um den Kaiser hatte sich ebenfalls zur Flucht gewandt, um einer möglichen Gefangennahme zu entgehen. Teile von Lothars Streitmacht kletterten zum Giebel der Kaiserpfalz, und drehten den ehernen Reichsadler, der nach Westen seinen Blick richtete, in östliche Richtung. Vielfach ist in der Geschichtsschreibung dieses Ereignis geschildert, und von Französisch und Deutsch gesprochen worden. Es war kein Zusammenstoß zwischen Deutschland und Frankreich im späteren dynastischen oder nationalstaatlichen Sinne. Es muss hervorgehoben werden, dass solche Denkkategorien zu der Zeit zumindest nicht im Vordergrund standen. Ottos II. Antwort lies nicht auf sich warten. Der Anschlag bewirkte Solidarität unter den Herzögen und Fürsten, und es wurde eine Heerfahrt ausgerufen. Zeitgenössische Quellen berichten von einem „gewaltigen Heer“, den Berichten zufolge dreizigtausend Reiter. Die Gebiete um Reims, Laon, Soisson und der Compiègne wurden heimgesucht, die Kirchen demonstrativ verschont. Paris wurde belagert und Lothar musste fliehen. Die gegenseitigen militärischen Unternehmungen endeten mit einem Vergleich und Bündnis zwischen Otto und seinem Vetter Lothar. Im Mai 980 trafen sich beide an den Grenzen ihrer Reiche und bekräftigen ihre Freundschaft durch „Eidschwur“.[476] Lothar war der letzte westfränkische König aus dem Geschlecht der Karolinger.
Kaiser Otto II. hatte einen Vorzug gegenüber seinem Vater Otto I. und auch gegenüber dem Gründer des Heiligen Römischen Reiches, Karl dem Großen. Die beiden letztgenannten hatten mit Lesen und Schreiben große Schwierigkeiten, und somit auch einen eingeschränkten Zugang zu einer umfassenden Bildung. Die vornehme Adelsgesellschaft hatte insgesamt eine Abneigung, sich diese Gabe des Lesens und Schreibens anzueignen. Sie betrachteten die Vermittler von Bildung, die von den Klöstern ausgingen, die darauf geradezu ein Monopol innehatten, herablassend, und hielten es für unwürdig, sich damit zu befassen. Karl der Große und sein großer Nachfolger Otto I. hatten aber die Notwendigkeit einer Bildung im geistigen Sinne erkannt für Individuum und Gesellschaft auf breiter Grundlage. Darum waren sie bestrebt nicht nur den eigenen Mangel zu beheben, sondern auf größtmögliche Förderung bedacht, weshalb auch von einer Karolingischen und Ottonischen Renaissance gesprochen werden kann. Diese Renaissance verfocht zwar das Ziel das klassische Bildungsideal hoch zu halten, dominiert von christlich-katholischer Kirche und Glauben. Hierin unterschied sich diese Renaissance von der Renaissance des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit, wo die Prioritäten umfangreicher und umgekehrt gesetzt wurden.
Als Otto II. sechs Jahre alt war, hüllten sie ihn eines Tages in festliche Kleider, reisten mit ihm nach Aachen, führten ihn in den gewaltigen Dom aus den Zeiten Karls des Großen und erklärten ihm, er solle hier zum König gekrönt werden. Als er zwölf Jahre geworden, machten sie ihn zum Kaiser. Dafür musste er eine noch längere Reise antreten zum Papst nach Rom, um in der Kirche des heiligen Petrus, die Krönung mit päpstlichen Segen zu empfangen, damit alles seine Ordnung habe im weltlichen Reich des Kaisers und dem geistlichen Reich des Papstes. Fünf Jahre nach der Krönung heiratete er Theophano die Prinzessin aus dem Morgenland, aus Byzanz, von wo oft märchenhafte Schilderungen in das bäuerlich robuste Regnum Teutonicum drangen. Mit achtzehn Jahren war Otto II. Kaiser nicht nur dem Titel nach, er erlangte 973 die wirkliche Herrschergewalt als Kaiser. Otto, wie er nach seinem Vater genannt worden war, erging es wie allen Söhnen großer Väter, sie haben es leichter und zugleich schwerer. Leichter, weil ihnen von der Geburt her die Wege geebnet werden, schwerer, weil sie an den Taten gigantischer Vorfahren gemessen werden, auch für von der Geburt her bevorzugte gilt Goethes Wort:
[476] Mühr, Alfred: Die deutschen Kaiser. S. S. 64 f